Vorwort
Die Beschäftigung mit den Abruzzen und dem Molise war für mich nicht nur eine Arbeit am Schreibtisch. Seit 1937 an der Bibliotheca Hertziana in Rom tätig - anfänglich als Stipendiat und Assistent -, hatte ich immer wieder Gelegenheit, in die früher noch nicht durch Autos und Tourismus erschlossene Berglandschaft einzudringen. Fußmärsche von den Marken bis Apulien, und umgekehrt, versehen mit Notizblock und Photoapparat, waren für mich keine Seltenheit, und jahrzehntelang habe ich mir von Rom aus verschiedene Ziele in dieser Landschaft erwandert. Vielleicht unterscheidet sich die ältere Generation von der heutigen auch durch die Lust, historische und kunsthistorische Erkenntnisse durch den Gebrauch der eigenen Beine zu erwerben. Jedenfalls gehörte es in Rom zum akademischen Leben, daß sich die Mitglieder der wissenschaftlichen Institute fast wöchentlich zu Ausflügen in die nähere und weitere Umgebung zusammenfanden. Dazu gehörten die Archäologen, die Historiker vom Deutschen Historischen Institut, von der Görres-Gesellschaft und vom Vatikan. Auch die bildenden Künstler von der Villa Massimo gesellten sich gerne hinzu. Ich erinnere mich besonders an meinen verstorbenen Freund, den Historiker Wolfgang Hagemann, der anläßlich von Wanderungen immer wieder Schätze in den Archiven hob, und ich denke oft an den Maler Karl Clobes, der überwältigt von Motiven war, die sich ihm in den Abruzzen darboten. Nach der Rückkehr von zahllosen Reisen durch Abruzzen und Molise hatte man in den früher noch engen Räumen der Bibliotheca Hertziana Gelegenheit, das Gesehene an Hand der Literatur zu überprüfen, mit der stillen Freude, daß über alles Geschaute bisher wenig oder nichts in das allgemeine Wissen übergegangen war. Inzwischen ist das Interesse an den Abruzzen in zunehmendem Maß wachgeworden, und viele nützliche Forschungen haben unsere Kenntnis bereichert. So entstand schließlich der Wunsch, die Fülle des Gesehenen in eine Ordnung zu bringen und Schwerpunkte und Konstanten in der Entwicklung der abruzzesischen und molisanischen Kunst zu suchen. Freilich merkt man selbst, wie so häufig, am Ende der Arbeit, daß die hier vorgelegte Gesamtgeschichte unseres Berglandes nur ein zaghafter Anfang ist, der noch an vielen Stellen der weiteren intensiven Forschung bedarf.
Obwohl ich als gebürtiger Westfale dazu geneigt bin, alles im Alleingang zustande bringen zu wollen, so bin ich mir bei Abschluß der Arbeit doch bewußt, wieviel ich Freunden und Institutionen verdanke. Wolfgang Krönig, einer der besten Kenner Süditaliens, hat mich dauernd ermutigt, die Arbeit am Abruzzenbuch nicht aufzugeben. Manche Stunden verbrachte ich bei Valerio Cianfarani im Denkmalamt in Chieti, wobei mir klar wurde, welchen bedeutenden Einfluß die vorrömischen Völkerschaften und die Römer auf Abruzzen und Molise ausgeübt haben. Im Amtszimmer von Guglielmo Matthiae im Denkmalamt im Kastell von L'Aquila standen natürlich die Gespräche über das Mittelalter und die Einwirkungen von Montecassino auf die Abruzzen im Vordergrund. Gern erinnere ich mich an den Stellvertreter im Denkmalamt von L' Aquila, an den vielwissenden Antonio De Dominicis. Er wohnte mit seiner Mutter in Bominaco, und bei vorzüglichem Spaghettiessen sprachen wir über Architektur und Malerei der beiden Kirchen in Bominaco, die sich in Sichtweite des Mittagstisches befanden. Dem Kanonikus Bruno Trubiani vom Dom in Atri verdanke ich manche Hinweise und praktische Hilfe. Das vorliegende Buch hätte die Monumente ohne die Vorarbeiten des Architekten Gavini über die mittelalterliche Architektur in den Abruzzen gar nicht in dieser Ausführlichkeit vorstellen können. Im Bemühen, die Objekte im Spiegel der Geschichte zu sehen, war mir eine große Hilfe das Buch von Norbert Kamp »Kirche und Monarchie im staufischen Königreich Sizilien«, dessen erster Band die Bistümer und Bischöfe in den Abruzzen und in Kampanien behandelt.
Daß die langen und oft mühevollen Arbeiten in Buchform erscheinen konnten, verdanke ich vornehmlich der MaxPlanck·Gesellschaft, die den Druck durch geldliche Zuwendungen ermöglichte. Die Bibliotheca Hertziana, ein Institut der Max-Planck-Gesellschaft, hat mich in all meinen Anliegen gefördert. Für ihre Bemühungen danke ich den beiden Direktoren Christoph Luitpold Frommel und meinem Freund Matthias Winner. Besonders unterstützte mich die Photothek der Hertziana, wo ich viele Aufnahmen wiederfand, die ich im Lauf der Jahre dort hinterlegt hatte, und von denen manche hier zum erstenmal veröffentlicht werden. Dr. Hildegard Giess, Dr. Eva Stahn und Dr. Dieter Graf (S. 8) von der Photothek erfüllten großzügig meine Wünsche. Dem Photographen Hutzel, der im Einvernehmen mit der Photothek zahlreiche Aufnahmen in den Abruzzen machte, konnte ich manche Wünsche für Photographien auf seine vielen Reisen mitgeben, und häufig kehrte er mit guten Ergebnissen in die Hertziana zurück.
Oft entstehen Bücher nur aus einem Kompromiß zwischen den Wünschen von Autor und Verleger. Der Prestel-Verlag, an den ich seit Jahrzehnten freundschaftliche Bindungen habe, macht eine rühmliche Ausnahme. Der Leiter des Unternehmens, Gustav Stresow, hat mich nie gedrängt, zu kürzen oder umzuarbeiten. Er hat alles so gerichtet, wie es mir passend erschien. Sein persönliches Interesse an den Abruzzen ist kräftig ausgebildet. Unvergeßlich bleiben mir die Smdienfahrten, die wir gemeinsam in dieses Bergland unternommen haben. Meine Dankbarkeit bringe ich Herrn Eugen Sporer vom Prestel-Verlag zum Ausdruck, der es verstand, die vielen Grundrisse im Textteil zu überprüfen und manchen Tafeln, die eigentlich nur als Arbeitsmaterial dienen sollten, ein würdigeres Aussehen zu verleihen.
Für die Beschaffung von Photographien habe ich verschiedenen Institutionen zu danken. Freigebig unterstützten mich die Soprintendenza Archeologica per i Beni architettonici, artistici e storici del Molise, mit Sitz in Campobasso, die Soprintendenza Archeologica degli Abruzzi, mit Sitz in Chieti, die Galleria Nazionale d'Arte Moderna e Contemporanea in Rom und vor allem das deutsche Archäologische Institut in Rom. Die beigegebene Landkarte wurde modifiziert. Es sind auf ihr nur solche Orte in den Abruzzen und im Molise aufgeführt, die im Text genannt werden; damit soll das Aufsuchen der oft versteckt liegenden Ansiedlungen erleichtert werden.
Rom, Villino Amelung, Herbst 1983
[Teil 1] - Einleitung
(S. 10)Vorbemerkung
Im Juli 1909 vereinigten sich in Rom Journalisten und Parlamentarier zu einer Expedition zum Zwecke der Entdeckung des Abruzzenlandes. Im abschließenden Bericht über diese Autoreise im Giornale d'Italia bekennt der Verfasser, die einzige Entdeckung sei die der völligen Unbekanntheit dieses Landes gewesen. Man beschuldigte die Organisatoren, sie hätten die Distanzen der Tagesreisen nur auf der Landkarte festgelegt, ohne sich der hohen Berge bewußt gewesen zu sein.
Ähnliche Fehlurteile finden sich noch öfter in der Geschichte. Boccaccio verweist im Dekameron in der dritten Geschichte des achten Tages die Abruzzen an das Ende der Welt. Maso erzählt dem Calandrino von einer Gegend des Baskenlandes, wo ein Berg aus geriebenem Parmesankäse stünde, in dessen Nähe ein Bach rausche, der keinen Tropfen Wasser sondern nur den besten Vernacciawein mit sich führe. Und der einfältige Calandrino fragt, wieviel Meilen es denn bis dahin seien. Mehr als tausend, die ganze Nacht durchsausend, erhielt er zur Antwort. Nun, so muß es ja weiter sein als die Abruzzen, meinte Calandrino. Ei freilich, sagte Maso, ein bißehen weiter ist das schon. Wir halten es Boccaccio zugute, daß aus dieser Erzählung nicht seine eigene Unkenntnis spricht, denn wir wissen, daß er im Herbst 1362 auf der Rückreise von Neapel nach Florenz den Weg durch die Abruzzen wählte, um in Sulmona seinen Freund, den Humanisten Marco Barbato zu besuchen, der auch von Petrarca geschätzt wurde.
Zwei Jahrhunderte später ist es wieder ein Florentiner, Giorgio Vasari, der die Abruzzen abwertet. Er verwundert sich über den Abruzzesen Cola da Amatrice, der in S. Bernardino in L'Aquila die schönste Renaissancefassade dieses Berglandes aufführte, und sagt, daß die Abruzzen mit Ausnahme des Cola keinen Architekten von Rang hervorgebracht hätten, mit dem Unterton, daß die Kunst in diesem Landstrich nicht heimisch sei.
Das Brockhaus-Lexikon bedenkt in seiner Jubiläumsausgabe von 1901 die Abruzzen mit knapp einer halben Seite, ebenso sparsam verfährt das Meyersche Lexikon von 1927, und endlich stellt der Baedeker von 1929 fest, daß in den Abruzzen nur der höchste Berg des Apennin, der Gran Sasso d'Italia, besondere Aufmerksamkeit verdiene.
Die angeführten Beispiele sind nicht böswillig als Einzelfälle herausgegriffen, sie geben einen bestimmten Grundton wieder, den wir bis in die heutige Zeit immer wieder antreffen. Abruzzen und Molise sind in der Tat das ausgesparteste Land unter den italienischen Regionen. Dieses schwer zu bereisende Hochland gehörte nicht zum Programm der Grand Tour, auf der die zahllosen europäischen Reisenden Italien im 17. und 18. Jh. durchzogen. Kein Name von internationaler Bedeutung ist in diesem Raum aus jener Zeit überliefert. Montaigne, Chateaubriand, Händel, Mozart, Herder, Goethe und viele andere kannten und verehrten Italien, fanden aber nicht den Weg in die Abruzzen. Im 19. Jh. überschwemmten deutsche Künstler Italien, und viele von ihnen bildeten südöstlich von Rom in Olevano eine bedeutende Künstlerkolonie. Es waren vor allem Landschaftsmaler, die ihre Motive in der näheren und weiteren Umgebung von Olevano ausfindig machten. Steigt man die umliegenden Höhen des Ortes nur ein wenig hinan, so bietet sich dem Auge die gewaltige Bergkette der Monti Simbruini dar, mit der die alpine Landschaft der Abruzzen beginnt. Kaum einer dieser wanderfreudigen Maler hat es versucht, in diese Welt einzudringen.
Meine eigenen Wanderungen und Untersuchungen in den Abruzzen begannen von Rom aus am Ende der dreißiger Jahre. Das Urteil meiner historischen und kunsthistorischen Fachkollegen über diese Unternehmungen war sehr kritisch. Ja, die Abruzzen, wo liegen sie eigentlich genauer, und was gibt es dort zu forschen, und was hat das mit der großen Geschichte Italiens zu tun. In ihren Augen galten die Reisen als Liebhaberei eines Sonderlings, von der keine neuen Ergebnisse erwartet wurden. Umgekehrt ist das Wissen der Abruzzesen über die außerabruzzesische Welt auch nicht sehr umfangreich, obwohl ihre eigene Lokalforschung hoch entwickelt ist.
Der Mensch gesteht sich nicht gern ein, etwas nicht zu kennen. Aus der Unwissenheit entstehen entstellte Pauschalurteile. Man begegnet heute immer noch Vorstellungen über die Abruzzen, die sich mit Angst verbinden. Man fürchtet die Undurchdringlichkeit des Gebirges und glaubt, die Menschen dort seien rauh, oft verschlagen. Immer wieder kommt die Frage: Kann man sich dort allein bewegen, und ist es nicht gefährlich dort zu reisen? Das Neunzehnte Jahrhundert hat den Begriff des Abruzzenräubers hervorgebracht und die Briganten und Beraubungen in den Vordergrund gestellt. Genauere Kenner wissen dann auch von den Wolfsplagen und von Bären zu berichten. Wie soll man sich da im Ernstfall verhalten?
Das falsche Bild von den Abruzzen ist natürlich zu korrigieren. An anderer Stelle habe ich versucht, die Reisenden und Künstler aufzuzählen, die dieses Land besucht haben. Es sind gar nicht so wenige, aber sie sind nicht bedeutend genug, um ein echtes und allgemeingültiges Bild der Abruzzen zu schaffen.
Der Anstoß zum Erkennen des Landes ging von Gelehrten aus. Die Abruzzesen selbst waren daran stark beteiligt, indessen wurden ihre Ergebnisse nur selten über die Grenzen ihres eigenen Landes bekannt. Weit mehr Erfolg hatten Bemühungen, die von der internationalen Forschung herrührten. Ich greife nur wenige wesentliche Beispiele heraus. Ein erster Anstoß ging von der Kartographie aus. Genaue Landkarten von Italien zu erstellen, war ein Hauptanliegen der römischen Universität im 18. Jahrhundert. Man bediente sich dazu vornehmlich ausländischer Geographen, Franzo (S. 11) sen, Holländer und Spanier. Der französische Geograph D'Anville (1697-1785) bestimmte als erster die richtige Distanz zwischen Rom und Pescara, die heute noch gültig ist. Auf älteren Karten ist die Entfernung viel weiter angegeben. In den Abruzzen entschied sich das Schicksal der Hohenstaufen. Am 28. August 1268 siegte Karl von Anjou bei Tagliacozzo über Konradin, den letzten Sprößling des deutschen Kaiserhauses. Am 28. Oktober ließ ihn der neue französische König mit seinem Jugendfreund Friedrich von Baden auf dem alten Marktplatz in Neapel enthaupten. Dieses Ereignis lockte die Historiker des 19. Jahrhunderts immer wieder in die Abruzzen, um die Lage des Schlachtfeldes mit eigenen Augen zu studieren und den An-und Abmarsch der feindlichen Heere zu rekonstruieren. So war Friedrich von Raumer, dessen Geschichte der Hohenstaufen in sechs Bänden noch heute von größter Bedeutung ist, in Tagliacozzo. Er verfertigte selbst an Ort und Stelle eine genaue Skizze des Schlachtfeldes, die er dem vierten Band seiner Geschichte anfügte. Die Studien internationaler Historiker sind seitdem in den Abruzzen nicht abgerissen. Zu den Historikern gesellten sich bald die Archäologen. Unter ihnen ist der bedeutendste Theodor von Mommsen, der sein Werk über die römischen Inschriften 1846 im Molise und in den Abruzzen begann. Auf mühseligen Wanderungen hat er die Inschriften kopiert und beurteilt. Die Erinnerung an Mommsen, der sich auch sonst mit Fragen des Altertums in unserer Region beschäftigt hat, ist in den Abruzzen auch bei Nichtfachleuten lebendig. Wie oft bin ich an Orten, die ich besuchte, angesprochen worden, daß da auch der große Mommsen verweilt habe. Es sind ein Deutscher und ein Franzose, Heinrich Schulz aus Dresden und Emile Bertaux, die die Grundlage für eine Geschichte der Architektur in den Abruzzen schufen, heute immer noch mit Genuß zu konsultieren. Die in den Abruzzen blühende Goldschmiedekunst wurde schon im vorigen Jahrhundert grundlegend von Deutschen bearbeitet, und schließlich schrieb Ferdinand Gregorovius 1888 das ausführliche Vorwort zu den »Monumenti storici ed artistici« von Vincenzo Bindi, ein umfangreiches Werk, das in den historischen Teilen heute noch wertvoll ist.
Ein Ereignis in neuerer Zeit, das die Abruzzen in der ganzen Welt bekannt machte, war die Austrocknung des Fuciner Sees durch den Fürsten Alessandro Torlonia. Dieser See war der größte im italienischen Apennin und der drittgrößte Italiens überhaupt, nach dem Lago Maggiore und dem Gardasee. Die Hydrauliker und Ingenieure kamen aus der französischen Schweiz und aus Frankreich. Auf der Weltausstellung 1868 in Paris wurde der Grand Prix der Ingenieurkunst dieser Trockenlegung zuerteilt, ein zweifelhaftes Lob, nachdem man die schönste Seenlandschaft im Apennin zerstört hatte.
Die Geschichte des Molise und der Abruzzen und ihrer künstlerischen Monumente sind heute weitgehend bekannt. Wir werden noch genügend Anlaß haben, auf Einzelheiten des Geschehens einzugehen. Was mich persönlich an die Abruzzen bindet, sind natürlich diese Details; aber ich möchte versuchen, sie miteinander in Verbindung zu bringen, um hinter den Fakten eine innere Folgerichtigkeit der Entwicklung aufzuzeigen, welche die gesamte Geschichte der Abruzzen bestimmt. Das ist bisher, wahrscheinlich aus gutem Grund, noch nicht geschehen, und im Zeitalter des Einzelwissens und des Fachwissens gehören schon Mut und Torheit dazu, um an derartig übergreifende Fragen heranzugehen.
Italien ist nach der Einigung im Jahre 1861 in seiner Politik in ein gewisses Dilemma geraten. Wir lesen täglich in den Zeitungen und wissen es auch ohnedies, wie stark die Gegensätze von Nord-und Süditalien nicht nur auf ökonomischem und gesellschaftlichem Gebiete sind. Die Einigung ist wohl staatlich vollbracht, aber innerlich ist sie mit den größten Schwierigkeiten in der Bewältigung heterogener Elemente belastet.
Molise und Abruzzen, die jahrhundertelang zum Königreich Neapel gehörten, bilden genau den geographischen Drehpunkt zwischen Ober-und Unteritalien. Wie haben sie sich nun inmitten dieser Gegensätzlichkeiten verhalten, mehr dem Norden oder mehr dem Süden zugewandt? Die Einflüsse kamen von beiden Seiten. Der nördliche Teil der Abruzzen und der südliche mit dem Molise gingen oft verschiedene Wege, und die Orientierung ist in den Zeitläuften unterschiedlich. Immerhin kann man aus derartigen Fragen schon einen Grundsatz herauslesen, auf den wir immer betont oder unbetont zurückgreifen werden, daß neben einem sehr bodenständigen Geformtsein die kulturgeographischen Fäden von Norden nach Süden oder umgekehrt verlaufen, und daß die Einflüsse aus dem Westen von Latium und Rom dagegen viel geringer sind. Bevor wir diesen Fragen im einzelnen nachgehen, müssen wir uns etwas genauer mit der Geographie der Abruzzen und des Molise beschäftigen; denn die Landschaft hat die Geschicke dieser Region am stärksten geprägt, mehr als in irgend einem anderen italienischen Gebiet, und die Landschaft wie die Geschichte sind äußerst kompliziert.
Geographie
Die Abruzzen grenzen mit 135 km im Süden an das Molise, Adria. Das Molise ist mit 83 km an Apulien gebunden, mit mit 286 km im Westen an Latium und im Norden mit 66 km 142 km an Kampanien und mit 34 km an Latium. Die Abruzan die Marken. Abruzzen und Molise bilden im Osten mit zen sind mit 10794 Quadratkilometern mehr als doppelt so 167 km einen gemeinsamen Küstenstreifen entlang der groß wie das Molise mit nur 4438 Quadratkilometern.
(S. 12)Die Abruzzen gliedern sich in ein schmales Hügelland längs der Adria mit Erhebungen, die 500 m nicht übersteigen. Den weit größeren Flächenteil bildet ein hohes Bergland alpinen Charakters, mit gewaltigen Bergketten, zwischen denen die charakteristischen Hochtäler liegen, die kulturgeographisch von besonderer Bedeutung wurden. Das Hochland ist der zentrale Teil des Apennin, der hier seine höchsten Gipfel hat. Die Gesamtrichtung der Bergketten verläuft von Nordwesten nach Südosten. Sie bilden keine durchgehenden Höhenzüge, sondern werden durch Senkungen unterbrochen, und so entsteht eine imposante Vielfältigkeit des Landschaftsbildes. Die Flußläufe haben nord-südliche Richtung oder umgekehtt, die Quettäler des Hochlandes verlaufen fast ausschließlich nach Osten zur Adria.
Das Hochgebirge der Abruzzen wird durch drei fast parallellaufende Gebirgszüge aufgegliedert. Der östliche Trakt, etwa hundert Kilometer lang, wird im Norden vom tiefeinschneidenden flußlauf des Tronto begrenzt, der die Abruzzen von den Marken trennt und gleichzeitig das Gebirgsmassiv der Sibillini in den Marken von den Monti della Laga in den Abruzzen scheidet. Die höchste Erhebung hier ist der Monte Gorzano (2458 m). Dieses Gebirge wird im Süden vom Oberlauf des Vomano in west-östlicher Richtung begrenzt mit der Paßhöhe von Capannelle (1299 m). Danach steigt in einer Länge von etwa 40 km das gewaltige Massiv des Gran Sasso auf, das seinen südlichen Abschluß im Tale der Pescara findet. Mit dem Corno Grande erreicht hier der Apennin seine höchste Erhebung mit 2912 m. Die älteste überlieferung von seiner Ersteigung stammt von 1573. Das Massiv des Gran Sasso liegt genau in der Mitte des italienischen Apennins, durch je 500 km von den Apenninausläufern im Norden und Süden Italiens getrennt, 140 km vom Tyrrhenischen Meer und nur 30 km von der Adria entfernt. Südlich der Pescara, die hier in West-Ostrichtung verläuft, steigt, durch die tiefe Schlucht von Popo li (250 m) getrennt, das Morronegebirge auf, dessen höchster Gipfel 2061 m erreicht. Der Abschluß dieses Gebirgszugs ist im Süden die Senke von Guado S. Leonardo (1282 m) an der Straße Caramanico-Campo di Giove. Weiter südlich ist der Verlauf unserer östlichen Gebirgskette nicht mehr so deutlich auszumachen wie bisher. Im Süden stößt das Morronegebirge auf den westlichen Abfall der Maiellagruppe, deren höchste Erhebung der Monte Amaro (2793 m) ist, nach dem Gran Sasso der zweithöchste Berg des italienischen Apennins. Das Maiellagebirge fällt nach Süden steil ab und endet im Tal des Aventino an der Paßhöhe von Forchetta (1276 m), die den Ort Pescocostanzo über Palena, Lama dei Peligni mit Casoli verbindet. Südlich von Forchetta erhebt sich noch einmal ein Gebirge, das sich um den Monte Seeine (1883 m) gruppiert und das, den südlichsten Teil der östlichen Bergkette bildend, mit dem Flußlauf des Sangro die Grenze zum Molise darstellt. An die Maiella schließt im Südwesten ein anderes höheres Gebirge mit dem Monte Rotella (2127 m) an und endet im Becken von Pescocostanzo und Roccaraso.
Der zweite, mittlere Gebirgszug der Abruzzen erhebt sich in seinen Anfängen im Norden zwischen den nord-südlich verlaufenden Flußtälern des Aterno und des Salto. Das Gebirge, das teils zur Provinz Rieti und nur zu kleinerem Teil zur Provinz L'Aquila gehört, wird im weiteren Verlauf von der Ostseite des Fuciner Beckens begrenzt sowie anschließend von der Landstraße, die von Pescina, Pescasseroli, Alfedena nach Isernia in das Molise führt. Der Trakt zwischen Salto und Aterno erreicht südlich der Paßhöhe La Forca (1350 m), die den Ort Tornimparte bei L'Aquila mit S. Luda an der Landstraße Rieti-Avezzano verbindet, größere Höhen und teilt sich in zwei Massive, das des steilen Monte Velino (2487 m) nördlich von Avezzano und das des Monte Sirente (2349 m) nordöstlich des Fuciner Sees mit steilen Abfällen nach Osten in das Aternotal. Südlich des Passes Forca Caruso (1107 m), der das Fuciner Becken mit dem Aternotal verbindet, teilt sich das Gebirge in zwei Läufe, getrennt durch die Täler des Sagittario und des Tasso sowie den Ponte di Pantano, bzw. die Landstraße, die von Anversa degli Abruzzi über Scanno nach Villetta Barrea führt. Westlich dieser Trennungslinie liegt die Montagna Grande mit dem Monte Argatone (2149 m) und weiter südlich dem Monte Marsicano (2242 m). Östlich des Tales dominiert im Norden der Monte Genzana (2170 m) und im Süden der Monte Greco (2285 m). Beide Trakte haben den Sangrofluß als südlichen Abschluß zum Molise.
Eine dritte Bergkette, weniger hoch als die beiden ersten, bildet die Grenze zur Region Latium, beginnend im Norden, nordöstlich der Landstraße Arsoli-Tagliacozzo, mit dem Hügelland von Carsoli, das unter einer Höhe von 900 m bleibt. Steiler sind die nach Südwesten verlaufenden Monti Simbruini, deren Osthänge nur zu den Abruzzen gehören. Dieser Gebirgszug wird durch das Lirital durchschnitten. Westlich des Flusses ist die höchste Erhebung der Pizzo Deta mit 2041 m. Östlich des Tales verläuft das Massiv der Serra Lunga. Die Bergkette der Monti della Meta mit dem Monte Petroso (2247 m) als höchster Erhebung bildet den südöstlichen Abschluß der dritten Bergkette und zugleich die Grenze zwischen Latium und Molise.
Der adriatische Küstenstreifen ist in den Abruzzen zwischen den Flüssen Tronto und Trigno 129 km lang, im Molise hingegen nur 38 km. Vom Tronto bis Francavilla al Mare ist die Küste recht einheitlich gebildet als Ebene, die durchschnittlich einen Kilometer tief ist meist mit sandigem Strand. Nach Südosten zu treten die Hügel näher an das Meer heran und werden von den Fluten direkt bespült. Steilküsten begegnet man bei Ortona, bei der Punta di Cavalluccio südöstlich von S. Vito Chietino, bei der Punta della Penna nördlich von Vasto und in der Stadt Termoli.
Dreiviertel der Oberfläche der Abruzzen gehören zum Hochland. Die Bergketten haben alpinen Charakter, und die Zahl sich lohnender Besteigungen ist unüberschaubar. Dagegen ist die Landschaft des Molise völlig anders gestaltet. Sie ist ein chaotisches und monotones Hügelland. Ihr fehlen steilaufragende Massive, und im Gegensatz zu den schroffen Formationen im abruzzesischen Hochland finden sich hier häufig gerundete Hügel aus Mergel und Sandstein. Und gegenüber den oft düster wirkenden grauen Tönen der alpinen (S. 13) Gebirge in den Abruzzen zeigt das Molise ein helleres Koloritj es dominiert ein bräunlicher erdfarbener Ton, den häufig das Grün der Vegetation begleitet. Die höchsten Erhebungen im Molise finden sich am Oberlauf des Sangro mit dem Monte Campo (1746 m) und dann im Bergland des Matese, einem hohen Grenzgebirge, welches das Molise von Kampanien trennt. Zum Molise gehört der nördliche Teil dieses Gebirgsstocks mit der höchsten Erhebung, dem Monte Miletto (2050 m).
Flüsse
Die Adria nimmt die meisten Flußläufe der wasserreichen Abruzzen auf. Kein Fluß mündet direkt in das Tyrrhenische Meer, nur als Nebenflüsse erreichen sie in Nordsüdrichtung oder umgekehrt den Tiber oder den Garigliano. Die Gewässer zur Adria hin kann man in verschiedene Gruppen teilen. Sehr zahlreich sind die Gießbäche, die im adriatischen Hügelland entspringen, und deren kurze Wasserläufe oft in den weichen Boden einschneiden, wie z.B. die Piomba, der Alento, Osento, Sinello. Andere Flüsse entspringen in der östlichsten Bergkette des Apennins und müssen sich in ihrem Oberlauf den Weg durch enge Schluchten bahnen wie die Vibrata, der Salinello, Tordino, Fino, Tavo und Foro. Die geologisch ältesten und zugleich längsten Flußtäler sind die des Tronto, Vomano, Aterno-Pescara, Sangro, Trigno und Biferno, welche ihre Quellen innerhalb der Bergketten haben. Kennzeichnend für den Lauf dieser Flüsse ist das Knie.
Mit 145 km ist der Aterno, der von Popoli an den Namen Pescara führt, der längste Fluß der Abruzzen. Man sagt, er sei der kälteste Fluß Italiens. Seine Mündung in Pescara ist künstlich schiffbar gemacht. Der zweitgrößte Fluß ist der Sangro mit 117 km, dann kommt der Vomano mit 75 km. Der einzige Fluß, der im Molise entspringt und mündet ist der 93 km lange Bifernoj seine Quelle liegt am Fuße des Matese und seine deltaförmige Mündung südlich von Termoli. Der 85 km lange Trigno bildet einen großen Abschnitt der Grenze zwischen Abruzzen und Molise, bevor er sich südöstlich von Vasto in das Adriatische Meer ergießt. Der südlichste Fluß des Molise und zugleich Grenzfluß zu Apulien ist der Fortore.
Seen
Trotz des Wasserreichturns in den Abruzzen gibt es dort nur wenige Seen von Bedeutung. Der größte, der Fuciner See, wurde im vorigen Jahrhundert ausgetrocknet. Er lag 670 m über dem Meeresspiegel und bedeckte eine Fläche von 155 Quadratkilometern. In weitem Abstand folgt der See bei Scanno mit einer Oberfläche, die kaum größer als ein Quadratkilometer ist. Seine Entstehung verdankt er einem Erdrutsch, der den natürlichen Ablauf des Flusses Sagittario in süd-nördlicher Richrung verhinderte.
Der größte künstliche See ist der Lago di Campotosto in einer Höhe von 1313 m nördlich des Oberlaufs des Vomano. Seine Ausdehnung um faßt 14 Quadratkilometer, und sein Umfang beträgt 64 km. Er wurde zwischen 1940-1946 fertiggestellt. Im Flußlauf des Sangro hat man zwei künstliche Seen angelegt. Zum einen ist es der Lago di Barrea in einer Höhe von 973 m seine Länge beträgt 4,6 km, seine mittlere Breite 500 m. Zum anderen entstand 1956-1960 der Lago del Sangro bei Villa S. Maria in der Provinz Chieti mit einer Länge von 7 km und einer Breite von nicht ganz einem Kilometer. Der künstliche See Sant'Angeio liegt am Flußlauf des Aventino südwestlich von Casoli und wurde 1957 angelegt. Viel kleinere künstliche Seen sind der Lago di Provvidenza am Zusammenfluß des Chierino mit dem Vomano, der Lago di Montagna Spaccata südwestlich von Alfedena und der Lago di Castel S. Vincenzo im Molise, in der Nähe der Quelle des Volturno.
Höhlen und Grotten
Geologisch besteht der Zentralapennin vornehmlich aus Kalkstein. Daher resultieren in den Abruzzen zahlreiche Karstphänomene. Zu diesen gehören die typischen abruzzesischen Hochebenen, die von allen Seiten durch Berge oder höherliegendes Gelände abgeriegelt sind. Diese Kesseltäler sind von unzähligen Karsttrichtern durchsetzt, die sich auf den Plateaus wie auch an den Berghängen gebildet haben. Durch spaltenförmige Öffnungen im Boden dieser Trichter sickert Regenwasser ein, und so entstehen Hohlräume in der Tiefe.
Zu den Karstebenen gehören die Campi Imperatori am Westabfall des Gran Sasso mit einer durchschnittlichen Höhe von 1800 m sowie einer Länge von 27 km und einer Breite von 7 bis 8 km. Weiterhin ist zu nennen die historisch wichtige Hochebene der Cinque Miglia, 1280 m hoch gelegen und 9 km lang, die Sulmona mit Castel di Sangro verbindet; schließlich sei das Hochtal von Rocca di Mezzo erwähnt, das 1303 m hoch und 12 km lang ist und L'Aquila mit Celano verbindet. Der ausgetrocknete Fuciner See war ursprünglich ein Karstsee, 20 km lang, mindestens 10 km breit und mit völlig ebenem Grund.
Trotz dieser Gegebenheiten sind Kalksteinhöhlen und Grotten in den Abruzzen nicht sehr häufig. Die bekanntesten finden sich im Hügelland von Carsoli in der Nähe von Pietrasecca an der Autobahn Rom-L'Aquila. In die Grotte von Pietrasecca sickert das Wasser aus einer mehrere Quadratkilometer umfassenden Talmulde ein. Diese Grotte ist mit ihren 1400 m die längste in den Abruzzen und zugleich die zweitgrößte in Mittelitalien. Sie hat einen großartigen Eingang von 23 m Höhe, und im hinteren Teil befindet sich der »Salon«, der 110 m lang, 65 m breit und 70 m hoch ist. Ober diesem Höhlensystem liegt der Ort Pietrasecca. Manche Höhlenforscher ziehen die Grotte von Luppa, die 4 km südlich von Pietrasecca gelegen ist, der erstgenannten vor. Sie erscheint mit ihren wechselnden Breiten und Engen noch phantastischer. Der Besuch der Höhle ist allerdings bei Hochwasser oder dauernden Regenfällen sehr gefährlich. Weitere Karstphänomene kann man in den Monti Simbruini beobachten. Der Oberlauf des Flüsschens Imele zieht sich (S. 14) öfter durch unterirdische Kanäle hin, die Höhen bis 40 m erreichen. Die Grotta Picinara öffnet sich in etwa 1600 m Höhe unter dem Gipfel des Vallevona (1803 m). Den umständlichen Anstieg dorthin kann man von Rocca di Botte aus in südöstlicher Richtung unternehmen. Weit interessanter indessen ist die Höhle bei dem Ort Stiffe. Sie ist 696 m hoch gelegen, besitzt eine Länge von 698 m und weist einen Höhenunterschied von 65 m auf. Hier treten die Wasser wieder aus, die sich in der Hochebene von Rocca di Mezzo in 1253 m Höhe im Pozzo Caldaia sammeln, der in der Luftlinie nur 2,6 km entfernt ist. Der die Grotte durchfließende Sturzbach bildet häufig größere oder kleinere Seen, und zu seinen Seiten erheben sich zwei Vertikalwände von 20 bzw. 30 m Höhe mit prachtvollen Stalaktiten, in deren unmittelbarer Nähe zahlreiche starke Wasserfälle herabstürzen. Das Ganze bietet mit seinen verschiedenen Farbtönungen und Spiegelungen einen phantastischen Anblick. Allerdings ist die Höhle, deren rückwärtiger Teil am beeindruckendsten ist, noch nicht völlig erschlossen. Ein Kilometer südöstlich von Stiffe liegt ein charakteristischer Karsttrichter, eine sog. Doline, mit einem Durchmesser von 300 m und einer Tiefe von 100 m.
Die bekannteste Höhle im Gebiet des Gran Sasso ist die Grotta Amare, 2. km nordwestlich von Assergi, mit einer Länge von 470 m. Sie wurde 1573 von dem Militäringenieur Francesco De Marchi entdeckt, der auch im selben Jahr die Erstbesteigung des Gran Sasso unternahm. Die Höhle wurde 1962 wiederentdeckt, aber sie ist nicht leicht begehbar. Sie enthält zwei kleinere Seen. Im Saal der Orgel geben die Stalaktiten beim Anschlag einen sehr sanften Klang.
Die berühmtesten Höhlen der Abruzzen liegen im Süden der Maiellagruppe, es sind die Grotta dei Cavallone in 1425 m Höhe und die Grotta dei Bove in der Provinz Chieti. Sie sind von Lama dei Peligni oder von Taranta Peligna aus in anstrengendem Anstieg zu erreichen. Beide sind seit dem Jahre 1704 bekannt. Aber nur die erstgenannte Grotte ist für den Touristen mit einem Führer zugänglich. Die Grotta dei Cavallone wird auch Grotta della Figlia di Iorio genannt, nachdem der Maler Francesco Paolo Michetti sie im Bühnenbild des zweiten Aktes der gleichnamigen Tragödie von Gabriele D'Annunzio dargestellt hatte. Die Höhle ist noch nicht vollständig erforscht, aber bisher in einer Länge von 1305 m zum bequemen Besuch hergerichtet. Die ersten 600 m sind der eindrucksvollste Teil, reich an Stalaktiten und Stalagmiten, die eine Höhe von drei bis vier Meter erreichen. Die Kalkablagerungen in der Grotta del Bove zeigen ein anderes Gefüge und scheinen den Spezialisten wichtiger zu sein als diejenigen der Grotta del Cavallone. Die Grotta dei Bove teilt sich V-förmig in einen längeren und einen kürzeren Arm mit einer Breite von 8 bis 10 m und einer Höhe von 7 bis 10 m.
Darüber hinaus kennen wir eine Anzahl kleinerer Höhlen, die indessen nur von lokaler Bedeutung sind und in unserem Zusammenhang keine Berücksichtigung finden können.
Naturschutzgebiete
Das größte Naturschutzgebiet in den Abruzzen ist der weitläufige Nationalpark, der etwa 300 Quadratkilometer umfaßt. Er beginnt im Norden in der beschriebenen zweiten Bergkette, der Montagna Grande, sowie am Passo del Diavolo und geht im Süden in die dritte Bergkette, in die Monti della Meta ein. Der ausgedehnteste Teil des Parkes gehört mit 17 Ortschaften zur Provinz L'Aquila, mit einem Zipfel, dem Ort Pizzone, reicht er in das Molise, und in Latium rechnet man in der Provinz Frosinone noch sechs Ortschaften hinzu. Mit seinen reichen Wäldern und Bächen hebt sich der Nationalpark landschaftlich sehr stark vom übrigen abruzzesischen Apennin ab, dessen Berge oft bedrohlich öde erscheinen. Wer die Abruzzen der Landschaft wegen aufsucht, findet hier vorzügliche Erholung. Der Park war seit 1872 Jagdgebiet des italienischen Königshauses und wurde 1923 zum Naturschutzgebiet erklärt. Seit 1952 untersteht es einer selbständigen Gesellschaft mit Sitz in Rom und einer Unterabteilung in Pescasseroli. Der Park dient zum Schutz der geologischen Beschaffenheit und des Landschaftsbildes sowie zur Belebung des Tourismus. Die Erhaltung der Landschaft ist natürlich von vielen Verboten begleitet. Jegliche Veränderung ist untersagt, ebenso das Sammeln seltener Pflanzen, es besteht Weide-und Jagdverbot, Fische dürfen nicht gefangen werden. Durch Photographierverbot des Panoramas und sogar der Tiere glaubt man der Spekulation vorbeugen zu können. Jedoch liest man wöchentlich in italienischen Zeitungen, wie diese Verbote umgangen werden, besonders durch die private Baulust in Pescasseroli. Auch die Fauna verleiht dem Park Anziehungskraft, speziell sind es die Bären, die sich hier frei bewegen. Sie sind durchschnittlich einen Meter hoch und erreichen eine Länge bis zu zwei Meter. Ihre Grundfarbe ist bräunlich, wobei Kopf, Hals und Rücken etwas heller sind als die Glieder. Bis zum 16. Jh. kam der Bär auch in anderen Teilen der Abruzzen vor, noch im vorigen Jahrhundert war er im Massiv des Gran Sasso anzutreffen. Neben dem Bären begegnen wir der Gemse, die sonst nirgends im italienischen Apennin zu finden ist. Am häufigsten kommt sie am Massiv des Mollte Petroso vor. Dieser gehört zur dritten Bergkette und bildet die höchste Erhebung (2247 m) des Nationalparks. Die Gemse ist ihrer Art nach der pyrenäischen verwandt. Natürlich kommen im Park auch andere Tiere vor, die auch sonst in den Abruzzen beheimatet sind, wie z.B. der Wolf und der Adler, der bei geöffneten Flügeln eine Breite von 2,50 m erreichen kann.
Die Flora zeigt ungewöhnlichen Reichtum. Den größten Bestand machen mit 60% die Buchen aus.
Im Massiv des Gran Sasso wurde 1952. auf den Campi Imperatori in der Nähe der Endstation der Seilbahn, die bei Assergi beginnt, ein botanischer Garten eingerichtet. Dort untersucht man die alpine Vegetation und das Weideland, um die bestmöglichen Bedingungen für die Vieh weiden im Hochgebirge zu finden.
(S. 15)Plagen und Mißgeschicke
Erdrutsche (frane) und Erdbeben haben das Landschaftsbild der Abruzzen dauernd verändert, die Geschichte gezeichnet und die Monumente dieser Region weitgehend zerstört. Die Erdverschiebungen sind im festeren Hochland seltener als im adriatischen Küstenland. Dort ist das Gelände sand-und tonhaltig, so daß die Flußtäler tief einschneiden und oft bizarre Formationen erzeugen können. Den dauernden Erdrutschen ist auch die modeme Technik kaum gewachsen. Diese Erdbewegungen nehmen nach Süden zu, und für das Molise bilden die Verschiebungen ein nicht zu lösendes Problem. Die schleichenden Tonerden mit ihren sonderbaren Formen bestimmen das Aussehen der Landschaft. Typisch in dieser Hügellandschaft sind die tiefen Furchen, die nach oben fächerförmig aufbrechen und ohne Vegetation sind. Am bekanntesten sind die dem Auge unvergeßlichen »bolge« bei Atri, die Erosionen bei Castelli und die eingefurchten Hügel bei Guardiagrele.
Allein in den Abruzzen sind 137 Gemeinden -das sind 45% aller Ortschaften -von dieser Naturkatastrophe bedroht, und davon wiederum befinden sich mehr als die Hälfte in der Provinz Chieti. Der Autofahrer trifft in diesen Gegenden nur allzu häufig auf das Straßenschild »Frana«. Hat er Glück, kann er die Strecke im abgeschwächten Tempo durchfahren, hat er Pech, kann er sein Ziel überhaupt nicht erreichen oder -was selten möglich ist -auf Umwegen. Oft sind Ortschaften von Bergrutschen bedroht, besonders in den Tälern des Sangro und des Aventino, in Lama dei Peligni und in Taranta Peligna. 1816 zerstörte ein Bergrutsch den östlichen Teil der Stadt Vasto, es taten sich dort Abgründe auf, die alte Gebäude und Kirchen mitrissen. 1969 blockierte ein Erdrutsch die Verbindung der Stadt Ortona mit ihrem Hafen. Der alte Ort Roccamontepiano wurde durch diese Geißel fast völlig zerstört. Das sind nur wenige Beispiele, und mit der Aufzählung dieser bedrohlichen Phänomene ließe sich ein ganzes Buch füllen.
Derartige Katastrophen stehen im Scharten noch schlimmerer chthonischer Mächte: der Erdbeben. Sie haben das Aussehen der Landschaft und besonders das Bild der Siedlungen und damit ihre Geschichte und Kunstgeschichte in Unordnung gebracht und nicht selten abgebrochen. In den Abruzzen und im Molise begegnen wir vielen Orten, durch die wir gelangweilt ohne Wahrnehmung von Geschichte hindurchgehen. Sie machen oft den Eindruck von Kolonialsiedlungen, die nur in kärglichster und ärmster Form dem Leben der Bewohner dienen. Die Ursache sind meistens die Erdbeben. Die Abruzzen und das Molise gehören nicht nur zu den erdbebenreichsten Gebieten Italiens sondern zu denen des Mittelmeerbeckens überhaupt. Jährlich wird dieses Land von mehr als zehn Erdstößen betroffen. Spielten sich die Bergrutsche mehr im adriatischen Hügelland ab, so liegen die Katastrophengebiete der Erdbeben vor allem im Hochland, im Norden im westlichen Teil der Monti della Laga, dann im Gebiet um L'Aquila, ferner im Bergland um die Maiellagruppe mit Caramanico, Sulmona, Palena, Torricella, Pescocostanzo und Castel di Sangro, alles Zonen, die mit der besprochenen ersten, östlichen Bergkette zusammenhängen. Weiterhin schwer gefährdet ist der südliche Teil des Molise mit Carpinone, Campobasso und Boiano. In der Gegend von L'Aquila wurden zwischen 1895 und 1951 indem kleinen Raum zwischen Lucoli und Poggio Picenze mehr als dreißig Erdbeben registriert.
Man kann sich kaum genügend gegenwärtig machen, wie sehr die Beben die Urbanistik der Städte und die einzelnen Monumente in der Landschaft zerstört haben oder aber Anlaß zu Um-oder Neubauten wurden. Im Gesamturteil über die künstlerischen Vorgänge in den Abruzzen sollte man sehr vorsichtig sein im Bewußtsein, daß ein großer Teil dieser Landschaft mehr als das übrige Italien gelitten hat, mit Ausnahme vielleicht von Kalabrien. Die Bauweise ist auf die Katastrophen abgestimmt. Im Hochland fehlen die überhohen Türme, die Fassaden der Kirchen und Paläste sind meistens niedriger als im adriatischen Küstenland. Einen Katalog der zerstörten Monumente gibt es nicht, und es wird ihn auch in Zukunft wohl kaum geben. Der Überblick, der hier folgt, ist nur ein winziger Bruchteil des Gesamtgeschehens, fast zufällig notiert, und doch so charakteristisch für die Verluste. Im Jahre 842 wird Isernia betroffen, wobei auch der dortige Bischof ums Leben kommt. 990 wurde S. Liberatore alla Maiella zerstört, eines der wichtigsten Benediktinerklöster in den Abruzzen, 1348 fiel durch Beben das Mittelschiff der 1176 gebauten Klosterkirche von S. Clemente a Casauria ein. Ein großes Beben erfolgte 1349, dabei blieben in der neugegründeten Stadt L'Aquila nur wenige Kirchen stehen, und noch verheerender waren die Folgen in Sulmona. Bekannt ist die Katastrophe von 1456: wieder Schäden in L' Aquila, die Stadt Castel di Sangro wurde zum größten Teil vernichtet, in Sulmona stürzte S. Francesco ein, eine Kirche, deren eindrucksvolle Ruinen heute noch zu sehen sind. Die Stadt Caramanico wurde dem Erdboden gleich gemacht, und in Carsoli blieben nur elf Häuser übrig. Dieses Erdbeben zerstörte das Molise von Isernia bis Campobasso, die Abruzzen von der Grenze zum Molise bis L' Aquila, von Termoli bis Teramo. Nur fünf Jahre später, 1461, wird L' Aquila von neuem betroffen mit besonderen Schäden an den Kirchen S. Giusta und S. Maria di Collemaggio sowie am Hospital der Kirche S. Matteo. Nahe L'Aquila stürzte die alte Bistumskirche des 12. Jh., S. Eusanio Furconese, ein, heute noch als Ruine zu betrachten. In Teramo wurden die Gotteshäuser S. Francesco, S. Domenico und S. Bernardino beschädigt. 1506 zerstörte ein Erdbeben Ortona a Mare, 1563 fiel die Fassade über dem Haupteingang des Domes von Atri ein. Besonders grausam war das Erdbeben von 1703, es dauerte vom 14. Januar bis zum 2. Februar. In L'Aquila wurden 2500 Tote und 2000 Verletzte gezählt, in der Umgebung waren es 7694 Tote und 1136 Verletzte. In L'Aquila stürzten ein: die größten Teile des Domes, Kirch (S. 16) turm und Fassade von S. Pietro di Sassa, ein Teil der Fassade von S. Quintiniano. Am 2. Februar ereignete sich der Einsturz von S. Bernardino. Erhalten blieben nur der Chor, die Fassade und einige Seitenteile. Ungeheuer war der Verlust an Stadtpalästen, die der Quinzi, Pica-Alfieri, Franchi, Antonelli und Centi. Der Ort Paganica bei L' Aquila wurde fast völlig vernichtet. Dasselbe Erdbeben zerstörte auch die Orte Amatrice, Montereale, Arischia, Manoppello, Turrivalignani, S. Valentino und viele kleinere Ortschaften. Nur drei Jahre später erhob sich 1706 das Massiv der Maiella und bewegte sich wie ein Gigant nach einem Schlaf von Jahrhunderten. Die Schäden erstreckten sich bis zur adriatischen Küste, zu registrieren waren: Zerstörungen an der Kathedrale von Sulmona und in allen Orten rings um die Maiella, Einsturz des alten Kastells von Castel di Sangro, Einsturz des Turmes von S. Marco in Agnone und so weiter. 1762 wurde Poggio Picenze zerstört, 1881 entstanden Schäden an der berühmten Stadtmauer von Lanciano und an den Kirchen dieser Stadt, 1885 in Avezzano, 1904 in Magliano dei Marsi und in Rosciolo. Obwohl das Land der Marser und der Oberlauf des Liriflusses nicht zu den eigentlichen Katastrophengebieten gehören, ereignete sich hier 1915 das größte Erdbebenunglück, das wir in den Abruzzen kennen. Es betraf vor allem die Stadt Avezzano, wo von den 12000 Einwohnern bei einem Erdstoß, der kaum 30 Sekunden dauerte, 10000 ums Leben kamen. Die ganze Stadt und große Teile des Orsinikastells am Fuciner See fielen ein. Die blühenden Orte im Lirital wurden sämtlich vernichtet. Einige Siedlungen wie Avezzano, Magliano dei Marsi und Cappelle wurden notdürftig wiederaufgebaut, andere sind völlig verschwunden, in wieder anderen sehen wir noch heute in den Ruinen die Folgen dieser Naturkatastrophe, sehr eindrucksvoll z.B. in Pescina am östlichen Ufer des Fuciner Sees, der Geburtsstadt des Kardinals Mazarin. Der Ort Salle Nuova, südöstlich von Tocco da Casauria, ist ein moderner Ort, der Salle Vecchia ersetzt, das schwere Bergrutsche erlirt und außerdem Zerstörungen durch Erdbeben in den Jahren 1915 und 1933. Heute erscheint der Ruinenort äußerst pittoresk. Ein Erdbeben von 1962 zerstörte den Ort Ururi im Molise. Die Abruzzen und das Molise sind zu arm, um daran denken zu können, die zerstörten Monumente wieder freizulegen oder sie überall wieder aufzubauen. Der Abruzzese nimmt diese Plagen wie ein unabwendbares Schicksal hin. Das Wissen und Fühlen dieser Naturkräfte ist ihm eingeboren.
Andere Plagen hat nicht die Natur diktiert, sondern die Menschenhand selbst erzeugt. Fast in allen Jahrhunderten waren die Abruzzen von Kriegen heimgesucht, eine lange Kette, die von den Römern bis zu den Barbaren, Langobarden, Normannen, Hohenstaufen, Anjou, den Spaniern und Bourbonen bis zum Zweiten Weltkrieg reicht, in dem von deutscher Seite in der Gegend des Sangroflusses die sog. Gustavlinie verteidigt wurde, wobei man blühende Ortschaften mit ihren Monumenten vernichtete, die inzwischen nur kümmerliche Wiederherstellung erfuhren.
Die moderne, fragwürdige wirtschaftliche Entwicklung hat in gewissen Teilen der Region das Landschaftsbild völlig verändert, am meisten im adriatischen Küstenstreifen. Vor allem das Becken des Pescaraflusses zwischen Pescara und Chieti und die angrenzenden Gebiete sind mit ästhetisch unorganisierten Industriebauten übersät. Neben der allgemeinen Emigration fand eine immense Binnenmigration aus dem Hochland in die Niederungen start. Ähnliche Umgruppierungen ergaben sich aus der Fremdenindustrie. Längs der Adria entstanden von Teramo bis Termoli nicht nur Hotels von beträchtlichen Ausmaßen sondern ganze Touristenstädte an Orten, die früher meistens nur untergeordnete Bedeutung harten. Das historische Landschaftsbild der Abruzzen an der Adria ist daher, wie die Küsten Italiens überhaupt, weitgehend zerstört.
An Hand der flüchtig skizzierten »Plagen« kann man sich vorstellen, wie stark die staatlichen Behörden, die den Schutz der Landschaft und der Monumente zu regulieren haben, in ihren Aufgaben überfordert sind. Die damit sich befassenden Institutionen sind so unterbesetzt, daß sie ihren Pflichten nicht nachkommen können. Die Leitung dieser Ämter wird meistens von Architekten wahrgenommen, die allzuschnell versetzt werden, und denen die historische und kunsthistorische Ausbildung fehlt. Die materiellen Voraussetzungen für Restaurierungen waren nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus gegeben. Während für die Archäologie und die Museen die Chance mit Erfolg genutzt wurde, muß man indessen eingestehen, daß gerade in den Abruzzen Eingriffe in die Monumente des Mittelalters und der Neuzeit getätigt wurden, die so negativ zu beurteilen sind, daß man von einer neuen Plage sprechen kann. Proteste in den Zeitungen und internationale Interventionen haben nichts genützt. Die bedeutendsten Monumente der Abruzzen haben in den letzten 25 Jahren derartige Veränderungen erfahren, daß der Besucher, dem die Kunstdenkmäler von früher her vertraut waren, sie oftmals kaum wiedererkennt. Der »Stil« der Restaurierungen ist ein rigoroser Purismus. Die Absicht geht dahin, Bauten in ihren ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen, und da die meisten in der Romanik entstanden sind, ist man einer neuen Romanisierung verfallen und hat Teile, die den Bauten später hinzu gegeben wurden und historische Bedeutung erlangten, einfach entfernt. So geschehen in den berühmtesten Kirchen der Abruzzen, in S. Maria di Collemaggio in L'Aquila und in S. Pelino in Corfinio. In S. Liberatore alla Maiella wurden aus Unverständnis Bestandteile des Altbaus abgebrochen und der Innenraum sinnlos mit romanischer Ausstattung aus der ländlichen Umgebung angefüllt. In S. Pietro ad Oratorium bei Capestrano waren wertvolle Fresken vorhanden, die bei der Restaurierung verschwunden sind. In S. Tommaso in Caramanico wurden Architekturteile und Bauplastik so versetzt, daß der Altbestand kaum noch auszumachen ist. Von den Statuen in S. Pelino bei Corfinio, seltenen und qualitätvollen Beispielen des abruzzesischen Barock, weiß man nicht, wo sie geblieben sind. Böse Zungen behaupten, sie seien auf dem Flohmarkt in Rom gesehen worden. Den Katalog derartiger Mißgriffe könnte man ins Uferlose erweitern.
(S. 17)Verwaltungsbezirke in den Abruzzen und im Molise
Die heutige Gliederung der Abruzzen und des Molise in Provinzen hat eine lange Vorgeschichte, und wir wissen, daß die Abgrenzungen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verändert wurden. Eine erste festumrissene Gebietsregelung ging von den Römern aus, nachdem die Provinzen innerhalb und außerhalb Italiens zu einer Einheit zusammengefaßt worden waren und aus einer Reichsstadt ein Reichsstaat erwachsen war. Es war Kaiser Augustus, der die Verwaltungsorganisation in seinen Landen klar durchdachte und als genialer Staatsmann durchführte. Er drang auf die Vermessung seines Reiches, bestimmte die Grenzen und regelte das Finanz-und Steuerwesen. Die geordnete Volkszählung ist uns aus der Bibel geläufig: »Es begab sich aber in der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und die Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt.« Augustus gliederte Italien in elf Regionen. Die vierte hieß Sabina und Samnium und umfaßte das Land der Samniter und Sabiner, der Aequer, Vestiner, Paeligner, Marser, Marruciner und Frentaner. Es bedurfte der Menschenkenntnis und Einsicht des Augustus, die italischen Völkerschaften unseres Berglandes, die sich so eindrucksvoll und erfolgreich gegen Rom gewehrt hatten, nicht durch politisches Spiel zu teilen und zu schwächen. Der Name Samnium wurde beibehalten, obwohl es in den samnitischen Kriegen um die Vormacht Roms oder der gefürchteten Samniter gegangen war. Der Kern des heutigen Gebietes von Abruzzen und Molise wurde als Verwaltungsbezirk von Augustus geschaffen und hat sich mehr oder minder bis auf die Gegenwart erhalten. Die vierte augusteische Region entsprach aber nur teilweise der gegenwärtigen Provinzeinteilung; z.B. gehörten die Larinates Frentani mit ihrer Stadt Larino zur zweiten Region, zu Apulien und Kalabrien, das Gebiet von Venafro zur Regio Campania, und die Praetutier mit dem Sitz in Teramo bildeten einen Teil der fünften Region Picenum. Neben diesen geringfügigen Beschneidungen wurden wiederum andere Gebiete zur vierten Region geschlagen, die im eigentlichen Sinn kaum etwas mit den Abruzzen zu tun hatten, wie das Gebiet der Tiburtiner, das der Nursiner in Norcia in Umbrien und das der Reatiner in Rieti.
Die Landeseinteilung des Augustus hielt sich bis zu den Zeiten des Kaisers Diokletian (gest. 313). Er reduzierte die Regionen in Italien von elf auf acht. Das uns angehende Gebiet hieß nun Samnium und Campania. Zu Samnium gehörten auch die Teile, die in augusteischer Zeit unter dem Namen Sabina vereint waren. Das Molise ist nun nicht mehr gespalten. Die Larinates Frentani und Venafro mit Umgebung wurden mit den Frentanern vereint, was ungefähr dem heutigen Molise entsprechen mag.
Grundlegende Veränderungen erfolgten während der Völkerwanderungen, besonders zur Zeit der Langobarden. Sie drangen 568 in Oberitalien ein und erklärten 572 Pavia zur Hauptstadt ihres Königreichs. In seiner Blütezeit erstreckte sich dieses germanische Reich über ganz Italien mit Ausnahme des Exarchats von Ravenna, des Dukates von Rom, eines kleinen Teils um Neapel und des kalabresischen Küstenstreifens. Das Königreich der Langobarden wurde in Herzogtümer aufgegliedert. Dabei erfuhren die Abruzzen und das Molise eine politische Spaltung. Das nördliche Gebiet gehörte zum 572 gegründeten Herzogtum Spoleto, das südliche zum Herzogtum Benevent. Die Grenze bildeten das Marserland um den Fuciner See herum und wahrscheinlich der Oberlauf des Flusses Liri bis Sora, ein Gebiet, das zu Spoleto gehörte, dann verlief sie, wie schon sooft, längs des Pescaraflusses bis zum Adriatischen Meer. Die Geschicke des nördlichen Herzogtums wurden kaum zentral von Spoleto aus gesteuert. Es entstanden hier mehr oder minder eigenständige kleinere von Langobarden regierte Feudalsitze. Südlich des Tronto gab es allein sieben Verwaltungen, Aprutium, Penne, Teate (Chieti), das Land der Marser, Amiternum, Forcone und Valva (Corfinio). Das Herzogtum Benevent scheint stärker als das von Spoleto von der Hauptstadt regiert worden zu sein. Die langobardische Unterteilung in Verwaltungsbezirke ist dort weniger markant.
Besondere Aufmerksamkeit verdient der oben angeführte Name Aprutium, von dem sich das Wort Abruzzen ableitet. In vorrömischer und römischer Zeit ist Aprutium nicht überliefert. Zum erstenmal taucht diese Bezeichnung in drei Briefen des Papstes Gregor d.Gr. um 600 auf und bezieht sich auf einen kleinen Raum, auf die Stadt Teramo und ihre nächste Umgebung. Etwas später erfahren wir von einer Diözese Aprutina, wieder bezogen auf das Gebiet von Teramo, das noch im 11. Jh. als Comitatus (Grafschaft) Aprutinus bezeichnet wird. Die Ausdehnung des Namens auf das gesamte Gebiet der heutigen Abruzzen und Teile des Molise erfolgte unter den Hohenstaufen. Schon der Humanist Flavio Biondo leitete im 15. Jh. das Wort Abruzzen von Interamna Praetutiorum ab, dem antiken Namen des heutigen Teramo. Aus Praetutium bildete sich Aprutium, Abruzzen, eine Meinung, die heute noch mit Recht den größten Anklang findet. Daneben gibt es eine andere Erklärung, die den Namen Aprutium von den Brutiern ableitet. Diese saßen in Kalabrien, in der Landschaft Brutium, und noch heute erscheint eine bekannte Kunstzeitschrift unter diesem Titel. Die zweite These nun besagt, daß ein Teil der Völkerschaft der Brutier auf dem Zug nach Süden in der Gegend von Teramo zurückblieb, wodurch dem Gebiet die Bezeichnung Aprutium gegeben wurde. Indessen läßt sich diese Meinung historisch nicht belegen, die Brutier sind in unserer Region nicht nachzuweisen.
(S. 18)Der Name Molise taucht erst im späteren Mittelalter auf. Mit Recht leitet man ihn von einer Burg gleichen Namens ab, die aus dem 12. Jh. stammt und im oberen Teil des Trignotales gelegen ist. Andere dagegen führen das Wort auf einen Hugo von Molise zurück, der ein normannischer Graf zur Zeit Rogers I. von Sizilien (1061-1101) gewesen sein soll.
Das Reich der Langobarden wurde durch die fränkische Herrschaft (774-1056) abgelöst. Anstelle der Langobarden regierten nun meist fränkische Grafen. Karl d.Gr., der 773/774 Pavia einnahm, bezeichnet sich als König der Franken und der Langobarden. Die politischen Auswirkungen auf unser Bergland waren nicht unbeträchtlich. Den Franken ist es nie gelungen, sich des langobardischen Herzogtums Benevent zu bemächtigen, das -trotz gelegentlicher formaler Anerkennung der fränkischen Oberherrschaft seine Unabhängigkeit wahren kann und sich weiter als eigentliche Rechtsnachfolgerin des langobardischen Reiches fühlt.
Abruzzen und Molise gingen nun über Jahrhunderte verschiedene Wege, der südliche Teil der Beneventaner zeigt eine ausgesprochene Hinwendung zur byzantinischen Politik und Kultur, während der nördliche Teil enger den Mächten und Strömungen verhaftet ist, die durch die Politik deutscher Kaiser Einfluß gewannen. Dem zweiten Sohn Karls d.Gr., Pippin (gest. 810), der Statthalter seines Vaters in Italien war, gelang es, das Gebiet um Chieti den Beneventanern zu entreißen und in das Herzogtum Spoleto einzugliedern, dessen Grenze von der Pescara bis zum Lauf des Sangro vorgeschoben wurde. Die vielen Teilherrschaften der Langobarden in den nördlichen Abruzzen wurden 843 von den Franken fast alle vereinigt und der unabhängigen Grafschaft Marsia unterstellt. Dieses mächtige Marsergeschlecht hat sich 200 Jahre gehalten und kam erst verhältnismäßig spät, 1143, unter die Herrschaft der Normannen.
Die Zerrissenheit der Abruzzen und des Molise im Kräftespiel nördlicher und südlicher Herrschaftsbereiche zeigt sich besonders während der langobardischen und fränkischen Oberherrschaft. Eine entscheidende Wendung, die unser Bergland bis zur Einigung Italiens im 19. Jh. dauernd an Süditalien bindet, tritt durch die Normannen ein, die erst als Wallfahrer am Monte Gargano, dann als Ritter im Söldnerdienst, seit 1059 als Herzöge von Apulien im Süden agierten und schließlich 1130 mit päpstlicher Zustimmung ein Königreich in Sizilien bildeten. Der Versuch einer Reichsbildung erfolgte zunächst in Apulien und Kalabrien. Von dort aus begannen seit der Mitte des 11. Jh. die ersten feindlichen Vorstöße gegen die Bewohner der Abruzzen. Die Eroberung gelang ab 1140, während in den vorangehenden neunzig Jahren die Geschicke wechselhaft waren. Lange Zeit konnte die Provinz Teramo noch ihre Selbständigkeit erhalten, teilweise auch die Grafschaft Penne.
Als Nachfolger der Normannen wurden die Hohenstaufen in der Verwaltung wirksam. Im Bestreben, Süditalien zu einigen, gleichen ihre Gebietsaufteilungen mehr denen der Antike als denjenigen des vorausgegangenen Mittelalters. Versuche späterer Verwaltungsgliederungen rütteln nicht mehr an der historischen Grundsubstanz unserer Region, sondern stellen nur Modifikationen dar, die das Geschichtsbild nicht wesentlich verändert haben. Friedrich II. von Hohenstaufen hatte eine besondere Zuneigung zu Sulmona und machte es zur Hauptstadt eines Verwaltungsbezirkes, der »Iustieratus Aprutii« hieß, ein Gebiet, das sich ungefähr mit den heutigen Abruzzen deckt, aber das Molise ausklammerte. Noch straffer als die Hohenstaufen organisierten die Nachfolger, das Haus Anjou. Kar! I. (1268-1285) teilte den von Friedrich 11. geschaffenen Bezirk in zwei Teile, in Abruzzo citra und Abruzzo ulterior. Die Grenze zwischen beiden bildete wie sooft der Pescarafluß, wobei diesseitscitra und jenseits-ulterior immer vom Süden von der Hauptstadt Neapel aus gesehen ist. Hauptstadt von Abruzzo citra wurde ansteHe von Sulmona die Stadt Chieti, und der Verwaltungssitz von Abruzzo ulterior wurde das eben erst gegründete L'Aquila. Im Jahr 1272 verlor das Moli se seine Selbständigkeit, kam zum Königreich Neapel und unterstand bis 1538 der Region Terra di Lavoro in Kampanien. Abruzzo ulterior wurde 1684 aufgegliedert, und neben L'Aquila wurde ein neuer Gerichtsbezirk in Teramo geschaffen. Letzterer wurde auch als Abruzzo ultra I bezeichnet, während L' Aquila mit seinem Gebiet Abruzzo ultra II hieß. In der Folgezeit spricht man dann von einem dreifachen Abruzzen, Abruzzo triplice, mit den Hauptstädten L'Aquila, Teramo und Chieti. Diese Unterteilung bestand bis zur Regierung des Königs Joseph von Neapel, dem Bruder Napoleons. Zu dieser Zeit wurde das Molise wieder ein eigener Verwaltungsbezirk mit den Provinzen Campobasso und Isernia. Neugruppierungen gab es unter den Bourbonen, die bis zur Einigung Italiens in Neapel regierten. Das Molise bestand nun aus drei Distrikten mit Verwaltungen in Campobasso mit 57 Ortschaften, in Isernia mit 46 und in Larino mit 34 Gemeinden. Abruzzo citerior gliederte sich in drei Sektionen, in Chieti mit 41, in Lanciano mit 40 und in Vasto mit 40 Orten. Abruzzo ulterior I bestand aus zwei Bezirken, aus Teramo mit 39 und aus Penne mit 26 Gemeinden. Abruzzo ulterior II zerfiel in vier Teile, in L'Aquila mit 47, Sulmona mit 27, Avezzano mit 33 und Cittaducale mit 17 Ortschaften.
Die Einigung Italiens im Jahre 1861 befreite die Abruzzen und das Molise von der weit über tausend Jahre dauernden Fremdherrschaft verschiedener Länder, nachdem sie seit der Hohenstaufenzeit an das Königreich Neapel gebunden gewesen waren. Nach der Einigung gehörte Benevent nicht mehr zum Kirchenstaat. Wegen der historischen Bedeutung der Stadt schuf man eine eigene Provinz Benevent und schlug dieser den südlichen Teil des Molise mit 15 Ortschaften zu. Der Verlust wurde durch Gewinn von 13 Gemeinden kompensiert, die bis dahin Teil der Terra di Lavoro waren. Das kunstgeschichtlich bedeutende Zentrum von S. Vincenzo al Volturno gehört somit heute zum Molise, wohingegen kunstgeographisch der Ort mehr nach Benevent, Kampanien und Montecassino orientiert ist.
Die nächste administrative Veränderung erfolgte 1927. (S. 19) Die Stadt Pescara hatte sich industriell so stark entwickelt, daß der Ort, dessen Bedeutung bis zu diesem Zeitpunkt nicht ins Gewicht gefallen war, Provinzstadt wurde. Dieser Distrikt besteht aus 49 Ortschaften, von denen vordem 32. zu Teramo, 15 zu Chieti und 2. (Popoli und Bussi) zu L'Aquila gehörten. Zur gleichen Zeit verloren die Abruzzen anläßlich der Neugestaltung der Provinz Rieti in Latium einen Teil im Nordwesten, und zwar Ortschaften, die sich um die Stadt Cirtaducale gruppieren. 1963 wurde das Molise administrativ von den Ahruzzen getrennt. Hauptstadt wurde Campobasso. 1970 teilte man das Molise, und Isernia kam als zweite Provinzstadt hinzu. Ihr unterstehen 52. Orte, die vordem zu Campobasso gehörten und nun das westliche Molise ausmachen.
Neben der weltlichen Verwaltung existiert die kirchliche mit der Einteilung in Erzdiözesen und Diözesen. Erzbistümer in den Abruzzen bestehen in L'Aquila seit 1881, in Chieti seit 1526 und in Lanciano seit 1562, Bistümer in Teramo, Pescara, Sulmona und Avezzano. Die Diözesen sind in den Abruzzen großräumiger als im Molise, wo Bisturnssitze in Termoli, Larino, Trivento, Campobasso und Isernia sind. Die heutige Gliederung entspricht nicht immer derjenigen früherer Zeiten. In den ersten Jahrhunderten des Christentums, als fast jede Stadt ihren eigenen Bischof besaß, war die Aufgliederung viel feinmaschiger. Viele derartiger Sitze sind historisch nicht wirksam geworden und heute fast vergessen. Daneben gibt es Bistümer, die durch das Aufblühen benachbarter Städte an Bedeutung verloren und deshalb ohne Änderung der Diözesangrenzen verlegt wurden. Ein Beispiel ist Furconium, eine alte Stadt der Vestiner an der Stelle des heutigen Civita di Bagno gelegen. Das dortige Bistum wurde im 13. Jh. in das aufstrebende L'Aquila verlegt. Der Bischofssitz des Marserlandes war lange Zeit der Ort S. Benedetto dei Marsi. Heute befindet sich der Sitz der Diözese in Avezzano, der volkreichsten Stadt des alten Marsergebietes. Seit 1949 ist Pescara, das größte Handels-und Industriezentrum der Abruzzen, Sitz eines Bischofs geworden, der vordem in Penne residierte. Ähnlich erging es der Diözese Boiano, die 1927 zugunsten der Provinzstadt Campobasso aufgegeben wurde. Die Zahl verlegter Bisturnssitze ist geringer als die Menge vereinigter Diözesen. Wir beobachten eine Tendenz zur Zentralisierung, wobei die Bistümer größer werden. Derartige Erweiterungen lassen sich in Teramo belegen. Das früher selbständige Bistum Atri gehört heute zu Teramo, und auch Camp li war ca. 1570 bis 1818 eine eigene Diözese, bis es derjenigen in Teramo unterstellt wurde. Valva und Sulmona waren getrennte Bistümer und sind heute vereint wie Chieti und Vasto. Ortona, seit 1570 Bistum, wurde mit Lanciano verbunden. Das in der Mitte des 11. Jh. gegründete Bistum Guardialfiera hielt sich bis 1818 und kam dann zu Termoli. Die Diözesen Isernia und Venafro, die schon einmal im 12. und 13. Jh. zusammengehörten und dann wieder getrennt wurden, sind seit 1852 wieder vereint.
[Teil 2] - Vorgeschichte, die Zeit der italischen Völker und die Zeit der Römer
(S. 22)Vorgeschichte
Die Vielfältigkeit des abruzzesischen Landschaftsbildes mit den alpinen Bergketten und den in sich abgeschlossenen Hochtälern, mit der Fülle tiefeinschneidender Flüsse, im Wechsel mit dem andersgearteten Küstenland, die geologischen Unterschiede von Kalkstein und Tonerde, waren die Voraussetzung, daß Spuren menschlichen Lebens in einer Fülle vorhanden sind, wie sie sonst in ganz Italien nicht vorkommt. Die Bergwelt hat wegen ihrer schweren Durchdringlichkeit etwas Konservierendes an sich, indessen steht sie der Bildung großer, übergreifender Kulturräume entgegen. Gleiche Erscheinungen kennen wir auch in den Alpen, sei es in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Allerdings ist in den Abruzzen mehr überliefett, und wir können dott Jahrtausende umfassende Zeitspannen besser verfolgen als anderswo. Aber trotz der vielen Funde ist es schwierig, sich für unsere Region eine übersicht zu verschaffen, da es, über die Beschreibung von Lokalfunden hinaus, bisher nicht zu klärenden Gesamtüberblicken gekommen ist. Die Urund Frühgeschichte ist hier, wie auch andernorts, zu lange Zeit das Arbeitsfeld patriotischer Amateure gewesen, deren Ausgrabungsfunde im Lauf der Zeit in alle Winde zerstreut wurden. In den Abruzzen gibt es erst seit dem Jahre 1951 beim Denkmalamt in Chieti eine Abteilung, die sich um die wissenschaftliche Erforschung der ältesten Zeugnisse der Kultur in unserer Landschaft bemüht. Früher war die Region aufgeteilt und verschiedenen Behörden unterstellt, deren Sitze sich in Ancona, Rom und Neapel befanden. Um die Funde genauer srudieren zu können, müßte man schon diese drei Städte aufsuchen, und auch dann dürfte es kaum möglich sein, sein Wissen zu vertiefen, da die Herkunft der Objekte in den Sammlungen nur selten registriert ist. In Bezug auf die Privatinitiativen greife ich den Arzt Concezio Rosa heraus, der 1824 in Castelli geboren wurde und 1876 starb. Zwischen 1867 und 1871 sammelte er in dem an Funden reichen Tal der Vibrata allein 5163 Objekte aus der Steinzeit. Rosa war auch der erste, der in dieser Gegend prähistorische Siedlungen entdeckte. Bis zum Jahre 1873 konnte er in dreizehn Siedllungen 235 prähistorische Hütten feststellen. Heute sind die Funde Rosas zerstreut, ein großer Teil befindet sich im prähistorischen Museum in Rom; andere Objekte sind in die Museen von Parma, Bologna, Reggio Emilia und bis ins Ausland nach Toulouse, Saint Germainen-Laye usw. gelangt. Zwar ist die Forschung in den letzten Jahrzehnten durch strengere amtliche Straffung und systematische Bearbeitung zu grundlegenden, aber im ganzen doch noch tastenden Klärungen gekommen.
Die Ur-und Frühgeschichte kann man in zwei Epochen einteilen, und zwar in eine älteste Zeit vor der Wanderung der Sabiner und eine jüngere vorn 8. bis 1. Jh. v. Chr., als diese die Geschicke des Landes bestimmten. Es wird nicht immer leicht sein, eine gen aue Grenzlinie zwischen diesen beiden Zeiten zu ziehen und eine exakte Datierung der Funde im einzelnen zu geben. In der ältesten Epoche weist die Formgeschichte der Objekte in den Abrozzen wenig Charakteristisches auf. Sie ist vielmehr der Spiegel der allgemeinen europäischen und außereuropäischen Entwicklung. Dennoch liefert diese Zeit Erkenntnisse über die Siedlungsgeschichte, über Haus-und Jagdgerät, teilweise sogar über den frühen Wohnungsbau. Soweit sich bis jetzt feststellen läßt, sind die Funde im Molise weitaus geringer im Verhältnis zu der fast unübersehbaren Fülle in den Abrozzen. Neben unbedeutenden Objekten kamen im Molise nur ein großer Faustkeil aus der altpaläologischen Kultur bei Ceppagna di Venafro ans Licht und bei Sepino eine Hütte des Neolithikums (ca. 5000-2000 v. Chr.) mit der Begräbnisstätte eines Menschen.
Die frühesten Zeugnisse menschlicher Siedlungen aus dem Altpaläolithikum (ca. 600000-150000) und dem Mittelpaläolithikum (ca. 150000-80000) befinden sich an der adriatischen Seite bis zur östlichen Gebirgskette des Gran Sasso und der Maiellagruppe ansteigend. Zu den ältesten prähistorischen Objekten Italiens überhaupt gehören mandelförmig behauene Steine und Faustbeile aus der Ortschaft Madonna del Freddo über dem linken Ufer des Alento vor den Toren der Stadt Chieti. Sie sind über 300000 Jahre alt. Einer der berühmten Fundorte des Paläolithikums ist das Tal der Gi umentina bei Caramanico Terme.
Um 18000 waren die Abruzzen schon dicht besiedelt. In dieser Phase des homo sapiens entwickelte sich hier die Kulror von Bertona, die seit 1954 nach dem Fundort Montebello di Bertona in der Provinz Pescara so benannt wird. Die Bertonianer lebten von Ackerbau und Viehzucht, teilweise waren sie noch Nomaden, besaßen aber auch schon feste Wohnsitze. Diese befanden sich im Hügelland des Adriatisehen Meeres in Höhlen, deren Zugang nach Süden lag. Nach der überwinterung zogen sie an den Flußläufen des Sangro und der Pescara in ihre Jagdzonen hinauf und entdeckten um 13000 im inneren Hochland in der Gegend des Fuciner Sees neue Gebiete, in denen sie später ständig siedelten.
Um das Jahr 8000 drangen neue Völker aus dem nahen Orient, der Donauniederung, dem Balkan und Illyrien nach Italien ein. Sie brachten die Kunst des Töpferns mit und leiteten die Jungsteinzeit (ca. 5000 bis 2000) ein. Die ältesten Keramiken in den Abruzzen stammen etwa aus der Zeit um 6500. Fundorte sind vor allem die Ortschaft Leopardi bei Penne, die Ortschaft Fonterossi bei Lama dei Peligni und die Grotta dei Piccioni in Bolognano in Chieti. Die feinsten Erzeugnisse der Jungsteinzeit in Italien sind mit einem abruzzesischen Namen verbunden, mit der Fundstelle Ripoli di Corropoli in der Provinz Teramo. Die Ripoli-Kultur kann man seit 5000 bis in die Anfänge der Bronzezeit verfolgen. Die Keramik ist vielgestaltig, man findet große tulpenförmig sich öffnende Gefäße, Wasserkrüge, breite Platten, Tassen (S. 23) mit halbrunden Henkeln, die direkt unter dem oberen Rand ansetzen, Krüge mit nur einem Henkel. Die Farben reichen von Grau bis zu Schwärzlich, gelegentlich begegnet man gelblichen oder rötlichen Tönen. Neben Keramiken ohne Muster kommen auch solche mit geometrischen Schraffierungen vor, oft sind es aus dunklen Parallelstrichen gebildete Dreiecksformen auf hellerem Untergrund. Punktierte Bänder rahmen die Muster häufig ein. Abwechslungsreich werden die Henkel behandelt. Einige sind halbrund mit nach oben herausstehendem Dorn, um dem Daumen beim Tragen Halt zu geben. Bemerkenswert sind die anthropomorph gebildeten Henkel, wobei die menschliche Gestalt noch recht schematisch und stark stilisiert ist. Die Keramik von Ripoli dringt über den abruzzesischen Bereich hinaus. Sie wird exportiert und beeinflußt neolithische Kulturen in Ligurien, Latium, Kampanien, in der Lombardei und der Emilia. Dies ist der erste Fall in der Geschichte, daß abruzzesische Kultur über die Grenzen des eigenen Landes hinausdringt. Aus dieser Zeit erfahren wir manches über die ersten von Menschenhand gebauten ländlichen Siedlungen. Es handelt sich um in den Erdboden vertiefte Hütten, die mit Zweigen bedeckt waren, welche mit tonhaitigern Verputz vermischt wurden. Der Grundriß ist kreisrund oder elliptisch, der Durchmesser variiert von 1,60 bis 5 m, und der Eingang liegt meistens an der Südseite. In der Ortschaft Pianaccio, ganz in der Nähe von Ripoli, sind die Hütten kreisförmig gruppiert. In der Mitte liegt ein Platz von 40 x 20 m, wohl der Dorfplatz. In Ripoli wurde eine Hütte als Grabstätte eines Mannes mit seinem Hund gefunden, daneben kannte man aber auch die Erdbestattung. Aus jener Epoche sind kunstvolle Pfeilspitzen aus Stein überliefert sowie bearbeitete Tierknochen.
Funde aus der Bronze-und Eisenzeit sind in den Abruzzen dürftig. Fehlten in der früheren Zeit Hinweise auf Waffen zum Kampf gegen Menschen, so kommen sie nun vor und sind aus Metall gearbeitet. Wir können annehmen, daß in dieser Zeit neue Einwanderungen von Ackerleuten stattfanden, die mit dem Kriegshandwerk vertraut waren.
Objekte dieser frühesten Zeiten werden in einigen Museen verwahrt. Leider ist das Museum in Teramo durch Diebstahl völlig ausgeraubt. Neben anderen Grabfunden konnte man dort eine prächtige Fibel in Blattform sehen mit einem Durchmesser von 33 cm, die aus Basciano in der Provinz Teramo stammte. Das Museum in Avezzano zeigt frühe Töpferwaren aus der Grotte Ciccio Felice, 3 km vonAvezzano entfernt, am Fuße des Monte Salviano. Im Museum von Ancona gibt es abruzzesische Grabfunde aus der frühen Eisenzeit, aus der Nekropole von Villafonsina (Prov. Chieti) und aus Ponte a Vomano (Prov. Teramo).
Die Zeit der italischen Völker
Den Übergang von der Ur-zur Frühgeschichte bildet die Besiedlung der Abruzzen und des Molise mit italischen Volksstämmen (Abb. 1). Sie haben ihre Vergangenheit nicht durch Geschichtsschreibung überliefert. Unser Wissen stützt sich vor allem auf eine große Zahl von Funden und Inschriften der Italiker selbst und auf die Schilderungen römischer Historiker und Poeten. Die ältesten Spuren der abruzzesischen Italiker lassen sich bis in das 8. Jh. v. Chr. zurückverfolgen. Ausgangspunkt ist die Wanderung der Sabiner nach Süden. Ihr Stammland lag in den Hochtälern der Flüsse Velino, Salto, Turano und am Oberlauf des Aterno mit Ansiedlungen in Rieti und Amiterno. Von den Umbrern im Norden bedrängt, wichen sie nach Süden aus, und die Völkerwanderungsstraße verlief längs des Aternotales. Wegen des Kinderreichturns, sagt Varro, haben die Sabiner die Jugend zur Gründung neuer Siedlungen fortgeschickt, und er vergleicht den Vorgang mit der au schwärmenden Bienenbrut, die von den Alten vertrieben wird, wenn der Bienenstock zu klein geworden ist. Diese Jahrhunderte andauernden Wanderungen hatten die Bildung zahlreicher italischer Volksstämme zur Folge, die durch Sprache und Kultur mehr oder weniger miteinander verwandt waren. Die größte geschichtliche Wirkung hatten die Samniter. Die Sage erzählt, daß sie von den Sabinern abstammen, und daß sie sich -geleitet von einem von Mars gesandten Stier -im Bergland zwischen der apulischen und kampanischen Ebene ansiedelten. Hauptsitze des neuen Stammes wurden Bovianum (heute Boiano) und Bovianum vetus (heute Pietrabbondante). Als Spaltung der Samniter entstanden im Moli se und in den südlichen Abruzzen wiederum neue Stämme wie die Frentaner, Caracener, Pentrer und Larinaten. Das Land zwischen den Sabinern und Samnitern war nicht nur Durchzugsgebiet, sondern auch hier bildeten sich im Lauf der Zeit Völkerschaften, die aber dem Stammland der Sabiner enger verbunden blieben als die Samniter im Süden. Je weiter der Abstand vom Stammland ist, desto lockerer werden die Fäden mit den mittelitalienischen Landen. Geographisch verläuft die Trennungslinie, wie sooft in der Geschichte der Abruzzen, an den flußläufen der Pescara und des Sangro. Diese Scheide blieb bis heute wirksam und ist noch am Dialekt zu erkennen. Die Abruzzesen im oberen Aternotal sprechen die Vokale am Wortende so deutlich aus wie die Bewohner von Latium oder Umbrien. Weiter südlich werden die Endvokale verschluckt wie in Apulien und Kampanien. Die Vielschichtigkeit des abruzzesisch-molisanischen Landschaftsbildes bot die Voraussetzung, daß sich hier in sich festgeschlossene italische Volksstämme bilden konnten, die -was einzigartig ist in Italien -in ihrer Verschiedenartigkeit bis in die Gegen (S. 24) wart weiterwirken, wie wir gleich hören werden. In den Abruzzen und dem Molise sind zehn solcher Stämme zu belegen. Zunächst im Norden die Praetutier. Sie bewohnten die Täler des Vomano und Tordino mit der dazugehörigen Küstenebene. Die Grundbevölkerung war mediterraner Herkunft und hatte vor den Italikern Einflüsse der wandernden Illyrer erfahren. Die Bewohner waren rückständig, noch in der Bronzezeit überwiegt die Steinbearbeitung.
Abb. 1: Italische Stämme und römisches Verkehrsnetz in den Abruzzen und im MoliseWeiter südlich treffen wir die Vestiner an. Sie siedelten im oberen Aternotal zwischen den heutigen Städten L'Aquila und Popoli, erstreckten sich über das Gebiet des Gran Sasso hinaus in die Täler des Tavo und der Nora und besaßen das Land bis zur adriatischen Küste mit den jetzigen Städten Penne und Pescara. Inschriften geben Auskunft über den Kult der Vestiner. So kennen wir mehrere Weihungen an den Gott Silvanus. In Peltuinum (heute Prata d'Ansidonia) gab es ein Collegium Silvani, dazu noch ein Collegium Iovis Optimi Maximi, und dort ist auch eine Priesterin für den Venuskult überliefert. Desgleichen existierte in Penne eine Magistra Veneris. Im Herzen des Vestinerlandes bei Capestrano wurde 1934 die berühmte Kriegerstatue gefunden, die heute im Museum von Chieti ist.
Die Aequer und Aequiculi bilden ein Bergvolk ohne Zugang zum Meer, ansässig zwischen den Latinern, Marsern und Hernikern. Zu ihrem Gebiet gehören die Täler des Imele und der westliche Teil des Fuciner Sees. Siedlungen, die erst in römischer Zeit Bedeutung erlangten, sind Carsoli, >Alba Fucense und Avezzano. Die Aequiculi wohnten nordwestlich der Aequer westlich vom Monte Velino im Tal des Salto. Das fünfte vorchristliche Jahrhundert scheint der Höhepunkt ihrer Kultur gewesen zu sein. Sie galten den Römern als gefürchtete Feinde.
Wichtiger als die Aequer sind die Marser. Auch sie bildeten einen Binnenstamm ohne Verbindung zum Meer, beheimatet im oberen Tal des Liri mit der Stadt Antinum (Civita d'Antino). Sie siedelten um den Fuciner See mit Ausnahme des Westteiles. Das Marserland war strategisch besonders wichtig, hier kreuzten sich wichtige Wege von Norden nach Süden und von Westen nach Osten. Die Marser beherrschten den Zugang zum Lirital, den Pass Forca Caruso, über den man die Vestiner im Aternotal erreichte. Ein anderer Pass nördlich des Sees führte nach Amiterno. Hauptstadt war Marruvium (heute S. Benedetto de'Marsi), ihr Gründer soll Mars gewesen sein. Gutausgebildete Krieger haben dieses Land durch Jahrhunderte berühmt gemacht. In Rom sprach man noch 91 v. Chr. davon, daß die Stadt weder einen Triumph über die Marser noch einen Triumph ohne die Marser gefeiert habe. Außerdem waren die Marser in der Vorstellung der Römer ein Hirtenvolk, dessen Wein wenig taugte. Sie kannten heilkräftige Kräuter und galten als Zauberer und Schlangenbeschwörer. Nach Plinius war ihr Stammvater ein Sohn der Zauberin Circe, Virgil dagegen nennt den Zauberer Umbro.
Östlich der Marser begegnen wir den Paelignern. Ihre (S. 25) Nachbarstämme waren im Norden die Vestiner, im Süden die caracenischen Samniter, im Osten die Marruciner und Frentaner. Nach Osten, Süden und Südwesten wurden sie von hohen Gebirgen eingeschlossen. Das Fehlen bedeutender Städte gilt, wie für so viele andere Stämme der Abruzzen, auch für das Paelignerland. Inschriften sprechen kaum von weltlichen Beamten sondern vornehmlich, wie bei den Vestinern, von sakralen Kollegien. Als religiöse Begegnungsstätte hat sich das neuentdeckte Herkulesheiligtum 5 km nordöstlich von Sulmona an den Hängen des Morrone herausgestellt. Man benutzte das lateinische Alphabet, die Sprache dagegen ist sehr verwandt mit dem Oskischen, das eine besondere, linksläufige Schrift kannte. Etwa vierzig Inschriften der Paeligner wurden allein in Sulmona und Corfinio gefunden.
Das kleinste Gebiet der italischen Stämme hatte das Binnenvolk der Marruciner inne mit der nördlichen Grenze zu den Vestinern am Flußlauf der Pescara. Im Westen wohnten die Paeligner, im Süden die Frentaner und im Osten war der Foro Grenzfluß. Die einzige größere Stadt dieses Gebietes war Chieti, ein Ort, der jedoch erst in der Römerzeit Bedeutung erlangte.
Nach den Praetutiern und Vestinern besitzen die Frentaner wieder einen größeren adriatischen Küstenstreifen mit den Städten Ortona, Anxanum (Lanciano) und Histonium (Vasto). Das Innere des Landes bildete der Ostabfall des Apennin mit den Flußgebieten des Sangro und des Biferno. Nach Nordwesten grenzen die Marruciner an, nach Westen die Paeligner, nach Süden die Caracener, nach Südosten die Pentrer und larinatischen Frentaner.
Die Caracener siedelten zwischen Frentanern und Samniterno Bedeutende Fundorte dieser Völkergruppe bilden Alfedena und Iuvanum.
Die Pentrer siedelten zwischen den Flüssen Trigno und Biferno. Zu ihren Städten gehörten Aesernia (lsernia), Bovianum (Boiano), Fagifulae, Terventum (Trivento) und Pietrabbondante.
Die larinatischen Frentaner sind eine Abspaltung der Frentaner. Zu den alten Orten gehörten Cliternia (heute Chieuti in der Provinz Foggia) und vor allem Larino im Molise, das erst in römischer Zeit zur Blüte kam.
Das Geschichtsbild der Abruzzen in späteren Zeiten ist durch die Existenz der beschriebenen italischen Stämme vorgeprägt. Die Bewohner wenden sich dem Adriatischen Meer zu, sie siedeln am Ostabfall des Apennin und im inneren Hochland, greifen aber nicht nach Westen über, nach Rom oder Latium. Kulturelle Verbindungen verlaufen von Norden nach Süden, wie wir es schon beim Eindringen der Illyrer in der Eisen-und Bronzezeit beobachten können. Das Nachleben der italischen Völkerschaften wirkt -wie gesagt -bis in die moderne Zeit weiter. Die Römer bemächtigten sich ihrer Siedlungen und ihrer Straßen. Mittelalter und Neuzeit verfahren im urbanistischen Sinn sehr traditionell, ihre Bauten gründen sich über die alten, und der moderne Straßenbau deckt sich, mit Ausnahme der Autobahnen, mit der alten Trassenführung. Die kirchliche Einteilung der Abruzzen in Diözesen ist besonders konservativ, sie entspricht meistens den Grenzverläufen der italischen Stämme. Allerdings ist die Abgrenzung zwischen Paelignern und Marrucinern nicht genau zu belegen; man geht aber kaum fehl, wenn man die heutigen Diözesangrenzen von Sulmona und Chieti auch als verbindlich für die Grenzen in italischer Zeit hinnimmt. Die Hauptbeschäftigung der alten Stämme war die Viehzucht, sie hat sich bis heute erhalten, und die meisten Weidewege, die berühmten »tratture«, auf denen das Vieh im Winter in die apulischen Niederungen getrieben wurde, sind bis heute unverändert. 1557 verfertigte der berühmte Architekt und Maler Pirro Ligorio eine Landkarte von Süditalien, auf der auch die Abruzzen enthalten sind. Der verhältnismäßig spät auftretende Name »Abruzzo«, den Ligorio sicherlich kannte, erscheint in der Beschriftung seiner Karte überhaupt nicht. Die einzelnen Landesteile werden noch mit den Namen der alten italischen Völkerschaften bezeichnet: Marsi, Marrucini, Superaequi, Frentani uSW. In seinem verzweifelten Aufruf mit der Bitte um Unterstützung gegen die Franzosen wendet sich 1798 König Ferdinand I. von Neapel an die Abruzzesen: Coraggio, bravi Sanniti, coraggio.
Die größeren italienischen Landstraßen sind mit Eigennamen versehen, die entsprechenden Straßenschilder in den Abruzzen überliefern die italischen Stämme. Man fährt auf der Umbra-Vestina, auf der Frentana und dergleichen mehr. In Chieti nennt sich eine Sparkasse »Cassa di Risparmio dei Marrucini«. Kinos schmücken sich mit den alten Stammesnamen. Es gibt kaum eine andere europäische Landschaft, in der der Bogen der Zeitläufe so bewußt ist wie in den Abruzzen. Aus dieser Konstante resultiert konservatives Verhalten, Heimatliebe, Passion für die lokale Geschichte.
Die italischen Stämme in den Abruzzen und im Molise waren miteinander verwandt, hatten gemeinsame ökonomische Interessen, ganz besonders in der Viehzucht, und eine eigene Kultur, mehr oder weniger mit der griechischen Welt verbunden. Diese Einheit war das größte Bollwerk gegen die Expansionslust und die Machtbestrebungen, die von Rom ausgingen. Es ist die einzige Zeit in der Geschichte dieser Bergvölker, in der sie selbständig Geschichte machten, bis sie endlich vor der übermacht Roms kapitulieren mußten. Der Prozeß der römischen Reichsbildung erfolgte in unserer Region sehr langsam. Rom brauchte Jahrhunderte, vom 5. bis zum 1. Jh. v.Chr., um sich diese Stämme gänzlich untertan zu machen. Es besaß längst in weiteren Entfernungen festgefügte Kolonien, bevor die italischen Völkerschaften unseres Hochlandes niedergekämpft wurden, die doch nur gut 60 km östlich von Rom ihr freiheitliches Leben unabhängig von diesem führen wollten. So ist die Zeit vom 5. Jh. bis 89 vor Chr. mehr Kriegs-als Kulturgeschichte. Die ersten feindlichen Zusammenstöße mit der römischen Macht provozierten die Aequer, die den Römern am nächsten siedelten. Sie verbündeten sich mit Gesinnungsgenossen südöstlich von Rom und bedrohten die Stadt immer wieder ohne Einbußen an eigenem Gelände zu erleiden. Die eigentliche Auseinandersetzung mit Rom erfolgte im 4. Jh. durch (S. 26) einen anderen italischen Stamm, die hochentwickelten Samniter. Sie hatten ihr Gebiet zunächst nach Norden fast bis zum Flußlauf der Pescara ausgedehnt, später drangen sie bis zur tyrrhenischen Küste vor. Sie besiegten etwa 438 die Etrusker in Capua und 420 die Griechen in Cuma bei Neapel.
So wurde der Konflikt mit den Römern unabwendbar. Wegen der eindringenden Gallier von Norden war die römische Politik sehr vorsichtig. Man schloß 354 mit den Samnitern ein Bündnis. Die ersten Kriegshandlungen begannen 342. Dieser erste Samnitische Krieg dauerte nur ein Jahr, ging unentschieden aus und führte zu einem neuen Bündnis. Auch im zweiten Samnitischen Krieg 327-304 kamen die Römer auf dem Schlachtfeld nicht ruhmreich davon. In der Schlacht in den Forche Caudine im Beneventanischen wurden sie umzingelt und mußten sich ergeben. Doch auf die Dauer waren die Römer überlegen, trotz der Hilfe, die die Samniter von den abruzzesischen Stämmen der Marruciner, Frentaner, Marser und Aequer erhielten. 305 fielen die Hauptorte der Samniter, erst Bovianum, dann Sora und Isernia. Dennoch endete der Krieg sehr gnädig. Die Samniter mußten sich verpflichten, auf weitere Expansion zu verzichten. Auch der dritte Samniterkrieg 298-290 zerstörte die Freiheit des Bergvolkes noch nicht völlig. Die überlegenheit der Römer zeigte sich weniger im Kampf als in ihrer ausgeklügelten Organisation durch Anlage von Festungsstädten, die sich von allen Seiten tief in das Bergland vorschoben. Römische Militärstationen wurden 303 in Alba Fucense und 297 in Carsoli angelegt - beides Siedlungen, die vordem den Aequern gehörten -, 289 wird Atri im Lande der Praetutier römische Kolonie, 293 bereits Amiterno. Die Samniterkriege kosteten beiden Seiten gewaltige Opfer. Die Römer machten sich danach an planmäßige Verwüstungen. In der überlieferung der Samniterkriege werden oft historische Orte genannt, die verschwunden und von denen nur die Namen geblieben sind. Für die italischen Stämme begann eine Zeit der Verödung. Die Aequer wurden fast völlig ausgerottet, und nur von den Aequiculi erhielt sich ein Rest. Ferner nahmen die Römer Deportationen vor, z.B. wurden die Picener umgesiedelt, oder Ligurerstämme um 180 v. Chr. in das Gebiet von Benevent und Samnium verlegt. So verliert sich die Eigenständigkeit der abruzzesischen und moli sanischen Stämme. Mit mehr oder minder Gewalt wurden sie an die römische Lebensweise gebunden. Aber noch war der Widerstand nicht gebrochen.
Je mehr die Römer in die italischen Stammlande eindrangen, umso größer wurde der soziale Unterschied zwischen Siegern und Besiegten. Vergeblich verlangten die Bergvölker die Gleichstellung mit den römischen Bürgern, eine Bitte, die von Rom nicht gewährt wurde, obwohl Sprache, Religion und Kultur inzwischen stark an Rom angeglichen waren. Die Folge war der Bundesgenossenkrieg der italischen Stämme, der 91 v.Chr. ausbrach. Anführer im Unabhängigkeitskrieg waren dieses Mal die Marser, ihnen folgten die Paeligner, Marruciner, Vestiner, Frentaner und Samniter. Corfinium im Herzen des Paelignerlandes wurde unter dem Namen »Italia-Hauptstadt der Aufständischen mit dem Ziel, ein eigenes und unabhängiges Reich zu bilden. Die Verfassung der Italiker folgte römischem Muster. Es wurde ein Senat von 500 Stammesgenossen gebildet und ein Heer von 100000 Soldaten aufgestellt. Corfinium erhielt eigenes Münzrecht. Die Inschriften der Geldstücke zeigen den Namen »ltalia«, der hier zum ersten Mal in der Geschichte des Landes als Bezeichnung für ein staatliches Gebilde auftaucht. Der Krieg wurde mit furchtbarer Erbitterung geführt, Siege und Niederlagen wechselten auf beiden Seiten ab. Rom beendete den Krieg nicht mit Waffen sondern mit Konzessionen. Im Jahre 89 wurde von Rom aus die Lex Plautia Papiria erlassen. Dieses Gesetz versprach die römische Vollbürgerschaft allen Italikern, die innerhalb von zwei Monaten einen entsprechenden Antrag stellten. Dieses Zugeständnis brach die Resistenz der italischen Bundesgenossen. Was dann noch folgte waren Nachhutgefechte. Corfinio öffnete seine Tore freiwillig, das widerstrebende Sulmona wurde von Sulla zerstört. Nach dem Abfall Corfinios wurde erst Bovianum dann Isernia Hauptstadt der Bundesgenossen. Die Prägung oskischer Münzen zu jener Zeit war das letzte Zeichen italischen Eigenlebens. Nach der Zerstörung Isernias durch die Römer kam es noch zur Schlacht von Bovianum, in der der großartige Heerführer der Marser, Pompedio Silone, den Tod fand. Damit war der Widerstand der italischen Konföderation gebrochen, und seither kann von einer Geschichte der italischen Völkerschaften in den Abruzzen und dem Molise nicht mehr gesprochen werden. Trotzdem ist die Liebe zum Kriegshandwerk in den Abruzzen nicht ausgestorben. Im späteren Mittelalter und in der Renaissance lieferten sie die besten Heerführer Italiens, freilich von keiner nationalen Idee geführt, sondern bedacht auf Mehrung des Eigenbesitzes oder in fremdem Sold.
Die Kunstgeschichte der italischen Völker ist noch nicht geschrieben. Eine kaum überschau bare Menge an Monumenten und Funden ist überliefert und zum großen Teil erst in jüngster Zeit entdeckt worden. Eine erste noch tastende überschau hat Valerio Cianfarani, der Leiter des Denkmalamtes für Archäologie in Chieti war, gegeben. Die Möglichkeiten, durch fündige Ausgrabungen zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, sind kaum ausgeschöpft, und noch Generationen werden Gelegenheit haben, die Kultur dieser Zeit genauer zu bestimmen. Die Kenntnis von den italischen Siedlungen ist sehr unzureichend, auch fehlt es an Untersuchungen, die Strukturformen innerhalb dieser Völkerschaften zu differenzieren. Zeugen von Siedlungen sind die Nekropolen, Grabbeigaben und architektonische Relikte. Die Siedlungen sind, soviel wir heute ahnen, nicht gleichmäßig verteilt. Die wenigsten Funde kommen aus dem Küstengebiet an der Adria, schwach vertreten sind sie in den nördlichen Abruzzen, und sie vermehren sich in dem samnitisch beeinflußten Bereich der Südabruzzen und des Molise.
In Campovalano gräbt man seit 1967 eine Totenstadt aus, deren Grabbeigaben zu den bedeutendsten Objekten gehören, die in den letzten Jahrzehnten in Italien überhaupt ans Licht gekommen sind. Sie werden im Museum in Chieti (S. 27) aufbewahrt. Bis 1972 hat man allein 171 Gräber untersucht, deren wichtigste und qualitätvollste Funde dem 6. Jh. sowie dem ersten Viertel des 5. ]h. zugehören. Eine Eigentümlichkeit von Campovalano bildet die kreisförmige Einfassung von Gräbern durch Steine, die eine oder zwei, einmal sogar sechs Bestattungsstätten umschließen. Diese Einfriedigung konnte auch durch zwei konzentrische Steinbänder erfolgen. Derartige Steinkreisgräber kannten auch die Etrusker in Vetulonia und in Marsiliana d' Albegna. Bei Capestrano hat man eine weiträumige Gräberstadt aufgedeckt, in der 1934 die berühmte Statue des Kriegers von Capestrano zutage kam, die heute im Museum von Chieti ist. Im Lande der Paeligner gibt es in italischer Zeit eine Sonderform von Gräbern. Der bedeutendste Fundort ist Corfinio, wo man hunderte von Gräbern dieser Art entdeckt hat. Ähnlichen Anlagen begegnet man in der Nähe von Moli na Aterno, in Anversa und in der heute zum großen Teil zerstörten Nekropole Fonte d'Amore, einem Ortsteil von Sulmona. Sie mögen im zweiten und ersten ]h. v.Chr. entstanden sein und sind folgendermaßen beschaffen: Ein schmaler Stollen von etwa einem halben Meter Breite führt erst in steilem, dann in sanftem Abfall zu einem Raum mit ovalem Grundriß, dessen Länge etwa zwei Meter beträgt. Breite und Höhe schwanken zwischen einem und anderthalb Meter. Die Grabkammer ist verschlossen. Stets links von ihrem Eingang befindet sich eine 50-75 cm hohe Bank, auf die der Tote mit seinem Kopf nach Osten gebettet ist. Eine der größten Kammern in Corfinio mißt 2,56 x 1,80 x 1,50 m. Die Gräber können eine Tiefe von 5 m erreichen. Die Grabinschrift ist im oberen Teil des Zugangsstollens und oft im Dialekt der Paeligner abgefaßt. Wegen der Einzigartigkeit des Grabtypus fehlen Vergleichsbeispiele, am ehesten besteht wohl eine Vetwandtschaft zu Etruskergräbern.
Bei Roccacasale wurde in der Ortschaft Colle delle Fate, an den Hängen des Morrone, eine beträchtliche italische Siedlung entdeckt, die noch keine systematische Bearbeitung erfahren hat. Der Ort Villetta Barrea am Oberlauf des Sangro wurde von Samnitern noch in einer Zeit bewohnt, als die Römer schon von dieser Gegend Besitz ergriffen hatten. Davon zeugen noch einige Gräber. Ebenso im naheliegenden Barrea, wo die frühesten Funde bis in die Eisenzeit reichen. Ein Ort, an dem die Forschung weiter ansetzen könnte, ist das riesige Gräberfeld bei Alfedena, dem alten Aufidena, einer Stadt der Caracener. Diese Nekropole wurde 1882 entdeckt. Bislang ist ungefähr nur ein Drittel ausgegraben, immerhin sind das etwa 1400 Gräber. Die Funde reichen vom 6. bis zum 3. Jh. v.Chr. Für sie wurde in Alfedena ein eigenes Museum eingerichtet, das im letzten Weltkrieg zerstört wurde, doch auch das wenige Erhaltene reicht aus, um an einen Neubau zu denken.
Die Römer errichteten ihre Siedlungen nach Bezwingung der italischen Stämme über und sehr oft neben den alten italischen Gemeinwesen. Derartige Beispiele finden wir in Carsoli im Land der Aequer, in luvanum im Land der Caracener oder in Pietrabbondante im Land der samnitischen Pentrer, wo am Monte Saraceno in unmittelbarer Nähe neben der römischen noch die italische Siedlung sichtbar ist. Bei Larino liegen noch Überreste von Geronium, einer Stadt der Frentaner, die im 3. Jh. gegründet wurde, ebenso gibt es in Larino selbst noch wertvolle Zeugnisse aus vorrömischer Zeit. Bei Jelsi hat man die samnitische Siedlung von Romulea ausfindig gemacht. Zahlreiche Gräber bestehen dort aus gekoppelten Kammern. Der Ort Baranello leitet seinen Namen von dem samnitischen Vairanum ab. Die Trümmer sind noch in der Nähe am Monte Vairano zu sehen. Boiano, das Zentrum der Samniter, von den Geschichtsschreibern der Samnitischen Kriege immer wieder erwähnt, besitzt aus italischer Zeit Reste, die unter der modernen Bebauung liegen, überdeckt von Schlamm und Erdverwüstungen durch Erdbeben, besonders dem vom Jahre 852 n. Chr. Andere vorrömische Überreste sind im Gebiet von S. Giuliano del Samnio anzutreffen. Der glänzend erhaltenen Römerstadt Sepino im Land der Pentrer ging eine samnitische Stadt voraus, von der stattliche Reste in der Ortschaft Terravecchia erhalten sind, eine der letzten Befestigungen gegen die Römer, die 293 v. Chr. fiel. Dieser Ort ist nicht ganz leicht zu finden, 2 km von Altilia und 3 km vom heutigen Sepino entfernt. Ausgrabungen innerhalb der Mauern sind noch nicht versucht worden. Andere sam nitische Siedlungen im Moli se sind erkennbar in Rionero Sannitico, im Walde von Pennataro, auf dem Berg Civitella bei Frosolone, in Duronia, Campochiaro, Longano, Carovilli, Montefalcone und Campobasso. All diese Zentren haben ein Verteidigungssystem und liegen auf Höhen. Sie sind archäologisch fast unerforscht.
Einen Teil der italischen Siedlungsgeschichte bilden die Fortifikationsmauern. Man nennt sie ganz allgemein pelasgische Mauern, Kyklopen-, Megalith-oder Polygonal mauern, ohne damit einen bestimmten Formverband des Mauerwerks zu bezeichnen. Sie werden von Steinblöcken großen Ausmaßes geformt, die selten quaderförmig behauen sind und ohne Mörtel übereinandergeschichtet wurden. Diese Mauern verlaufen meistens kreisförmig um Berg-und Hügelhöhen herum. Man hat sie häufig als Stadtmauern angesprochen, jedoch darf man nicht ausschließen, daß es sich in einzelnen Fällen nur um Schutzmauern handelt, hinter die sich die unterhalb wohnende Bevölkerung bei Kriegsgefahren zurückziehen konnte. Wie keine andere Region Italiens haben die Abruzzen und das Molise eine Fülle derartiger Verteidigungsanlagen überliefert. Sie sind im Zusammenhang noch nicht studiert worden, und so fällt es schwer, die Bauformen zu differenzieren und zeitlich festzulegen, jedoch scheint es, daß diese Anlagen vor der Unterwerfung durch die Römer entstanden sind. Vom Osten beeinflußt, haben die Samniter dieses Mauersystem als erste angewandt. Unbekannt blieb es in Norditalien, im vorrömischen Etrurien und in der Magna Graecia. Die Römer übernahmen die Bauweise von den Samnitern. Ihre Verbreitung ist in den Gegenden am stärksten, wo sich feindliche Berührungspunkte mit den Römern ergaben, im Lande der Aequer, im kriegerischen Marserland, im Land der Vestiner und vor allem im Bereich der Samniter im Molise.
Die Struktur des pelasgischen Mauerwerks ist nicht ein (S. 28) heitlich. Die wahrscheinlich älteste Art besteht aus fast unbehauenen aufeinandergeschichteten Felsblöcken. Die entstehenden Hohlräume werden mit Lehm oder kleinen Steinen ausgefüllt. Mit dem Aufkommen der Metallwerkzeuge erfahren die Steine stärkere Bearbeitung und erscheinen ebenmäßiger. Obwohl man keine durchlaufenden horizontalen Lagen in der Aufschichtung kennt, wird die Anordnung der Blöcke im Laufe der Zeit regelmäßiger. Diesen Typ bezeichnet man gewöhnlich als Kyklopenmauern. Die Polygonalmauern bestehen aus vieleckig behauenen Steinen, die auf sehr kunstvolle Weise fugenlos ineinandergepaßt werden. An den Ecken der Mauerzüge verwandte man gelegentlich das sogenannte »opus quadratum«. Es handelt sich hier um rechteckige Quader gleicher Größe, die aus statischen Gründen so geschichtet werden, daß bei durchlaufenden Horizontalfugen die Vertikalfugen sich jeweils um die Hälfte der Steinbreite versetzen. Daneben gibt es noch ein älteres System, bei dem die Steine bei gleicher Höhe verschiedene Breiten haben, so daß völlig unregelmäßige Vertikalfugen entstehen.
Im abruzzesischen Sabinerland kenne ich Megalithmauern nur in der Gegend von Amiterno in einer Schlucht bei Arischia. Sie bestehen aus übereinandergesetzten Blöcken und werden von der Bevölkerung als Teufelsmauern bezeichnet.
Abb. 2: Alba Fucense, Stadtplan der römischen ZeitDie Kyklopenmauern von Alba Fucense, im Lande der Aequer, sind weit bekannt, wurden fleißig studiert und als Sehenswürdigkeit von vielen europäischen Reisenden aufgesucht. Die Entstehung von Kyklopenmauem wird den Pelasgern zugeschrieben, die laut griechischer Schriftsteller aus dem Orient nach Italien einwanderten. Sie waren Stadtgründer, und eine ihrer Städte soll Alba Fucense gewesen sein. Der schon in der Antike 30000 Einwohner zählende Ort war nach Art einer Polis organisiert, die auch Landbevölkerung und Landbesitz einschloß. Daraus resultieren zwei Fortifikationssysteme, eines für die Stadt und eines für die Siedlungen im Umland. Das von Nordwest nach Südost orientierte Alba, 300 m über dem Fuciner See gelegen, war von drei Hügeln eingeschlossen (Abb. 2). Die höchste Stelle nahm die Akropolis (1016 m) im Nordwesten ein, da, wo sich heute die Ruinen des 1915 durch Erdbeben zerstörten Orsinikastells befinden. Im Osten lag auf dem Hügel Pettorino (990 m) ein Tempel, ein anderer, dem Apollo geweiht, stand im Süden (990 m). Die Stadtbefestigung besteht aus einem älteren, 2925 m langen Wall, der die drei genannten Hügel einschloß und aus einem späteren Gürtel, der die Akropolis von der übrigen Stadt trennte. Die älteste Befestigung aus der Zeit der Stadtgründung (303/302) ist am besten erhalten am westlichen Fuß des Südhügels und am Nordhang des Pettorino. Drei alte Tore stehen noch im Mauerverband, im Westen die 5-6 m hohe Porta Massima mit einer großartigen zweiteiligen Durchfahrt und einer runden Bastion davor, im Norden der Stadt die Porta Valeria, auch Porta Fullonica genannt, die 3 m hoch ist. Auch ihr ist nach außen auf rechteckigem Grundriß eine Bastion vorgelagert. Die einfachste Form zeigt die Porta di Massa. Auch die Kyklopenmauern von Alba waren nicht für die Ewigkeit gebaut. Interessant sind die Restaurierungsarbeiten der Römer, die sich anderer Techniken bedienten. Sie kannten eine Zementart, gebildet aus Mörtel und Schottersteinen, mit denen sie die Fehlstellen ausbesserten. Wenig erforscht und bekannt sind die Fortifikationen auf dem Lande außerhalb der Stadtmauern. Nordöstlich von Alba südlich des Berges Magnola und etwa 3 km östlich des kleinen Bergortes Forme finden sich Verteidigungsanlagen, die denjenigen der Stadt gleichen.
Das Marserland hat mehrere Megalithmauern überliefert. Die von Civita d'Antino im Valle Roveto sind grob geschichtet, dann finden wir sie vor allem am Becken des Fuciner Sees, sehr eindrucksvoll in Ortucchio, wo wir das Zusammenspiel der Zeiten beobachten können. Die Außenwände der 1915 durch Erdbeben zerstörten Kirche S. Orante, die schon im 12. Jh. bekannt war, sind teilweise auf Megalithmauern gegründet. Auch in dem vom selben Erdbeben zerstörten Pescina kommen sie vor und zwar im oberen Teil der Stadt unweit der Ruinen des Kastells, weiterhin treffen wir sie in der Ortschaft Rivoli bei Ortona an. Weniger reich an Fortifikationsbauten scheint das Land der östlich angrenzenden Paeligner gewesen zu sein. Hier begegnet man ihnen am Ostrand des Ortes Bugnara und -zusammen mit Zisternen -an den Hängen des Morrone oberhalb von Roccacasale im Ortsteil Colle delle Fate.
Den weitaus größten Bestand an Wehrbauten finden wir in den Gebieten der Caracener, Frentaner, Pentrer, welche im Einflußbereich der kriegserfahrenen Samniter lagen. Megalithbefestigungen finden wir in Villetta Barrea, in Alfedena, in Castel di Sangro mit einem Umfang von 1740 m, im Wald von Pennataro bei Rionero Sannitico, bei Carovilli am Berg Ingotte und am Monte Ferrante, am Berge Miglio (1350 m) südöstlich von S. Pietro Avellana und auf dem Berge Cavallerizza (1512 m), den man von Capracotta aus besteigen kann. Zeugnis vorrömischer Existenz in Agnone ist ein langer Trakt von Polygonalmauem am Südabfall der Stadt.
Reich an Funden ist das Frentanerland, das heute zum großen Teil zur Provinz Chieti gehört. In Paglieta, unweit (S. 29) des Unterlaufes des Sangro, steht die mittelalterliche Stadtmauer auf Resten von Polygonalmauem. Eine der Hauptsiedlungen der Frentaner war Pallanum in der Nähe von Tornareccio. In einer großartigen Landschaft verlaufen die Polygonalmauem an den Hängen des Monte Pallano. Die archäologischen Untersuchungen wurden dort 1972 begonnen. Die Mauem gehören zu den besterhaltenen Beispielen in den Abruzzen. Sie sind noch in einer Länge von 163 m erhalten bei einer durchschnittlichen Tiefe von 4 m, ihre Höhe erreicht teilweise 5,50 m, und sie sind von drei kleinen Eingängen durchbrochen. Imposante Megalithsteine sind zu sehen in der Ortschaft Calvario, unweit von Taranta Peligna gelegen, an der Straße, die nach dem etwa 3 km entfernten Lama dei Peligni führt. Wichtiger sind die Kyklopenmauern von Montenerodomo, unweit der Stadt Iuvanum. Die Polygonalsteine haben verschiedene Ausmaße von 60 x 70, 70 x 90 und 90 x 110 cm. Sie bilden zum Berghang eine gigantische Mauer von 2,90 m Höhe in einer Länge von 36,50 m.
Südlich der Caracener und Frentaner siedelten die Pentrer. Über den römischen Anlagen von Pietrabbondante liegen auf der Höhe des Monte Saraceno die rötlich schimmernden Polygonalmauem, die Überreste eines gewaltigen Bollwerks der Samniter gegen die Römer. In der nächsten Umgebung des Berges hat man neuerdings andere Kyklopenmauem gefunden, die mit der Hauptanlage verbunden waren. Diesem Verteidigungssystem liegt eine einheitliche Konzeption zugrunde. Andere Beispiele eines dichten, koordinierten Verteidigungssystems kennen wir am Berge La Rocchetta unweit von Montefalcone nel Sannio über den rechten Höhen des Trignoflusses und in Frosolone am Monte Civitella. Bei Duronia existiert ein Trakt von Megalithmauern in einer Länge von etwa 150 m. Weitere Monumente dieser Art finden wir in Civitanova del Sannio, in Chiauci, in Carovilli, bei Castelromano nordwestlich von Isernia, in Longano am Monte Saraceno, in Isernia selbst, in Venafro, das eine samnitische Gründung ist, dann in Boiano, dem Stammsitz der Samniter, in der südlichen Oberstadt. Der Umfang der von Stadttoren durchsetzten Megalithmauer auf dem Monte Vairano bei Baranello betrug etwa 2500 m. An einigen Stellen sind die Mauern noch über 6 m hoch. Letzte Beispiele gibt es in Campobasso, Ferrazzano, bei Campochiaro im Gebirge des Matese und in Terravecchia, der samnitischen Vorgängerin des römischen Sepino, wo die Stadtmauern einen Umfang von 1500 m erreichen.
Von römischen Geschichtsschreibern wissen wir zur Genüge, daß Aequer, Marser und Samniter kriegerische Völkerschaften mit hesten Soldaten waren. Diese Meinung wird durch die archäologischen Funde nur bestätigt. Die Verteidigungsbauten der italischen Stämme wurden hier, wenn auch ermüdend, eingehend behandelt, weil man sie bisher zu wenig im Zusammenhang betrachtet hat. Die Mehrzahl der Wehrbauten liegt im Hochland der Abruzzen und vor allem im Molise. Das Befestigungssystem zeigt, daß es nicht die Leistung eines einzelnen Stammes ist sondern von mehreren Völkerschaften gemeinsam entwickelt wurde, was auf gegenseitige Beziehungen und gelegentliche Waffenhilfe schließen läßt. Neben Ackerbau und Viehzucht muß überall ein blühender Handwerkerstand vorhanden gewesen sein, mit Bauleuten und anderen, die die Waffen für die kriegerischen Unternehmungen herstellten.
Die architektonische Formenwelt der Italiker ist uns nicht nur im Wehrbau überliefert, vielmehr wissen wir auch einiges über ihre sakrale Architektur, obgleich diese noch viel weniger bekannt ist. Wie wir noch sehen werden, haben die Römer die italischen Völker nicht nur besiegt und unterjocht sondern gleichzeitig versucht, die römische Kultur mit der italischen in Einklang zu bringen. Im religiösen Bereich läßt sich dieser Vorgang gut verfolgen. Zu den italischen Kultstätten, die von den Römern gepflegt und weiter ausgebaut wurden, gehört das Heiligtum der Paeligner an den Hängen des Morrone bei Sulmona, das dem Herkules Curinus geweiht ist, auf dessen Kult die zahlreichen im Paelignerland gefundenen Bronzestatuetten hinweisen. Aus der älteren Zeit des Heiligtums stammt das Polygonalmauerwerk zur Stütze der oberen Terrassenanlage. Damit vergleichbar sind architektonische Überreste bei Venafro in der Ortschaft Madonna della Libera. Dort sind vier große, ebenfalls durch Polygonalmauern gestützte Terrassen erhalten -die größte mißt 110 x 75 m -, die entweder zu einer Villa oder aber zu einem Heiligtum aus dem Anfang des 1. Jh. v. Chr. gehörten. Die Caracener verfügten über eine Tempelanlage in Iuvanum, die in römischer Zeit weiter ausgebaut wurde. Gleiches geschah mit der Tempelanlage der Pentrer in Pietrabbondante. Deren ältester Teil ist der sog. kleine Tempel, etwa in der Mitte des 2. Jh. v. Chr. zu datieren; an seinen dem aufsteigenden Hang zugewandten Seiten wird er -getrennt durch einen schmalen Gang -von Polygonalmauern eingefaßt, um den Schub des Erdreiches abzufangen.
Daneben aber kennen wir auch andere italische Tempelbezirke, die nicht von den Römern berührt wurden, wie z. B. derjenige im Marserland in Luco dei Marsi am Fuciner See. Dort existiert noch ein aus Polygonal steinen gebildetes Rechteck, das eine große Fläche von 3300 Quadratmetern einfaßt. Dieses war der Hain der Angitia, einer marsischen Gottheit, die vielleicht mehr Zauberin als Göttin war. Sie ist aus Inschriften der Paeligner und Vestiner bekannt und wird vom Dichter Vergil erwähnt. Sie soll den Marsern das Wissen von den Heilkräutern und die Kunst der Schlangenbeschwörung gebracht haben. Der christianisierte Schlangenkult ist ja heute noch unweit davon in der Ortschaft Cocullo bekannt. Antike Schriftsteller betonen die hellenistische Abkunft der Angitia; sie identifizieren sie mit der Zauberin Medea oder hielten sie für die Schwester der Medea und der Circe. Auf Grund zahlreicher Funde von Weihgaben in Carsoli, im Gebiet der Aequer, müssen wir dort italische Tempelanlagen annehmen, die bislang nicht aufgedeckt wurden. In den Abruzzen und im Molise findet sich noch eine kleine Zahl von italischen Einzeltempeln, von denen jedoch meist nicht mehr als die Grundmauer übrig geblieben ist. In Castiglione Messer Raimondo ist man in der Lokalität S. (S. 30) Giorgio in neuerer Zeit auf Tempelreste gestoßen, die die Ausgräber in das 7.-6. Jh. datieren, was wohl zu früh ist. Die rekonstruierten Giebelreliefs sind im Museum von Chieti zu sehen. Dem römischen Tempel (20,70 x 14,50 m) auf dem Hügel Pettorino in Alba Fucense ging wahrscheinlich ein Bau voraus, denn seine Fundamente bestehen aus Polygonalsteinen. Eine heute zerstörte Kirche bei Quadri ist auf dem Podium eines italischen Tempels aus dem 2. Jh. v. Chr. aufgebaut. 1974 entdeckten französische Archäologen aus Besancon eine samnitische Tempelruine in der Ortschaft Piana di S. Angelo bei Vastogirardi im Molise. Die Maße des Podiums betragen 18,40 x 11, 30 x ca. 1,80 m. Wie sooft ist der Tempel in geringem Abstand durch Polygonalmauern abgesichert. Die Anlage stammt aus dem Ende des 3. Jh. oder dem 2. vorchristlichen Jahrhundert.
Etwa 4 km außer halb des Ortes Schiavi di Abruzzo hat man, wahrscheinlich im Lande der Pentrer, einen Tempel gefunden, der seit den 60er Jahren dieses Jahrhunderts ausgegraben wird. Das Podium mit Cella und Pronaos in den klassischen Proportionen 1:1 ist vorzüglich konserviert. Auf zehn breiten, durchschnittlich 20 cm hohen Stufen stieg man zur Vorhalle hinauf, die vier große Säulen mit Kapitellen an der Stirnseite und je zwei an den Schmalseiten aufweist. Der Treppenaufgang schneidet etwa 2,20 m tief in das Podium ein. Zahlreiche Terrakottenfunde deuten darauf hin, daß die Balken nach italischem Brauch dekoriert waren. Das Monument ist vor der 2. Hälfte des 2. Jh. v. Chr. zu datieren. Eine Mauer in »opus quadratum«, von der noch ein längerer Trakt erhalten ist, sichert den Tempelbezirk gegen das abfallende Gelände. Rechts von diesem Bau zum Berg hin und in gleicher Achse liegt ein zweiter, dessen Anlage sich vom ersten Tempel unterscheidet und überhaupt ungewöhnlich ist. Dem Heiligtum fehlt das übliche Podium, wenn man von der Sockelzone absieht, die nur etwas über 50 cm hoch ist. Die vier Ziegelsäulen des Pronaos haben weder Basen noch Kapitelle, während die entsprechenden Säulen des anderen Tempels schon jonische Kapitelle besaßen, die heutzutage im Gelände verstreut liegen. Der Cellafußboden besteht aus einer Verputzschicht mit eingelegten weißen Marmorsteinehen in geometrischen Mustern, denen wir in samnitischer Zeit auch in Pompeji begegnen. Die aus Mosaiksteinehen gebildete oskische Inschrift nennt wahrscheinlich den Auftraggeber des Gebäudes. Das aufgehende Mauerwerk aus kleinen Quadersteinen mit durchlaufenden horizontalen Fugen ist nachlässig gearbeitet. Der Bau wurde noch in der Antike verändert. Die Anten wurden bis zu den Säulen der Vorhalle verlängert und der Fußboden mit Ziegel ausgebessert, die denen der Säulen ähneln. Die Kleinfunde von Schiavi di Abruzzo werden im Nationalmuseum von Chieti aufbewahrt. Im Jahre 1935 fand man an der Landstraße zwischen Gildone und Jelsi in der Siedlung Cupa einen aus Holz gebauten italischen Tempel, dessen Balken, wie in Schiavi di Abruzzo, mit Terrakotten verkleidet waren.
Die italischen Tempel zeigen immer wieder hellenistische Züge. Die Grundelemente bleiben stets die gleichen: Cella, Pronaos, offener Dachstuhl und Dekoration der Balken. Die einfache Form des Antentempels der Italiker hält sich auch in der Zeit der Römer, weswegen es schwer ist, das Römische vom Italischen zu unterscheiden.
Im 20. Jh. wurde das Wissen von der italischen Architektur durch glückliche Funde vertieft, diese aber werden an Bedeutung von den Entdeckungen übertroffen, die man auf dem Gebiet der Plastik und der Kleinkunst gemacht hat. Freilich sind wir auch hier noch weit entfernt, geschlossene Entwicklungen zu überblicken und Formverschiedenheiten innerhalb der Stämme zu erkennen. Die älteste und eindrucksvollste Zeit ist wohl das 6. Jh. v. Chr. gewesen, das noch unter dem Einfluß der picenischen Kultur stand, die von den Marken entlang der adriatischen Küste bis nach Apulien ausstrahlte. Dabei finden wir in unserem Gebiet nicht nur Importwaren sondern auch Eigenleistungen einer italisch-abruzzesischen Kunst, die sich allerdings häufig am ehesten mit picenischen Erzeugnissen vergleichen lassen, die man in großer Zahl im Nationalmuseum von Ancona studieren kann. Die Importe in den Abruzzen kamen wahrscheinlich aus Numana, der picenischen Hafenstadt südlich von Ancona, deren Märkte besonders von Griechen und gelegentlich auch von Etruskern beschickt wurden. Im Ort Bellante fand man eine stehende menschliche Figur mit verschränkten Armen über der Brust und einer Inschrift in picenischer Sprache, die heute im Museum von Neapel aufbewahrt wird. Bei neueren Grabfunden in Campli kamen eine attische Trinkschale und eine sehr schöne ionische Weinkanne zum Vorschein, griechische Imporrwaren, die wahrscheinlich in Numana gehandelt wurden. Sowohl Bellante wie Campli liegen nahe an der Grenze zu den Marken. Überall in den Abruzzen hat man in Männergräbern reich dekorierte Metallscheiben gefunden, deren Verzierung oft aus feingearbeiteten flachen Reliefs besteht. Sie dienten den Kriegern als Brustschutz. Derartige Scheiben mit phantasievollen Tierreliefs wurden am Unterlauf des Sangro in Paglicta gefunden, ein anderes, sorgfältig gearbeitetes Stück mit geometrischem Muster kommt aus Civitaluparella unweit des Sangro, andere Bronzescheiben stammen aus der Nekropole von Alfedena, wieder andere verschiedener Provenienz kann man im Museum von Avezzano betrachten.
Das Hauptwerk dieser picenisch-abruzzesischen Kultur, zu Recht bekannt und gerühmt, ist der sog. Krieger von Capestrano (Tf. 1) aus dem 6. Jh. v. Chr., der 1934 in der Nähe dieses Ortes gefunden wurde. Er ist jetzt im Nationalmuseum von Chieti aufgestellt, und die Besichtigung dieser Voll plastik ist allein eine Reise nach Chieti wert. Man hielt die Figur zunächst für ein etruskisches Erzeugnis, und darum wanderte sie erst einmal nach Rom in das etruskische Museum in der Villa Giulia und kam vor nicht langer Zeit nach Chieti, wo man inzwischen weitere Funde zusammengetragen hat, die sich mit dem Krieger verbinden, so daß er als künstlerisches Phänomen nicht mehr alleinsteht, sondern in die alte italische Kultur einzuordnen ist. Er ist aus einem leicht zu bearbeitenden Kalkstein gehauen, der aus der Umgebung von Capestrano kommt. Die Höhe der Figur ohne den Sockel beträgt 2,09 m. Der Künstler arbeitet mit sehr (S. 31) weichen Konturen und vermeidet harte Brechungen, scharfe Kanten, gerade Linien -mit Ausnahme der Beinschienen -, alle Formen sind gerundet. Die ganze Figur wirkt außerordentlich prall und zugleich weiblich mit der engen Taille und dem ausladenden Becken. Auf die Gestaltung des Beiwerks, das sich dekorativ auf dem Körper abzeichnet, ist mehr Wert gelegt als auf die realistisch-anatomische Darstellung. Der Krieger ist in strenger Frontalansicht dargestellt mit leicht gespreizten Beinen. Seine Schultern ruhen auf zwei ihn flankierenden Stützen, die sich nach oben verjüngen und die Ritzzeichnung eines Speeres zeigen. Wie in der Figur von Bellante sind die Arme des Kriegers unter Vermeidung von überschneidungen über Brust und Leib verschränkt. Die Hände sind ausgebreitet, so daß sie das darunterliegende Schwert nicht umgreifen, sondern nur an den Körper drücken, was den passiven Zustand der Figur verrät. Der Schwertknauf ist von feinster Ausführung mit eingravierten Fabeltieren. Brust und Rücken sind von je einer der vorgehend beschriebenen Metallscheiben bedeckt, welche durch Riemen, die über beide Schultern laufen, gehalten und miteinander verbunden sind. Die Beckenpartie ist mit schmalen Bändern gegürtet, worauf geometrische Muster eingeritzt sind, und sie könnten Leder-oder Metallriemen darstellen. Die Füße stecken in Riemensandalen. Eine Halskette und Armreifen schmücken den Mann. Die Forschung glaubt zu Recht, daß sein Gesicht mit einer bis über die Ohren reichenden Maske bedeckt ist, die laut schriftlicher Quellen ja zur Kriegsausrüstung gehört. Damit würde die eigentümliche eiförmige Kontur der Wangen erklärt sein. Manche Rätsel hat die seltene Kopfbedeckung aufgegeben, die abnehmbar ist. Die Schädeldecke des Kriegers ist abgeflacht und in der Mitte mit einem Zapfen versehen, zum Halt der Bedeckung. Bei dieser handelt es sich nicht etwa um einen Helm oder Hut sondern um einen nicht ganz kreisrunden Schild mit -zum Teil ergänztem -Federwerk, der in der Literatur als clipeus pinnatus und von etruskischen Vasendarstellungen des 6. Jh. bekannt ist. Die Plastik zeigt an dem Beiwerk noch rotbraune Farbspuren. Allein die Tatsache, daß die Statue in einer Nekropole gefunden wurde, macht es wahrscheinlich, daß sie ein Totenbild ist, zumal ja der Krieger keinen kampfbereiten Ausdruck hat. Wie schriftliche Quellen belegen, wurde der Schild als Zeichen der Demut im Angesicht überirdischer Mächte auf dem Kopf getragen. Der Tote von Capestrano ist zwar mit dem ganzen kriegerischen Zubehör ausgerüstet, aber er bedient sich seiner Waffen nicht. Unter diesem Gesichtspunkt bekommen möglicherweise auch die seitlichen Stützen, auf denen der Speer dargestellt ist, einen Sinn. Der müde Krieger, der ruhen will, wird im Lateinischen öfter als auf einer »hasta subnixus«, auf einem Schaft gestützt, beschrieben. Die Inschrift an seiner rechten Stütze ist 1955 von Gerhard Radke wohl richtig entziffert worden. Sie ist von rechts nach links zu lesen in altsabellischer Sprache und nicht etruskisch, wie man zunächst vermutete, und ist ein Zeugnis des 6.-5. Jh. für das gesamte Sprachgebiet der Picener, Vestiner, Paeligner und Frentaner. Sie lautet dem Sinne nach übersetzt: In seiner Amtsführung als Duovir quinquennalis -und zwar im fünften Jahr -stellte Minius dem verdienten Kuprius das Bildnis auf.
Direkt neben dem Krieger wurde in der Nekropole von Capestrano neuerdings der arg verstümmelte Torso einer Frau gefunden, vielleicht die Gemahlin des verdienten Kuprius. Freilich steht sie in ihrer künstlerischen Behandlung dem Griechisch-Archaischen näher als die männliche Figur. Interessant ist vor allem, was in ihrer Rückansicht von ihrem Kostüm zu erkennen ist, nämlich eine langzipflige Kapuze, die an die Kopfbedeckung phrygischer Hirten erinnert, und die heutzutage noch zur abruzzesischen Volkstracht gehört.
Noch andere Werke, welche sich um den Kuprius von Capestrano gruppieren lassen, sind bekannt geworden und werden im Museum von Chieti aufbewahrt. Einmal handelt es sich um drei -allerdings nur fragmentarisch erhaltene -Stelen mit menschlichen Figuren. Weiterhin ist ein Kopf, der aus der Sammlung Leopardi in Penne stammt, eng mit dem Krieger von Capestrano verwandt. Auch er hat auf dem abgeflachten Schädel einen Zapfen, um seinen Schild im Reich der Toten zu tragen. Aus Avezzano wurde dem Museum der Unterteil einer Plastik geschenkt, die in eine Mauer eingearbeitet war und unter dem Namen »Die Beine des Teufels« bekannt war. Die stilistischen übereinstimmungen mit dem Krieger von Capestrano sind verblüffend. Ein anderes Stück wurde vor kurzer Zeit in Guardiagrele gefunden, und zwar ist es die Grabstele mit der Büste eines Mannes, dessen Kopf weitgehend verstümmelt ist. Der Tote trägt eine Halskette sowie auf Brust und Rücken Metallscheiben, die durch Riemen miteinander verbunden sind. Von ähnlicher Größe wie beim Krieger von Capestrano, zeigen sie Tierdarstellungen. Ebenfalls in das 6. Jh v. Chr. ist der Torso einer 88 cm hohen Statue aus Kalkstein zu datieren, der 1971 in Colledimezzo gefunden wurde und gelegentlich auch als Krieger von Atessa bezeichnet wird. Das Motiv der über Brust und Leib verschränkten Arme ruft natürlich die Erinnerung an den Krieger von Capestrano wach, ebenso die Riemen um die Beckenpartie, die die Scheiben zum Schutz des Körpers zu halten hatten. Stilistisch gibt es aber manche Unterschiede. Vor allem in der Körperbehandlung ist der Torso von Colledimezzo noch archaischer als der Krieger von Capestrano. überblickt man nun diese Skulpturen, so könnte man doch zu neuen überlegungen kommen. Zum einen zeigt sich, daß sie sehr eigenständig sind, von der etruskischen Kunst ebensoweit entfernt wie von der griechischen. Auch zu dem picenischen Kopf von Numana im Museum von Ancona, womit man gelegentlich den Krieger von Capestrano verglichen hat, bestehen kaum Verbindungen. Jener zeigt in sehr viel stärkerem Maß griechische Züge und ist außerdem später - wahrscheinlich erst ins 5. Jh. - anzusetzen als die Funde in den Abruzzen. Zum anderen aber wird auf Grund der zusammenhängenden Gruppe von Skulpturen und ihren verschiedenen Fundorten offenkundig, daß der Krieger von Capestrano kein Einzelfall ist, und daß in den Abruzzen ein größerer geographischer Raum (S. 32) künstlerische Leistungen innerhalb der Plastik hervorgebracht hat: neben Capestrano kennen wir Penne, Avezzano, Guardiagrele, das Gebiet der Vestiner, Marser und Marruciner oder Frentaner.
Unsere Kenntnis von der abruzzesisch-picenischen Zeit ist seit dem Fund der Nekropole von Campovalano bei Teramo auch in der Kleinkunst bereichert worden. Die Beigabe von Waffen zeugt vom Kriegshandwerk der Bewohner. Wir finden Panzer und Panzerplatten, Helme, Lanzen, Speere, Schwerter mit Scheiden, die vorwiegend aus Bronze gearbeitet und mit raffiniert stilisierten Tierreliefs verziert sind. Dazu gesellt sich der Schmuck: Armreifen, Ringe, Fibeln, Halsketten; als Material wurden Bronze, Eisen, Silber, Glaspasten und Bernstein verwandt. Kannen aus Bronze mit Verschlußdeckeln und stilisierten Henkeln dienten als Hausgerät. Die größten Leistungen indessen zeigt die Keramik aus sehr feiner Tonerde in dunkelrötlicher Farbe (Tf. 2, 3, 4). Ohne etruskische Einflüsse wäre diese Produktion wohl nicht möglich gewesen, doch sind die stilistischen Beziehungen so locker, daß man annehmen kann, es hier mit einem bodenständigen, von einer langen Tradition getragenen Handwerk zu tun zu haben. Einzigartig sind Vasen auf kunstvollen Füßen. Dann gibt es Räuchergefäße, die mit Reliefornamenten, plastisch gebildeten Tieren und kunstvollen Einritzungen verziert sind. Von einigen ist noch der Deckel erhalten mit phantastischen Tiergebilden als Griff. Nicht minder originell sind tönerne Menschenköpfe auf überlangen Hälsen mit flachen, scheibenförmigen Gesichtern. Häufig begegnet man Arbeiten aus Bein oder Elfenbein. Dazu gehören Fragmente von Kämmen, Würfel, ein Frauenfigürchen und ein seltsames Täfelchen mit kunstvoll übereinanderstehenden Tieren, in deren Mitte ein Pferd zu erkennen ist. Außer den systematischen Ausgrabungen in Campovalano gibt es aus der abruzzesisch-picenischen Zeit noch Zufallsfunde aus anderen Orten. Sie stammen aus Ortona, vom Monte Pallano, aus Civitaluparella, Paglieta und Torricella Peligna, alles Siedlungen in der Provinz Chieti. Weiterhin kommen sie aus Spoltore und Montebello di Bertona in der Provinz Pescara sowie aus Pettorano sul Gizio bei Sulmona.
Soweit wir es heute übersehen können, ist die Kultur der italischen Völker in den Abruzzen und im Molise bis zur Ankunft der Römer in ihren künstlerischen Leistungen nicht einheitlich gewesen. Die Fülle der neueren Funde läßt uns eine Blütezeit im 6. Jh. v.Chr. erkennen, die man gemeinhin als den abruzzesisch-picenischen Stil bezeichnet. Die Erzeugnisse jener Zeit sind recht eigenständig in Bezug auf diejenigen anderer Völker. Nach dem 6. Jh. hat dieser Stil kaum noch Nennenswertes gezeitigt. Dann versiegen die kulturellen Zeugnisse etwa IS0 Jahre lang, während denen auch wenig Ansätze zu Neuem spürbar sind. Erst ab 350 ungefähr regen sich wieder frische Kräfte, die vorwiegend von den Samnitern und den von ihnen beeinflußten Gebieten ausgingen. Was dann entsteht, hat nichts mehr mit der abruzzesisch-picenischen Kultur zu tun und speist sich aus anderen Quellen; wir stellen etruskische Einflüsse fest, die über Kampanien vermittelt werden konnten, sowie Verb indungen zur hellenistischen Kultur Kampaniens und Süditaliens. Eine Bestätigung dieser Vorgänge liefern die Inschriften. Abruzzesisch-picenische oder altsabellische Inschriften sind in den Abruzzen und im Molise nach dem 6. Jh. nicht mehr zu finden. Im 5. Jh. und in der 1. Hälfte des 4. Jh. fehlt es wieder an Belegen, und erst seit etwa 250 kommen sabellische Inschriften vor, die sich in Form und Sprache von den picenischen absetzen. Vielleicht ist dieses Geschichtsbild zu simplifiziert. Es gibt einen Störenfried. Es handelt sich um den sehr eigenständigen und archaisierenden Kopf aus Pietrabbondante (Tf. 5, 6). Er ist aus lokalem Kalkstein gearbeitet und hat ein dämonisches Aussehen, ein Gesicht, das nur aus Nase und Augen besteht, die schematisch in einer Kontur, die die Form des griechischen Buchstabens!p bildet, wie zu einer magischen Formel zusammengefaßt sind. Wir hatten schon erwähnt, daß oberhalb von Pietrabbondante der Monte Saraceno liegt, auf dem Spuren einer sehr alten Siedlung erhalten sind. Möglicherweise kommt er von dort her. Für eine Datierung ins 3. Jh., wie vorgeschlagen wurde, fehlen jegliche Vergleichsbeipiele. Jedenfalls läßt sich der Kopf nicht in die uns bekannte samnitische Kunstprodukrion einordnen.
Außer belanglosen, künstlerisch kaum etwas aussagenden Keramikfunden kennen wir in der Periode des Stillstands aus dem 5. Jh. nur Erzeugnisse, von denen wir annehmen können, daß sie von weither importiert oder beeinflußt wurden. So hat man in Trivento Reste von zwei weiblichen Statuetten aus Kalkstein gefunden, gut durchgebildet, mit langen faltenreichen Gewändern, sowie zwei Reiterfiguren, die heute im Museum von Campobasso sind. Stilistisch hängen die Plastiken von griechischen Werken ab, sei es von istrischen Plastiken des 6. Jh., die griechische Modelle überliefern, oder von Vorbildern aus dem hellenistischen Kampanien. In Sepino im Pentrerland wurde eine Bronzeschale gefunden, deren Henkel als tanzende Mädchen gebildet sind. Cianfarani nimmt an, daß es sich hier um ein Erzeugnis einer in Etrurien arbeitenden ionischen Werkstatt handelt.
Heterogene Stileinflüsse und spärliche Funde erschweren die Datierung der samnitischen Kunstproduktion. Im Rathaus von Castel di Sangro ist ein samnitischer Stier zu sehen, der 1957 ans Tageslicht kam. Am Berge Vairano gefundene Plastiken werden in den Museen von Baranello und Campobasso aufbewahrt. Sie sind zeitlich kaum festzulegen und machen noch einen archaischen Eindruck; es handelt sich um eine weibliche Statuette aus Stein, drei Herkulesstatuetten, davon zwei aus Stein und eine aus Bronze, sowie um einen 12 cm hohen Votivkopf aus Ton. Im Museum von Vasto wird die Bronzestatuette eines italischen Kriegers gezeigt und im Museum von Chieti der Krieger von Roccaspinaiveti.
Die Pilgerheiligtümer in den Abruzzen überliefern eine unübersehbare Menge von Votivgaben, darunter auch solche von nichtabruzzesischen Pilgern. Zum Beispiel kamen nach Carsoli die Gläubigen aus dem benachbarten Latium, aus dem Land der Etrusker und aus Kampanien. Die dort gefundenen Gaben, die seit 1950 systematische Ausgrabun (S. 33) gen zutage fördern, sind aus Bronze und Terrakotta und vom 4. bis in das 2. Jh. v. Chr. zu datieren. Indessen machen manche der Werke aus Ton oft einen früheren Eindruck, was dadurch zu erklären ist, daß sie serienmäßig und aus älteren Modeln hergestellt wurden. Neben archaisch erscheinenden Gegenständen gibt es auch andere, die hellenistische Einflüsse zeigen. Daneben mag man auch Erzeugnissen der traditionellen abruzzesischen Volkskunst begegnen. Bekannt wurden bisher 500 Terrakotten, etwa 70 Bronzefiguren und über sechstausend Geldstücke. Die Gottheit, der die Votivgaben dargebracht wurden, ist bislang unbekannt.
Es wurden auch Herkules-und Marsstatuetten in Carsoli geweiht. Nun wissen wir ja vom Herkuleskult am Monte Morrone bei Sulmona, und so treffen wir überall in den Abruzzen und im Molise auf die nur wenige Zentimeter hohen Figürchen dieses Gottes. Heutzutage kann man sie vor allem in den Museen von Chieti und Sulmona sowie im Museum von S. Francesco in Castelvecchio Subequo finden.
Überhaupt enthalten die abruzzesischen Museen zahlreiche Werke aus italischer Zeit, und am besten sind sie in Chieti geordnet. Das Museum im Kastell von L' Aquila besitzt eine reiche Sammlung. Doch fehlen dort die Angaben der Fundorte, und bei einzelnen Objekten mag man bezweifeln, ob sie überhaupt aus den Abruzzen stammen. Auch kleinere Sammlungen sind beachtenswert, so das Museo Civico in Sulmona, das kleine, an das Kloster S. Clemente a Casauria angeschlossene Museum oder die Privatsammlung Leopardi in Penne.
Die Situation der italischen Völkerstämme des Mittelapennins wäre für die Römer fast zum Verhängnis geworden. Ohne entscheidende römische Siege kam es erst im 1. Jh. v.Chr. zu einem Bündnis. Und beinahe hätten wir auf der Schule nicht die lateinische sondern die oskische Sprache erlernt. Dies ist eines der aufregendsten Kapitel der politischen Sprachgeschichte in Italien und verdient hier angedeutet zu werden, weil es die vorher geschilderte Situation bestätigt und ergänzt. Die italischen Sprachen scheiden sich in zwei Gruppen, in die lateinische und die umbrisch-sabellische. Zur letzteren gehört die altsabellische Sprache, die im abruzzesisch-picenischen Bereich durch Inschriften bis um das Jahr 500 zu verfolgen ist. Eine sich davon unterscheidende Sprache brachten die Samniter auf ihren Südwanderungen in das heutige Molise mit. Solange sie sich in ihrer Ausdehnung mit der hügeligen Stammlandschaft begnügten, konnte sich die lateinische Sprache von Rom und Latium aus nach Süden ausbreiten und beherrschte praktisch die gesamte Westküste des Tyrrhenischen Meeres. Im 5. Jh. begannen die Expansionsbestrebungen der Samniter nach Westen, in das heutige Kampanien. Diesen Vorstoß vollzog ein Stamm der Samniter, die Osker. Ober Kampanien drang ihre Sprache in Süditalien ein, in Lukanien, Kalabrien, Apulien und sogar in Sizilien. Der römische Dichter Ennius, 239 v. Chr. in Kalabrien geboren, dem wir die Einführung des Hexameters in die römische Dichtung verdanken, sagt von sich, daß er drei Herzen habe, weil er griechisch, oskisch und lateinisch verstehe. über die Ausbreitung der samnitischen Sprache erfahren wir auch vom Philosophen Plato. Aus seiner in Sizilien gewonnenen Anschauung befürchtete er, es könne in naher Zukunft der Fall eintreten, wo die griechisch sprechende Bevölkerung Italiens ihre Muttersprache verlerne, um die Sprache der Punier oder der Osker anzunehmen. Die Ausdehnung des Sprachgebiets der Samniter geht mit ihrer politischen Ausbreitung Hand in Hand, und es schrumpfte, als die Römer den Vorrang gewannen, obwohl sich die Sprache der Samniter noch lange Zeit, nachdem die Römer ihre Gebiete eingenommen hatten, erhalten hat. Von den über 250 erhaltenen oskischen Inschriften sind mehr als dreiviertel in Kampanien gefunden worden und davon wieder mehr als die Hälfte allein in der Stadt Pompeji.
Bei ihrem Vordringen an die Westküste stießen die Samniter auch mit den Etruskern zusammen, die sich dort niedergelassen hatten. Diese mußten 438 vor den Samnitern aus Capua weichen und 420 aus Cuma. Die Berührung beschränkte sich jedoch nicht nur auf das Schlachtfeld, sondern die Samniter erlernten von ihren Gegnern das kampanisch-etruskische Alphabet, in das sie ihre Sprache, die bislang keine Schriftsprache war, einkleideten. Erst an zweiter Stelle erfolgten Entlehnungen aus dem griechischen Alphabet. Die Richtung der neuen Schrift verläuft mit wenigen Ausnahmen von rechts nach links. Die Rechtschreibung der Inschriften ist sehr gleichmäßig und zeigt einen hohen Bildungsstand, den die lateinischen Inschriften jener Zeit nicht erreichten. Dem Oskischen verwandt sind die Sprachen der Paeligner, Vestiner und Marruciner, so daß man gelegentlich von einer nordoskischen Sprache gesprochen hat. Diese Völkerschaften bedienten sich aber nie der oskischen Schriftzeichen, sondern zogen das lateinische Alphabet vor. Oskische Inschriften aus dem Stammland sind z.B. in Isernia, Boiano, Pietrabbondante, Alfedena, Barrea und am Monte Pallano bekannt geworden. Sie sind in Stein oder Bronze eingeritzt und enthalten sehr oft sakrale Anweisungen. Das berühmteste Zeugnis ist die sogenannte Bronzetafel von Agnone, die aber in Capracotta gefunden und 1848 erstmals publiziert wurde, heute ist sie im Britischen Museum in London. Die in die erste Hälfte des 3. Jh. v.Chr. zu datierende Inschrift zählt Götter auf, die zu verehren waren.
Daneben sind zahlreiche Inschriften im Dialekt der von den Samnitern beeinflußten italischen Stämme im Norden überliefert. Frentanische Inschriften begegnen in Vasto. Im Dialekt der Marruciner ist die 1846 in Rapino gefundene Bronzetafel mit sakralen Anordnungen abgefaßt, welche sich heute im Museum in Berlin befindet. Paelignische Inschriften kommen in Gräbern in Corfinio vor, weitere Denkmale dieser Sprache sind im Museum von Sulmona aufbewahrt. Eine bronzene Weihinschrift an Herkules Giovio im Dialekt der Vestiner stammt aus Peltuinum und wird heute im Museum von Neapel gezeigt, und eine Bronzeplatte im marsischen Dialekt aus Civita d'Antino verwahrt das Museo Torlonia in Rom.
(S. 34)Die Zeit der Römer
Das Hineinwachsen der italischen Stämme des Zentralapennins in die römische Kultur geschah sicherlich nicht abrupt. Eigenheiten und Gewohnheiten der alten Siedler haben sich in römischer Zeit fortgesetzt, zumal an Stellen, die den Römern strategisch uninteressant waren. Andrerseits war den italischen Stämmen die römische Kultur nicht fremd, da die Römer schon vor den Sozialkriegen Militärstellen und Siedlungen sozusagen mitten im Feindesland eingerichtet hatten, z.B. in Carsoli und Alba Fucense im Westen, im Norden in Atri und Amiterno und im Süden Stützpunkte gegen die Samniter. Als der römische Einfluß anfing sich geltend zu machen, gehörte die Kultur der Picener im Mittelapennin schon längst der Vergangenheit an, und die samnitische Kultur war in den Stammlanden nicht mehr sehr wirksam. So bedurfte es keiner allzugroßen Anstrengungen, daß, nach Gleichstellung der italischen Völker mit den Römern im Jahre 89 v. Chr., die neue Zivilisation sich ungehindert ausbreiten konnte. Die organisatorische Begabung der Römer zeigt sich hier in außerordentlicher Reife. Mit friedlichen Mitteln erschließen sie das Land durch kolossale Nutzbauten, durch Siedlungen und Städte, wobei sie auf Schonung der alten italischen Kultbauten bedacht sind, die sie auf ihre Weise aus-und umbauen. Die Leistung ist unglaublich. Man ist versucht zu sagen, daß die römischen Monumente, wenngleich auch nur in Relikten und Ruinen erhalten, in unserem Gebiet in größerer Zahl überliefert sind, als die des Mittelalters, der Renaissance und des Barock. Es gibt kaum eine Siedlung in den Abruzzen und dem Molise, die nicht irgendeinen Gegenstand aus der Römerzeit aufzuweisen hätte. Neue Objekte und Entdeckungen kommen fast täglich hinzu. Demgegenüber ist es verwunderlich, daß es, abgesehen von vortrefflichen Einzeluntersuchungen, keine Gesamtgeschichte der Archäologie in den Abruzzen und dem Molise gibt. Dieses Faktum ist gleichzeitig wieder ein Reiz für den Reisenden, fast überall archäologische Gegebenheiten vorzufinden, die wissenschaftlich noch nicht verarbeitet wurden, und mit Erstaunen festzustellen, wie römisch die Abruzzen sind.
Die Verschmelzung von Römern und Italikern hat zwei Aspekte. Einmal beobachten wir das Eindringen der Römer in die Abruzzen, die dort sicherlich nicht so sehr Ackerbau und Viehzucht trieben als munizipale Stellen bekleideten. Politisch geschickt verhielt sich der Kaiser Augustus. Aus Inschriften wissen wir, daß er z.B. zahlreiche Paeligner in die kaiserliche Verwaltung in Rom aufnahm und mit hohen Ämtern bedachte. Viele von ihnen kehrten in ihre Geburtsstädte zurück und verwalteten dort ihre Gemeinwesen mit stadtrömischen Erfahrungen. Zum andern stellen wir eine dauernde Auswanderung fest, damals natürlich nach Rom. Das Verlassen des Heimatlandes ist ein latenter Zug in der abruzzesischen Geschichte, durch alle Jahrhunderte zu verfolgen bis zur großen Auswanderungswelle nach Nord-und Südamerika nach der Einigung Italiens im vorigen Jahrhundert, ja bis zum heutigen Fremdarbeiter in der Schweiz oder in Deutschland. Dabei handelt es sich gar nicht immer um die niederen Volksklassen sondern, natürlich in relativ kleinerer Zahl, um die gebildete Schicht. Die besten Söhne dieses Landes kennen oft die Abruzzen nur als Geburtsland und aus Kindheitstagen. Wollte man ein Buch über Abruzzesen in Italien und in der Welt schreiben, würde ein stattliches, nicht zu Ende zu führendes Lexikon entstehen. Wir werden noch einige Male auf diesen Punkt zu verweisen haben. Diese Auswanderungen werden seit dem ersten vorchristllichen Jahrhundert historisch faßbar. Ich beschränke mich auf wenige Beispiele.
Zwei oder drei Jahre nach der sozialen Gleichstellung wurde 86 v. Chr. im abruzzesischen Teil des Sabinerlandes Sallust in Amiterno geboren. Er stammte aus einer angesehenen plebejischen Familie, kam nach Rom und bekleidete dort hohe politische Ämter. Seinen Ruhm erlangte er als römischer Geschichtsschreiber, sich an Thukydides bildend. Er verfaßte eine römische Geschichte seiner Zeit, eine Schrift über die Verschwörung des Catilina und über den Krieg der Römer gegen den numidischen König Jugurtha, der 104 in Rom getötet wurde. Von abruzzesischen Reminiszenzen ist bei Sallust kaum etwas zu spüren, er verteidigt und verherrlicht die Römer, wo er nur kann, und war ein getreuer Anhänger Cäsars. Das völlige Verschmelzen mit Rom ist auch bei Asinius Pollio zu spüren. Er stammte aus plebejischem Geschlecht aus Chieti im Lande der Marruciner und wurde 75 v.Chr. geboren und starb 6 n.Chr. Oft gerühmt wird seine glänzende Beherrschung der lateinischen Sprache. Neben bedeutenden Staatsämtern besaß er literarischen Ruf. Er legte in Rom die erste öffentliche Bibliothek an. Sein Sohn Gallus war mit Vipsania Agrippina verheiratet, die später Frau des Kaisers Tiberius wurde. Gallus verfaßte eine Schrift, in der er die Rednergabe seines Vaters mit Cicero verglich, und ersterem den Vorrang gab. Unter ähnlichen Verhältnissen lebte in augusteischer Zeit in Rom Domitius Marsus, aus dem Marserland stammend. Er war Literat und schrieb Epigramme, war Freund des Augustus, des Maecenas und des Dichters Tibull. Weiterhin lebte im ersten Jahrhundert in Rom Vitorius Marcellus, dessen Geschlecht ebenfalls im Marserland zu belegen ist. Quintilian widmet ihm seine »Institutio oratoria« und der Dichter Statius das 4. Buch seiner »Silvae«. 38 v. Chr. heiratete Kaiser Augustus - gefesselt von ihrer Schönheit - die Livia Drusilla. Ihre Mutter war sehr wahrscheinlich Abruzzesin und stammte aus Marruvium, dem heutigen S. Benedetto dei Marsi. Immer wieder begegnen wir Abruzzesen auf dem Gebiet der römischen Literatur. Ein ganz eigenartiger Fall ist das Kind Lucius Valerius Pudente, das 93 n.Chr. in Vasto geboren wurde. Aus einer Inschrift wissen wir, daß der Knabe im Jahre 106 auf dem Kapitol in Rom den Dichterkranz erhielt (S. 35) in dem berühmten Agon Capitolinus, jenem vom Kaiser Domitian im Jahre 86 eingeführten Wettkampf, der bis in die späteren Zeiten des Altertums alle vier Jahre in drei Sparten stattfand, in einer musischen, einer equestrischen und einer gymnastischen. Die Inschrift, die vom Sieg des Pudente berichtet, befindet sich auf einem im Museum von Vasto aufbewahrten Piedestal, das die Statue des Jünglings trug. Der Marmorkopf derselben ist noch erhalten und seit 1632 im Besitz der Familie Spataro gewesen, die ihn 1979 dem Archäologischen Museum in Vasto geschenkt hat. Das Dichterhandwerk scheint Pudente aufgegeben zu haben. In der Regierungszeit des Antoninus Pius finden wir ihn wieder, damals ist er in der Finanzverwaltung von Isernia tätig.
Den Höhepunkt der literarischen Präsenz von Abruzzesen in Rom bildet der Paeligner Ovid, 43 v. Chr. in Sulmona geboren. Er ist der erste italische Poet, der in lateinischer Sprache dichtete. Im Gegensatz zu den Vorhergenannten ist er sich immer seiner Herkunft aus dem Paelignerlande bewußt geblieben und hat in seinen Werken die Erinnerung an seine Heimat wachgehalten. Kein Wunder, daß Ovid in den Abruzzen und besonders in Sulmona als der berühmteste Held gefeiert wird, dessen Gestalt heute noch lebendig ist. Ein Reisender, der 1838 Sulmona besuchte, vermerkt, daß man dort nur von Ovid spreche (Qui tutti parlano d'Ovidio).
Ovid ist nach Vergil der bekannteste Dichter des römischen Altertums und im Mittelalter der meist zitierte und nachgeahmte Autor. Von ihm gibt es in den Abruzzen verschiedene Arten der Überlieferung, die kritische, die spezifisch lokale und die legendäre. In Sulmona existierte ein stark ausgeprägter Frühhumanismus, dessen Vertreter alle mit Ovid vertraut waren. Eine Zunahme der Ovidkenntnis setzt dann in der 2. Hälfte des 15. Jh. ein. Auf Grund von neuen Manuskriptfunden wurde 1970 das Gedichtwerk »Ovidiade« des Petrus Odi aus Montopoli im Sabinerland zum erstenmal publiziert. Dieses Lobgedicht auf Ovid und seine Geburtsstadt verfaßte der schon von Flavio Biondo gerühmte Dichter bei seinem Besuch in Sulmona im Jahre 1462. 1482 schrieb Paolo Marso, der aus dem unweit von Sulmona gelegenen Pescina stammte, einen Kommentar zu den Fasten des Ovid. Ein anderer Abruzzese, Mariangelo Accursio (1489-1546) aus L'Aquila verfertigte eine gelehrte Untersuchung über die Metamorphosen, die 1524 in Rom erschien. Der wichtigste Ovidforscher in Sulmona selbst ist Ercole Ciofani, der dort Anfang des 16. Jh.lebte. Er edierte und kommentierte die Werke des Dichters. Ihm verdanken wir auch eine Beschreibung der Stadt Sulmona mit einer Abhandlung über die bildlichen Darstellungen des Ovid; die Schrift wurde 1584 bei Plantin in Antwerpen und 1601 noch einmal in Frankfurt a.M. publiziert. Das starke Nachleben des Ovid in den Abruzzen wird auch an den zahlreichen Darstellungen der Metamorphosen auf den berühmten Keramiken von Castelli sichtbar.
Aber nicht nur die literarischen Werke Ovids wurden in den Abruzzen überliefert. Auch die Geschichte seiner Villa unweit von Sulmona an den Hängen des Morrone kann man durch Jahrhunderte verfolgen. Mit den Entdeckungen des Archäologen Cianfarani in den 60er Jahren ist den Sulmonesen ein schöner Traum zerstört worden, dem sie am liebsten heute noch nachhingen. Die dortigen Baureste gelten nun nicht mehr als die Villa des Poeten sondern als ein großangelegtes Heiligtum der Paeligner aus italischer und römischer Zeit. Trotzdem kann den Sulmonesen ein kleiner Trost zugebilligt werden, daß der Name Ovids mit dem Ort zu verbinden ist. Kürzlich brachte man in das Museum von Chieti aus dem Heiligtum am Morrone eine Marmorsäule, auf der sich die antiken Besucher durch Inschriften verewigt hatten. Darunter nennt sich auch ein P. Ovidius Naso und fügt seinem Namen ein Distichon bei. Allerdings hat sich die Ovidforschung bisher noch nicht um die Echtheitsfrage gekümmert.
Von Ovid stammt der bekannte Satz: Sulmo mihi patria est (Sulmona ist meine Heimatstadt). In Analogie zu Rom, das die Abkürzung SPQR (Senatus Populusque Romanus) verwandte, erscheint seit dem 13. Jh. in Sulmona das Kürzel SMPE. Diese Initialen findet man an verschiedenen Häusern und Monumenten der Stadt; 1386 kommen sie auf einem Wachssiegel Sulmonas vor, und ein anderes Mal erscheinen sie auf einem Siegel der Universität von Sulmona mit der Legende »Ovidius Nasus« und dem Bildnis des Ovid, der in ein langes, einer Mönchskutte gleichendem Gewand eingehüllt ist und eine Kapuze trägt, die nur das Gesicht frei läßt. Auf Siegeln des 16. Jh. sehen wir den Dichter mit einem Lorbeerkranz gekrönt. Auf sulmonesischen Münzen erscheint die Sigle seit dem 14. Jahrhundert. Aus einem Dokument von 1259 erfahren wir von einem Bürgermeister aus Sulmona, der sich Ovidius nannte. SMPE ist auch in schönen gotischen Lettern am Glockenturm der Kathedrale von Sulmona angebracht. Allerdings ist die Interpretation hier zweideutig. Vielen Geistlichen war das Kürzel wegen des heidnischen Geruches, in dem Ovid stand, ein Dorn im Auge und wurde umgedeutet in »Spes mea Pamphilus est« (Meine Hoffnung ist Pamphilus). Er war der Stadtheilige von Sulmona. In neuerer Zeit ist noch eine andere Auslegung dazugekommen: Sulmo metropolis Paelignorum est (Sulmona ist die Hauptstadt der Paeligner).
Das schönste bildliche Zeugnis, das Sulmona von Ovid zeigt, ist die Freistatue des Dichters, die nach einer langen Wanderschaft heute vor dem Eingang des Museo Civico steht. Einstmals zierte sie, als stolzes Wahrzeichen der Stadt, das Rathaus von Sulmona, das 1864 abgebrochen und durch das heutige Post-und Telegraphenamt ersetzt wurde. Das alte Rathaus entstand um 1490, und etwa gleichzeitig ist auch unser Standbild zu datieren. Dem Bau war ein Portikus vorgesetzt, an dessen Außenseite die Figur über einem Pilaster zwischen zwei Bögen aufgestellt war. Sie ist 1,93 m hoch und steht auf einem mächtigen Folianten mit Querriegeln. Das Postament trägt die Inschrift »Poeta Ovidius Naso Sulmonensis«. Über der Statue ist ein Baldachin angebracht. Der in Frontalansicht dargestellte Dichter zeigt das ernste Gesicht eines Gelehrten, die Stirn ist mit Lorbeer bekränzt, und er trägt eine langherabwallende Toga. Mit seiner linken (S. 36) Hand hält er ein großes Buch, auf dessen Einband in weithin sichtbaren Lettern schräg das Kürzel SMPE geschrieben ist.
Die Figur weist Beziehungen zu den genannten Wachs siegeln auf, wobei die Übereinstimmung in der Gewandung mit der Kapuze verblüffend ist. Weiteres zur Entstehung des Denkmals und deren Präliminarien erfahren wir aus dem kürzlich bekanntgewordenen Gedichtwerk des Pietro Odi, das wir oben erwähnten. Darin schlägt er 1462 vor, dem Ovid in Sulmona eine Marmorstatue zu errichten. Odi verfaßt auch eine Inschrift für das postulierte Monument. Diese rühmt Sulmona, die Heimatstadt des Dichters, im Gegensatz zu Rom, das ihn weit weg an die Donaumündung in das kalte Tomi verbannt habe. Ich besinge, so sollte die Inschrift lauten, die Welt, die Liebe, die Zeit, das Unglück und die Rache.
Die Statue erfreute sich in Sulmona großer Verehrung, es durfte an ihr kein Bürger vorbeigehen, ohne die Kopfbedeckung zu ziehen, wie vor einem Heiligenbild, und bis etwa 1870 war es üblich, am 24. Juni, am Tage des hl. Johannes, die Statue mit Blumen und Kränzen zu schmücken.
Die Skulptur ist ein Produkt des lokalen Ovidhumanismus, und innerhalb der Gruppe von Künstlerdenkmälern nimmt sie in Italien durch ihre frühe Entstehung eine hervorragende Stellung ein, denn das Standbild des Künstlers kommt eigentlich erst in der Romantik und Nachromantik des 19.]h. auf. Der Ovid von Sulmona gehört zu den frühesten Darstellungen von Dichtem, die wir nach der denkmalfreudigen Antike kennen. Auch hier steht er im Wettstreit mit Vergil. Diesem hatte man bereits im 13. Jh. eine Sitzstatue am Brolerto in Mantua gewidmet. Im 15. Jh. beabsichtigte man dort, ihm noch ein weiteres öffentliches Denkmal zu errichten. Der Plan dazu ging auf Mantegna zurück, und dessen Entwurf ist noch in einer Zeichnung im Louvre in Paris zu sehen. Vergleicht man diesen mit dem Standbild in Sulmona, so ist Mantegna viel antikisierender in seinem Dichterbild als der Künstler von Sulmona, in dessen Stil sich noch Gotisches spiegelt. Auch in Padua verlangte man nach der Auffindung der Gebeine des Livius 1413 nach einem Denkmal, das aber nicht zur Ausführung kam. Aus dem 15.]h. sind an der Fassade der Kathedrale von Corno die Sitzstatuen des älteren und des jüngeren Plinius erhalten und an der Außenwand eines Seitenschiffs die Figur des römischen Stadtdichters Caecilius.
Es gibt noch keine Darstellung der Pilgerfahrten italienischer Humanisten zu ihren antiken Vorbildern. Sulmona würde dafür ein einzigartiges Beispiel liefern. Neu könnte man die Einsiedelei interpretieren, die der abruzzesische Papst Coelestin V. am Morrone bewohnte. Man betrachtet sie gemeinhin als einen Ort völliger Einsamkeit und Weltabgeschiedenheit, um dem aktiven Leben zu entfliehen. Dennoch liegt in der Wahl dieser grandiosen Eremitage ein hoher geistiger Anspruch. Die Einsiedelei liegt direkt über der sogenannten Villa des Ovid in gleicher Achse und gleichsam als Überhöhung der antiken Anlage. Sollte nicht dem Coelestin die Verbundenheit mit der Antike bewußt gewesen sein? Das räumlich Sich überordnen könnte man als Überwindung der Antike interpretieren. Der Blick aus der Einsiedelei umfaßt eine ganze Welt: Die Tallandschaft mit dem geschichtsträchtigen Sulmona, nach Süden das unbegangene Gebirge der Maiella, ein Name, den die Abruzzesen auf Maia bezogen, die Mutter Erde. Sie war auch eine pelasgische Gottheit. Der Blick nach Norden überschaute die Gegend von Corfinio, wo die Italiker ihre letzten Anstrengungen machten, frei von Rom zu bleiben. Rom war nicht gnädig, Ovid wurde von dort verbannt, und Coelestin mußte als Papst in Rom abdanken.
Besondere Vorliebe für Ovid zeigten die Humanisten aus Neapel. König Alfons I. von Neapel, humanistisch gebildet, kam 1438 nach Sulmona, um dort die Stätten Ovids zu betrachten. Er bekundete: Ich würde gern dieses Gebiet abtreten, das ein guter und ehrenwerter Teil meines Königreiches ist, wenn ich durch glückliches Geschick den Ovid
hätte lebend sehen können, so aber, gestorben, verehre ich ihn mehr als die ganzen Abruzzen. 1462 besuchte der Dichter Pietro Odi die Villa des Ovid. Im Anfang des 16.]h. lehrte der schon erwähnte Humanist Ercole Ciofani in Sulmona und pflegte seine Schüler zu den Berghängen zu führen, um die Mauerreste der sogenannten Ovidvilla zu betrachten. Derselbe Ciofani erzählt von Giovanni Pontano (gest. 1503), dem bedeutenden Humanisten in Neapel, der die dortige Accademia Pontaniana leitete - eine Institution, die bis zum Jahr 1939 bestand -, daß dieser eigens nach Sulmona kam, um dort die beschriebene Statue des Ovid zu bewundern.
Hatten wir es bislang mit überschaubaren literarhistorischen Fakten zu tun, so sind die Ovidlegenden mit ihren verschiedenen Versionen kaum noch auszumachen. Das Bild, das sich die Abruzzesen von diesem Poeten machen, spiegelt typische Eigenheiten wieder, die wir in ihrer Literatur und auch in den Monumenten, besonders in der Malerei, immer wieder finden: Eine unreflektierte Hingahe an einen Helden ohne geistige Vertiefung des Stoffes, das Fehlen alles Raffinierten und Gekünstelten. Alles ist ausgerichtet auf das narrativ Realistische, auch im Bereich der Legende, und wird mit außerordentlicher Frische in absonderlicher Einfalt dargestellt. Ovid glaubte, der Stadtgründer von Sulmona sei Solinus gewesen, ein trojanischer Held, der mit Äneas nach Italien kam. Das glaubte man noch im 13. Jahrhundert. Aber der Text einer Handschrift im Vatikan (Cod. Vat.lat. 1479) verwickelt den Tatbestand beträchtlich und überliefert, daß Ovid der Sohn dieses Solinus gewesen sei, und das glaubt man noch heute in Sulmona, so wie man den bärtigen Kopf am Brunnen an der Porta del Vecchio für das Abbild des Solinus hält.
Wie schon angemerkt, steht die Statue des Ovid auf einem Buch mit Schließen. Die Legende folgert daraus, daß der Dichter auch mit seinen Füßen zu lesen vermochte, und so konnte er alles und wußte alles. Für das einfache Volk war Ovid, in Analogie zu Vergil, ein großer Zauberer. Seine Metamorphosen waren ja auch Zauberkunststücke. Eine Ovidlegende, die man sich noch 1880 in Sulmona erzählte, ist folgende. Da sich Ovid seit Kindheitstagen mit seinem Vater (S. 37) nicht gut stand, machte er sich eines Tages aus dem Elternhaus davon. Endlich, nach langem Suchen, fand man den Buben wieder im Hain der Angitia, wo er die Magie erlernte. Seine Lehrer waren dort ein Astrologe und eine Hexe aus dem Marserland. Als man ihn nach Haus zurückgebracht hatte, begann Wunderbares von ihm auszugehen. Kaum öffnete er den Mund, mußte ihm jeder verzückt zuhören. Weiterhin verstand er sich darauf, den Gesang der Vögel nachzuahmen, und wenn es tönte, vernahm jeder sein Lieblingslied. Je mehr er heranwuchs, desto gewaltiger wurde seine magische Kraft. In nur einer Nacht ließ er am Berge Morrone eine prächtige Villa entstehen, inmitten von Lustgärten, wo Früchte und Wein wuchsen, umspült von den Wassern einer Quelle, die man die Quelle der Liebe nannte. Die Villa war außerordentlich schön und prächtig mit Laubenund Säulengängen, Loggien und Terrassen, mit Bädern und Wandmalereien. Der Ort war in Schluchten und tiefe Bergrisse eingebettet, und das Volk lief zusammen, das Wunder zu sehen. Aber Ovid wollte die Neugierigen bestrafen, und durch nur einen Laut verwandelte er die Männer in Vögel und die Frauen in eine Pappelallee. Als das in Sulmona bekannt wurde, war man da tief erschrocken. Viele suchten die Mutter des Ovid auf und baten, ihr Sohn möge sich der Armen erbarmen. Ein andermal ließ Ovid sich einen großen Wagen mit Feuerpferden anschirren und fuhr in Blitzeseile nach Rom. Dort lieferte er viele Beweise seiner magischen Kunst. Aus den Zähnen eines Ungeheuers und aus Feuerfunken ließ er Krieger entstehen. Er beseelte die Statuen, verzauberte Männer in Blumen, in Hirsche, in schwarze Schweine. Bei einigen Frauen verwandelte er die Haare in Schlangen, bei anderen wiederum die Beine in Fischschwänze, und einige gar wurden zu Inseln. Auf seinen Befehl sprachen die Steine, und alles, was er berührte, verwandelte sich in Gold, Feuersbrünste verschlangen das Erdreich, und das Meer füllte sich mit reizenden Mädchen. Eines schönen Tages verliebte sich die Tochter des damaligen Königs in den Magier und der Magier in sie. Daran fand der König kein Gefallen. Worauf Ovid ihm drohte: Wenn du nicht zustimmst, verwandle ich dich in einen Ziegenbock mit sieben Hörnern. Der König gab keine Antwort. Aber eines Nachts schickte er seine Soldaten in das Haus des Magiers, um ihm den Zauberstab zu rauben. Als dies gelungen war, legte man ihn in Ketten und führte ihn weit weit fort in ein Land, wo es nur hohe Gebirge und undurchdringliche Wälder gibt, und wo ewig Schnee und Eis herrschen. Dort starb der arme Magier. Aber nach seinem Tod kehrte er in seine Villa zurück, und jeden Samstag ging er nächtens mit den Hexen zu ihrem Sabbatfest nach Benevent.
Charakteristisch in den abruzzesischen Fabeln ist das Durcheinanderwerfen der Zeiten. Ovid ist allgegenwärtig. Er bereute seine Untaten, wurde Christ und lehrte den Mädchen am Morrone das Christentum. Mit Papst Coelestin war er befreundet, teilte ihm seine geheimsten Weisheiten mit und schenkte ihm sogar seine Villa am Morrone. Er ist Mitglied der Tafelrunde Karls des Großen. Kein König von Neapel entwirft ein Gesetz, ohne vorher Ovid befragt zu haben. Ovid und Cicero streiten, wer von beiden der pfiffigere ist. Die Legende in Sulmona macht aus Ovid nicht nur einen Christen sondern auch einen Mönch, Bischof, Prediger und Propheten. Er soll Mönch in der Badia am Morrone gewesen sein. Von dort begab er sich nach Sulmona und hielt Predigten in der Kirche S. Maria della Tomba. Die Gewandung seiner Statue scheint sich nicht allzusehr von der Vorstellung eines Ovid als Mönch zu entfernen.
Der Straßenbau in den Abruzzen
Wer sich auf abruzzesischen Straßen bewegt wird kaum ahnen, daß er römischen Untergrund unter den Füßen hat. Aber das Nachleben der Antike ist hier - im wahren Sinn des Wortes - auf Schritt und Tritt spürbar. Freilich überzogen römische Straßen Italien und das ganze Imperium, aber fast nirgendwo ist das Netz noch so brauchbar wie in den Abruzzen. Die Möglichkeiten des Wegebaus waren hier durch enge Täler, Hochtäler und wenige Pässe vorgegeben. Kein Wunder, wenn schon die Römer beim Ausbau ihrer Straßen diejenigen Trakte bevorzugten, die bereits die italischen Völkerschaften benutzten. Die Straßen des Mittelalters und der Neuzeit folgten römischen Spuren. Sogar bei den gigantischen Eisenbahnlinien des 19. Jh. könnte man nachweisen, daß die Schienenbänder sich nach antiken Wegen richten. Erst die modernen Autobahnen, die durch die neue Betonbauweise möglich wurden, lassen die alten Routen oft treulos außer acht.
Die Römerstraßen sind konstruierte Straßen, im Gegensatz zu den einfachen Wegen der vorrömischen Siedler. Sie haben einen kräftigen Unterbau, der oft aus vier Schichten besteht, wie sie von Vitruv und Plinius beschrieben werden. Eine Straße anlegen, heißt bei Cato »viam munire«, einen Weg befestigen. Aus »viam sternere«, einen Weg pflastern, entwickelte sich die Bezeichnung »via strata« = Straße. Zu Seiten der gepflasterten Straße gab es »margines« oder »crepidines«, das bedeutet Fußgängerwege. In Alba Fucense z. B. war der Gehsteig auf einer Seite viermal so breit wie der gegenüberliegende.
Der römische Straßenbau war überhaupt die Voraussetzung für die Romanisierung des Landes. Die Datierung dieser Anlagen ist von größter Wichtigkeit, da die römischen Siedlungen erst nach Vollendung der Verkehrswege entstanden. Die Hauptstraße durch die Abruzzen führte von Rom nach Pescara und teilte im Aternotal die Region in einen nördlichen und einen südlichen Teil. Es zeichnete sich damit wieder die alte Grenzlinie ab, die schon die italischen Besiedler kannten, die auch durch die Geschichte hin gültig bleibt und den unterschiedlichen Charakter der Bewohner dieser beiden Gebiete sowie die Verschiedenartigkeit ihrer Geschichte markiert. Rom brauchte für den Bau hunderte von Jahren, und man erkennt daran, wie schwer sich das römische Reich tat, seine Grenzen und seine Kulturhegemonie nach Osten bis zu den italischen Stämmen auszudehnen. Von der Straße Rom-Pescara bestand seit alters her das erste Stück, das die Hauptstadt mit dem nahe gelegenen (S. 38) Tivoli verband, die Via Tiburtina. Anschließend kam die Via Valeria (Abb.4). Sie begann in Tivoli, führte bis kurz vor Cerfennia, unweit des modemen Ortes Collarmele, wo sie eine Biegung nach Süden machte, nach Marruvium, dem heutigen S. Benedetto dei Marsi am Ostrande des Fuciner Sees. Dieser Trakt wurde Ende des 4. Jh. v.Chr. gebaut; als Erbauer gilt M. Valerius Maximus. Hier finden wir die ersten römischen Siedlungen, Carsoli (298 v. Chr.) und Alba Fucense (303). Die Straße drang also tief in das Marserland ein, und es ist kein Zufall, daß die Marser 308 zu einem Bündnis mit Rom gegen die Samniter gezwungen wurden. Das römische Carsoli liegt gen au in der Mitte zwischen Rom und Marruvium, 44 Meilen vom einen wie vom anderen Ort getrennt. Die Anlage von Stützpunkten auf halber Wegstrecke ist charakteristisch und Zeichen für die Gesamtplanung des römischen Straßenbaus. Das Forum Appi z.B.liegt genau auf der Hälfte des Weges zwischen Rom und Formia, von beiden 43 Meilen entfernt, oder das Forum Cassi an der Via Cassia ist mit 44 Meilen ebensoweit von Rom wie von Ad Fines Clusinorum entfernt, einem Ort, der etwa der heutigen Bahnstation Ficulle -Fabro entspricht. Eine besondere Lage an der Via Valeria nimmt Alba Fucense ein, das auf einem hohen Hügel liegt. An sich errichteten die Römer ihre Kolonien vorzugsweise am Fuße von Bergen unterhalb höher gelegener Orte, welche sie durch Stichstraßen mit ihren Siedlungen verbanden. Im Falle von Alba Fucense (966 m hoch) mußte von Cappelle (711 m hoch) aus auf wenige Kilometer eine beträchtliche Höhendifferenz bewältigt werden. Die Valeria lief durch die römische Siedlung, und dieses Faktum spricht für die Bedeutung der Stadt. Teile der Wegstrecke am Berg sind heute noch gut zu erkennen.
Abb. 3: Römische Straßen zwischen Via Salaria und Via ValeriaErst etwa 250 Jahre später wurde der letzte Teil der Verbindung zwischen Rom und Pescara von Kaiser Claudius r 48-49 n. Chr. durchgeführt. Diese Via Valeria-Claudia 11 nahm ihren Anfang an der Biegung der Via Valeria nach Marruvium und erreichte nach einer Meile Cerfennia. Von dort stieg sie zum Mons Imeus, dem heutigen Paß Forca Caruso (1107 m), an und fiel dann ab ins Atemotal, verlief über Corfinio, dann weiter unterhalb von Chieti und endete in Ostia Aterni, dem heutigen Pescara. Für den Bau der Valeria-Claudia wurden Arbeiter der angrenzenden Völkerschaften herangezogen, die Teatini Marrucini und die Frentani Histonienses. Von Pescara aus wurden dann die Straßen nach Norden und Süden längs der Adria gelegt.
(S. 39)Wenn Ovid in seinen Tristen schreibt, daß sein Geburtsort Sulmona 90 Meilen von Rom entfernt sei, bezieht er sich sicherlich auf einen -zu seiner Zeit wohl noch recht neuen -Meilenstein in Sulmona, auf dem diese Distanz eingetragen war. Die Forschung hat zunächst Ovids Angabe als Irrtum verworfen, doch konnte Gerhard Radke beweisen, daß sie präzis ist. Unter den verschiedenen in der Antike gebräuchlichen Meilenzählungen gibt es eine, die am Ager Romanus am Fosso Passerano zwischen Rom und Tivoli beginnt. Von dort aus sind es bis Alba Fucense 54, bis Corfinio 83 und von dort abzweigend bis Sulmona genau 90 Meilen.
Die Römer verfügten über eine andere Fernstraße, die ihre Stadt mit der adriatischen Küste verband, die Via Salaria (Abb. 3). Sie war die alte Salzstraße, auf der dieses Gut, das an der Mündung des Tiber bereitet wurde, in das Gebiet der Sabiner transportiert wurde. Diese Straße verbindet Rom über Ascoli Piceno mit der Adria und hatte anfänglich für die Abruzzen nicht die Bedeutung wie die Via Valeria, da sie unser Bergland nur am Rande berührte. Sie gewinnt aber eine neue Funktion, als es gelingt, die Salaria mit der Valeria durch Verbindungsstraßen zu koppeln, die die Abruzzen in Nord-Südrichtung durchziehen. Die Via Salaria beginnt in Rom und verläuft zunächst nördlich nach Rieti, macht dort eine Biegung nach Osten und erreicht Antrodoco, führt dann weiter nach Nordosten entlang des Velinotals über S. Quirico, Sigillo, Posta, Bacugno, Forum Caecilii, in der Nähe des heutigen S. Croce, erreicht das Tal des Trontoflusses, zieht sich über Arquata del Tronto, Trisungo, Acquasanta nach Ascoli Piceno hin und endet am Adriatischen Meer bei Castrum Truentinum, südlich des Tronto, bei dem heutigen Martinsicuro. Eine Abzweigung der Via Salaria in die Abruzzen ist wahrscheinlich Atilius Calatinus zu verdanken, der 258 v. Chr. und 254 Konsul, 249 Diktator und 247 Censor war. Der Verlauf der Straße ist gesichert, sie beginnt kurz vor Antrodoco und führt über die Sella di Corno (990 m hoch), Foruli, das heutige Civitatomassa, in die römische Militärkolonie Amiternum. Von dort aus ging sie weiter, über Pizzoli, wo noch antike Straßenreste sichtbar sind, Montereale und Amatrice und traf im Tal des Tronto wieder mit der Via Salaria zusammen. Bei seinem überraschungsangriff auf Rom bediente sich Hannibal dieser Straße im Abschnitt Amiternum, Antrodoco, Rieti.
Abb. 4: Via Valeria zur Zeit der RömerEin Meilenstein, der den Namen Via Caecilia verzeichnet mit der Angabe von 119 Meilen, hat bis zu Gerhard Radke (1973) die antike Wegeforschung in einige Verlegenheit gebracht. Die Markierung befindet sich 3 km östlich von S. Omero, zwischen Ascoli Piceno und Giulianova, bei S. Maria di Vico in dem Ortsteil Vallorini. Dieser Ort liegt schon in der Luftlinie weiter von Rom entfernt als die angegebene Distanz. Man hat die Zahl 119, obwohl eindeutig lesbar, in 129 umdeuten wollen und zog hypothetisch eine Trasse südlich von Rieti über Amiternum, den Paß Capannelle am Fuß des Gran Sasso, ins Vomanotal und hoch über nie begangene Berge nach Teramo bis schließlich nach S. Omero. Dieser des Geländes wegen unmögliche Straßenzug ist heute noch in vielen Geschichtsatlanten verzeichnet. Schon bei der Via Valeria war festzustellen, daß sich die Zählung der Meilen im Laufe der Jahrhunderte ändern konnte. Eine ältere begann sicherlich im Stadtkern von Rom, eine spätere nahm ihren Anfang am Stadtrand am Ager Romanus. Dort hat man einen Meilenstein mit dem Namen Caecilia gefunden, auf dem von einer Ausbesserung berichtet wird. Läßt man nun die Via Caecilia und die Via Salaria am Ager Romanus beginnen, so erreichen sie bei Ascoli Piceno, bis wohin sie zusammengehen, eine Länge von 121 Meilen. Dann teilen sich die beiden Straßen, die Via Salaria führt zum Adriatischen Meer, während die Via Caecilia nach Südosten abbiegt und bei S. Omero genau die Distanz von 119 Meilen von Rom aus aufweist. Nach weiteren sieben Meilen trifft die Straße auf Giulianova und nach nochmals zwölf auf die römische Militärkolonie Atri.
Als Verbindung zwischen Via Salaria und Via Valeria diente die Via Quinctia. über sie gelangte man, wahrschein (S. 40) lich durch das Saltotal, von Rieti nach Alba Fucense. Die Datierung ist nicht gesichert. Ein K. Quinctius Claudius war 271 v.Chr. Konsul. Erst Jahrhunderte später wurde eine neue Querverbindung weiter östlich geschaffen. Kaiser Claudius, der die Valeria vom Fuciner See bis zur Adria verlängerte, verband 47 n.Chr. auch Amiternum mit Corfinio. Dieser Trakt führte von Foruli, heute Civitatomassa, durch das obere Aternotal, schwenkte dann auf die jetzige Staatsstraße Nr. 17 ein und erreichte am Zusammenfluß von Aterno und Tirino 3 km nordöstlich von Popoli die Via Valeria-Claudia. Diese Querverbindung, die Via Claudia Nova, wurde -die Hauptstraße Rom-Pescara schneidend weiter nach Süden ausgebaut. Sie begann in Corfinio und führte über Sulmona, Alfedena, Isernia nach Benevent, wo der Anschluß an die Via Appia nach Brindisi erreicht wurde. Diese Via Claudia Nova verband im Landinnern die Toskana, die Marken und Umbrien mit Kampanien und Apulien. Allerdings haben wir wenige Zeugnisse von ihr aus der Antike. Größere Bedeutung erlangte sie im Mittelalter. In der Zeit der Langobarden verband sie das Herzogtum Spoleto mit dem von Benevent. Die Ausweitung des Machtbereichs von Montecassino in die Abruzzen hatte die Existenz dieser Straße zur Voraussetzung. Die Hochebene der Cinquemiglia im Trakt zwischen Sulmona und Roccaraso hat ihrer äußerst gefährlichen Schneeverwehungen wegen Geschichte gemacht. So starben dort 1528 dreihundert Soldaten im Dienste Venedigs gegen Kaiser Karl V. und im Jahr darauf 500 Deutsche, die der Fürst D'Orange von L'Aquila nach Neapel führen wollte. Kar! V. errichtete an diesem schwierigen Wegabschnitt zum Schutz der Reisenden fünf Fluchttürme und ein Hospiz. Die Bourbonen bauten die Straße weiter aus. Aus Angst vor dem Verkehr und dem Tourismus boten die klugen Stadtväter von Pescocostanzo im vorigen Jahrhundert dem König Murat von Neapel 15000 Dukaten an, damit die Straße Sulmona-Castel di Sangro nicht durch ihren Ort gelegt werden sollte, und so hat sich der wunderbare Eigencharakter von Pescocostanzo bis heute erhalten können.
Die letzte Nord-Südverbindung, die in römischer Zeit eingerichtet wurde, ging im Osten entlang der adriatischen Küste. Sie verband Ancona mit Brindisi. Den Verlauf der Straße und die Distanzen zwischen den Orten kennen wir aus dem Itinerar des Antoninus und aus der Peutingerschen Tafel. Im abruzzesisch-molisanischen Trakt führte die Straße von der Mündung des Tronto über Giulianova nach Pescara. An der Mündung des Vomano konnte man abzweigen, Atri und Penne erreichen, um in Pescara wieder auf die Hauptstraße zu gelangen. Die Küstenstraße verlief dann weiter über Ortona und bog kurz danach in das Landinnere nach Lanciano ein, führte bei Vasto wieder ans Meer, ging dann aufs neue ins Land hinein nach Larino und erreichte die Küste erst wieder bei Siponto südlich des Monte Gargano in Apulien.
Brücken
Die Datierung römischer Brücken hängt natürlich mit derjenigen der Straßen bauten zusammen. Die Abzweigung von der Via Salaria, die von Antrodoco über Civitatomassa nach Amiterno fühtt, ist im 3. Jh. v. Chr. geschaffen, und in dieselbe Zeit sind auch die Brücken dieses Traktes zu datieren. Ein gut erhaltenes Beispiel stellt die Brücke Nascoso bei Civitatomassa dar. Sie ist ein bogig und aus Keilsteinen errichtet. Das Mauerwerk, das den Unterbau der Straße trägt, besteht aus unregelmäßigem »opus quadratum«. Die verschieden großen Steinblöcke sind sorglos und ohne verbindende Mörtelschicht zusammengesetzt. Auch die Keilsteine des Bogens verraten keine feine Werkmannsarbeit. Ungefähr 300 Jahre später legte Kaiser Claudius eine Straße an, die von Civitatomassa nach Popoli führte. Nur wenige Kilometer von der älteren besprochenen Brücke entfernt liegen drei aus claudianischer Zeit, die eine in Coppito, die zweite in dem Ortsteil Pile, etwa 2 km westlich von L'Aquila, und die dritte an der Mündung des Flüßchens Vetoio in den Aterno. Alle diese Brücken sind ein bogig. In dem Straßenabschnitt, den Claudius von Cerfennia nach Pescara legte, hat man die stattliche Zahl von 48 römischen Brücken feststellen können. Auch die Via Claudia Nova, die von Corfinio über Alfedena, Isernia nach Benevent verlief, überliefert römische Brücken. Bekannt ist die Achillesbrücke in Alfedena, die im Zweiten Weltkrieg zerstört und danach wiederaufgebaut wurde. In Isernia sind Reste römischer Brücken im Stadtteil Quadrelle zu sehen. Die eindrucksvollste Brücke, Ponte di S. Antonio, spannt sich in einem hohen, weiten Bogen bei Guardialfiera im Molise über den Biferno. Sehenswert ist weiterhin die dreibogige Brücke in Lanciano. Sie wurde zur Zeit des Kaisers Diokletian (284-305) gebaut. 1088 wurde sie durch Erdbeben zerstört und danach restauriert; ab 1309 errichtete man auf ihr die Kathedrale.
Hydraulische Arbeiten
Technische Organisation und Verwaltung waren im Altertum von einmaliger Perfektion, und darauf gründete sich die Macht des römischen Imperiums. Klug geplante Straßen-, Brücken-und Bewässerungsanlagen förderten die Ausbreitung der römischen Zivilisation, und in dieses System waren Abruzzen wie Molise einbezogen.
Der erste, der sich in unserer Region mit Großprojekten abgab, war Julius Caesar. Sein Plan der Austrocknung des Fuciner Sees war nur ein Teil seiner Gesamtvorhaben. Er wollte den Isthmus von Korinth öffnen, die Pontinischen Sümpfe südlich von Rom trockenlegen und in Ostia einen neuen Hafen bauen. Dahinter steckte die Idee, neue Getreidekammern für die ständig wachsende Großstadt Rom zu erschließen und die Vorräte auf dem Wasserwege dorthin zu führen. Caesar kannte die Abruzzen aus eigener Anschauung. 49 v. Chr. ist er in Corfinio anzutreffen, und der Fuciner See war ihm von einer Reise entlang der Valeria bekannt. Sein früher Tod vereitelte alle Pläne, die indessen (S. 41) später von Kaiser Claudius (41-54) wiederaufgenommen werden. Dieser legt den Hafen von Ostia an und führt die Austrocknung des Fuciner Sees durch. Von diesem Unternehmen erwartete man sich einen doppelten Nutzen, zunächst einmal sollte es die Kornversorgung Roms vermehren helfen, dann aber sollte dieses Projekt auch den Marsern selbst zum Vorteil gereichen. Der Wasserspiegel des Sees war dauernden Schwankungen unterworfen, was zu gewaltigen Überschwemmungen der angrenzenden Siedlungen führte und immer wieder Unzufriedenheit in dieser Völkerschaft hervorrief. Der griechische Geograph Strabo, der unter Augustus und Tiberius in Rom lebte, sagt übertreibend, daß die Wasser des Sees zuweilen bis zu den Bergen anschwellen. Über die Bauten des Claudius sind wir besonders gut informiett. Plinius der Ältere, Tacitus, Sueton und Dio Cassius haben ausführlich darüber berichtet. Die Anlagen am Fuciner See galten als die größte technische Leistung des Jahrhunderts. Plinius, der die Bauvorgänge an Ort und Stelle studiert hat, gerät in Begeisterung und sagt, daß die Sprache zur Beschreibung dieses gewaltigen Werkes nicht ausreiche. Tacitus dagegen ist skeptischer und weiß nur zu gur, daß die Art der Ausführung zu wünschen übrigließ.
Der im Umriß ovale Fuciner See war 19 km lang und erreichte an seiner breitesten Stelle eine Ausdehnung von 10 km. Er war 669 m hoch gelegen, bedeckte eine Fläche von 155 Quadratkilometern und war bis zu 22 m tief. Für die Entwässerung des Sees bestanden zwei Projekte. Von Dio Cassius wissen wir, daß Claudius ihn zunächst in den Tiber ableiten wollte. Der Abflußkanal sollte durch den Hügel von Cesolino bei Avezzano gehen, der den See von der Palentinischen Ebene trennt, dann weiter nach Westen in den Fluß Salto. Dieser ist ein Nebenfluß des Velino der in die Nera mündet, die ihrerseits wieder in den Tibe; fließt. Das Projekt blieb in den Anfangsgründen stecken, denn Cassius sagt, daß die Gelder dafür vergeblich ausgegeben wurden. Zur Ausführung hingegen kam der zweite Plan, der vorsah, den See durch einen unterirdischen Kanal in das Flußbett des Liri abzuleiten. Der Tunnel hatte eine Länge von 5653 m bei einem Gefälle von 8,44 m. Er wurde durch den Monte Salviano geführt, der noch 342 m höher als der See liegt und zog sich dann in einer Tiefe von 85 m und mehr unter den Palentinischen Feldern hin. Den Ingenieuren bereitete die Bodenbeschaffenheit manche Schwierigkeiten, denn sie mußten den Kanal durch verschiedenartige geologische Schichten führen. Der Tunnel verlief 2800 m durch kompakte Kalksteinfelsen, 1135 m durch lockeren Bruchstein, 860 m durch Mischung von Kalkstein und Tonerde und 865 m durch bloße Sandschicht. Mit seinem Bau begann man nicht etwa von zwei entgegengesetzten Seiten, um sich dann in der Mitte zu treffen, sondern man hob die Erdrnassen von oben aus, was umständliche Hilfskonstruktionen erforderte. Man mußte zu diesem Zwecke in bestimmten Abständen tiefe Schächte graben, an deren Seitenwänden sich wiederum in verschiedenen Höhen schräg nach unten abfallende Gänge öffneten. Diese dienten der Belüftung und erleichterten den Sklaven den Zugang zur Arbeitsstätte. Zur Zeit des Claudius gab es etwa 40 derartiger Schächte. Es mußte für diese Hilfskonstruktionen allein zweimal soviel Erdrnasse ausgehoben werden wie für den Haupttunnel. Das Mauerwerk der Schächte war unterschiedlich angelegt, zum See hin, wo das Gelände aus festerem Gestein bestand, war es einfacher als in den weicheren Schichten, wo man mit Verstärkungen aus Eichenholz arbeitete. Die Schächte waren so breit, daß jeweils vier Schöpfeimer gleichzeitig bewegt werden konnten. Man hat noch einige Exemplare davon gefunden, sie bestehen aus Bronze und werden von Eisenbändern zusammengehalten. Sie wurden von oben mit Stricken durch Menschenhand bedient. Zu den Funden gehört auch ein großes bronzenes Ölbecken in Rundform zur Beleuchtung der dunklen Arbeitsstellen unter Tage. Es hat einen Durchmesser von etwa einem halben Meter und konnte ungefähr 50 Liter Öl fassen. An den Seiten befinden sich drei Metallringe zur Anbringung von Ketten, mit denen man das Gerät nach oben oder unten bewegen konnte.
Vor dem unterirdischen Kanal hat man ein Becken und Vorrichtungen festgestellt, um die Wasser des Sees und seinen Abfluß zu regulieren. Der Grundriß des Sammelbeckens hat die Form eines Parallelogrammes, dessen Seiten verschieden lang sind. Diese Ungleichheit hat keinen plausiblen Grund und ist einzig und allein auf die Nachlässigkeit der Konstrukteure zurückzuführen.
Konstruktionsfehler, von denen schon Tacitus wußte, sind fast überall bemerkbar. Der schwerste Vorwurf gegen Claudius war, daß er nicht die tiefste Stelle fand, von der man durch Abzugskanäle das Wasser in den Tunnel leiten konnte. Das Resultat des claudianischen Unternehmens war katastrophal, denn bei der Einweihung senkte sich der Seespiegel nur um wenige Meter, und die zusätzliche Kornkammer für Rom blieb ein schöner Traum. Bedenkliche Fehler wurden auch beim Bau des Tunnels selbst gemacht. Sein Querschnitt beträgt an einigen Stellen 10 bis 11 Quadratmeter, an anderen kaum 4. Auch der Geländeabfall des Ableitungskanals war ungleichmäßig. Sein Niveau lag z. B. nach 1020 m Länge 10 cm höher als an der Eingangsstelle. Während der Arbeiten unter Claudius stürzte der Tunnel da ein, wo die Tonerde in Kalkstein übergeht. Der Abzugskanal bestand nun aus zwei Teilen, von denen der vordere, der mit dem See verbunden war, sich mit Wasser füllte. Eilig trieb man einen zweiten Stollen in den Berg hinein, der die eingestürzte Stelle umging. Diese neue, schlecht ausgemauerte Ableitung wurde beibehalten und diente als Hauptkanal, woraus der krumme Verlauf des Tunnels resultiert. So war das ganze Unternehmen technisch gesehen keine Meisterleistung.
Claudius begann die Austrocknung im zweiten Jahr seiner Regierung und brauchte für die Vollendung im ganzen elf Jahre. Suetons Aussage ist glaubhaft, daß während dieser Zeit ständig 30000 Arbeiter beschäftigt waren. Interessant ist der Vergleich mit dem Arbeitsaufwand des Fürsten Torlonia, der den See im 19. Jh. von neuem entwässerte. Dieser mit modernen Mitteln erstellte Bau dauerte 24 Jahre bei (S. 42) einer Beschäftigung von täglich 4000 Arbeitern. Dabei bediente sich Torlonia der Ausschachtungen der Claudiuszeit. Der antike Bau gibt auch Aufschluß über die Arbeitsweise. In jedem der etwa vierzig Schächte arbeitete ein Bautrupp. Man konnte auf diese Weise viel mehr Menschen gleichzeitig beschäftigen und rascher arbeiten, als das von zwei entgegengesetzten Seiten geschehen konnte. Jedem Bautrupp stand ein Führer vor, der in eigener Regie handelte, ohne allzugroßes Interesse dafür, was nebenan geschah. Aus der Gewinnsucht der einzelnen Ingenieure erklärt sich dann auch das unterschiedliche und schlechte Material, das verwendet wurde, die verschiedenen Querschnitte des Tunnels und das unregelmäßige Niveau. An den Wänden des Stollens sind Ziffern und Zeichen angebracht, die den Sklaven das Maß der auszuhebenden Erdrnassen anzeigten, denn sie hatten ihre Arbeit im Akkord auszuführen.
Ziemlich genau kennen wir den Narcissus, der die Verantwortung für das Unternehmen trug. Ihm oblag die Verwaltung des Staatsgeldes für diesen Bau, und wir wissen, daß ihm Unterschlagungen und Veruntreuungen vorgeworfen wurden. Narcissus muß häufiger mit Wasseranlagen beschäftigt gewesen sein. In Rom finden wir auf Wasserröhren manche Stempel, die seinen Namen tragen. Er ist der reichste Mann gewesen, den wir aus dem Altertum kennen. Sein Geld legte er u.a. im Kauf von großen Latifundien in Ägypten an. Dem Kaiser Claudi us war er treu ergeben und leitete mit ihm die obersten Staatsgeschäfte. Er hatte sich als Sklave hochgearbeitet. Bei der Tätigkeit am Fuciner See kam es ihm hauptsächlich auf den Effekt an. Wegen seiner vielen Verpflichtungen konnte er wohl nur selten die Arbeiten an Ort und Stelle überwachen. Außerdem war er gichtbrüchig, und man mag zweifeln, ob er je die unterirdischen Stollen dieses Riesenunternehmens hat aufsuchen können. Am Hofe des Kaisers hatte er sich den Haß der einflußreichen Frauen zugezogen. Denn u.a. hatte er Claudius abgeraten, die Agrippina zu heiraten. Als sie später die Gemahlin des Kaisers war, vergiftete sie ihren Mann, und der war noch nicht beigesetzt, als auch schon Narcissus hingerichtet wurde.
Agrippina wurde 16 n. Chr. in Köln geboren. Auf ihr Verlangen wurde dorthin eine römische Kolonie gelegt und nach ihr Colonia Agrippina genannt. Sie war die Mutter des Kaisers Nero und wurde von ihm im Jahre 59 ermordet.
Antike Autoren haben die Einweihungsfeste des Fuciner Sees unter Claudius ausführlich beschrieben. Beim ersten Fest vergleicht Tacitus die Sitzordnung mit der eines Theaters. Zahlreiches Volk -darunter auch Plinius -, das aus Schaulust oder zur Huldigung des Kaisers aus der Umgegend und auch von Rom zusammengeströmt war, bedeckte die Ufer, Hügel und Berghöhen. Claudius im prachtvollen Kaisermantel und nicht fern von ihm Agrippina im goldgewirkten Chlamys führten den Vorsitz. Das Fest beschreibt Tacitus: »Gegen dieselbe Zeit wird, nachdem der Berg zwischen dem Fuciner See und dem Lirifluß durch graben war, damit die Großartigkeit des Werkes von mehreren gesehen werde, ein Seetreffen auf dem See veranstaltet, wie einst Augustus, nachdem er einen Teil diesseits des Tiber hatte bauen lassen, aber mit leichten Schiffen und in geringerer Zahl gegeben hatte. Claudius rüstete Dreiruderer und Vierruderer und 19000 Menschen aus, nachdem er rings das Ufer mit Flößen umgeben hatte, damit es nicht hier und dort Zufluchtsorte gewährte. Aber nachdem das Schauspiel beendet war, wurden den Wassern der Weg geöffnet. Die Nachlässigkeit des Baus, welcher nicht tief genug gelegt war für die größte oder auch nur mittlere Tiefe des Sees, war augenscheinlich. Darum wurden, nachdem einige Zeit verflossen, die Stollen tiefer gegraben, und, um die Menge wiederum anzuziehen, ein Gladiatorenspiel gegeben, indem man Brücken auf dem See gebaut hatte für den Kampf zu Fuß. Ja, auch ein Gastmahl wurde neben dem Ausfluß des Sees veranstaltet und gab Anlaß zu großem Entsetzen für alle: weil die mit Gewalt einbrechenden Wasser, was ihnen zunächst war, mit sich fortrissen; was ferner stand, brach entweder zusammen oder wurde wenigstens durch das Krachen und Rauschen mit Schrecken erfüllt. Zu gleicher Zeit klagt Agrippina, die Angst des Kaisers benutzend, den Narcissus, der die Verwaltung des Baus unter sich hatte, der Habsucht und des Unterschleifs an.« Sueton schreibt, Claudius habe bei diesem Bankett beinahe den Tod gefunden. Soweit zum ersten Fest in den Abruzzen, das uns überliefert ist. Im Laufe der kommenden Jahrhunderte werden wir noch von anderen hören. Anläßlich der Trockenlegung unter Torlonia kamen noch weitere archäologische Funde zutage. Erwähnenswert ist eine Reihe sehr schöner Reliefs mit minuziösen Architekturdarstellungen von Tempeln und Villen am Fuciner See, andere zeigen Handwerker bei der Arbeit am Ableitungskanal oder geben die Naturschönheiten des Sees selbst wieder. Alle Stücke werden heute im Museo Torlonia in Rom aufbewahrt.
Das Werk des Claudius war technisch keine Meisterleistung. Kaiser Trajan ließ den Abflußkanal wahrscheinlich von neuem reinigen. Kaiser Hadrian veranlaßte gründlichere Ausbesserungsarbeiten. Wir wissen, daß die Ableitung des Sees sicherlich bis zum 6. Jh. funktionierte. Im frühen Mittelalter war der Abfluß verstopft, und die Natur gewann die Schönheit wieder zurück, die sie vor den Zeiten des Claudius besessen hatte. So blieb es bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es gibt wohl keinen technischen Bau des Altertums, an dem wir das Nachleben der Antike so gut fassen können wie am Beispiel des Fuciner Sees. Freilich waren anfänglich die Bemühungen um eine neue Austrocknung nicht von Erfolg gekrönt. Der erste, der nach der Antike die technischen Arbeiten wiederaufnahm, war der Hohenstaufenkaiser Friedrich II. Wir wissen das aus seinen Konstitutionen von Melfi, und De Rotrou, der Ingenieur unter Torlonia, glaubte, daß gewisse Teile des Mauerwerks im Ablaufkanal aus der Zeit des Stauferkaisers stammen könnten. Dann wurden neue Versuche von Alfons I. von Aragon unternommen, den wir als Ovidbewunderer in Sulmona schon kennengelernt hatten. Den Bourbonen in Neapel war die Austrocknung ein großes Anliegen. Die Arbeiten dazu wurden 1791 begonnen, konnten aber nicht weitergeführt werden. Als sich 1816 der Wasserspiegel des (S. 43) Sees durch Überschwemmungen um 6 m hob, wurden die Pläne zur Entwässerung aufs neue aufgenommen. 1854 begann schließlich das Werk des Alessandro Torlonia, wodurch das Schicksal des Sees endgültig besiegelt wurde. Torlonia stammte aus einer Bankiersfamilie, die am Ende des 18. Jh. und im 19. Jh. in Rom zu größtem Einfluß gelangt war. Seine Architekten kamen aus der französischen Schweiz und aus Frankreich. Wir verdanken ihnen die Beschreibungen des claudianischen Werkes und sind auf sie als Quelle angewiesen, da sie die Ausschachtungen der Antike weitgehend zerstören mußten, um ihrem Unternehmen zum Erfolg zu verhelfen. Man behielt jedoch die antike Trasse bei und bediente sich der alten Schächte zur Aushebung der Erdrnassen. U:on De Rotrou, der Leiter des Entwässerungsprojekts, studierte mehr als 18 Jahre die unter Claudius ausgefühnen Arbeiten und hat in einem Buch von 1871 seine gen auen Beobachtungen über die Technik des antiken Werkes niedergelegt. Die Ingenieure Torlonias haben die tiefste Stelle des Sees gefunden und ihn völlig ausgetrocknet. Das Niveau des neuen Abflußkanals liegt über 3 m tiefer als in der Antike, und sein Eingang wurde mehr als 600 m nach Osten zum See hin vorgezogen. Dieses aufsehenerregende Ingenieurwerk des 19. Jh., durch das schließlich die Technik über die Natur triumphiene, war indessen noch mit christlichen Vorstellungen gekoppelt und dem Schutz der Muttergottes unterstellt. Man verehrte sie als die Urmutter, die alles Leben spendet. 1854, just am Beginn der Arbeiten, wurde von Pius IX. die Unbefleckte Empfängnis Mariens zum Dogma der katholischen Kirche erhoben. Torlonia ließ für die Arbeiter am See eine Kapelle erbauen und errichtete ein Hospiz für sie in Avezzano. In jeder Gemeinde, die an das Gewässer angrenzte, wurden am Ufer gußeiserne Madonnen aufgestellt, die auf dem Sockel Inschriften mit dem Namen Torlonias und der Jahreszahl 1862. enthielten. Der Abflußkanal wurde mit einem monumental gestalteten Eingang versehen, dessen Bau nach einem Entwurf des römischen Architekten Nicola Carnevali am 1. Juli 1869 begonnen wurde. Er wurde bekrönt mit einer 7 m hohen Madonnenstatue aus Marmor, und die dazugehörige Inschrift mit dem Datum 1876 spricht von der Unbefleckten Empfängnis Mariens, von den vergeblichen Mühen der Kaiser und Könige bei der Austrocknung des Sees und rühmt den Torlonia. Diesem war schon ein Jahr zuvor der Titel eines Fürsten von Fucino verliehen worden. Das neu gewonnene Land wurde mit abruzzesischen Arbeitern besiedelt und darüber hinaus mit vielen anderen, die aus den Marken und der Romagna kamen.
Der Fuciner See ist nicht das einzige Beispiel hydraulischer Anlagen in unserer Region. Ein großartiges Wasserversorgungssystem besaß Corfinio. Dorthin leitete man die Flußläufe des Aterno und des Sagittario ab. Aus dem Aterno sammelte man das Wasser in der Gegend von Castelvecchio Subequo, etwa 9 km von Corfinio entfernt. Ähnlich wie beim Fuciner See wurde der Kanal zur Hälfte unterirdisch durch Berge gelegt und kam bei Raiano an die Oberfläche, und auch hier finden wir Schächte zur Aushebung der Erdmassen. Der Kanal wurde von C. Alfio Massimo gebaut. Der Sagittario gehört zu den stärksten und reinsten Gebirgswässern der Abruzzen, er kommt von Süden aus der Gegend von Scanno, fließt an Anversa und Pratola vorbei und mündet bei Popoli in den Aterno. Da der Fluß in der Nähe von Corfinio tiefer als die Stadt liegt, leitete man das Wasser weiter oberhalb ab, am Fuße des Monte S. Cosimo zwischen Sulmona und Raiano, um ein genügendes Gefälle zu erreichen. Heute werden die Gewässer beider Flüsse nicht mehr nach Corfinio geleitet, der erstgenannte Kanal bewässert das fruchtbare Land um Raiano, Corfinio und Pratola. Der Kanal des Sagittario wurde 1900 restauriert und ein Teil seines Wassers in die fruchtbare Ebene von Sulmona abgezweigt.
Die Stadt Venafro begnügte sich nicht mit dem Flußwasser des nahen Volturno. In einer Entfernung von 30,5 km zapfte man seine Quellen an am Berge Rocchetta in der Nähe der berühmten Abtei S. Vincenzo al Volturno. Von dort aus legte man eine Wasserleitung nach Venafro, die in der Nähe des Kastells endete. Die Sammelstelle des Wassers und der Anfang eines unterirdischen Kanals wurden unweit der Quelle festgestellt. Zwischen Rocchetta und Colli a Volturno wird die Leitung oberirdisch über eine einbogige Brücke geführt. Bei Colli a Volturno geht es dann wieder unterirdisch weiter. Man hat dort im Ortsteil Ponte Rio Chiaro eine Reihe von Schächten gefunden, denen wir bereits an anderen Stellen zur Aushebung des Erdreichs begegneten. Die Wasserleitung verlief dann über Montaquila, Roccaravindola, Pozzilli nach Venafro. Die Anlage ist früher entstanden als die erhaltenen abruzzesischen. Wir kennen eine Inschrift aus der Zeit des Kaisers Augustus, die sich heute im Museo Civico von Venafro befindet, und die bestimmte Erlasse zur Pflege und Sauberhaltung dieses monumentalen Bewässerungssystems überliefert.
In Isernia funktioniert noch heute eine antike Wasserleitung, die unter der Stadt durchläuft und in den Felsen gebrochen ist. Sie liegt an manchen Stellen 20 m tief, und auch hier sind wieder die Schächte zur Aushebung der Erdrnassen festzustellen.
Wenig studiert ist die Wasserleitung 5 km westlich von Casoli im Ortsteil Laroma an der Straße nach Chieti. Vasto, eine Stadt der Frentaner, verfügte in römischer Zeit über eine glänzende Wasserversorgung. Aquädukte brachten das Wasser in die Stadt. Ein Trakt kam von Süden, und Reste von ihm sind noch in einer Länge von 4 km zu belegen. Ein zweiter Aquädukt führte das Wasser von Westen in die Stadt. Längs dieser Zubringer kann man viele Zisternen feststellen. Das Museum in Chieti bewahrt die Inschrift für einen Aquädukt, worin der Asinus Gallus erwähnt wird, der aus Chieti stammt, und dessen Wirken in augusteischer Zeit bereits früher erwähnt wurde.
Siedlungen
Die Anlage von Straßen, Brücken und Wasserleitungen war die Voraussetzung römischer Siedlungen überhaupt. Der Einzug der Römer in unser Bergland vollzog sich in zwei (S. 44) Etappen. Vor dem Bundesgenossenkrieg der italischen Völker (90/89 v. Chr.) entstanden die Militärkolonien, danach kamen die Munizipien, als von Rom abhängige Städte, deren Bewohner das römische Bürgerrecht und eine gewisse kommunale Selbständigkeit erhielten. Die Expansionskraft der Römer zeigt in der Anlage der Kolonien eine erstaunlich folgerichtige Konzeption. Das Bergland wurde durch militärische Stützpunkte von Westen, Norden und Süden eingekreist. Die empfindlichste Gefahrenzone für die Römer bildete das Land der Aequer, das ihrer Hauptstadt am nächsten lag. Der Krieg wurde hier mit unerbittlicher Härte geführt. In 50 Tagen eroberten und zerstörten die Römer 41 befestigte Ortschaften, und die Bevölkerung, sagt Livius, wurde praktisch ausgemerzt.
Im Jahre 303 v. Chr. wurde die Festung und Militärkolonie von Alba Fucense angelegt. Dort im Herzen des Aequerlandes zog man 6000 waffenfähige Männer zusammen, was einer Bevölkerung von über 25000 Menschen entsprechen dürfte. Alba war die größte Kolonie, die Rom in republikanischer Zeit überhaupt angelegt hatte. Die Stadt erhielt ihre Autonomie und besaß in den Anfängen sogar Münzrecht. Im Altertum galt Alba als uneinnehmbar. Das glaubte auch noch der Feldmarschall Kesselring, der im letzten Weltkrieg hier sein Hauptquartier aufschlug. Die Treue von Alba zu Rom war in der Antike sprichwörtlich. Einige Jahre später, 297, wurde die Stadt durch eine zweite Festung in Carsoli abgesichert. Diese neue Gründung lag Rom bedeutend näher, so daß die Verbindung zu dem weiter vorgeschobenen Alba militärisch erleichtert wurde.
Um die politischen Fäden zwischen Samnitern und Etruskern zu durchschneiden, blockierte Rom die Verbindung durch Festungsanlagen im Norden der Abruzzen. Die Stadt Atri wurde 290 römische Kolonie. Manche behaupten vielleicht mit Recht, die Adria leite ihren Namen von dieser Kolonie ab. Aus Atri stammte auch die Familie Kaiser Hadrians, was er uns selbst berichtet; später wanderte diese nach Spanien aus. Nur wenige Jahre nach Atri entstand 268 eine neue Militärniederlassung in Amiternum.
Die Auseinandersetzung der Samniter mit Rom führte auch im Süden zur Errichtung neuer Militärstützpunkte. 263 wurde Isernia römische Kolonie, 201 folgte Venafro. Das Vorgehen der Römer ist wohl nicht zufällig, sondern Taktik. Immer sind die ersten Gründungen weiter von Rom entfernt als die nachfolgenden: Alba kam vor Carsoli, Atri vor Amiternum und Isernia vor Venafro. Als letzte Kolonie wurde in sullanischer Zeit in den Nordabruzzen Teramo eingerichtet.
Die römischen Militäranlagen hatten verschiedene Funktionen. Zunächst bildeten sie ein Kontrollsystem, um die Störenfriede des Berglands in Schach zu halten. Darüber hinaus verfügte Rom in diesen Orten über militärische Reserven, die es abziehen konnte, falls Bedrohungen in anderen Gegenden auftraten. Interessant ist das Verhalten der Kolonien während der Kriegszüge Hannibals, der die Abruzzen und das Molise immer wieder als Durchzugsgebiet benutzte. Werbungen, mit ihm ein Bündnis gegen Rom zu schließen, blieben nicht aus. In Süditalien ist man auf derartige Angebote eingegangen, nicht aber im Molise und in den Abruzzen, die in dieser Zeit treu zu Rom hielten. 212 stand Hannibal vor Rom. Alba Fucense entsandte 2000 Soldaten zur Verteidigung dorthin. Nur Carsoli verweigerte Waffenhilfe, hielt aber sonst politisch zu Rom. Amiternum aber, das Hannibal 211 auf seinen Zügen passierte, schickte sogar Truppen nach Rom, obwohl dieses jegliche Hilfe ausgeschlagen hatte. Atri und Isernia unterstützten die Hauptstadt tatkräftig. So schrieb Livius, Rom und das Imperium verdankten allein diesen Städten ihr Überleben.
Aber nicht nur durch den Beistand der Kolonialorte in den Abruzzen und im Molise konnte sich Rom von den schlimmsten Bedrohungen befreien sondern auch durch die Hilfe der italischen Siedlungen, die sich noch nicht in direktem militärischen Abhängigkeitsverhältnis von Rom befanden. Die Stadt Penne sandte den Römern Truppenverstärkung. Chieti und Isernia, von Hannibal bedroht, hielten zu Rom. In Larino konnte 217 M. Minucius Rufus als Kavalleriekommandant im Heere des abwesenden Diktators Fabius Maximus, mit dem Beinamen der Zauderer, den Karthagern eine bedeutende Schlappe beibringen, als diese versuchten, von dem in der Nähe gelegenen Geronium aus Beutezüge zu machen. Manche überlieferungen gehen ins Legendäre. Ein Jüngling soll seinen eigenen Vater namens Satricus, der aus Sulmona stammte, als Sklave in Karthago lebte und mit Hannibal in Italien kämpfte, vor den Mauern seiner Heimatstadt getötet haben.
Die Ablehnung fremder Einflüsse ist eine Konstante im Verhalten der Bergvölker im Mittelapennin, deren historische Bedeutung bislang kaum herausgestellt wurde. Die Phönizier wollten von Nordafrika aus ihre Macht und Kultur im mittelmeerischen Raum ausdehnen. Im Gegensatz zu Süditalien, vor allem zu Capua, nehmen die Stämme unserer Region eine eindeutig ablehnende Haltung gegenüber den punischen Forderungen ein. Eine ähnliche Situation entstand noch einmal im Mittelalter im Verhältnis zu Byzanz. Dieses eroberte Süditalien und faßte in Apulien und Kampanien Fuß, wohingegen es den Byzantinern nicht gelungen ist, unsere Region politisch oder kulturell gleicherweise zu beherrschen wie Süditalien. Das gilt auch von den Normannen und Hohenstaufen. Ihre Wirksamkeit ist in unserem Bergland nicht zu verkennen, spielt aber längst nicht die Rolle wie in Apulien, Sizilien und dem übrigen Süditalien. Betrachten wir die Abruzzen als den geographischen Drehpunkt Italiens, so kommt dieser Landschaft eine ganz bestimmte Bedeutung zu. Bewußt oder unbewußt widersetzte sie sich fremdländischen politischen Machtbestrebungen, die in Italien von Süden her vorzudringen versuchten, wenngleich sie sich nicht immer erfolgreich zur Wehr setzen konnte. Durch konservative und eigenständige Haltung unterscheidet sich diese Landschaft vom übrigen Süditalien. Das Molise im Süden war den Fremdeinflüssen natürlich stärker ausgesetzt als die weiter nördlich gelegenen Abruzzen.
Die Treue zu Rom war ein politischer Kunstgriff, aus der (S. 45) überzeugung entstanden, daß ein Sieg der Phönizier gefährlicher sei als der der Römer. Nach dem Sieg über Hannibal erfolgte eine neue Distanzierung von Rom, und die folgenden hundert Jahre dienten dazu, die Expansionskraft der Römer einzudämmen. Das Ergebnis dieser Bemühungen war dann der Bundesgenossenkrieg 90/89. Die römischen Militärkolonien, z.B. Carsoli, wurden von den Italikern angegriffen. In der Innenstadt von Alba Fucense liegen unter der heutigen Schicht noch die Fundamente der von den italikern zerstörten Siedlung. Nach den Sozialkriegen wurde Alba völlig neu gestaltet. In dem Rom wohlgesinnten Penne drohten die Italiker den Einwohnern, ihre Söhne, die sie als Geiseln festgenommen hatten, zu töten. Stolz antworteten die Stadtväter, daß sie noch andere Söhne in der Welt hätten, die unter dem Schutze Roms stünden. Die Stadt wurde besiegt und ausgemerzt. Ähnliches geschah in den südlichen Militärkolonien im Molise. Durch Verrat konte der Frentaner Marius Egnatius die Stadt Venafro erobern und dort zwei römische Kohorten niedermetzeln. Da der Ort die Verbindung zu dem Rom noch treu ergebenen Isernia herstellte, mußte bald auch diese Stadt fallen. Das geschah im Jahre 90 mit gewaltigen Zerstörungen.
Die römischen Militärkolonien hatten neben strategischen auch noch andere Funktionen. Sie dienten als Staatsgefängnisse und Haftorte für vornehme Gefangene. Das wissen wir von Carsoli und Alba Fucense. In Carsoli wurde Bithys 167 v. Chr. gefangen gehalten. Er war der Sohn des Odrysenkönigs Kotys und von seinem Vater dem makedonisehen König Perseus als Geisel gegeben worden. Er kam nach dem Sieg der Römer in Pydna in deren Gewalt und wurde nach Carsoli gebracht, später aber seinem Vater zurückgegeben. Perseus selbst, der letzte König von Makedonien, der sein Reich 168 v. Chr. in der Schlacht von Pydna verloren hatte, kam nach Alba und nahm dort ein jämmerliches Ende. Erst wurde er den Römern im Triumphzug zur Schau gestellt. Zusammen mit seinen Söhnen Philipp und Alexander .und emer Tochter mußte er dem Triumphator voranschreiten. Danach wurde er mit seinen Kindern in Alba in den Kerker geworfen. Perseus, sein Sohn Philipp und seine Tochter starben dort 165 an Entkräftung und Hunger. Alexander überlebte und soll als Schreiber ein brauchbarer Beamter gewesen sein. Ein früherer Gefangener in Alba Fucense war Syphax, König von Numidien, der 203 v. Chr. dort eingesperrt wurde. Er hatte die berühmte Sophonisbe, Tochter des Karthagers Hasdrubal, zur Frau. Sie zeichnete sich durch Klugheit, Schönheit, Bildung und glühende Vaterlandsliebe aus. Als Parteigänger der Karthager wurde Syphax nach Rom gebracht und kam dann zunächst ins Staatsgefängnis von Alba. Später brachte man ihn nach Tivoli, wo er etwas mehr Freiheit genoß, doch bald darauf starb und vom römischen Senat auf Staatskosten begraben wurde. Der Kerker in Alba wird von Diodorus von Sizilien beschrieben. Er war ein tiefes unterirdisches Verlies, gerade groß genug, um neun Menschen zu fassen, doch wurden dort viel mehr Gefangene zusammengepfercht. Sie alle waren wegen Kapitalverbrechen angeklagt. Später, 121 v. Chr., finden wir in Alba Bituitus, König der Averner, die westlich der Rhone saßen; alles in allem eine erlauchte Gesellschaft.
Die Blütezeit der römischen Besiedlung erfolgte nach Beendigung der Bundesgenossenkriege. Neue Stadtgründungen gibt es allerdings nicht; man knüpfte an das überkommene an, wobei es geschehen konnte, daß römische Munizipien wie Juvanum, Pietrabbondante oder Sepino in unmittelbarer Nähe italischer Siedlungen entstanden. Wie es scheint, erhielten die früheren Militärkolonien, nach dem Frieden mit den Italikern nun mit neuen Funktionen versehen, einen ganz besonderen Auftrieb. Für den Ausbau der Städte brachten die Römer nur selten ihre Architekten aus Rom mit, vielmehr betraute man mit dieser Aufgabe die Einheimischen, die ihrerseits römische Baugewohnheiten kannten, manchmal aber, z.B. im Polygonalmauerwerk, an italischen Traditionen festhielten. Das Alte ging mit dem Neuen Hand in Hand, römische und italische Formen vermengen sich. Das Land wurde nach den Sozialkriegen von Neubauten überflutet, es war die Periode stärkster Bautätigkeit in der Geschichte der Abruzzen bis zur modernen Industrialisierung, der aber das Gemüt keine Schönheiten mehr entnehmen kann.
Zwei Orte haben sich erhalten, die den ganzen Apparat einer antiken Stadt ohne spätere überbauung vorzeigen: Alba Fucense im Lande der Aequer und Sepino im Lande der pentrischen Samniter. An Größe kommen sie an Städte wie Ostia und Pompeji nicht heran. Aber gerade das überschaubare Maß einer Kleinstadt mag dem Besucher angenehmer sein als die verwirrende Vielfalt einer Großstadt. Um die Zeitenwende war in Alba der Ausbau der Stadt vollendet, während Sepino um diese Zeit erst gegründet wurde. Alba war eine reiche Stadt, Sepino dagegen eine ärmere Provinzstadt. Die seit 1949 betriebenen Ausgrabungen von Alba sind ein Gemeinschaftsunternehmen hervorragender belgiseher Archäologen mit den zuständigen italienischen Behörden. Der größte Teil der Stadt ist freigelegt, manche Fragen bleiben offen, vor allem hat man bislang noch keine handfesten Zeugnisse für die Lage des Kapitols gefunden. Der alte Teil der Stadt aus der Kolonialzeit ist vielerorts unter der neueren erhalten. Nach der Zerstörung durch die Bundesgenossen entschloß man sich zum Wiederaufbau, der an die alte Stadtanlage anknüpfte. Aus alter Zeit blieben die Stadtmauern und Tore, die wir früher erwähnten. Ihr wehrhaftes Aussehen steht im Kontrast zum jüngeren Stadtinnern, das nun keinen Festungscharakter mehr hat. Indessen hat das römische Straßennetz noch italische Eigentümlichkeiten bewahrt. In einer römisch angelegten Stadt enden die Hauptstraßen Decumanus und Cardo an den Stadttoren, wie in Sepino. Die Ausfahrt aus Alba zu finden, dürfte für den Fremden nicht ganz einfach gewesen sein, denn hier ist das Straßennetz nicht auf die Tore hin orientiert. Decumanus und Cardo schneiden sich wie üblich im rechten Winkel und bilden vier Stadtbezirke. Diese sind wieder durch Straßen in Wohnblöcke, sogenannte Insulae, verschiedener Größe unterteilt. Die Straßenzüge der Insulae laufen dem Decumanus parallel und schneiden ihn nicht. Das ist eine (S. 46) Ausnahme im römischen Städtebau und hat zur Folge, daß man den Decumanus, die Geschäftsstraße, in Alba nur durch einen Umweg über den Cardo erreichen konnte.
Mit ihren großen öffentlichen Plätzen und weiten, von Säulen eingeschlossenen Terrassen zeigt die Stadt hellenistische Züge, die ja auch in Rom eindrangen. Öffentliche Plätze und Privatanlagen waren künstlerisch großzügig geschmückt mit Skulpturen, Mosaiken und Wandmalereien, mit wertvollem Marmor aus Paros und Ionien, aus Ägypten und Afrika.
Alba Fucense ist mit einem glänzend angelegten Abwassersystem ausgestattet. Kanalläufe unter den Straßen bringen ihre Wasser in eine Hauptleitung, die in Richtung Talsohle abfließt. Die Schächte haben z.T. Wandungen aus mächtigen Felsblöcken und werden von großen Steinplatten bedeckt, die zuweilen dachförmig aufgestellt sind. An einigen Stellen befinden sich Einstiegsmöglichkeiten zur Reinigung und Überwachung.
Die Stadtanlage ist durch zwei Pole gekennzeichnet, den Tempelbezirk mit dem Herkulesheiligtum im Süden und den weltlichen Teil mit dem Comitium, dem Haus der Volksversammlungen, im Norden. Wie lange Alba noch nach der Zeitenwende weiter lebte, ist schwer zu sagen. Eine große Inschrift auf dem Mosaik beim Eingang in die Thermen besagt, daß Vibia Galla, Tochter des Kaisers C. Vibius Trebonianus (gest. 253), der reiche Besitzungen in Alba hatte, die Anlage auf ihre Kosten hat reparieren lassen. Zahlreich sind die Münzfunde aus der Zeit Konstantins des Großen. Aus dem 6. Jh. stammen Reste von frühchristlichen Reliefs aus der über dem Apollotempel gebauten Peterskirche.
Die Bemühungen um die Ausgrabungen in Sepino gehen bis in das 16. Jh. zurück. Zunächst interessierten hier die Inschriften. Mit reicher Ausbeute kehrte auch Theodor Mommsen 1845 aus Sepino heim. Neue Ausgrabungen zur Freilegung der Stadt unternahm der Archäologe Amedeo Maiuri in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts. Die von der italienischen Regierung finanzierten systematischen Untersuchungen begannen 1939 mit der Rekonstruktion des Mausoleums des C. Ennius Marsus und des Stadttores von Boiano. Nach der Unterbrechung durch den Zweiten Weltkrieg gehen die Ausgrabungen seit 1950 planvoll weiter.
Abb. 5: Sepino, Stadtplan der römischen ZeitSepino ist im Lauf der Zeiten kaum überbaut worden, auch dienten die Steine nicht zur Errichtung anderer Bauten, so daß die Grabungen beste Aussicht auf die Erforschung der alten Stadtanlage bieten. Das Baumaterial ist ein harter lokaler Stein. Ziegel wurden auffallend wenig verwandt, Marmor und anderer wertvoller Stein sind nicht zu finden. Gut erhalten ist die 1250 m lange, nicht sehr dicke Stadtmauer, die eine beinahe quadratische Fläche umschließt. Der Mauergürtel (Abb.5) ist mit 25 Rundtürmen und zwei achteckigen Türmen besetzt; ein achteckiger Turm ist unweit des Theaters bis zur Höhe von 11 m rekonstruiert worden. Cardo und Decumanus enden an vier ähnlichen Toren, die heute als Porta di Benevento, di Boiano, dei Tammaro und Terravecchia bezeichnet werden. Ein fünftes Tor in der Stadtmauer führt unmittelbar ins Theater. Der eintorige Durchgang der wiederaufgebauten Porta di Boiano (Tf. 7) ist von zwei Rundtürmen flankiert. Der Schlußstein des Bogens stadtauswärts stellt einen bärtigen Kopf -möglicherweise Herkules -dar. An beiden Seiten des Bogens in Höhe des Ansatzes stehen auf hohen Sockeln die prachtvollen Statuen zweier Barbaren. Die große Inschrift über dem Scheitel des Bogens sagt, daß die Stadtmauer, Tore und Türme auf Veranlassung und Kosten des Tiberius und des Drusus errichtet wurden. Diese waren Stiefsöhne des Augusrus und stammten aus der ersten Ehe der Livia, die den Kaiser 38 v. Chr. heiratete. Drusus ist in der deutschen Geschichte bekannt. Er ist derjenige, der bis zur Eibe vorstieß und das Kastell Aliso an der Lippe und die Saalburg im Taunus anlegte. Bevor er auf einem Rückzug den Rhein erreichte, stürzte er 9 v. Chr. vom Pferd und fand dabei den Tod. Datiert man die Inschrift, wie allgemein üblich, auf das Jahr 4 n. Chr., so lebte Drusus damals bereits nicht mehr. Wahrscheinlich hat Tiberius hier seinem Bruder in Anerkennung von dessen Verdiensten ein Denkmal setzen wollen.
Unter dem Sklaven rechts ist eine andere kaiserliche Inschrift angebracht, die sich auf das Jahr 168 n. Chr. bezieht. Sie enthält Anweisungen, welche die Weidewege betreffen. Der Zug der Viehherden, die im Sommer aus den apulischen Niederungen in das abruzzesische Hochland getrieben wurden und im Winter heimkehrten, wird geregelt. Eine ähnliche Inschrift ist aus Tomoli im Lande der Frentaner überliefert. Das Stadttor von Boiano konnte zweifach verschlossen werden, nach außen durch eine Falltür. Zur Betätigung ihres Schließmechanismus führte in dem rechten der das Tor flankierenden Türme eine Treppe nach oben. Diese diente gleichzeitig als Aufgang zum Wehrgang auf der Stadtmauer. Stadteinwärts war dem Tor das Wachgebäude unmittelbar vorgelagert, ein rechteckiger Bau, der in den Grundmauern erhalten ist. Der Decumanus verbindet das Stadttor von Boiano mit dem Tor von Benevent. Es ist in jüngster Zeit rekonstruiert worden und zeigt starke Analogie zum Stadttor von Boiano. Ein Abschnitt der Hauptstraße bis zum Forum ist auf der rechten Seite in einer Breite von 20 bis 30 m freigelegt worden. Die Straße selbst ist gut erhalten. Vom Tor von Boiano aus haben die Gebäude auf eine Länge von etwa 70 m mehr oder weniger privaten Charakter und sind aus nicht sehr wertvollem Material errichtet. Die Häu (S. 47) serfront ist einheitlich gestaltet, ein Säulengang, der heute noch zu erkennen ist, war ihr vorgebaut. Zum Forum hin werden die Bauten monumentaler und dienten sicherlich öffentlichen Zwecken. In der Nähe des Schnittpunktes von Cardo und Decumanus liegt die sogenannte Basilica, wohl erst im 4. Jh. entstanden, aber unter Verwendung von Baumaterial aus älteren Zeiten. Ihr gegenüber, getrennt durch den Cardo, beginnt das trapezförmige Forum, das etwa 50 m lang ist und eine maximale Breite von ungefähr 30 m erreicht. Es ist mit großen rechteckigen Platten gepflastert. Der Platz war kanalisiert, auch sind Spuren von Sockeln erkennbar, die auf Denkmäler hindeuten.
Auffallend sind in Sepino die vielen Brunnen, drei befinden sich am Decumanus, davon sind zwei in der Nähe der Porta Boiano, der dritte mit dem prachtvollen Relief eines Greifen wurde 1973 in der Nähe des Tores von Benevent wieder zusammengesetzt (Tf.8). Ein vierter Brunnen liegt am Cardo vor der Basilica. Dann gab es an den Stadttoren am Ende des Decumanus noch Viehtränken.
Die antike Stadt hat die Zeiten überdauert. Im 5. und 6. Jh. war Sepino bereits Bistum. Als Wohltäter der Stadt kennen wir die Familie Nerazia, die hier zu Ehren und Macht gelangte. Ein Zweig der Familie ging nach Rom und spielte dort bis zum 5. Jh. eine große Rolle. Zur Zeit Trajans wurde Lucius Nerazius Priscus sogar Anwärter auf den kaiserlichen Thron.
Außer Alba Fucense und Sepino gibt es in den Abruzzen und im Molise keine weiteren, vollkommen freiliegenden römischen Siedlungen. Die Gewinnung archäologischer Kenntnisse wird dadurch erschwert, daß die modernen Städte über antiken Fundamenten liegen und damit die Möglichkeit systematischer Erschließung weitgehend ausgeschaltet ist.
Besondere Sorgfalt verwandten die Römer beim Ausbau jener Siedlungen, die sie zu Munizipien erklärt hatten. Dazu gehörten zunächst alle früheren Militärkolonien, aber auch noch andere Orte. In keiner Landschaft der italischen Stämme fehlte die römische Präsenz. In allen Teilen des Landes wurde gleichzeitig gebaut, vielleicht stärker in den samnitischen Landen als in den nördlicheren Abruzzen. Zu Munizipien wurden im Lande der Praetutier Teramo und Atri, im abruzzesischen Sabinerland Amiternum, im Vestinerland Penne und Peltuinum, bei den Aequern Carsoli und Alba Fucense, bei den Marsern Civita d'Antino und Marruvium, bei den Paelignern Castelvecchio Subequo, Corfinium und Sulmona, bei den Marrucinern allein Chieti, bei den Frentanern Lanciano und Vasto, bei den Caracenern Juventum und Alfedena, bei den Pentrern Venafro, Isernia, Boiano, Trivento, Fagifulae und Sepino, bei den larinatischen Frentanern die Stadt Larino.
Gut zu erschließen ist die römische Besiedlung von Teramo, das im Norden und Süden von den Tälern der Flüßchen Vezzola und Tordino begrenzt wird, die kurz hinter der Stadt im Osten zusammenfließen. Die römische Stadt reichte von der Porta Reale im Osten bis zur Höhe der heutigen Kathedrale im Westen und nahm ungefähr die Hälfte der modernen Stadt ein. Die Römer vertieften im Westen einen natürlichen Graben, damit ihre Siedlung von allen Seiten durch Wasser geschützt und gleichsam zu einer Insel wurde. Die Straßenzüge haben in Teramo in der Ostwestrichtung keinen einheitlich geradlinigen Verlauf. Die Achsenverschiebung liegt etwa in der Mitte der antiken Stadt, an der Stelle der heutigen Via S. Antonio und am Largo Melatini, wo die Straßen in einem stumpfen Winkel aufeinander stoßen. Wir haben in Teramo den seltenen Fall, daß die Stadt im 1. Jh. v. Chr. gleichzeitig Militärkolonie und Munizipium war. Die verschiedene Orientierung der Straßenzüge könnte man vielleicht aus dieser Doppelfunktion erklären. Der ungefähr rechteckige Grundriß der römischen Siedlung hatte eine Ausdehnung von etwa 440 x 240 m. Theater und Amphitheater waren benachbart und lagen im westlichen Teil der Stadt.
Atri war schon in vorrömischer Zeit besiedelt. Die Reste der römischen Siedlung liegen unter der modernen Stadt. Das Forum dürfte sich unter dem Marktplatz vor der heutigen Kathedrale befunden haben. Nach Plinius muß in Atri die Keramikindustrie geblüht haben.
In Peltuinum ist noch ein großer Teil der antiken, unregelmäßig verlaufenden Stadtmauer erhalten. Das Straßennetz entwickelte sich längs der Via Claudia Nova von Nordwesten nach Südosten. Von der römischen Stadt Carsoli sind kümmerliche Reste im Ortsteil Piano della Civita zu sehen, etwa 3 km westlich der modernen Stadt in Richtung Arsoli. Der Ort wurde von den Langobarden und dann wieder von den Sarazenen zerstört. Corfinio hat einen vorrömischen Stadtkern, der im Mittelalter Castrum de Pentoma genannt wurde. Schon in republikanischer Zeit weitet sich die Siedlung nach Südwesten aus. Der römischen Stadt lag kein einheitlicher Bebauungsplan zugrunde. Sie entwickelte sich langsam aus den Zeiten der Paeligner zur Römersiedlung.
Die urbanistische Anlage von Sulmona zeigt gewisse Ähnlichkeiten mit Teramo. Die Stadt liegt zwischen den beiden Flüßchen Vella und Gizio, die nordwestlich des Ortes zusammenkommen. Das moderne Stadtzentrum liegt über dem römischen. Die antike Stadt besaß ungefähr einen quadratischen Grundriß, eine Seite war etwa 400 m lang und das Ganze von Stadtmauern, die Ovid erwähnt, umschlossen. Die Siedlung reichte im Westen bis zur Porta Romana mit der Via Quatrario, im Süden bis zum großen Garibaldiplatz, im Osten bis zur heutigen östlichen Umgehungsstraße, im Norden etwa bis zur Via Porta Romana. Die Hauptstraße bildete der heutige Corso Ovidio. Innerhalb des Quadrats decken sich das antike und das mittelalterliche Straßennetz weitgehend. In der Via Ciofano hat man die antike Straße in einer Breite von 6,55 m und einer Länge von 21 m gefunden. Vom römischen Wohnbau, dem man nicht systematisch nachgegangen ist, haben sich beträchtliche Reste am Corso Ovidio unter den Stufen, die zur Annunziata hinaufführen, feststellen lassen, andere finden sich in der Gegend der Fontana del Vecchio am Beginn des mittelalterlichen Aquaedukts. Die Heiligtümer der Stadt sind durch Inschriften belegt, und wir hören vor allem von weiblichen (S. 48) Priesterinnen, die der Angitia und Ceres sowie der ägyptischen Göttin Isis dienten.
Die Stadt Chieti nahm im 1. Jh. v. Chr. einen bedeutsamen Aufschwung. Dieser Hauptsitz der Marruciner war mit der Via Valeria durch eine Stichstraße verbunden, die wahrscheinlich in der Nähe des heutigen Sportplatzes in die Stadt führte. Der Stadtteil Civitella, der nur wenig überbaut ist, gibt Hoffnung auf neue Erkenntnisse, wenn man an die systematische Ausgrabung heranginge. Die Via Nicoletto Vernia und der anschließende Corso Marrucino dürften die Hauptstraße der Stadt gebildet haben. Dieser Straßenzug durchquerte das Forum, an dessen Nordwestende der berühmte Tempelbezirk anschloß. Der nördliche Abfall des Hügels, auf dem Chieti liegt, hat viele Erdrutsche erlitten, so daß dort keine archäologischen Entdeckungen gemacht werden konnten und die römische Stadtgrenze an dieser Stelle kaum festzustellen sein wird.
Die römische Stadt Vasto hat quadratischen Grundriß, begrenzt von der heutigen Via Roma, Via Garibaldi und dem Corso De Parma. Durch Erdrutsch ist der Ostteil der antiken Stadt zum Meer hin nicht mehr auszumachen. Oberreste des römischen Wohnbaus sind noch an einzelnen Steilen zu finden.
Neuerliche Ausgrabungen in Juvanum im Ortsteil S. Maria di Palazzo in der Gemeinde Montenerodomo haben das Forum freigelegt. Es ist rechteckig (62 x 27 m) mit verhältnismäßig gut erhaltenem Pflaster. In der Mitte des Platzes sind Spuren einer großen Inschrift, die noch nicht entziffert ist. Vom Forum führt eine Straße zu der Anhöhe hinauf, auf der sich die Akropolis befand, die von einer Mauer aus unförmigen Steinblöcken umgeben ist. In den Ruinen von Juvanum wurde im Mittelalter ein Zisterzienser kloster erbaut, dessen Kirche S. Maria di Palazzo dem Ort den Namen gab. Schon der Titel der Kirche erinnert an die Antike. Die Anlage ist im 19. Jh. verschwunden, aber Reste davon aus antikem Material sind bei den Ausgrabungen wieder zum Vorschein gekommen.
Das römische Stadtnetz von Venafro liegt unter der modernen Stadt. Neun Straßenzüge aus der Römerzeit verlaufen von Nordosten nach Südwesten. Sie werden von sieben kleineren Straßen durchschnitten. Plinius rühmt die Stadt als Erholungsort der Römer. Aus den Oden des Horaz erfahren wir, wie sich Attilius Regulus von den Geschäften des Alltags hierher zurückzog, und eine Äußerung Ciceros kann man möglicherweise auf eine Villa in Venafro beziehen, die sein Bruder Quintus bewohnt hat.
Mit einiger Wahrscheinlichkeit hat man in Isernia den Platz vor der Kathedrale, die heutige Piazza Andrea di Isernia, mit dem römischen Forum identifiziert. Die riesigen Fundamente des Tempels, über denen die Kathedrale steht, hätten dann an der Südseite des Forums gelegen, wo sich Cardo und Decumanus kreuzten. Der Campanile neben der Kathedrale steht auf antiken Blöcken, und man nimmt an, daß die heurige Durchfahrt an dieser Stelle der antiken Zufahrt zum Forum entspricht.
Die Besiedlung und Bautätigkeit der Römer beschränkte sich nicht nur auf die Munizipien. Die Architekten waren auch in anderen Teilen des Landes tätig. Die mittelalterliche Stadtmauer von Ancarano im Praeturierland übernahm antike Trakte, die neben der Porta da Monte zu sehen sind, woraus man auf eine römische Siedlung schließen kann. Auch Foruli war ein römisches Zentrum, in dessen Nähe die Via Claudia Nova begann. Der der Verwaltung von Amiternum unterstellte Ort, der noch nicht systematisch erschlossen ist, zeigt zahlreiche Gebäudereste. Die beweglichen Funde kamen in die Museen von L'Aquila und Chieti. In jüngster Zeit ist in der Vestinerstadt Civita di Bagno eine antike Siedlung ausgegraben worden, deren Fundstücke in das 2. Jh. v. Chr. datiert werden, andere gehören noch älteren Zeiten an. In Ofena, dem römischen Aufinium, nennen Inschriften die Namen von Beamten, die zu der Vestinerstadt Peltuinum gehörten, so daß anzunehmen ist, der Ort sei von letzterem abhängig gewesen, wie auch schon eine Pliniusnotiz besagt. Die antike Siedlung mit dem Theater und anderen bedeutsamen Gebäudekomplexen lag wahrscheinlich im Ortsteil Collelungo an den Quellen des Tirino. In Trasacco am Fuciner See hat die Legende in der Nähe der Pfarrkirche einen Palast des Kaisers Claudius sehen wollen. Immerhin weisen zahlreiche Reste aus römischer Zeit darauf hin, daß hier eine ansehnliche Siedlung bestanden haben muß. Ähnliches gilt von Palombaro bei Vasto. In der Nähe hat man neuerdings den Ortsteil Piano Laroma mit dem in der Antike überlieferten Cluviae identifiziert und hier fast den gesamten Verlauf der Stadtmauer feststellen können, die teilweise noch in beträchtlicher Höhe erhalten ist. Der Ort hatte fünf Stadttore, von denen zwei mit quadratischen Türmen zum Fluß Avello noch zu sehen sind. Reste einer römischen Siedlung sind in S. Maria di Canneto bei Montefalcone nel Sannio vorhanden.
Tempel und Heiligtümer
Die Römer bauten sehr viel mehr Tempel als die Griechen, und Rom war mit über vierzig Tempeln die an Heiligtümern reichste Stadt des Altertums, wie später auch die reichste Stadt an Kirchen. Diese Freudigkeit sakralen Bauens ist auch in den Abruzzen und im Molise zu spüren, denn hier gibt es mehr römische Tempel als griechische in Unteritalien und Sizilien zusammen. Die Heiligtümer der italischen Bergvölker, die schon vor dem Bundesgenossenkrieg errichtet worden waren, wurden von den Römern gepflegt, die den Kult möglichst in der alten Form bestehen ließen. Wir verfolgen das z.B. in Alba Fucense, weiterhin am Heiligtum des Herkules Curinus bei Sulmona und in Pietrabbondante. Für den Archäologen mag es oft schwierig sein, im architektonischen Befund Römisches vom Italischen zu scheiden. Oft erhält man bessere Aufschlüsse durch die Votivfunde, an denen die Tradition der Anlage leichter abzulesen ist. Kein Tempel in unserer Region ist vollständig erhalten, sondern immer haben wir nur Ruinen vor uns. Die meisten aber bleiben als Fundamente für den späteren Kirchenbau heute unsichtbar. Sehr viele Bauten kennen wir nur aus Inschriften und einige (S. 49) andere Tempel wiederum nur aus einer vagen mündlichen Überlieferung.
In unserer Landschaft bediente man sich der einfacheren Formen des Tempelbaus. Am gebräuchlichsten ist der Antentempel, dessen Cellawände an den Schmalseiten vorspringen. Zwischen diesen Vorsprüngen stehen zwei Säulen. Seltener ist der Prostylos mit einer Säulenhalle an der Schmalseite, wo der Eingang lag.
Alba Fucense ist mit der römischen Kultur auf das innigste verbunden. Durch Ausgrabungen, die noch andauern und von vortrefflichen Publikationen begleitet sind, haben die Belgier hier allein vier Heiligtümer ausfindig gemacht, von denen der Tempel auf dem Pettorinohügel und der gegenüberliegende Apollotempel einige Gemeinsamkeiten aufweisen. Beide liegen auf künstlich planierten Hügeln, der Tempel des Pettorino über dem Theater, der andere über dem Amphitheater. Beide sind in ihrer Längsachse auf das Stadtzentrum ausgerichtet und haben sehr ähnliche Ausmaße in ihren Podien. Diese übereinstimmungen lassen auf eine einheitliche urbanistische Konzeption schließen.
Die Fundamente des Tempels auf dem Pettorino weisen, ähnlich wie die des Apollotempels, mit den Polygonalsteinen auf italische Baugewohnheiten hin. Die Ausgrabungen von 1966 haben den Bestand freigelegt. Die Cella nimmt die Hälfte des Podiums ein und ist durch eine starke Wand in der Mitte in zwei Räume geteilt, die je 10 m breit und 8 m tief sind. Der Steinboden der Cella, architektonische Schmuckteile und Münzfunde lassen vermuten, daß der Tempel im 1. Jh. n. Chr. restauriert und verschönert wurde, wie ja die ganze Stadt nach dem Bundesgenossenkrieg ein neues Antlitz erhielt.
Eine große Treppe verbindet das Amphitheater mit dem Apollotempel. Er hat sein Aussehen weitgehend bewahrt, weil er schon früh, ähnlich wie das Pantheon in Rom oder die Tempelzone in Chieti, in einen christlichen Raum umgewandelt wurde. Die Seitenmauern der Kirche sind die antiken Cellawände, die in einer beträchtlichen Höhe von 7,10 m erhalten sind und aus besonders sorgfältigem »opus quadratum« bestehen. Die Cella ist wie bei dem Tempel auf dem Pettorino in zwei Räume unterteilt. Für den Bau der Apsis der späteren Kirche mußte ein Teil der antiken Cellarückwand eingerissen werden. Der Unterbau des Podiums ist aus großen unregelmäßigen Steinblöcken aufgerichtet. Eine Besonderheit stellen die Inschriften und Ritzzeichnungen an den Antenwänden dar. Da gibt es griechische Inschriften, und wir erinnern uns an die vornehmen Griechen, die in Alba Fucense konfiniert waren. Die Ritzzeichnung eines Löwen, der im Begriff ist, durch einen Reifen zu springen, ist sicherlich eine Anspielung auf Szenen im Amphitheater, die in der klassischen Literatur als »ludi ferarum« bezeichnet werden. Eine andere Ritzzeichnung mit inschriftlichen Erläuterungen gibt minuziös ein Kriegsschiff wieder. Sie ist in das Ende der republikanischen oder in den Anfang der kaiserlichen Zeit zu datieren. Von zwei heidnischen Inschriften ist die eine die wichtigste von Alba überhaupt. Sie berichtet von einer Restaurierung des Tempels im Frühjahr 236 n.Chr., und Apoll wird als der Gott genannt, dem der Tempel geweiht war. Auch die Christen haben sich in den Antenwänden mit vier Inschriften verewigt. Die älteste, wohl aus dem 6. Jh., erwähnt einen Priester mit dem langobardisch klingenden Namen Adelbertus.
Ein drittes Gebäude, sehr wahrscheinlich ein Antentempel, liegt im Zentrum der Stadt zwischen der Via del Miliario und der Markthalle. Sechs Stufen führen zum Podium hinauf. Der Bau ist in das 1. Jh. n. Chr. zu datieren, doch sind auch hier noch ältere Schichten festgestellt worden. Bedeutender ist das in das 1. Jh. v.Chr. zu datierende Herkulesheiligtum mit seiner gewaltigen Portikusanlage. Es liegt zwischen zwei großen Straßen, der Via dei Pilastri und der Via del Miliario. Der Komplex besteht aus zwei Teilen, dem eigentlichen kleinen Heiligtum des Herkules, das 5 m breit und 14,25 m lang ist. Von diesem führen Treppenstufen auf einen großen Platz hinunter, der eine Länge von mehr als 80 m und eine Breite von über 30 m hat. Er wird von einem Portikus mit drei Eingängen umgeben, einer befindet sich im Süden genau gegenüber dem Herkulesheiligtum, einer an der Via dei Pilastri in der Höhe des Theatervorplatzes und ein dritter an der Westseite. Unter dem Platz wurden Architekturteile aus älterer Zeit gefunden.
Man hat in unserer Region Kultzentren ausfindig gemacht, die nicht Teil eines urbanistischen Systems sind, sondern ähnlich wie in Delphi, Palästrina oder Terracina frei in der Landschaft standen. Dazu gehören Pietrabbondante im Lande der Samniter und das Heiligtum des Herkules Curinus, fünf Kilometer nördlich von Sulmona.
Dieses Sanktuarium ist eine künstliche Terrassenanlage an den Hängen des Morrone und einmalig in seiner Art in den Abruzzen (Abb. 6). Es dominiert das weite Tal des Paelignerlandes und lag unweit des Schnittpunktes der wichtigsten Straßen Mittelitaliens, die von Westen nach Osten und von Norden nach Süden liefen. Von diesem Punkt aus überschaute man die ganze Umgegend, und vielleicht war hier das religiöse Zentrum der Bundesgenossen, die sich 90 v. Chr. gegen die Römer rüsteten. Die imposante Lage und die Monumentalität des Ortes waren der Gottheit, der er geweiht war, angemessen. Daß Herkules in diesem Heiligtum verehrt wurde, ergibt sich aus den sich ausschließlich auf ihn beziehenden Votivfunden und Inschriften. »Curinus« war sein Beiname im Gebiet der Paeligner. Das Alter des heiligen Ortes ist schwer zu bestimmen. Die Ausgrabungen in den sechziger Jahren haben ergeben, daß ein plötzlicher und gewaltiger Bergrutsch den Südteil der Anlage vielleicht im 2. Jh. n. Chr. wegriß. über den Trümmern wurden neue Bauten in anderer Axialität aufgeführt. Während der jüngsten Ausgrabungen ist in der Nähe des Erdrutsches ein kleines Gebäude mit Apsis zutage gekommen, das man unter Umständen als einen der frühesten christlichen Bauten in den Abruzzen betrachten könnte. Etwa 100 m über dem antiken Sanktuarium hat sich Coelestin V., der Eremitenpapst, in die kleine Einsiedelei des hl. Onophrius zurückgezogen, die heute noch erhalten ist und in derselben Achse wie das antike Heiligtum liegt.
(S. 50) Abb. 6: Heiligtum des Herkules Curinus bei SulmonaDer heilige Bezirk des Herkules besteht aus einer rechteckigen drei stufigen Terrassenanlage, die von Nordwesten nach Südosten verläuft. Sie liegt am Steilabfall des Morrone in der Höhe, wo das Gelände in nacktes Felsgestein übergeht. Man erreichte das Heiligtum vom Tal aus wohl über rampenartig angelegte Aufgänge, die wahrscheinlich, soweit es die noch nicht abgeschlossenen Ausgrabungen vermuten lassen, in die mittlere Terrasse einmündeten. Dort läuft dicht am Berghang ein langer, durch zwei Stufen erhöhter Säulenportikus. An der Rückwand dieses Plateaus sind vierzehn Kammern aneinandergereiht, in denen die Hüter des Heiligtums oder Pilger nächtigen konnten. Die mittlere Terrasse wird durch große Substruktionen gestützt, und zwei kleinere Treppen verbinden sie mit dem unteren Plateau. Der heute künstlerisch wirkungsvollste Teil des Baukomplexes ist die prachtvolle Freitreppe (Tf. 11), welche die beiden oberen Terrassen verbindet. Sie liegt im Südosten. Nach einigen Stufen erreicht sie ein Podest, wo ihr Lauf im rechten Winkel umbiegt. Die höchste Terrasse, die zur Bergseite hin durch eine dicke Mauer abgesichert ist, war das Zentrum des Heiligtums, wie die Funde zeigen, die heute im Archäologischen Museum von Chieti untergebracht sind. Hier befand sich die Cella, deren Mosaikfußboden erhalten ist, und an deren Wänden Spuren geometrischer Malereien erkennbar sind. Das Baumaterial der Anlage ist nicht einheitlich. Die Stützmauer der untersten Terrasse besteht aus dreizehn Schichten, deren untere fünf Lagen aus »opus incertum« gebildet sind. Es folgen fünf Schichten in »opus reticulaturn« und wieder drei Schichten in »opus incertum«. Die Ecken sind aus Haustein gefügt. Die Kammern auf der Mittelterrasse bestehen aus »opus incertum« und sind, abgesehen von den beiden äußeren flachgedeckten, tonnengewölbt. Die Wand zur Bergseite ist aus Zementstein, der ursprünglich mit einer Mörtelschicht bedeckt war, die noch stellenweise erhalten ist und Farbspuren aufweist. Im nordwestlichen Teil dieser Mauer findet man große Polygonalsteine, die aus einer viel älteren Zeit stammen. Die Mauer des obersten Plateaus, die sich an das natürliche Felsgestein anlehnt, ist in »opus quadratum« hochgezogen. Mit Ausnahme des Traktes mit den Polygonalsteinen ist das Heiligtum in einer einheitlichen Bauzeit entstanden, ungefähr in der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts.
Die archäologischen Monumente von Pietrahhondante gehören zu den wichtigsten, gleichzeitig aber unbekanntesten in ganz Süditalien. Ein Besuch lohnt sich auch wegen der herrlichen landschaftlichen Lage des Ortes. In der Nähe von dichten Wäldern ist er 1000 m hoch gelegen und bietet dem Auge einen großartigen Fernblick. Von dem archäologischen Bezirk wissen wir seit 1840. Theodor Mommsen hatte sich hier eingehend mit antiken Inschriften beschäftigt. Das Anerbieten des Preußischen Staates in den Jahren 1866/ 1867, hier auf eigene Kosten Grabungen durchzuführen, wurde von der italienischen Regierung abgelehnt. Die Freilegungen begannen dann 1872, aber erst seit 1959 werden sie systematisch durchgeführt. Die Anlage (Abb.7) hat ein überschau bares Maß, ihre Ausdehnung von Norden nach Süden beträgt etwa 200 m und von Westen nach Osten ungefähr 150 m. Da an dieser Stelle keine Wohnsiedlungen aus früherer Zeit bekanntgeworden sind, kann man annehmen, daß hier nur eine Kultstätte bestanden hat, die vor dem Bundesgenossenkrieg bei den Pentrern in religiöser wie in politischer Hinsicht stärkere Bedeutung besaß. Indessen hatte Pietrabbondante in römischer Zeit bereits seine frühere Bedeutung verloren, und es wäre daher zu fragen, ob die Monumente vielleicht als samnitische Kunstwerke zu betrachten sind. Zeitlich gesehen ist das gerechtfertigt, obwohl die Formensprache schon starke hellenistisch-römische Züge aufweist. Diese Annahme bekräftigt die Tatsache, wie schon an anderer Stelle dargelegt, daß die Samniter sehr früh ihre eigene Kunstsprache aufgegeben haben. Nach dem (S. 51) 4. Jh. n. Chr. findet man keine Spuren mehr, die auf ein Weiterleben des Tempelbezirks schließen lassen.
Abb. 7: Pietrabbondante, Tempel und TheaterDie bisher ausgegrabenen Hauptwerke sind ein kleiner Tempel im Norden und im Süden ein größerer Tempel sowie das mit diesem verbundene, tiefer liegende Theater. Der älteste Bau scheint der kleinere Tempel zu sein, der in die Mitte des 2. Jh. v. Chr. zu datieren ist, und dessen Podium 17,70 m lang, 12,20 m breit und 1,65 m hoch ist. Die Polygonalmauern, drl(ihn an drei Seiten umgeben, um ihn vor dem Erdschub des aufsteigenden Geländes zu schützen, wurden früher beschrieben. Die in der Längsrichtung dreigeteilte Cella nimmt die hintere Hälfte des Podiums ein. Schmuckelernente, darunter ein dorischer Architrav mit glatten Metopen und Triglyphen und Teile des Gebälks, sind rechts vom Tempel aufgestellt; in Details sind sie mit anderen samnitischen Tempeln in S. Giovanni in Galdo, Quadri, Vastogirardi und Schiavi d'Abruzzo zu vergleichen. Von der Fassade des kleinen Tempels stammen sechs Fragmente einer oskischen Inschrift, die in einer Länge von 5,10 m erhalten ist, und die man als die Königin der oskischen Inschriften bezeichnet hat.
Der etwa um 100 v. Chr. errichtete jüngere und größere Tempel hinter dem Theater wird seit 1959 ausgegraben. Er ist, wie der ältere Tempel, in 2 m Entfernung vom Podium von Polygonal mauern umgeben. Das Podium ist 35 m lang, 22. m breit und 3,55 m hoch. Es entstand durch Aufschüttung von Tonerde und Architekturresten älterer Gebäude, wobei man in der Längs-und Querrichtung Mauerzüge anlegte, um dem Material Halt zu geben. Die Vorhalle erreichte man über eine 4,60 m breite Treppe mit 13 Stufen, von denen die unteren drei erhalten sind. Die Stufen schnitten etwa 4 m tief in das Podium ein.
Eine eigentümliche Struktur weist der langgezogene Pronaos auf, dessen acht Säulen eine seltene Disposition zeigen. Man könnte ihn gewissermaßen als eine dreireihige Säulenhalle beschreiben, wobei die Frontreihe vier Säulen zeigt und die beiden folgenden nur je zwei, deren Anordnung alterniert. In der zweiten Reihe sind die Ecken besetzt und die Mitte ist frei, während in der letzten Reihe die beiden mittleren Säulen stehen und die äußeren fehlen. Das Heiligtum besaß drei Zellen. Die große Hauptcella maß 7,22 x 11 m und reichte bis an das Ende des Podiums. An diese schlossen (S. 52) seitlich zwei kleinere Zellen von 4,83 x 7,50 m an, die 3,60 m vor dem Podiumabschluß endeten, so daß noch Raum für zwei rechteckige Kammern blieb. Deren Ausmaße betragen 4,50 x 3 m; wahrscheinlich erreichte man sie von der größeren Mittelcella, und sie dienten zum Abstellen von Votivgaben. Der Fußboden der Cella bestand aus einfachen Mosaiksteinen, die kein Ornament bildeten. Auf Grund einer 1959 gefundenen oskischen Inschrift aus Bronze können wir vermuten, daß der Tempel der Victoria geweiht war. Ungefähr gleichzeitig mit ihm entstand das Theater. Beide Bauten liegen in derselben Achse, was auf eine einheitliche Konzeption schließen läßt. Der Tempel liegt 5,50 m über der Orchestra des Theaters, das vom Pronaos einzusehen war, wie man umgekehrt von dort aus den erhöhten Tempel in seiner ganzen Schönheit wahrnehmen konnte. Die Verbindung von Tempel und Theater ist in der antiken Architektur nicht selten. Ähnliche Beispiele kennen wir in Gabii in Latium, in Tivoli, Palästrina und Pompeji. Zu den Ausgrabungsfunden gehören Terrakotten, die als Bauschmuck dienten, sowie Plastiken in Stein und Bronze.
Im Gegensatz etwa zu Alba Fucense oder Chieti finden wir in Sepino kaum Heiligtümer, die sich als Tempel definieren lassen. Der einzige bisher festgestellte sakrale Bau liegt am Decumanus gegenüber vom Forum. Obriggeblieben sind Teile des Aufstiegs zum Podium und das Podium selbst. Die Ausmaße der Cella waren kleiner als die vorgelagerte Säulenhalle. Die Anlage stammt aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert.
Der in Chieti erhaltene Tempelbezirk (Tf. 10) lag an der Nordwestseite des Forums. Auf einem gemeinsamen Podium, das etwa 21 x 19 m mißt, stehen zwei gleichzeitig entstandene Tempel sowie ein dritter, kleinerer Tempel aus jüngerer Zeit. Die beiden ersten Bauten dienten bis 1934 als Kirchen und waren den hll. Peter und Paul geweiht. 1935 begann man, die Anlage archäologisch zu erschließen. Die Cellawände sind in beträchtlicher Höhe erhalten und auf Grund des Mauerwerks in die 2. Hälfte des 1. Jh. n. Chr. zu datieren. »Opus reticulatum« wechselt mit Lagen aus Ziegel. Das Retikulat besteht aus grauem Tuffstein und rotem gebrannten Stein, der den Wänden einen warmen Ton verleiht. Die Heiligtümer dieses Bezirks unterscheiden sich von sonstigen römischen Tempeln dadurch, daß sich unter den Cellaräumen große tonnengewölbte Untergeschosse mit Nischen befinden. Inschriften besagen, daß diese Tempel auf Kosten des M. Vettius Marcellus und seiner Ehefrau Elvidia Priscilla errichtet wurden. Der Vettius, der zu Zeiten des Kaisers Nero lebte, ist auch noch in anderen Zusammenhängen in die Geschichte eingegangen. Einer älteren Bauzeit gehören die mächtigen rechteckigen Steinblöcke neben den Tempeln an, vielleicht sind es Reste der älteren Stadtmauer. In unmittelbarer Nähe dieser Mauerzüge ist der aus Travertin gebildete Rand eines 36 m tiefen, runden Brunnens sichtbar.
Die noch andauernden Ausgrabungen in Juventum lassen die römischen Tempelanlagen bisher nicht genau erkennen. Auf dem Hügel über dem Forum hat man 1940 das Podium eines Tempels freigelegt, das aus rechteckigen Kalksteinblöcken besteht. Die Cella mit Teilen des Fußbodens ist noch zu erkennen. Direkt daneben haben Nachforschungen jüngster Zeit den Sockel eines zweiten Tempels festgestellt. Marmorreste aus Juvanum gelangten in Privatgätten von Montenerodomo. Noch weniger als von Juventum wissen wir von einem sogenannten Herkulesheiligtum, das 1 km außerhalb von Montorio al Vomano liegt, und dessen Reste noch genauer zu studieren wären.
Den Tempeln, deren Ruinen sichtbar sind, steht eine Gruppe gegenüber, deren Podien unter Kirchenbauten liegen. Will man den Bestand der Kirchen erhalten, so ist die Neugierde der Archäologen nur schwer zu befriedigen. Die Forschung ist nicht immer in der Lage zu beurteilen, ob derartige Sockel aus italischer oder römischer Zeit stammen. Ihre Anzahl ist beträchtlich, und es sind viel mehr, als ich in meinen Notizen gesammelt habe. ]n Fontecchio wurde die Kirche Madonna della Vittoria (früher S. Pietro) über einem antiken Stylobat errichtet. ]n Bugnara liegt die Kirche Madonna della Neve auf einem antiken Tempel, von dessen , Fußboden sich noch Reste erhalten haben.
]n Chieti gibt es neben den drei erwähnten römischen Tempeln noch zwei weitere, die überbaut wurden. Der eine liegt unter dem heutigen Postgebäude, der andere unter dem Istituto S. Camillo De Lellis. S. Maria Maggiore in Lanciano, eine der bedeutendsten Kirchen für die Architekturgeschichte der Abruzzen, wurde 1227 über einem Apollotempel errichtet. An der Mündung des Sangro thront über der Adria das berühmte Kloster von Fossacesia, dessen Name S. Giovanni in Venere schon an die Antike anklingt. Die Abtei überlagert den Tempel der Venus Conciliatrix, der Schutzgöttin des ehelichen Friedens. Die Stadt Vasto im Land der Frentaner hat erstaunlich viele Tempel überliefert, einer war dem Sol gewidmet und befand sich bei der Kirche Madonna delle Grazie; ein Cerestempel, von dem noch Reste sichtbar sind, liegt unter der Kirche S. Pietro, ein anderer Tempel stand zwischen der Via S. Pietro und der Piazza de! Popolo. Inschriften bekunden, daß dieses Heiligtum dem Jupiter Delichenus geweiht war. In der Oberstadt von Boiano liegt die Michaelskirche über einem Bacchustempel. In Isernia kennen wir zwei Kirchen auf Tempelfundamenten. Die Einsiedelei der hll. Kosmas und Damian wurde etwa im 12. Jh. über einem heidnischen Tempel gegründet. Der heute erhaltene Bau ist eine Umgestaltung des 16. Jahrhunderts. Wichtiger sind die Fundamente der Kathedrale von Isernia auf dem Podium eines antiken Tempels. Da dieser auf abfallendem Gelände liegt, waren Substruktionen erforderlich, die teilweise sichtbar sind. Das Podium mißt 13 m in der Breite und etwa 25 m in der Länge. Seine Wand zieren horizontallaufende Wülste. Der Tempel ist in das 3. Jh. v.Chr. zu datieren. Ausgrabungen in der Kathedrale würden genauere Schlüsse zulassen.
Eine dritte Gruppe bilden die Tempel, die schriftlich oder mündlich überliefert sind. So soll z.B. die Kathedrale von Penne auf Fundamenten eines heidnischen Tempels errichtet sein, der vielleicht der Vesta geweiht war; archäologische (S. 53) Funde im Umkreis des Domes machen die Überlieferung glaubwürdig. Die vom deutschen Kaiser Ludwign. 871 erbaute Abtei S. Clemente a Casauria steht wahrscheinlich auf oder neben einem antiken Tempel, der mit einem »ponderarium« verbunden war, das ist ein Ort, wo die Mustergewichte und Mustermaße aufbewahrt wurden. Man nimmt an, daß der Name Casauria von Casa Aurea (Goldenes Haus) abzuleiten ist. Architektonische und plastische Antikenfunde im Klostergarten, die heute im Klostermuseum aufbewahrt werden, weisen auf antike Bestände an Ort und Stelle hin. Auch hier könnten Ausgrabungen grundlegende Erkenntnisse ans Tageslicht bringen. Der Tradition nach soll die von Antikenresten umgebene Kathedrale von Trivento auf einem Dianatempel stehen. In dieser Gruppe könnte man noch viele Beispiele anführen, doch gerät man dabei nur allzuleicht in den Bereich von Spekulationen, solange kein archäologischer Befund vorliegt.
Gesicherter ist eine letzte Gruppe von Tempeln, die durch römische Weihinschriften belegt sind. Es sind ihrer so viele, daß es unmöglich ist, hier alle aufzuzählen. Immerhin gäbe ihr Verzeichnis Auskunft über die reiche Bautätigkeit dieser Zeit und über die Siedlungsgeschichte. Nur einige Beispiele seien angeführt. In der ältesten Kirche, die vor dem Jahre 1000 in den Abruzzen erhalten ist, in S. Maria a Vico bei Sant'Omero, ist im Innern im rechten Seitenschiff eine Inschrift aus trajanischer Zeit zu lesen, die einen Herkulestempel in Vicus Stramenticius nennt. Zwei andere Zeugnisse befinden sich im Nationalmuseum in L'Aquila. Das eine ist eine aus Civita di Bagno stammende Steinplatte mit einer Inschrift, die von einem Tempel spricht, der Ferronia, der Göttin des Ackerbaus, geweiht war; sie wurde auch in Amiternum verehrt. Das andere ist eine Inschrift aus Furfo, einem Weiler in der antiken Präfektur von Peltuinum, die seltene kultische Anweisungen enthält. Sie ist in einen Stein graviert, der 1 m breit, 1,88 m hoch und 9 cm dick ist. Die Inschrift besagt, daß in Furfo am 13. Juli 58 v. Chr. dem Giove Libero ein Tempel geweiht wurde. Es wird festgesetzt, daß das Fell der Opfertiere Eigentum des Tempels bleibt, und es werden Richtlinien für die Verwaltung des Tempelschatzes gegeben. Der eigentümlichste Teil der Inschrift ist die Bestimmung, welche die Verwendung von Eisen im Tempelbau verbietet. Eine Ausnahme, für die keine Sühneopfer zu erfolgen hatten, bildeten die Ausbesserungsarbeiten, bei denen Eisen und Eiseninstrumente gebraucht werden durften. Aus dieser Anordnung spricht eine Vorstellung, die eine lange Geschichte hat. Etrusker und Römer hatten bei kultischen Bauten oder kultischen Handlungen eine starke Abneigung gegen die Verwendung von Eisen. Ein Gesetz, das in der sagenhaften Vorzeit Roms der zweite König Numa Pompilius erlassen haben soll, verbot dem Priester einer Gottheit mit Namen Dialis, sich Bart und Haare mit einem Eiseninstrument zu scheren, wohingegen Kupfergeräte zugelassen waren. Derselbe König bestrafte auch die Benutzung von Eisenwerkzeugen innerhalb der heiligen Haine. Kaiser Augustus reformierte das Priesterkollegium der Fratres Arvales, in deren Gottesdienst die Fürbitte für das Gedeihen der Feldfrüchte eingeschlossen war. Kaiser und höchste Staatsbeamte gehörten diesem Bund an, dessen Gesetze forderten, daß das verpönte Eisen vom Tempel und vom Gottesdienst fernzuhalten sei. Nach meiner Auffassung hängt die Verabscheuung dieses Metalls mit der in der Antike skeptischen Beurteilung der Abfolge der Zeiten zusammen. Auf das glückliche goldene Zeitalter folgte der allmähliche Niedergang über das silberne und das kupferne Zeitalter, bis schließlich das eiserne erreicht war. Der griechische Dichter Hesiod, der im 8. Jh. v. Chr. das Aufkommen der Eisenbearbeitung miterlebte, beklagt bitterlich, daß er in der Eisenzeit und nicht früher geboren sei. Dieser Gedanke drückt sich noch in der lateinischen Poesie aus, und so ist es nicht verwunderlich, wenn man das Eisen, das die Dekadenz der Zeiten ausdrückt, vom göttlichen Kult fernhalten wollte.
Der Mithraskult war in römischer Zeit stark verbreitet. Zwar sind in den Abruzzen und im Molise keine Mithräen in situ erhalten, doch wissen wir aus Inschriften und Kleinfunden, daß in Alba Fucense, Fossa und Isernia dieser fremdländische Kult betrieben wurde. Die Inschrift, die den Bau eines Mithräums in Fossa erwähnt, ist 213 n. Chr. datiert. Um 1930 wurde ein Mithrasrelief in Nesce gefunden, ein Ortsteil von Pescorocchiano, das heute in der Provinz Rieti liegt, aber vor 1927 zu den Abruzzen gehörte und zum Gebiet des italischen Stammes der Aequiculi zählt.
Theater und Amphitheater
In den großen römischen Siedlungen bilden Theater und Amphitheater die Hauptzierde und den Stolz der Stadt. Das etwa halbkreisförmig angelegte römische Theater leitet seine Bauformen zum größten Teil vom griechischen ab. In der Stadt Rom kam es relativ spät zum steinernen Theaterbau. Den ersten errichtete Pompeius 55 v. Chr. Das Marcellustheater wurde von Cäsar begonnen und von Augustus beendet. Das Amphitheater mit kreisförmig angeordneten Sitzreihen ist eine römische Invention. In Italien und im römischen Imperium finden wir davon eine unüberschaubare Zahl, während wir in Griechenland nur ein einziges, in Korinth, kennen. Dieser Typ diente für Gladiatorenspiele und Tierkämpfe. Auch der Bau von Amphitheatern setzte in Rom später ein als an anderen Orten in Italien. Als das älteste erhaltene Amphitheater gilt das in Pompeji (80v.Chr.). In Rom wurden die Kampfspiele zunächst auf dem Forum abgehalten. 46 v. Chr. ließ Cäsar ein erstes größeres Amphitheater für Gladiatoren errichten, was jedoch ein Holzbau war. Das unter Augustus 29 v. Chr. von Statius Taurus erstellte Amphitheater bestand aus Stein und Holz. Das steinerne Kolosseum wurde von Vespasian begonnen, von Titus 80 n. Chr. geweiht und unter Domitian vollendet.
Die Blütezeit des steinernen Theaterbaus in römischer Zeit lag im I.Jh. v.Chr. und vor allem im I.Jh. n.Chr., hervorgerufen durch soziale Umwälzungen im Gefolge der Bürgerkriege, bei denen es auch um die kulturelle Gleichstellung mit Rom ging; weiterhin verhalf dem Theaterbau zum Aufschwung die Neugründung großer Siedlungen, die mit (S. 54) den Annehmlichkeiten einer Großstadt ausgestattet sein sollten.
Die neue Mode der Errichtung von Theatern wird im Molise und in den Abruzzen mit größter Baulust und zähestem Fleiß betrieben. Auffallend ist, daß die Aktivität auf diesem Gebiete hier sehr viel größer war als in den Landschaften, die das Theaterleben entwickelten, wie der hellenische Teil Unteritaliens und das Land der Etrusker. Verglichen mit Rom war unser Bergvolk alles andere als rückständig. In einigen Fällen ist man geneigt, nachzuweisen, daß hier bereits früher steinerne Theater existierten als in Rom selbst. Das stilistische Vorbild gab in solchen Fällen das kulturell entwickeltere Kampanien ab.
Die römischen Theater im Molise und in den Abruzzen hat man noch nicht im Zusammenhang betrachtet. Es sind dort etwa dreißig Theater nachzuweisen, und weitere sind noch zu vermuten. In vielen Theatern kann man noch die Anzahl der Sitzplätze berechnen. In Alba Fucense waren es 4000-4100, in Amiternum 3300-3400, in Corfinio ca. 4200-4300, in Juvanum etwa 3300-4100, in Peltuinum ungefähr 2300-2600, in Sepino 3000-3100, in Chieti 4800 bis 5100.
Die Amphitheater lockten mehr Schaulustige an als die Theater. Alba Fucense konnte etwa 8000-8400 Besucher unterbringen, Amiternum 5200-5400. Im Gegensatz zu Griechenland waren in Italien in Theatern und Amphitheatern auch Frauen zugelassen, ausgeschlossen blieben die Unfreien und Sklaven. Multipliziert man den Theaterplatz mit 4,5 und den Platz im Amphitheater mit 2,5, so läßt sich damit die ungefähre Bevölkerungszahl der einzelnen Städte errechnen. Pietrabbondante mit seinem Theater, das 2100 bis 2200 Sitze hat, ist -wie bereits gesagt -eine reine Kultstätte und insofern von diesen Berechnungen auszunehmen.
Mindestens zwei Theater in unserer Region gehören der vorkaiserlichen Zeit an und zwar das sehr gut erhaltene in Pietrabbondante (Tf. 14) und das in Alba Fucense in seiner ersten Bauzeit. In Pietrabbondante nutzte man den Abhang eines Hügels, um den halbkreisförmigen, 7,15 m ansteigenden Zuschauerraum anzulegen. Er wird von Polygonalmauern (Tf. 13) eingefaßt, und in seinem Scheitel liegt eine Treppe, die zum Tempel führt. Die drei untersten Sitzreihen mit sanftgeschwungenen Rückenlehnen und 18 Plätzen in der ersten sowie je 26 in den beiden folgenden Reihen sind fast vollständig erhalten. Die Wangen der vordersten Bank sind mit Skulpturen von Sphingen verziert. Diese Reihen werden vom oberen Zuschauerraum durch einen breiten Gang getrennt. Von diesem führen fünf Treppen zwischen den Sitzreihen strahlenförmig nach oben und zerlegen diesen Teil des Zuschauerraumes in Keile. Die beiden äußersten Aufgänge waren mit Atlanten (Tf. 12) versehen, von denen derjenige an der südlichen Treppe noch gut erkennbar ist. Nur die erste Reihe des oberen Zuschauerraums hat steinerne Fußbänke, alle übrigen Sitzvorrichtungen muß man sich aus Holz vorstellen.
Vom aufgehenden Mauerwerk des 37,30 m langen Bühnengebäudes ist kaum etwas erhalten, doch ist es im Grundriß gut erkennbar. Hier ist eines der seltenen Beispiele eines griechischen Bühnenhauses überliefert, das von den Römern nicht, wie z.B. in Pompeji, umgebaut wurde. Es bestand aus sechs Kammern, die durch drei Gänge unterteilt wurden, und von denen der mirtlere sich gen au in der Achse des Theaters befindet. Die Bühne lag mehr als zwei Meter über der Orchestra. Stilistisch hat das Theater nächste Beziehungen zum Großen Theater in Pompeji, bevor dieses in späterer römischer Zeit umgebaut wurde. Die Zahl der Bühnenkammern und der Durchgänge sowie ihre Anordnung stimmen in beiden Fällen überein. Durch den Skulpturenschmuck und die Architekturdekorationen läßt sich das Theater von Pietrabbondante dann weiter mit dem Kleinen Theater in Pompeji, dem Odeon, verbinden, das zwischen 80 und 75 v. Chr. errichtet wurde. Beide gehen auf ein gemeinsames Vorbild zurück, wobei der Bau in Pietrabbondante, der sicherlich vor den Sozialkriegen (90/89) entstand, älter ist als das berühmte Odeon in Pompeji.
Die Freilegung des Theaters in Alba Fucense unterhalb des Pettorinohügels begann 1953. Obwohl man schon in frühen Zeiten das Baumaterial des Theaters für andere Zwecke gebrauchte, bleiben noch genügend Anhaltspunkte für die Rekonstruktion. Die Gesamtbreite der Anlage beträgt 77 m. Der Halbkreis des Zuschauerraums wurde aus dem Felsgestein des Pettorinohügels ausgehauen und mit einer dünnen Zementschicht überzogen; die seitlichen Stützmauern sind vor allem im Nordwesten gut erhalten. Ober zwei Schichten aus »opus quadratum« erheben sich polygonale Blöcke in einer Höhe von 2,50 m. Darauf folgt eine etwa anderthalb Meter hohe Schicht von »opus reticulaturn«. An der Nordwestecke ist der Seiteneingang zum Theater, der sog. Para dos, erhalten. Seine an den Zuschauerraum angrenzende Wand ist aus Polygonalsteinen gebildet. Darin ist eine senkrechte Fuge zu erkennen sowie eine uneinheitliche Arbeitsweise im Ineinanderfügen der Steinblöcke, was schließen läßt, daß sich der Zuschauerraum in einer bestimmten Zeit als zu klein erwies und vergrößert wurde. Das Szenengebäude ist bei einer Tiefe von 12 m über 40 m lang. Der rückwärtige Teil besteht aus sieben, in einer Reihe liegenden Kammern aus gutem Mauerwerk in »opus reticulatum«. Die Front zum Zuschauerraum war mit Marmor verkleidet. In der Orchestra, direkt unter der Bühne, hat man sechs mehr oder minder gut erhaltene Schächte (36 x 40 cm) von etwa 2,66 m Tiefe entdeckt, deren Deckplatten zweimal durchlöchert sind. Solchen Gebilden begegnen wir auch am griechischen Theater in Pergamon, vor dem Szenengebäude in Pietrabbondante oder im Theater von Ferento bei Viterbo. Sie dienten zur Anbringung von Masten oder zur Aufstellung von Holzgerüsten, wenn es die Aufführung verlangte. Bei Nichtbenutzung konnten sie durch Steinplatten zugedeckt werden, die man in Alba Fucense in situ gefunden hat. Die halbrunde Orchestra, von der noch einige Bodenplatten sichtbar sind, hat einen Radius von ca. 10 m. Spuren der Balustrade, die als Abgrenzung zum Zuschauerraum diente, sind vorhanden. Das Theater ist etwa um 50 v. Chr. entstanden, während die (S. 55) Erweiterung des Zuschauerraums um die Zeitenwende anzusetzen ist.
In die Zeit des Kaisers Augustus ist das Theater von Amiternum zu datieren. Der Zuschauerraum mit einem Durchmesser von 54 m schmiegt sich wieder wie in Pietrabbondante an den Abhang eines Hügels. Wie dort trennt ein Gang den Zuschauerraum in einen unteren und einen oberen Rang. Letzterer hat 18 Sitzreihen, die durch drei Treppen in der Vertikalen unterteilt werden. Sichtbar sind noch Teile der Orchestra und des Bühnengebäudes und Reste von gewölbten Seiteneingängen in »opus reticulatum«. Vielleicht etwas später als in Amiternum baute man das Theater von Peltuinum, von dem noch ansehnliche Reste der Stützmauern des Zuschauerraums in »opus reticulatum« zu sehen sind. Die mit dem antiken Cluviae identifizierte Siedlung Piano Laroma bei Palombaro unweit von Casoli hat möglicherweise ein Theater aufzuweisen, das teilweise von modernen Bauten überdeckt ist. Die Forschung hat sich mit diesem Bau noch zu wenig beschäftigt. Aus dem Mauerwerk in »opus reticulatum« kann man schließen, daß die Anlage nicht vor der Mitte des 1. Jh. v. Chr. entstanden sein kann.
Das noch nicht ganz freigelegte aber sonst gut erhaltene Theater von Sepino ist von Wohnungen und Ställen der dort lebenden Hirten überbaut, und man weiß nicht, ob man sich die Erhaltung des jetzigen pittoresken Zustandes oder die genaue Wiederherstellung des archäologischen Bestandes wünschen soll. Das rechteckige Szenengebäude, die halbrunde Orchestra und der Zuschauerraum sind trotz der überbauten gut sichtbar. Die meisten Theater in den Abruzzen und im Molise nutzen für den Zuschauerraum ansteigendes Gelände. In Sepino gilt das nur für die untersten neun Sitzreihen, der obere Teil steht frei und ruht auf gewölbten Mauerkonstruktionen. Der Zuschauerraum wurde durch zwei Gänge in drei Ränge geteilt. Strahlenförmig angeordnete Treppen -im unteren Rang waren es drei, in den oberen Rängen sechs -gliederten die Sitzräume. An den Seiten führen in Höhe der Orchestra zwei prachtvolle vierbogige Tore in das Theater hinein. Ein dritter Eingang, ein seltener Fall im römischen Theaterbau, führt direkt durch die angrenzende Stadtmauer in den obersten Rang. Vielleicht läßt sich diese Eigentümlichkeit damit erklären, daß außerhalb der Stadtmauer Märkte und Messen stattfanden, deren Besuchern man die Möglichkeit geben wollte, direkt ins Theater zu gelangen. Ähnlich ist die Anlage des Theaters in Pompeji unmittelbar an der Stadtmauer. Das Theater in Sepino wird etwa 50 n. Chr. datiert.
Auch das Theater in Teramo steht völlig frei. Die sichtbaren Fundamente liegen 3,50 m unter dem heutigen Straßenniveau. Der Zuschauerraum war von zwanzig Arkaden aus Travertin eingefaßt, von denen einige tadellos erhalten sind. Die Aufstiege im Innern bestehen aus Tuff-und Ziegelsteinen. Reste des Bühnenhauses verbergen sich unter der Kirche des hl. Bartholomäus. Das Theater ist in das 1. Jh. n. Chr. zu datieren.
Die Ausgrabungen des Theaters in Chieti begannen 1932. Der Zuschauerraum, der im Durchmesser 84 m mißt, ist teilweise in das ansteigende Gelände eingebaut, aber die oberen Teile stehen frei und bedurften größerer architektonischer Konstruktionen. Im Innern sind unter den Sitzreihen Gewölbe und Durchgänge zum Zuschauerraum festgestellt. Das Mauerwerk zeigt »opus reticulatum« und Ziegelstein, was auf eine Entstehung um die Mitte des 2. Jh. n.Chr. schließen läßt.
Außer den bislang besprochenen Theatern gibt es mehrere, die archäologisch kaum erforscht sind, und von denen wohl keines vor der Zeitenwende entstanden sein dürfte. Da die römische Siedlung in Ofena von Peltuinum abhängig war, dürfte man das dortige Theater wohl später ansetzen als das von Peltuinum. Die gekurvte Häuserreihe an der Piazza Corfinio in Corfinio läßt auf die Existenz eines römischen Theaters schließen. Tiefgrabungen jüngster Zeit haben tatsächlich Umgänge und gewölbte Korridore erkennen lassen, die unter dem Zuschauerraum lagen. In Lanciano, dem antiken Anxianum, sind im Innern eines Palastes an der Via Garibaldi am Largo dell'Appello Reste eines römischen Theaters wiedererkannt worden. Die Ruinen des kleinen Theaters in Juvanum kennen wir seit 1940. Der Zuschauerraum lehnt sich an den Hang an, und sieben Sitzreihen sind noch deutlich zu erkennen. Die gut erhaltene Orchestra ist mit großen rechteckigen Steinen gepflastert und hat einen Durchmesser von 17 m. Kümmerliche Reste sind von der Bühne (Tiefe 2,20 m) und dem Bühnenhaus (Tiefe 4 m) erhalten. Relikte eines Theaters sind in Venafro festzustellen. Dazu gehören die Mauern des Zuschauerraums in »opus reticulatum« in der Via delle Mura Ciclopiche. Im 17. Jh. beschreibt der Historiker E. De Mattheis die Ruinen des Theaters von Sulmona. Aus einer Inschrift wissen wir von der Existenz eines Theaters in Trasacco am Fuciner See.
Der überall in unserer Region betriebene Theaterbau hatte natürlich auch einen geistigen Aspekt. Die Bewohner wurden mit der Literatur der Griechen und Römer vertraut gemacht, zumindest mit den Bühnenwerken. Wie weit die Römer auf diesem Gebiet bewußte Kulturpolitik trieben, wäre im einzelnen noch zu untersuchen. In ähnlicher Weise kann man auch bei den Amphitheatern vermuten, daß die Römer hier die Macht ihres Imperiums zur Schau stellen wollten. Kriegsgefangene und Sklaven aus allen Teilen der antiken Welt zwang man zum Kampf gegeneinander oder mit wilden Tieren, die aus Germanien, Nordafrika und Asien herbeigeschafft wurden. In den Abruzzen und im Molise ist die Lust am Bau von Amphitheatern ebenso groß, wenn nicht größer, als die von Theatern. Wir kennen in unserer Region kein Amphitheater, das vor der Zeitenwende gebaut sein dürfte. Der Theaterbau, scheint mir, ging meistens dem Bau von Amphitheatern voraus. Das einzige datierte Amphitheater ist das von Alba Fucense; durch eine Inschrift ist seine Errichtung in der 1. Hälfte des 1. Jh. gesichert. Die meisten römischen Städte verfügten über Theater und Amphitheater zugleich, wie Teramo, Amiternum, Peltuinum, Sulmona, Alba Fucense und Venafro. Bei Orten, von denen wir nur die Existenz eines Amphitheaters kennen, ist möglicherweise ein Theater, das uns bislang unbekannt (S. 56) geblieben ist, anzunehmen. Einige Amphitheater, wie die in Castelvecchio Subequo und Boiano, sind nur durch Inschriften überliefert. Gut erkennbar ist das Amphitheater in Tera mo in unmittelbarer Nähe des römischen Theaters. Der Umfang des elliptisch angelegten Baues beträgt etwa 208 m bei einem Durchmesser von ungefähr 74 m. Die Umfassungsmauer besteht aus Ziegelwerk, von dem Reste an einer Seite der Kathedrale und in der Via S. Berardo sichtbar sind. Die kurvige Anlage der modernen Gebäude im Innern paßt sich der Form des Zuschauerraums des antiken Baus an.
In jüngster Zeit hat man sich um die Freilegung des Amphitheaters in Amiternum bemüht, dessen Außenbau aus Ziegel noch vortrefflich erhalten ist. Er ist zweistöckig mit 48 Arkaden unten und der gleichen Anzahl Bögen im oberen Geschoß. Auf Grund der Mauertechnik kann die Entstehung der Anlage am Ende des 1. Jh. n. Chr. angenommen werden, einige Restaurierungen dürften aber der Mitte des folgenden Jahrhunderts zuzuschreiben sein. Das Amphitheater in Peltuinum lag innerhalb der Stadtmauern und kann heute nur noch in einer elliptisch geformten Geländemulde erkannt werden. Das beststudierte Amphitheater ist das von Alba Fucense, das die belgisehen Ausgräber erforscht haben. Wie im etruskischen Sutri nutzt das Theater hier für den Zuschauerraum das ansteigende Terrain aus. Die elliptische Anlage mißt 96 x 76 m, die Arena allein 64 x 37 m. An den äußeren Enden der Ellipse führen zwei großartig angelegte Eingänge in die Arena, der eine im Norden dem Stadtzentrum zugewandt, der gegenüberliegende im Süden verbindet das Amphitheater mit der Stadtmauer. Die Arena wird von einem Kranz von Steinen eingeschlossen, die durch Eisenkrampen miteinander verbunden sind. Dahinter erhebt sich die 2,02 m hohe, aus großen weißen Kalksteinen bestehende Balustrade, die aus Sicherheitsgründen die Zuschauer vom Kampfplatz trennte. über dem Eingang zur Stadtseite war die große Inschrift angebracht, die den Naevius Cordus Sutorius Macro als Erbauer nennt. Er stammte aus Alba Fucense. Von Kaiser Tiberius erhielt er die höchsten Stellen in der römischen Ritterschaft, wurde aber unter Caligula gezwungen, sich und seiner Frau den Tod zu geben.
Das marsische Marruvium hat Reste eines Amphitheaters überliefert, das kaum erforscht ist. In Sulmona ist das Amphitheater von dem oben erwähnten Historiker De Mattheis beschrieben worden. Die Reste sollen sich im Norden der Stadt befunden haben. Zwischen der Via Innocenzo VII und der Via Solino gibt es tatsächlich einen elliptisch angelegten Platz, der die Formen eines Amphitheaters wiederholen könnte. In Vasto ist die Piazza Gabriele Rossetti auf einer Seite gekurvt, was ein Hinweis auf ein Amphitheater ist. Unter den modernen Häusern an dieser Stelle sind gewisse entsprechende Strukturen festgestellt worden. In Larino existieren Reste eines Amphitheaters mit einem Durchmesser von 95 m und vier Eingängen in Ziegeltechnik und in »opus reticulatum«, datierbar in das Ende des 1. oder den Anfang des 2. Jahrhunderts. In der Nähe des Bahnhofs in Venafro sind Stützmauern des Amphitheaters erhalten. Die Anlage wurde im 17. Jh. mit pittoresken Bauten überdeckt, deren Anordnung die vorgegebene elliptische Form beibehält.
Thermen und Zisternen
Die Römer übernahmen das Wort »thermae« aus dem Griechischen und leiteten auch gewisse Baumerkmale für diese Anlagen aus dem Osten ab. Die Zahl der öffentlichen Bäder ist aber in der römischen Welt sehr viel größer als in Griechenland, ebenso ist die Ausstattung hier auffallend reicher. Früher als in Rom betrieb man den Bäderbau in Pompeji. Die älteste Thermenanlage in Rom entstand auf dem Marsfeld und wurde von Agrippa 25 v. Chr. erbaut. Die meisten Anlagen waren jedoch das Werk römischer Kaiser. Allein in Rom hat man mehr als 800 Bäder ausfindig gemacht. Die Pracht der stadtrömischen Thermen wird in den Provinzen, und somit auch in den Abruzzen, nicht nachgeahmt, und die Bauten dort sind viel einfacher gestaltet worden. Hier und im Molise unterscheiden sich die recht rudimentär überlieferten Bäder kaum, ähnlich wie im Theaterbau, von dem allgemeinen römischen Muster. Aber es ist nicht ganz leicht, sich aus dem Gewirr von übriggebliebenen Grundmauern und Fußböden ein Bild von der Anlage im Ganzen und der Funktion einzelner Bauelemente zu machen. Hinzu kommt, daß die Thermen in unserer Landschaft auch noch nicht eingehend studiert worden sind.
Für alle römischen Bäder gibt es eine Raumabfolge, die mehr oder minder verbindlich ist. Zu Thermen gehören das Hypocaustum, das Heizzimmer, im Kellergeschoß zur Erwärmung der Baderäume und des Badewassers. Die Warmluft wurde unter den Fußböden durch Kanäle aus Ziegelsteinen geleitet. In diesen sind in kurzen Abständen kleine Säulen eingefügt, die einen Durchmesser von 10 bis 20 cm und eine Höhe von ungefähr 80 cm haben. Ihre Funktion war, die vorbeistreichende Warmluft zu binden und nach oben an den Fußboden, der meist aus Marmor bestand, abzugeben. Die Ziegelkanäle konnten auch vertikal zur Erwärmung der Wände der Baderäume emporsteigen. Weitere Bestandteile der Thermen sind das Apodyterium, der Aus-und Ankleideraum, das Frigidarium, ein Raum mit einem Bassin zum Kaltbaden, das Tepidarium mit lauwarmem Wasser, das mit dem Caldarium in Verbindung stand, in dem heiß gebadet wurde.
Zisternen sind Sammelbecken für Wasser und konnten ganze Städte mit Wasser versorgen. Sie stehen oft in Verbindung mit Thermenanlagen, die sie zu beliefern hatten.
Die wichtigsten Thermen-und Zisternen anlagen sind in Atri und Chieti erhalten. In Atri kennen wir das alte unterirdische Kanalsystem an der Porta Cappuccina im östlichen Teil des Stadtgebietes. Der Querschnitt der Kanäle hat die Form einer Ellipse, sie sind mehr als 2 m hoch und 0,90 m breit. Eine Hauptleitung verläuft unter der Stadt von Westen nach Osten, im Innern ist sie mit einer starken wasserundurchlässigen Schutzschicht versehen. Von ihr zweigten Nebenleitungen nach Norden und Süden ab. Der große Kanal wurde im 2. oder 3. Jh. n. Chr. restauriert, an einigen Stellen (S. 57) mußte er mit Pfeilern und Ziegelstein verstärkt und ausgebessert werden. Mit diesem Kanalsystem standen zwei große Zisternen in Verbindung, welche die Stadt und die Thermen mit Wasser zu versorgen hatten. Die heutige Kathedrale steht über der älteren Zisterne, die in christlicher Zeit als Krypta diente. Die Umfassungsmauern der Zisterne, die 25 x 24 m mißt, bilden große rechteckige Steinblöcke mit Flickstellen aus Ziegelstein. Wie das Kanalsystem war die Zisterne völlig mit einer wasserundurchlässigen Verputzschicht überzogen, was noch an einigen Stellen zu sehen ist. Zwanzig Pfeiler aus Ziegelstein tragen das Gewölbe und teilen den Raum in fünf Schiffe ein. Die Stützen sind verschieden stark, die schlankeren sind die ursprünglichen, die kräftigeren stammen aus christlicher Zeit und wurden als Verstärkung eingezogen, als man über der Zisterne die fünfschiffige Kathedrale errichtete. Einige Verstärkungen wurden erst anläßlich der letzten Restaurierungen 1954-1964 angebracht. Der Wasserspeicher erhielt sein Wasser aus zwei Einläufen, der eine war an der Südwestecke in Höhe von 3,42 m, der andere lag 3,80 m hoch in der Mitte der Westseite, gegenüber dem heutigen Krypteneingang. Dieser Zulauf wird schon in vorrömische Zeit, in das 5. Jh. v. Chr., datiert. Der Abfluß der Zisterne ist im Osten erkannt worden und verläuft unter dem heutigen Brunnen des Kreuzgangs; er hat einen quadratischen Querschnitt und ist mehr als ein Meter hoch. Die Zisterne hat verschiedene Bauzeiten. Die ältesten Teile sind die beiden Einläufe und die riesigen Steinblöcke der Umfassungsmauer. Alle Partien aus Ziegelwerk stammen aus späterer Zeit, dem 2. oder 3. Jh. n. Chr. Einer ähnlichen Speicheranlage begegnen wir in der Stadt Fermo in den Marken unter dem Konvent der Dominikaner. über der Zisterne in Atri hat man bei den letzten Restaurierungen der Kathedrale qualitätvolle Mosaiken gefunden, die einer Thermenanlage aus dem 3. Jh. n. Chr. zuzurechnen sind. Es ist jedoch schwer vorstellbar, daß diese ihr Wasser von dem darunterliegenden Reservoir erhielt. Vielmehr wurde sie von einer anderen Zisterne beliefett, einer großräumigen Anlage, die unter dem heutigen Rathaus, dem ehemaligen Palast der Acquaviva, liegt, am höchsten Punkt der Stadt. Diese Zisterne wurde im Verlauf der Zeit zu Kellerräumen umgestaltet, so daß das ursprüngliche Aussehen kaum noch auszumachen ist. Jedoch erkennt man noch die Auf teilung des Raumes in Schiffe, deren Wände, ähnlich wie in Chieti, nach innen konvexe Ausbuchtungen haben, um dem Wasserdruck entgegenzuwirken. Wie in der ersten Zisterne treffen wir auch hier die wasserundurchlässige Betonschicht an. Dagegen ist die Anlage unter dem Palast der Acquaviva einheitlich aus Ziegel gebaut und daher später zu datieren als die älteren Teile der Zisterne unter der Kathedrale.
Reste zweier römischer Zisternen sind in Civitaquana bekanntgeworden. Sie waren mit Tonnengewölben ausgestattet. In Amiternum sind nur kümmerliche Reste einer Thermenanlage erhalten; besser sind die in Alba Fucense erkennbar. Dort befinden sie sich über den älteren Fundamenten zwischen der Via del Miliario und der Via dei Pilastri. Wir beobachten hier den römischen Kanon im Ablauf der Räume: Frigidarium, Tepidarium und Caldarium. Das hochgelegene Alba hat im Winter kaltes Klima, und dementsprechend war das Dampfheizungssystem unter den Fußböden ausgebaut. Die Bautätigkeit in den Thermen zog sich von der 1. Hälfte des 1. Jh.v.Chr. bis in das 2. Jh.n.Chr. hin. Eine Inschrift im Bodenmosaik an der Schwelle des Eingangs von der Via dei Pilastri spricht von einer Restaurierung der Anlage auf Kosten der Vibia Galla, die in die kaiserliche Familie des C. Vibius Trebonius Gallus aus dem 3. Jh. gehört.
Im marsischen Marruvium sind nur wenige Thermenruinen überliefert. Mehr ist in Chieti von Zisternen und Thermen erhalten. Im Osten der Stadt gelangt man auf der Landstraße, die über Bucchianico nach Guardiagrele führt, dort, wo die dichten Wohnsiedlungen enden, zu der sehr gut erhaltenen Zisterne und zu den etwas tiefer gelegenen Thermen aus kaiserlicher Zeit. Das Wasserreservoir stößt mit einer Breitseite an ansteigendes Gelände. Es mißt 60,13 x 14,45 m und ist durch acht Reihen von je drei Säulen in neun Schiffe unterteilt, von denen jedes ein eigenes Tonnengewölbe besitzt. Zur Bergseite hin sind die Außenwände der einzelnen Schiffe konvex ausgeformt, um dem Druck der Erdmassen standzuhalten. Wohingegen zur T alseite hin die Innenwände konvex ausgeformt sind, um hier dem Druck des Wassers Widerstand zu bieten. In der aus Ziegelsteinen gebildeten Außen fassade entstehen auf diese Weise zum Berg hin neun Apsiden und an der gegenüberliegenden Seite neun Nischen. Die seitlichen Abschlußwände des Wasser behälters werden durch je drei Mauervorsprünge verstärkt. Die Zisterne sammelte Regen-und Quellwasser. Sie lieferte Trinkwasser und bediente die anschließenden Thermen, die noch nicht vollständig ausgegraben sind. Deren Anlage war terrassenförmig. Man hat Mosaikbilder entdeckt, ferner unterirdische Kanäle sowie das Heizungs-und Lüftungssystem.
In Cluviae (Piano Laroma bei Casoli) hat man hinter dem Theater ein Gebäude entdeckt, das Teil einer Thermenanlage gewesen sein soll. Ebenso kümmerlich sind die Reste einer viereckigen Zisterne in Juvanum aus »OPUs incertum« (3,50 x 3,40 m, 3 m tief) mit starker Verputzschicht. Auf dem Grund ist ein Ablaufkanal angelegt. Größere Thermenkomplexe aus dem 1. Jh. n. Chr. sind in Sepino in der Nähe des Stadttores von Boiano sichtbar. Gut zu beobachten ist hier das Heizsystem für die warme Luft, die in einem Heizofen, der an die Thermen anschließt, erwärmt wurde. Wir begegnen hier wieder vertikalen Heizkanälen sowie Mosaikdekorationen. Aus Inschriften sind uns Thermen in Amiternum, Furfo und Peltuinum überliefert.
Grabmonumente
Die Zahl der Grabmonumente dieser Zeit in den Abruzzen und im Molise ist unüberschaubar, doch haben sie nur beschränkt künstlerische Bedeutung. Der Einfluß der römischen Kultur wird hier besonders offenkundig, und die (S. 58) Werke zeigen deutlich, daß die genuine Formensprache der italischen Völkerschaften erschöpft war. Dagegen ist die historische Bedeutung der Grabmonumente nicht gering zu veranschlagen. Wir erhalten Auskunft über die Siedlungen und ihre Verwaltungen, und die zahlreichen Inschriften gewähren Einblick in die Sittengeschichte und die Entwicklung der lateinischen Sprache.
Grabbauten und Mausoleen, deren Errichtung anfänglich mehr eine Angelegenheit der Herrscherhäuser gewesen zu sein scheint, werden nun für hohe Magistratsbeamte und Wohltäter der Städte hergestellt. Derartige Anlagen wurden außerhalb des Stadtkerns aufgeführt, vornehmlich in der Nähe verkehrsreicher Straßen. Mindestens sechs solcher Bauten liegen in Alba Fucense östlich der Stadt an der Via Valeria, in Corfinio liegen sie wieder an der Valeria, westlich des antiken Stadtgebiets auf dem Wege nach Raiano, in Isernia liegen sie vor der Stadt an der wichtigen Straße nach Venafro. Es ist interessant zu verfolgen, wie die römische Kunst entlang den römischen Landstraßen in unser Gebiet eindringt; es ist der gleiche Prozeß, den wir einige Jahrhunderte später wieder bei der Ausbreitung des Frühchristentums von Rom aus belegen können. Mausoleen befanden sich außerhalb der Stadttore von Amiternum und Chieti, andere sind noch heute unweit der Stadteinfahrten nach Sepino zu sehen.
In S. Benedetto dei Marsi sind Reste von zwei großen Mausoleen erhalten, die wie in Corfinio als »Morroni« bezeichnet werden. Eines dieser Gebäude zeigt auf einem rechteckigen Sockel einen Aufsatz in zylindrischer Form. In Corfinio ahmte man, natürlich in sehr verkleinertem Maßstab, das Augustusmausoleum in Rom nach. Der Typ ist ein runder Steinbau, der einen kegelförmigen Erdhügel trug. In Corfinio existierte außer den erwähnten Grabbauten an der Via Valeria noch ein anderes Mausoleum hinter dem Kirchlein der Madonna delle Grazie. Es wurde im 11. Jh. abgetragen, und das Material wurde zum Bau der Kathedrale von Valva benutzt. Rundblöcke dieses Mausoleums verwandte man auch zum Bau der danebenliegenden Kirche S. Alessandro, deren Apsis denselben Durchmesser hat wie das Mausoleum. In ihrem Mauerwerk finden sich Fragmente der Mausoleumsinschrift und ein Stein mit vegetabilen Ornamenten.
In Sepino hat man verschiedene Grabhäuser festgestellt und zwei davon, die aus dem 1. Jh. n. Chr. stammen, wieder aufgebaut. Das eine, das Grabmal des C. Ennius Marsus (Tf. 9), liegt außerhalb des Stadttores von Benevent. Auf einem quadratischen Sockel erhebt sich ein Rundbau, der aus vier Lagen mächtiger Kalksteinblöcke errichtet ist, und dessen oberen Abschluß ein Zinnenkranz bildet. Die vier Ecken der Basis zieren Löwen, die als Grabwächter fungieren. Eine zur Straße hin angebrachte Inschrifttafel nennt den C. Ennius Marsus als zur Klasse der Ritter (equites) gehörig und rühmt seine militärische Karriere sowie seine Bedeutung in der Stadtverwaltung von Sepino. Auf diese Verdienste beziehen sich die im Relief dargestellten Liktorenbündel, das zusammenklappbare Feldstühlchen, auf dem die Beamten residierten (sella curulis), und das zylindrische Behältnis für die Aufbewahrung der Gesetzesvorschriften. Außerhalb des Tores von Boiano gibt es in Sepino ein zweites Mausoleum in Form eines übergroß gebildeten Altars. Die Inschrift, die uns mit P. Numisius Ligus bekannt macht, sagt aus, Sepino habe dieses Monument dem trefflichen Mann auf öffentlichem Boden auf Kosten der Stadt errichten wollen, der stolze Ligus aber habe dieses Anerbieten abgelehnt und das Denkmal aus eigener Tasche bezahlt. Der Bau besteht aus mächtigen Steinquadern und ist oben an den vier Ecken mit Akroterien verziert.
Die Mausoleen von Amiternum und Chieti sind wegen ihres Reliefschmucks von besonderer Bedeutung, und ihre Rekonstruktionen sind im Museum von Chieti aufgestellt.
Eine zweite Gruppe von Grabmonumenten bilden die Sarkophage. Die Kästen sind in der Regel aus einem einzigen Stein gemeißelt. Derartige Särge waren nicht in der Erde vergraben sondern frei aufgestellt und häufig mit Reliefs verziert. Sie sind in großer Zahl erhalten, weil später vornehme Christen, sei es aus ökonomischen Gründen, sei es um zu zeigen, daß sie das Heidentum überwunden harten, sich mit Vorliebe diese paganen Denkmäler als ewige Ruhestätte wählten.
In den Abruzzen kommen römische Sarkophage im Museum von Sulmona vor, im Garten des kleinen Museums in Corfinio, versteckt und unbeachtet in der Nähe von Barete im Innern der Kirche S. Paolo. Das Museum in Vasto verwahrt einen seltenen Doppelsarkophag aus augusteischer Zeit. Die Inschrift befindet sich im Innenteil des Sarges und sagt, daß in ihm Paquius Sceva und seine Frau Flavia beigesetzt sind. Es folgt die Aufzählung der Ämter, die Paquius in seinem Leben innegehabt hat, u.a. das des Prokonsuls von Zypern, und weiterhin wird sein Stammbaum bis zu seinem Urgroßvater überliefert. Im Nationalmuseum von L'Aquila befinden sich Reste von der Frontseite eines Sarkophags aus Peltuinum, in dem der Weinhändler M. Peticius Primus begraben lag, und Reliefs zeigen die Geräte, die er zu seinem Geschäft benötigte. Andere Särge haben sich über das Christentum in die heutige Zeit gerettet, z.B. in Campovalano. Dort nennt die Frontseite eines großen Sarkophags aus spätrömischer Zeit den Marmorhändler Aurelius Andronicus aus Nikomedien. Christen haben den Striegelsarg überarbeitet und vier biblische Szenen angebracht. Ähnlich erging es dem Striegelsarkophag in S. Clemente a Casauria, der später mit christlichen Darstellungen versehen wurde.
Die unzähligen Grabsteine sind meistens rechteckig in Form einer Altarfront, seltener sind die Säulenformen. Sie ähneln sich alle in ihren Inschriften. Besonderheiten bildenGrabsteine, die Inschriften und Reliefschmuck zeigen, so z.B. im Museum von Avezzano der Grabstein einer Poppedia Secunda. Auf der Vorderseite unten und an den Seiten der Stele sind alle Dinge dargestellt, an denen sie im irdischen Leben Wohlgefallen fand, ein Paar Sandalen, eine Schmuckschatulle, ein Spiegel, Riechfläschchen, Kamm und ein kleiner Schirm. Diese Dame stammte aus dem kleinen Ort Ortona dei Marsi. Mit weiteren Beispielen, die aber im (S. 59) Grunde für unsere Region uncharakteristisch sind, könnte man ein ganzes Buch füllen.
Skulptur
Die Zahl der Skulpturen, die in den Abruzzen und im Molise nach den Sozialkriegen entstanden sind, ist unerschöpflich. Alle Techniken sind vertreten, wir finden Arbeiten in Marmor, Kalkstein, Ton und Bronze. Man sollte diese Werke nicht unbeachtet lassen und glauben, man könnte ähnliche in Rom oder im übrigen Italien bequemer sehen. Manche Objekte gehören zu den hervorragendsten Leistungen hellenistisch oder römisch beeinflußter Kunst. Die Blütezeit der Kunsttätigkeit in unseren Landschaften sind das 1. Jh. v. Chr. und das 1. Jh. n. Chr. Stilistisch gesehen kann man drei Gruppen unterscheiden. Zunächst eine hellenisierende mit vorwiegend mythologischen Darstellungen, dann eine zweite Gruppe, die unter stadtrömischem Einfluß entstand, wobei in vielen Fällen die Fundorte, die Herkunft, der Stein oder die Stifter die Entstehung in den Abruzzen sichern. Zu letzterer gehören zahlreiche ganzfigurige Darstellungen weltlicher Persönlichkeiten. Unter diesen nehmen die Bildnisse von Kaisern und Mitgliedern der kaiserlichen Familie wiederum einen besonders breiten Raum ein. Als eine dritte Gruppe betrachte ich einige Reliefs mit weltlichen Szenen, die von den klassischen Schönheitsidealen abweichen und schon im 1. Jh. n. Chr. Ansätze zur Provinzialkunst zeigen. Beispielsweise wird in einzelnen Fällen die Einheit des Bildraumes nicht mehr respektiert, der Ablauf einer Erzählung wird nicht mehr folgerichtig dargestellt, die Figuren werden schematischer und ihre Gewänder schablonenhafter. Aus derartigen Erscheinungen ist sicherlich kein abruzzesischer Stil abzuleiten, aber es wäre doch zu fragen, und die Archäologen schulden uns da manche Antworten, ob die Provinzialkunst sich in allen italienischen Landschaften gleicht, oder ob es chronologische Prioritäten und besondere Stilmerkmale gibt.
Die Fundorte in unserer Region sind vor allem wieder die von den Römern eingerichteten Munizipien, wie das vornehme Alba Fucense, das provinzielle Sepino, das Gebiet um Amiternum, Castelvecchio Subequo, Chieti und im MoHse Isernia und Venafro. Die besten Werke befinden sich in den Museen von Chieti und L'Aquila.
Die mythologischen Themen sind vornehmlich der griechischen Götterwelt entnommen. Szenen folgen sind unbekannt, wir haben es nur mit Darstellungen einzelner Figuren zu tun. Unter diesen dominiert der in den Abruzzen verehrte Herkules. Davon zeugen die unzähligen Votivstatuetten dieses Gottes, dessen Gestalt hier jedoch auch im größeren Format zu finden ist. Die Herkulesstatue aus Alba Fucense (Tf. 18) ist ein Prunkstück des Museums in Chieti, eine sitzende nackte Kolossalfigur von 2,70 m Höhe. Das Haupt des Gottes ist bekränzt, in der linken Hand hält er eine Opferschale, mit der rechten faßte er die Keule, die nicht mehr vorhanden ist. Diese Plastik hat ihr Vorbild in Griechenland in einer Figur des 4. Jh. aus der Werkstatt des Lysipp. Unsere Replik ist eine der kolossalsten Wiederholungen und wurde wahrscheinlich in Griechenland gearbeitet. Dafür sprechen der griechische Marmor und die Signatur des griechischen Künstlers auf der linken Schulter. Die unbearbeitete Rückseite der Statue läßt auf ihre ursprüngliche Aufstellung in einer Nische schließen. Der Herkules aus Alba Fucense ist aus verschiedenen Stücken zusammengesetzt. Es ist schwer zu beantworten, ob es sich hier um eine absichtlich vorgenommene Zerstückelung handelt, um den Transport von Griechenland zu erleichtern, oder ob es Bruchstellen aus späterer Zeit sind. Merkwürdig bleibt die Tatsache, daß auch bei der neuerlichen gründlichen Grabung fehlende Teile, wie die Keule, ein Stück des linken Fußes und das Podium nicht gefunden wurden.
Griechischen Einflüssen begegnen wir in den jüngst bekanntgewordenen Plastiken aus dem Herkulesheiligtum bei Sulmona, die im Museum von Chieti aufgestellt sind. Von hervorragender Qualität ist die Bronzefigur des stehenden Herkules (Tf. 17), die den Helden nach Erbeutung der Hesperidenäpfel zeigt, wie er sich erschöpft und meditierend auf seine vom Löwenfell umhüllte Keule stützt. Die 36 cm hohe Figur steht auf einer 3 cm hohen Säulenbasis, auf deren Vorderseite eine Inschrift mit eingelegten silbernen Lettern aussagt, daß es sich bei unserem Herkules um eine Votivgabe des M. Attius Peticius Marsus handelt. Der Prototyp der Bronze ist wieder eine Figur des Lysipp, deren bekannteste Replik der sogenannte Farnesische Herkules im Museum in Neapel ist, welcher vom athenischen Kopisten Glykon im 2. Jh. n. Chr. verfertigt wurde. Die muskelprotzende Kraft dieser Gestalt unterscheidet sich sehr von den weicheren und fließenden Körperformen des Herkules aus dem Heiligtum am Morrone, der um vieles älter ist und wohl im 1. Jh. v. Chr. zu Beginn der Kaiserzeit, vielleicht in einer Werkstatt in Tarent, gearbeitet wurde. Im selben Heiligtum am Morrone wurde eine kleine ruhende Herkulesfigur aus Marmor gefunden, 20 cm hoch und 21 cm breit. Sie entstand wahrscheinlich im 2. Jh. n.Chr. nach einem griechischen Vorbild des 4. Jh. v. Chr. Zu dieser Plastik gehört wohl der 1,29 m hohe Pilaster, auf dem sich der Freigelassene L. Albius Eros als Stifter nennt und sich zugleich als Bildhauer in Marmor und Bronze vorstellt.
Aufallend im Vergleich zu den fein gearbeiteten griechischen bzw. griechisch beeinflußten Herkulesstatuen ist der Qualitätsabfall in den römisch beeinflußten Werken gleichen Themas. Aus dem Theater in Amiternum stammt die große ausdruckslose Herkulesherme, die 2,64 m hoch und 90 cm breit ist und sich heute im Museum von L'Aquila befindet. Der Oberkörper ähnelt dem eines römischen Togaträgers, der mit seiner rechten Hand den Faltenwurf über der Brust zusammenhält, und nur aus seinem Attribut, dem Löwenfell, kann man auf die Darstellung eines Herkules schließen. Er dürfte im 1. Jh. n. Chr. entstanden sein.
Zwei Venusstatuen sind Repliken hellenistischer Vorbilder, die eine, höchst anmutig geformt, stammt aus Alba Fucense, die andere, in der 1. Hälfte des 2. Jh. n. Chr. entstandene kommt aus Venafro. Beide Figuren sind im Mu (S. 60) seum von Chieti zu sehen, die letztere soll nach Venafro zurückgeführt werden, sobald das dortige Heimatmuseum wieder eröffnet wird. Ein griechisches Vorbild aus dem Umkreis des Myron liegt dem Hermeskopf im Museum von Sulmona zugrunde. Darstellungen der Medusa sind im Gebiet von Amiternum beliebt gewesen. Ein prachtvoller Gorgonenkopf ist im Turm der Pfarrkirche von Coppito eingemauert, ein anderes Medusenhaupt aus dem 1. Jh. n. Chr. aus Preturo bei Amiternum verwahrt das Museum in L'Aquila. Eine selten dargestellte mythologische Gestalt befindet sich im Museum von Isernia. Es handelt sich um Ixion (Tf. 19), König der Lapithen in Thessalien, der wegen seiner Freveltaten von den Dichtern als der erste Mörder bezeichnet wird. Zeus bestrafte ihn, weil er in Liebe zu Hera entbrannte. Er ließ ihn an ein glühendes Rad fesseln, das rastlos in ewigem Wirbel um die Erde kreist. Diese Szene ist in einem Relief in Isernia wiedergegeben.
Zahlreicher als die mythologischen Gestalten sind die Darstellungen weltlicher Persönlichkeiten und bestimmter Typen. So begegnet man häufiger dem vornehmen römischen Bürger oder Magistratsbeamten oder aber der Frau aus höheren Kreisen, alle eingehüllt in stereotype Obergewänder. Oft ist diesen Skulpturen im Lauf der Zeit der Kopf abgeschlagen worden, die historischen Namen sind vergessen, und der Volksmund war rasch dabei, ihnen neue zu geben. So gilt z.B. die kopflose Togastatue in Teramo am Haus Nr.5 am Largo del Proconsole als »11 Ser Paolo«. Andere Plastiken dieser Art stehen an hervorstechenden Stellen christlicher Monumente, um dem Besucher klar zu machen, daß der Ort von der Antike geweiht ist. So flankieren das Tor der berühmten Abtei S. Clemente a Casauria zwei römische Togafiguren, deren Köpfe verloren sind. Ähnlich verstümmelte Gestalten stehen am Aufgang zur Biblioteca Civica in Castel di Sangro einander gegenüber, weniger gewichtig stehen sie am Aufseherhäuschen des Eingangs in die archäologische Zone in Pietrabbondante, fast vergessen sind sie in kleineren Museen wie in Castelvecchio Subequo oder in Venafro. Im verkehrsreichen Durchgangsbogen des Glockenturmes neben der Kathedrale von Isernia sind allein vier Figuren, zwei männliche und zwei weibliche, dem Lärm und den Abgasen der Autos ausgesetzt.
Gehen wir von der Quantität auf die Qualität über, so ist das Beste der römischen Porträtkunst in den Abruzzen im Museum von Chieti zu sehen. Hauptfundorte sind Foruli und Alba Fucense. In der späten republikanischen Zeit war es in Rom beliebt, jugendliche Wettkampfsieger nach griechischen Vorbildern des 5. Jh. darzustellen. Die Modelle suchte man sich bei Polyklet und seinem Umkreis. Im Museum von Chieti findet man einige Beispiele dieser Art. Aus Alba Fucense stammt der Torso einer jugendlichen Figur, zwei andere Statuen kommen aus Foruli. Die eine von ihnen soll das Standbild des Sallust sein, der in Amiternum geboren ist, durch Caesar gefördert wurde und als Historiker zur Berühmtheit gelangte. Der Dargestellte ist fast nackt, nur ein Gewandteil, das er mit seinem linken Unterarm gerafft hält, ist um seinen Hals geschlungen und bedeckt teilweise seinen Rücken. Die zweite Standfigur aus Foruli ist nicht einheitlich. Dem Torso, der ein polykletisches Vorbild wiederholt, ist ein sehr fein gearbeiteter Kopf aus der Zeit des Kaisers Augustus aufgesetzt, so daß weder die Formensprache noch die Proportionen von Kopf und Körper übereinstimmen.
Die bei den Ausgrabungen in Foruli zutage gekommenen Porträtköpfe gehören zu den reifsten Erzeugnissen, die wir überhaupt aus republikanischer Zeit in Italien kennen, so z.B. der Kopf eines Alten aus dem 1. Jh. v.Chr. Er ist äußerst realistisch gebildet mit dem Ausdruck reicher Lebenserfahrung in den strengen, eingekerbten Zügen, mit nachdenklichem und etwas finsterem Blick unter zusam mengezogenen Augenbrauen, haarlos und mit einem verkniffenen dünnen Mund. Gleichzeitig zu datieren ist der Kopf aus Alba Fucense, den man als das Porträt des Diktators Sulla identifiziert hat. Vielleicht gehörte er zu der Statue, die die Einwohner von Alba Fucense dem Sulla errichteten; deren Inschrift ist überliefert und befindet sich heute im Museum von Avezzano.
Eine ikonographische Seltenheit stellen die Skulpturen an den Stadttoren von Sepino dar. Dort stehen an der Außenseite der Porta Boiano auf hohen Pilastern zwei gefangene Barbaren aus dem Anfang des 1. Jh. n. Chr. mit verschränkten Beinen und auf dem Rücken gefesselten Händen. Sie gehören zu den frühesten Figuren dieses Typs. Der Schlußstein des Bogens zeigt den Kopf eines Jupiters oder Herkules. Der lokale Stein läßt schließen, daß die Arbeiten an Ort und Stelle gefertigt sind. Ähnlich muß die Gestaltung des entgegengesetzten Tores von Benevent gewesen sein. Dort sind auf hohen Sockeln wieder Ansätze von Figuren mit gekreuzten Beinen erkennbar. Anstelle einer Gottheit erscheint aber hier im Schlußstein des Bogens eine behelmte Reliefbüste, die nach der Form des Helmes zu urteilen, vielleicht einen Samniter darstellt.
Die überschwemmung der Abruzzen mit römischem Kulturgut und die bedingungslose Bereitschaft der Bewohner zur Aufnahme läßt es nicht verwunderlich erscheinen, daß der Kult der Kaiser und der kaiserlichen Familie hier stark verbreitet ist und sicherlich nicht hinter anderen römischen Provinzen zurücksteht. Das bezeugen nicht nur die vielen den Kaisern gewidmeten Inschriften sondern auch die Porträtplastiken. Davon nur einige Beispiele. Aus der Sammlung Giovanni Pansa kam das Bildnis der Octavia, der Schwester des Augustus, in das Museum von Chieti. Die Köpfe des Kaisers Tiberius und seines Sohnes Drusus wurden 1966 aus dem Museum in Castelvecchio Subequo gestohlen. Chieti verwahrt den Bronzekopf der Agrippina, der Mutter des Kaisers Caligula. Die Ähnlichkeit mit der berühmten Sitzstatue der Agrippina im Kapitolinischen Museum in Rom ist verblüffend. Der Kopf des Kaisers Claudius befindet sich in Privatbesitz in Corfinio und wurde wahrscheinlich in der Nähe des dortigen Theaters gefunden. Kaiserbilder sind beliebtes Diebesgut. Ähnlich wie in Castelvecchio Subequo verschwanden aus dem Museum in Teramo der Kopf des Kaisers Hadrian, das Bildnis der Faustina, Tochter des Antoninus Pius und Gemahlin des Kaisers Mar (S. 61) cus Aurelius, sowie die Büste des Kaisers Septimius Severus. Dagegen ist das Bildnis seiner zweiten Gemahlin Giulia Domna (Tf. 15) in Chieti erhalten. Sie ist die Mutter des Kaisers Caracalla und stammte aus Emesa in Asien; von dort brachte sie eine neue Form der Perücke mit, die in Rom, wie die zeitgenössischen weiblichen Bildnisse zeigen, modisch wurde. Aus der späteren Kaiserzeit stammt das in Alba Fucense gefundene Porträt des Konstantius Chlorus (Tf. 16), Vater des Kaisers Konstantin. Diese Identifizierung stützt sich auf gleichzeitige Münzen und auf seine Darstellung am Konstantinsbogen in Rom. Eine andere Deutung sagt, es handle sich bei diesem Porträt aus Alba Fucense um Maximinus Daia, dem Schwestersohn des Kaisers Galerius. Wie dem auch sei, wir sehen hier eines der markantesten Porträts aus der späteren Kaiserzeit. Andere Kaiserköpfe aus Venafro gelangten in das Museum von Neapel.
Ein besonderes Interesse verdienen die szenischen Reliefs, die hauptsächlich aus dem 1. Jh. n. Ch. stammen. Wahrscheinlich wurden sie in den Abruzzen gearbeitet; sie weichen von klassischen Tendenzen, die wir in der Porträtplastik beobachten konnten, ab. Neue Stilmerkmale kündigen sich schon in der 1. Hälfte des Jahrhunderts an. Wohl von einem Mausoleum in S. Vittorino bei Amiternum stammen verschiedene Reliefplatten, die aus lokalem Kalkstein gefertigt sind und sich heute im Museum von Chieti befinden. Sie zeigen Gladiatorenszenen, und zwei Platten fügen sich zu einer Prozession (Tf. 24) zusammen. Eine Victoria auf zweirädrigem Wagen eilt dem Zug voraus, ihr folgt eine Gruppe von vier Figuren, dann kommt die Hauptfigur in einer Biga, und den Abschluß der Szene auf der linken Seite bildet ein Zug von Menschen, die zwei Götterbilder, wahrscheinlich Juno und Jupiter, tragen. Ohne genaueres Eingehen auf Einzelformen ist die Darstellung schnell und flüchtig aus dem Stein gehauen. Die Reliefbehandlung zeigt keine räumliche Tiefe. Die Figuren sind, besonders in der linken Hälfte, dicht gedrängt und erscheinen schablonenhaft und ohne Körpervolumen. Dieser Eindruck wird dadurch gesteigert, daß alle, ob im Vorder-oder Hintergrund stehend, dieselbe Standfläche haben.
Ebenso wichtig sind die Szenenreliefs vom Mausoleum des Lusius Storax (Tf. 23) in Chieti, die heute im dortigen Museum sind. Sie waren im Giebelfeld und in der Metopenzone des Grabbaues angebracht. Im Tympanon ist Lusius Storax dargestellt, umgeben von Autoritäten, wohl vom Magistrat oder von vornehmen Bürgern der Stadt. Zu seiten dieser Gruppe tummeln sich Zuschauer und Musikanten mit Tuben und Trompeten, die zur Eröffnung des Gladiatorenkampfes aufspielen, der in dem unteren Metopenfries zu sehen ist. Nicht so stark wie am vorigen Beispiel von Amiternum bemerken wir auch in dem Storaxrelief, das um die Mitte des 1. Jh. n. Chr. entstand, den sich anbahnenden provinziellen Stil in der räumlich nicht gegliederten Anhäufung von Personen im oberen Gruppenbild. Die zierlich gestalteten Gladiatoren darunter agieren in derber Realistik wie Figuren in einem Puppentheater, der Weg zum Hampelmann ist gar nicht so weit. Der verarbeitete Kalkstein stammt aus dem unweit von Chieti gelegenen Ort Manoppello, und sicherlich sind die frisch erzählten Szenen das Werk eines heimischen Künstlers.
Am eindrucksvollsten in bezug auf neue Formfindungen scheint mir der Trauerzug aus dem 1. Jh. n. Chr. im Museum von L'Aquila zu sein. Das Relief stammt aus dem vielgenannten Preturo bei Amiternum (Tf. 21), ist 70 cm hoch und 162 cm lang. Die Hauptfigur, der lorbeerbekränzte Tote, der nach Art der Etrusker auf einem Prunkbett aufgebahrt ist, das von einem rechteckigen dekorativen Feld gerahmt wird, ist aus der Bildmitte nach links verschoben. Die Bahre ruht auf zwei Balken und wird von acht Trägern getragen. Dem Künstler war die perspektivische Darstellung dieses Sachverhaltes nicht möglich, und so klappte er die Szene kurzerhand in die Fläche und machte aus dem räumlichen Hintereinander ein übereinander. Die vier in der Bildtiefe gehenden Träger mit der hinteren Stange werden einfach kleiner, bzw. niedriger gezeigt als die vier Träger in der vorderen Bildebene. Außer der verkehrten Perspektive verfolgen wir die Inkonsequenz in der räumlichen Disposition allenthalben. Alle auf dem Relief versammelten Personen sind doch in einem Raum auf einer Ebene vorzustellen. Damit aber wäre die Darstellung bei der Fülle der Menschen zu breit geraten. So half sich der Bildhauer, indem er die Akteure in kleinen Gruppen auf der Bildfläche verteilte und jeder ihre eigene Standfläche zuerteilte; auf diese Weise kommt es zu ganz eigentümlichen Höhenstaffelungen. Auf der rechten Seite stehen die Musikanten übereinander, in einer eigenen Ebene wiederum bewegen sich die Klageweiber. Das Trauergefolge auf der linken Seite befindet sich auf vier verschiedenen Standflächen. Wie in den vorigen Reliefs sind die Figuren in der Gewandung oder den Gesichtsformen kaum unterschieden. Wir beobachten wieder die Gleichförmigkeit der Bewegungen und erkennen schon Elemente, die später in der mittelalterlichen Kunst auftauchen, vor allem die verschiedenen Standhöhen, die z.B. in der byzantinischen Buchmalerei weiterleben.
Kampfdarstellungen waren in Reliefs sehr beliebt. Ein schönes Beispiel um 100 n. Chr. stammt wieder aus Preturo und wird im Museum von L'Aquila gezeigt. Kulturhistorisch sind die Requisiten interessant, die Kleidung der beiden Kämpfenden, die Lederschilde und Lanzen, welche Diener, die weitere Waffen, die den Bildrand überschneiden, bereithalten. Auf einem Tympanonstein aus Pitinum bei Coppito aus dem 1. Jh. n. Chr. sehen wir nur die Ausrüstung eines Kriegers, aber nicht die Figur selbst. Die Mitte des Reliefs, das im Museum von L'Aquila ist, bildet ein Rundschild, dahinter sind zwei sich überschneidende Lanzen zu sehen, zwischen deren Spitzen der Lorbeerkranz prangt. Die rechte Bildhälfte schmückt ein säuberlich dargestellter Panzer, die linke Hälfte zieren Fußschienen mit Schnüren und der Griff eines Schwertes. Andere Kampfszenen befinden sich im Museum von Isernia. Unter ihnen hat eine die Schlacht zwischen Alexander und Darius bei Issos zum Thema, ähnlich dem berühmten Alexandermosaik im Museum von Neapel.
(S. 62)Szenen des täglichen Lebens bilden den Inhalt zahlreicher Reliefs. Wir finden sie oft auf Grabsteinen, wo sie den Beruf des Verstorbenen anzeigen. So erhalten wir im Museum in Chieti Einblick in eine Goldschmiedewerkstatt aus dem Ende des 1. Jh. n. Chr. Beliebt sind bukolische Szenen. Auf einem Relief des 1. Jh. n.Chr. folgt ein Satyr einem Esel, auf dem ein Erote reitet, ein Hund, der nicht skulptiert, sondern in den Stein graviert ist, springt das Tier an. Interessant ist die Hintergrundsarchitektur, die vielleicht ein Monument von Alba Fucense abbildet. Wir werden an die etwa gleichzeitigen Tonreliefs im Museo Torlonia (Tf. 22) in Rom erinnert, die die Villen am Fuciner See darstellen. Zu den schönsten Beispielen von Szenen aus dem Landleben gehört im Museum von Sulmona der auf seinen Krummstab gestützte Schafhirte sowie ein Relief aus dem 1. Jh. n. Chr., das das Einbringen der Ernte auf einem zweirädrigen Karren zeigt (Tf. 20).
Zu einer letzten Gruppe seien die ornamentalen Skulpturen und Reliefs zusammengefaßt. Zunächst ein Unikum. Bei den neuerlichen Ausgrabungen am Herkulesheiligtum bei Sulmona wurde auf der oberen Terrasse ein Bronzealtar gefunden; er ist das einzige Exemplar in diesem Material, das wir überhaupt kennen. Er hat eine Höhe von 89 cm und seine Basis mißt 50 x 48,4 cm. Der Altar hat einen steinernen Kern, und seine vier Seiten sind mit Kupferplatten belegt. Auf der Vorderseite nennt sich in klassischen Majuskeln der Stifter C. Septimius Popilianus, der ein militärisches Amt im kaiserlichen Dienst bekleidete. An den Seiten des Altars sind Opferschalen dargestellt. An den Ecken der oberen Abschlußplatte waren Akroterien in Palmettenform, von denen nur noch eines erhalten ist. Darunter verläuft ein Fries mit Bukranien, Füllhörnern und Opfergeräten.
Wir wissen von der Antikenrezeption im abruzzesischen Mittelalter. Aus Unkenntnis des archäologischen Bestandes in dieser Landschaft versuchte man, die Vorbilder von weit herzuholen. Heute sehen wir antike Objekte, banal gesprochen, vor jeder abruzzesischen Haustür. Es ist noch ein weites Feld für die Forschung, die Antikenrezeption an Hand der einheimischen Monumente zu studieren. Am leichtesten können derartige Vergleiche in der ornamentalen Plastik durchgeführt werden. Beispielsweise standen den vielen mittelalterlichen Portallöwen antike Vorbilder im eigenen Land zur Verfügung, wie etwa der Grabwächter am Mausoleum in Sepino oder der besonders prächtige, erst 1965 wiedergefundene Löwe aus Tussio, im Territorium von Peltuinum, den heute das Museum in L'Aquila zeigt. Die stark herausgearbeitete Mähne und die weiche Modellierung des übrigen Körpers lassen auf eine Entstehung im 1. Jh. n. ehr. schließen. An der Stelle der berühmten Abtei S. Giovanni in Venere bei Fossacesia wurde ehemals die Göttin Venus verehrt. Der Figurenzyklus des Hauptportals stammt aus dem 13. Jahrhundert. In die christlichen Darstellungen wurde ein antiker Fries miteinbezogen. In einem Rankengewinde verstrickt zielen zwei einander gegenüberstehende Jünglinge mit Pfeilen auf eine Taube in der Mitte. Ob ein Zusammenhang mit dem örtlichen antiken Venuskult besteht, wäre noch zu entscheiden. Ein anderes frappantes Beispiel liefert das Hauptportal der Kathedrale von Corfinio. Die Einfassung der Tür besteht aus steinernen Ornamentbändern, die eine Palmettenranke zeigen, ein Motiv, das hier sehr früh, nämlich im 12. Jh., auftritt, und das bis in das 16. Jh. in den Abruzzen außerordentliche Verbreitung genoß. Diese Rankenform am Hauptportal ist eine getreue Kopie eines Friesfragments aus römischer Kaiserzeit, das einige Meter entfernt an der Außenmauer des Oratoriums von S. Alessandro eingemauert ist. Es ist kaum ein Unterschied zwischen Original und Kopie festzustellen.
Malerei, Mosaik, Kunstgewerbe und Inschriften
Die abruzzesische Kunst manifestiert sich im Stein. Von Felsgestein umschlossen, war den Bewohnern des Berglandes dieses Material vorgegeben, um sich bildnerisch auszudrücken. Von der Malerei wissen wir kaum etwas. Natürlich erhält sich der Stein besser als Gemaltes. Trotzdem kann es nicht Zufall sein, daß, bei der erstaunlich großen Menge des überkommenen, Werke der Malerei kaum eine Rolle spielen. Sie taucht erst im Laufe des 9. Jh. auf, und auch dann nicht als genuine Kunstübung, sondern sie entwickelt sich durch einen Anstoß von außen, der vom Benediktinerorden, vor allem von Montecassino, ausging. Immerhin kennen wir aus römischer Zeit einige Beispiele. In der Cella auf der obersten Terrasse des Herkulesheiligtums am Morrone haben sich in der Sockelzone allerdings nur wenige Zentimeter hohe Spuren eines gemalten geometrischen Musters erhalten. Aus einem Grab in Trasacco wird heute im Museum in Chieti ein figürliches Fresko gezeigt, das sich kaum von ähnlicher Dutzendware unterscheidet, die wir im paganen stadtrömischen Grabkult wiederfinden. Im vornehmen Alba Fucense waren öffentliche und private Häuser mit Fresken ausgeschmückt. Stilistisch leiten sich diese Malereien aus größeren Kunstzentren ab und die meisten davon bestimmt aus Rom.
Werfen wir einen Blick auf die Schwesterdisziplin der Malerei, die Mosaikkunst, so kann die Fülle des Erhaltenen kaum überraschen, weil hier der Abruzzese wieder mit heimischem Material walten konnte. Die Entdeckungen sind meist neueren Datums, und eine übersicht über das Vorhandene zu geben, ist noch nicht das Ziel der Forschung geworden. In unserer Landschaft sind nur Fußbodenmosaiken bekanntgeworden. Die gelegentliche Anwendung des Mosaiks zum Schmuck von Wänden, wie wir es aus Kampanien und Rom kennen, scheint hier keine Beachtung gefunden zu haben. Mosaikwerkstätten können wir seit dem 1. Jh. v. Chr. durch mindestens vier Jahrhunderte verfolgen.
In einer ersten Gruppe lassen sich die monochromen ungemusterten Bodenbeläge und die mehrfarbigen Fußböden mit geometrischen Mustern zusammenfassen. In Scoppito bei Amiternum gefundene Mosaiken sind kaum untersucht worden. Wichtiger sind Funde aus Castelvecchio Subequo. Dort kam in einem römischen Haus ein Fußboden mit einem farbigen geometrischen Muster zutage. Er ist in das 1. Jh. (S. 63) n. Chr. zu datieren und befindet sich heute im Klostermuseum von Castelvecchio Subequo. Andere Mosaiken aus demselben Ort, denen man keine konservatorische Pflege zugebilligt hat, sind verlorengegangen. Die Würfelchen waren hier nicht aus Stein sondern aus gebranntem Ton. Eine Fundgrube für Mosaiken ist wieder Alba Fucense. Teilweise sind sie in das Museum von Chieti gebracht worden und stehen dort in drei Sälen zur Schau. Sie stammen aus verschiedenen Zeiten, die frühesten entstanden im 1. Jh. v. Chr. und die spätesten zu Anfang des 2. Jh. n. Chr. Die meisten Böden zeigen schwarzweiße geometrische Muster. In Nähe der Kathedrale von Valva in Corfinio wurden Mosaikreste in Schwarzweiß-Technik gefunden. In ähnlicher Form kamen sie in Sulmona zwischen der Kathedrale und der Piazza SS. Annunziata zutage. 1962 wurde dort ein Bodenmosaik bekannt, das sich heute im Museo Civico befindet und ein großes Hakenkreuz aus schwarzen Steinen auf weißem Grund zeigt. Die Kirche Madonna della Neve in Bugnara ist auf einem antiken Tempel erbaut, von dessen Mosaikboden noch Reste in der Kirche zu sehen sind. Zufällig wurden neben der Klosterkirche S. Maria del Lago in Moscufo Teile eines Fußbodens aus römischer Zeit freigelegt. Reste eines anderen wurden in der archäologischen Zone von Piano Laroma bei Cisoli ausgegraben. In Vasto konnte man bis zum Anfang des vorigen Jahrhunderts Mosaiken bei der Kirche S. Antonio sehen. Der Verlust wurde 1964 durch andere Funde wieder wettgemacht. In Boiano entdeckte man in den 50er Jahren ein polychromes Fußbodenmosaik aus kaiserlicher Zeit. Der Grundriß ist quadratisch, eine Seite mißt ungefähr 4 m. In Sepino finden wir im sogenannten Macellum, dem Fleischmarkt, im sechseckigen Mittelraum ein schwarzweißes Mosaik, während die Annexräume einfachen Ziegelbelag aufweisen.
Interessanter ist die zweite Gruppe mit schwarzweißen oder mehrfarbigen figürlichen Darstellungen. Ein frühes Beispiel stammt aus Teramo. In der Nähe des Palazzo Savini wurde der Fußboden eines Hauses gefunden, das vielleicht in die augusteische Zeit zu datieren ist. Im Zentrum ist aus farbigen Steinen ein Löwe im Kampf mit einer Schlange dargestellt. Bei den letzten Restaurierungen der Kathedrale von Atri kamen überraschenderweise römische Mosaiken zum Vorschein, die zur antiken Thermenanlage gehören. Es sind auf weißem Grunde schwarze, naturalistische Darstellungen von Fischen, Seepferden und Seeschlangen. Unter dem vorletzten Pfeilerpaar der Kathedrale entdeckte man ein sechseckiges Wasserbecken aus Ziegelsteinen, das, außen mit Marmor verkleidet, auf der Innenwandung Spuren von Mosaiken zeigt, die sich stilistisch mit den vorgenannten verbinden. Diese lassen sich mit ähnlichen Figurationen in Ostia und in den Caracallathermen in Rom vergleichen und dürften demnach am Anfang des 3. Jh. entstanden sein. Die Anbringung von Mosaikbildern in Thermenanlagen war beliebt. Zum Beispiel finden wir in Chieti einen Fußboden in Schwarzweiß-Technik, wo ein Delphin, ein Dreizack und Seepferdchen dargestellt sind. Ein anderes, polychromes Mosaik aus Chieti, heute im Museum von Neapel, zeigt den kühnen Theseus, wie er den Minotaurus erschlägt. Ein schwarzweißes Mosaik ist im Fußboden der Cella auf der obersten Terrasse des Herkulesheiligtums bei Sulmona erhalten. Das Zentrum bildet ein Kreis mit Sternmuster. Ihn umschließt ein Quadrat aus Ornamentstreifen, die den »laufenden Hund« zeigen. Dieser wiederum wird umrahmt von mehreren rechteckigen Feldern mit geometrischen und pflanzlichen Mustern sowie zwölf schwarzen Fischen auf weißem Grund. In der Stadt Sulmona kam 1932. in dem heutigen Viale Matteotti ein polychromes Mosaik mit Seetieren und lorbeerbekränzten Menschenköpfen zum Vorschein. Zu den größten Entdeckungen gehören die Mosaiken von Larino. Man fand sie in einer römischen Villa in der Nähe des donigen Amphitheaters, und sie sind im Museum dieser Stadt zu sehen. Das Bodenmosaik eines Impluvium zeigt die beliebten Seetiere, ein anderes hat im Zentrum einen Löwen, und in einem dritten in sehr großem Format findet sich eine ungewöhnliche und seltene Darstellung, die mit dem römischen Fest der Lupercalien in Verbindung zu setzen ist. Im großen rechteckigen Mittelbild erscheint zuunterst die Wölfin, die die Zwillinge Romulus und Remus in einer Höhle nährt (Tf. 25). Durch einen Felsspalt lugen der Hirte Faustulus, der sich später der Zwillinge annahm, und ein Gefähne von oben auf die Szene herab. Dieses Mittelfeld zeigt einen erdigen Grundton mit grünen und schwarzbraunen Schattierungen. Den düstren Eindruck steigern die dunklen, fast schwarzen Konturen der Figuren. Das Ganze wird von einem Ornamentband mit vier prächtigen Eckbetonungen gerahmt. In dieses eingeflochten sind nackte, geflügelte Amoretten mit Pfeilen, Jäger und Tiere, ein Thema, das die mittelalterliche Reliefskulptur sooft wiederholt hat. Der Stil des Mosaiks ist provinziell und eigenwillig, es ist sicherlich an Ort und Stelle gearbeitet und dem 3. Jh. n. Chr. zuzuweisen. Als man 1931 die verfallene Nordseite der Abteikirche S. Maria di Canneto bei Roccavivara wiederherstellte, entdeckte man bei Erdarbeiten einen Mosaikboden von beträchtlichen Ausmaßen, der sich noch unter der Apsis der Kirche erstreckt. Stichgrabungen haben eine von bunten Steinen durchsetzte Fläche, z.T. mit Schachbrettmuster, festgestellt, die etwa looqm mißt. Im Mosaik, das zu einer römischen Villa gehöne, sind kunstvolle geometrische und an einigen Stellen auch figürliche Muster mit Weintrauben, Beeren, pickenden Vögeln und dgl. zum Vorschein gekommen. Da der beste Konservator die Erde ist, hat man den bedeutsamen Fund wieder zugedeckt, bevor man ihn archäologisch genauer hätte auswerten können. Datierungen von Augenzeugen schwanken zwischen dem 1. und 4. Jahrhundert. Wahrscheinlich ist eine späte Ansetzung um 300 zu bevorzugen. Statt der abgegriffenen Darstellungen von Seetieren zeigen die Thermen in Sepino ein anderes Motiv. Man stellt sich selbst dar, und wir sehen Besucher abgebildet, die in das Bad eintreten.
Vom abruzzesischen Kunsthandwerk, das im Mittelalter und in der Neuzeit sehr qualitätvoll und verbreitet war, wissen wir aus Römerzeiten kaum etwas. Wohl haben die Museen fleißig gesammelt, aber was wir zu sehen bekommen, (S. 64) ist meistens römische Importware und Dutzendfabrikation, im Hausrat wie im Schmuck. Auch verlohnt es sich bei den Münzsammlungen, die wir z.B. in Vasto und Sulmona vorfinden, nicht, näher darauf einzugehen. Seltener sind kunstgewerbliche Arbeiten aus Glas, die in Sepino gefunden wurden. In einer Zisterne bei Corfinio kam 1963 eine 4 cm große Kamee zum Vorschein, die heute im Museum in Chieti ist. Auf dem Achatstein ist ein lorbeerbekränzter Kaiser dargestellt, bekleidet mit einer Toga und in seiner Rechten ein Szepter tragend, das in der Figur eines Adlers endet. Einige halten den Dargestellten für Tiberius, andere für Chudius. Wohl mehr aus Zufall haben die Abruzzen verschiedene Prunkbetten aus römischer Zeit überliefert. Sie sind sehr selten, und am ehesten kennen wir sie aus Darstellungen in der Reliefkunst oder Malerei. Wofür diese Betten dienten, ist nicht eindeutig zu sagen, wohl kaum als häusliches Mobiliar. Vielleicht wurden sie bei kultischen Handlungen gebraucht oder bei Trauerfeierlichkeiten hoher Standespersonen. Zwei Betten kommen aus Amitemum, das eine ist im Konservatorenpalast in Rom ausgestellt, das andere im Museum von Chieti, beide stammen aus den Anfängen der Kaiserzeit und sind mit Zierleisten aus Bronze dekoriert, die eine Ernteszene in Rom und Blumenmotive in Chieti zeigen. Das Bett im Museum von Chieti ist von ganz hervorragender Qualität, vor allem die Wangen zur Schauseite hin sind prachtvoll verziert und enden in bronzenen, mit Blättern und Früchten bekränzten Pferdeköpfen. Bei beiden Betten sind die vertieften Linien der Darstellung mit Silber ausgefüllt, was die Oberfläche farbig belebt. Stil und Technik verbinden diese zwei Objekte und lassen annehmen, daß sie in ein und derselben hellenistisch beeinflußten Werkstatt entstanden sind, die vielleicht in Tarent beheimatet war. Die Teile aus Holz sind Zutaten der modernen Wiederherstellung. Fragmente eines anderen Bettes sind in Collelongo südlich des Fuciner Sees bekannt geworden, und endlich werden Teile eines Bettes aus Aielli im Nationalmuseum in Rom gezeigt, wobei die kleinen Figurinen aus Tierbein geschnitzt sind, einem Material, das in dieser Zeit in der Plastik nur selten benutzt wurde.
Das Eindringen der römischen Zivilisation in unser Bergland kann man kaum besser ablesen als an den zahlreichen Inschriften. Theodor Mommsen hat zu diesem Forschungszweig den Grundstein gelegt und seine Sammlung, die unsere Region betrifft, im 9. Band des großen lateinischen Inschriftenwerkes verewigt. Nach Mommsen sind noch unzählige Inschriften bekannt geworden, und fast täglich kommen neue Funde hinzu. Dazu nur ein Beispiel. 1975 erschien ein Buch über die Epigraphik des Marserlandes. Auf 414 Seiten hat man Inschriften abgebildet, die allein um den Fuciner See herum gefunden wurden und dem großen Mommsen z. T. unbekannt waren. Inschriften können in den Stein eingemeißelt sein, oft aber sind sie mit roter Farbe auf Steinplatten oder Wandverputz aufgemalt oder eingeritzt. Sie geben Auskunft in Fülle über die Geschichte einzelner Orte, berichten von intimen und häuslichen Gegebenheiten, die die antiken Geschichtswerke sehr eindringlich ergänzen und oft einmalig illustrieren. Vornehmlich Museen und öffentliche Institutionen beherbergen epigraphische Sammlungen. In Atri z.B. werden sie im Dommuseum und im Hof des Palazzo Acquaviva, dem heutigen Rathaus, gezeigt. Die archäologische Abteilung des Museums in L' Aquila hat in verschiedenen Schauräumen das Material systematisch geordnet. Man sieht Inschriften, die sich auf kaiserliche Erlasse oder das Militär beziehen, andere, die von öffentlichen Ämtern, über den religiösen Kult, über das Handwerk und Berufe berichten, sowie Grabinschriften. Hier ist auch der berühmte Kalender von Amiternum aufgehoben, gerahmt von einer Profilleiste, 95 cm hoch, 126 cm breit und nach dem Jahre 25 n. Chr. zu datieren. Er ist nicht vollständig erhalten und aus neun Bruchstücken wieder zusammengesetzt worden. Für die Monate Mai bis Dezember sind die Werk-und Festtage, Markttage und andere denkwürdige Ereignisse eingetragen. über eine aufschlußreiche Inschriftenkollektion verfügt das Museum in Sulmona. Das Antikenmuseum, das seit 1880 neben der Basilica Valvense in Corfinio besteht, zeigt eine Sammlung von Grabinschriften. Wie in L'Aquila ist auch im Museum in Chieti die epigraphische Sektion nach Sachinhalten aufgestellt. 1973/ 1974 wurde der Bestand durch Neuerwerbungen bereichert, die in Civita di Bagno, Pretaro, Bugnara, S. Benedetto dei Marsi und Pescina gefunden wurden. Im archäologischen Kabinett des Museums in Vasto sind allein aus der Stadt und der nächsten Umgebung 187 römische Inschriften auf Grabsteinen, Urnen, Meilensteinen, Statuenbasen und dgl. zusammengebracht worden. Steine mit römischen Inschriften ortsgebundenen Inhalts liegen im Klostergarten von S. Vincenzo al Volturno.
[Teil 3] - Das Mittelalter bis zur Schlacht bei Tagliacozzo (1268)
(S. 66)Die Zeit des Frühchristentums bis zum Einfall der Langobarden (568)
Die Blütezeit, die die Abruzzen und das Molise durch das Eindringen der römischen Zivilisation am Ende der republikanischen Ära und in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit erlebten, haben wir in den vorigen Kapiteln beschrieben. Vom Verebben des Wohlstandes und von dem Sinken der Bevölkerungszahl berichten in unserer Region kaum direkte Quellen. Wir erschließen den Niedergang nur aus der allgemeinen Situation, was aber zulässig ist, da die Geschicke der Bewohner der Berggegenden fest mit der Reichspolitik verkettet waren. Um die immer unsicherer werdenden Grenzen des römischen Imperiums zu schützen, waren die Truppenaushebungen gewaltig und hatten einen starken Schwund des Nachwuchses zur Folge. Hinzu kam ein drastischer Steuerdruck, der vor allem den Mittelstand traf und viel Eigeninitiative zerstörte. Unbehelligter jedoch als andere italienische Landschaften bleiben unsere Gebirgsbewohner wohl von den frühen kriegerischen Einfällen der Germanen und Hunnen. Das römische Reich erlag aber nicht nur dem Druck von außen, sondern es wurde auch innerlich ausgehöhlt. Die schöpferische Kraft der Römer erlahmt, indem sie die Fragen der Ökonomie, der Verwaltung und der Technik nicht mehr neu durchdenken. Das geistige Leben verlien an Kreativität. Aus Dichtem werden Panegyriker und Versernacher, aus sinnvollen überlegungen entsteht Rhetorik, die Poesie wird zur Schulübung, die Baukunst zur Imitation überkommener Modelle. Die römische Antike anete in eine materialistische Welt aus, die Religion in Kaiserkult. Das alles war der Nährboden, der das Eindringen neuer Ideen und Vorstellungen vom Sinn des Lebens möglich machte, Gedanken, die durch das Christentum in die lateinische Welt einsickerten. Der Ausspruch Christi »Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist« bedeutet nichts anderes als die Trennung von Politik und Religion, von Staat und Kirche, eine Dualität, die das gesamte europäische Mittelalter maßgebend beeinflußte. Konstantin d. Gr. (306 bis 337) erhob die christliche Lehre zur Staatsreligion. Und wieder wurde Rom zur Kapitale, einst Sitz des weltlichen Imperiums, nun Ausstrahlungspunkt der Christenheit.
Unsere Kenntnis von den Anfängen des Christentums in den Abruzzen und dem Molise ist sehr mangelhaft. Der Einfall der Langobarden 571-574 in unser Gebiet zerstötte das kirchliche Leben und die kirchliche Organisation so stark, daß von Monumenten und etwa vorhanden gewesenen schriftlichen Aufzeichnungen kaum etwas erhalten geblieben ist. Nur notdürftig können wir das christliche Leben aus den Akten der Konzilien, aus Papstbriefen, gelegentlichen Äußerungen des Papstes Gregor d. Gr. (590-604) und aus dem archäologischen Befund erschließen. Dazu kommen noch hagiographische Quellen, die aber meistens spät entstanden sind und oft die historische Realität vermissen lassen.
Das Christentum breitete sich in den Abruzzen und im Molise vornehmlich in den Städten und Siedlungen aus, die wir schon aus vorrömischer und römischer Epoche her kennen, wohingegen in den ländlichen Gegenden der pagane Glaube sich noch längere Zeit hielt. Gesichene und datierbare Zeugnisse haben sich erst aus nachkonstantinischer Zeit erhalten. Die frühesten Nachrichten liefern die Grabinschriften, eine von 343 aus Interpromium ist heute noch im Nachfolgeort S. C1emente a Casauria zu sehen, eine andere vom Jahre 396 wurde in der Katakombe der hl. Justa in Bazzano gefunden. Sie wurde von Mommsen publiziert und ist danach verloren gegangen. Das Museum in L'Aquila verwahrt eine Inschrift des 492 verstorbenen Hilarius aus Barisciano bei L'Aquila.
Der größte Teil literarischer Zeugnisse bezieht sich auf Auskünfte über Diözesansitze und deren Bischöfe. Die früheste deraniger überlieferungen stammt von 465 und betrifft Aveia Vestina. Es gibt viele Ortsnamen, die in Italien mehrmals venreten sind, und so ist es oft sehr gewagt, beim Vorkommen von Namen, die auch in den Abruzzen oder dem Molise zu finden sind, sie auf dieses Gebiet zu beziehen. Auf fragliche Fälle dieser An soll hier nicht eingegangen und nur der gesichene Bestand angefühn werden, wobei die früheste mir bekannte Erwähnung hinter dem jeweiligen Ort angegeben wird: Teramo (598), Amiternum (499), Aveia Vestina (465), Ofena (475). Der erste namentlich bekannte Bischof der Marser, Johannes, nahm 553 am Konzil von Konstantinopel teil. Weitere früh belegte Bischofssitze sind Sulmona (499), Alfedena (492-496), Onona (591), Vasto (492-496), Boiano (502) und Sepino (501). Die Zahl der Bistümer wurde nach dem Einfall der Langobarden stark reduzien. Auf immer wurden Amiternum, Aveia, Ofena, AIfedena und Sepino aufgegeben. Von den Bistümern Sulmona und Boiano hören wir lange Zeit gar nichts, und erst in späteren Jahrhunderten erscheinen sie aufs neue. Für die Auflösung der Bistümer hat man die Kriegslust der Langobarden verantwonlich gemacht. Das trifft sicherlich für Amiternum zu, wo der letzte Bischof, Ceteus, von den Eindringlingen ermordet wird. Vielleicht kommen aber doch noch andere Gründe hinzu. Wir wissen z.B. vom Molise, daß es 668 entvölken war und von Bulgaren neu besiedelt wurde. Sepino und Boiano gehören zu diesem betroffenen Gebiet.
Andere Quellen berichten 496 von einer christlichen Gemeinschaft in Venafro, dann erwähnt Papst Gelasius I. (492 bis 496) in einem Brief eine dem hl. Eleutherius geweihte Kirche in oder bei Vasto, und Gregor d. Gr. spricht von einer Johanneskirche vor dem Stadttor von Ortona. Interessant sind Mitteilungen desselben Papstes über das Mönchswesen, das sich schon im 6. ]h. in den Abruzzen nachweisen läßt; man weiß nicht, ob zur gleichen Zeit oder sogar früher als die Gründung der Mönchsgemeinschaft in Montecassino durch Benedikt von Nursia. Gregor erzählt von dem Abt (S. 67) Equitius, der etwa um das Jahr 510 im Amte war. Erwirkte in der Provinz Valeria und wurde in einem dem hl. Laurentius geweihten Oratorium begraben. Equitius hatte viele Schüler in Klöstern dieser Gegend untergebracht. Diese mönchischen Siedlungen blühten und gediehen bis zum Einfall der Langobarden. Danach eilten einige vom Tod bedrohten Mönche hilfeflehend zum Grab des Abtes, der sie durch ein Wunder aus der Gefahr errettete. Obwohl wir nicht genau die Otte seiner Klostergründungen kennen, läßt sich aus dem Zusammenhang der Erzählung entnehmen, daß sie im Gebiet von Amiternum zu suchen sind, wo es nicht nur Männerklöster gab, sondern wo auch von einem Frauenkloster, das Equitius leitete, die Rede ist. Die Gebeine des Heiligen wurden 1461 aus der Kirche S. Lorenzo im Borgo S. Lorenzo di Marruci in der Gemeinde Pizzoli in das benachbarte L'Aquila überführt, wo Equitius noch heute als einer der Schutzpatrone der Stadt große Verehrung genießt. In anderen Berichten spricht Gregor von weiteren Mönchen aus dem Marserland und der Provinz Valeria, die von Langobarden getötet wurden.
Bislang bezogen sich die schriftlichen Zeugnisse auf Gegebenheiten der nachkonstantinischen Zeit. Wir erfahren aber auch vom Leben der Christen in früherer Zeit aus Legenden und Märtyrergeschichten, die in den Abruzzen spielen. Freilich ist der historische Kern dieser Literaturgattung kaum auszumachen. Dennoch seien einige Beispiele genannt, die Anhaltspunkte für tatsächlich Geschehenes bieten könnten. In den Akten der hll. Nereus und Achilleus erfahren wir von der Legende des hl. Viktorin; der in der 2. Hälfte des 5. Jh. niedergeschriebene hagiographische Bericht ist der früheste, der die Abruzzen betrifft. Von Kaiser Nerva (96-98) soll Viktorin aus Rom vertrieben und am 60. Meilenstein an der Via Salaria in den kutilischen Wassern ertränkt worden sein. Sicherlich ist Viktorin ein historischer Märtyrer, fraglich ist nur, ob er tatsächlich schon im 1. Jh. oder nicht erst im 3. oder 4. Jh. seinen Tod fand. Jedenfalls ist sein Kult schon im 4. oder 5. Jh. in Amiternum belegt. Dort ist in der Katakombe von S. Vittorino ein Sarkophag aus dem 4. oder 5. Jh. erhalten, der laut Inschrift seine Gebeine birgt. Auf Viktorin weist auch der Ort S. Vittorino bei den kutilischen Gewässern hin, heute Terme di Cotilia, an denen schon Kaiser Vespasian vergebens Heilung suchte und dort starb.
Sehr umstrirten ist der historische Nachweis der Persönlichkeit des hl. Justinus. Die aufgezeichnete Märtyrerlegende stammt erst aus dem 15. Jahrhundert. Sehr wahrscheinlich ist der Heilige mit dem Justinus zu identifizieren, der um das Jahr 290 zusammen mit seinen Brüdern Felix und Fiorentinus sowie der Tochter des letzteren, Justa, von Siponto in Apulien in die Abruzzen kam. In Siponto wird der Heilige seit altersher an demselben Tag verehrt wie in den Abruzzen. Seit dem Jahre 840 kennen wir in Chieti eine Justinuskirche. Der Glaube, der Heilige sei auch der erste Bischof von Chieti gewesen, kam erst im 15. Jh. auf. Im Aternotal existierte bei Paganica schon im 9. Jh. eine dem Justinus geweihte Kirche. Seine Nichte Justa wurde ganz in der Nähe, in Bazzano, verehrt. Mittelalterliche Quellen wissen, daß sie dort in der Krypta beigesetzt wurde, in der auch die oben erwähnte Inschrift von 396 gefunden wurde. Von Bazzano aus verbreitete sich der Kult der hl. Justa in den Abruzzen und weiter nach Kampanien. Ihr waren in der Diözese L'Aquila drei Kirchen geweiht, in der Diözese Penne neun, in der Diözese Sulmona fünf und in der von Chieti sechs.
Bei dem Lokalheiligen Eusanius handelt es sich wahrscheinlich auch um eine historische Person. 1748 wurden seine Gebeine in S. Eusanio Furconese gefunden, in einer Kirche, die schon 840 seinen Namen trägt. Sein Martyrium ähnelt in vielem demjenigen des Justinus und seiner Gefährten. Auch Eusanius kam aus Siponto. über Chieti, Valva, Forcone und Amiternum gelangte er nach Rom und kehrte später in das Vestinerland zurück, wo er in Aveia das Evangelium lehrte. Er lebte zur Zeit des Tetrarchen Maximinianus, am Ende des 3. Jahrhunderts. Das Zentrum des Eusaniuskultus war wohl Forcone. An seine Verehrung erinnern noch Ortsnamen. Neben S. Eusanio Furconese gibt es weiter S. Eusanio del Sangro und S. Eusanio im Aternotal oberhalb von L'Aquila. Er ist der Schutzheilige des Ortes Fano a Corno am Ostabfall des Gran Sasso und wird u.a. in Caramanico, Popoli sowie Corvara verehrt.
Im Marserland stehen wir vielleicht mit der Person des hl. Cesidius auf historischem Boden. Nach einer Legende des 9. bis 11. Jh. kam der Heilige aus Amasia im nördlichen Kleinasien, dem Geburtsort des Geographen Strabo und der Residenz der Könige von Pontus. Vor den Christenverfolgungen flüchtete Cesidius nach Italien. In Trasacco am Fuciner See erlitt er unter dem Kaiser Maximinus, dem Thrakier (135-137), den Märtyrertod. Schon im 10. Jh. existierte in Trasacco eine Cesidiuskirche.
Zweifelhaft erscheint mir, ob der Heilige des Paelignerlandes, der hl. Pelinius, gelegentlich auch Pelignus, historisch zu belegen ist. Nach seiner Märtyrergeschichte des 11. oder 12. Jh. stammte er aus Durazzo in Albanien und lebte zur Zeit Konstantin d. Gr. Er soll Bischof von Brindisi gewesen sein und wurde in Rom zu Tode gefoltert. Sein Name wird seit dem 9. Jh. in Corfinio verehrt, wo der Bistumssitz Valva ihm geweiht ist.
Man hat mit Recht festgestellt, daß die Christianisierung der Abruzzen in nachkonstantinischer Zeit von Rom aus an den alten römischen Verkehrsstraßen entlang erfolgte. Die hagiographischen Quellen weisen, wenn man ihnen überhaupt trauen mag, unabhängig voneinander zwei neue Elemente auf. Sie zeigen, daß das Christentum in den Abruzzen schon vor Konstantin lebendig gewesen ist, und daß der Einfluß nicht nur von Rom ausging, sondern daß an der Evangelisation der Abruzzen auch Süditalien, Siponto und Brindisi, und die Länder östlich des Adriatischen Meeres, Amasia und Durazzo, Anteil hatten.
Neben schriftlichen Überlieferungen verfügen wir in den Abruzzen über eine Reihe von Denkmalen, die vor dem 7. Jh. entstanden sind. Zu den gewichtigsten gehören einige Katakomben und Friedhöfe. Die Stollen der Katakombe unter der Michaelskirche in S. Vittorino bei Amiternum und (S. 68) derjenigen in Bazzano bei L'Aquila sind in Kalkstein gehauen, während die Katakombe in Castelvecchio Subequo in weichem, sandhaltigem Erdreich gelegen ist und deshalb nach der Entdeckung 1943 durch moderne Ziegelwände abgestützt werden mußte. Auf Grund der Bodenbeschaffenheit steht die Katakombe von Castelvecchio Subequo den römischen Grabbauten nahe, die in den weichen Tuff eingeschnitten sind. Die Grabanlagen in S. Vittorino und Bazzano hängen mit dem Märtyrerkult zusammen; man verehrte dort den hl. Viktorin und die hl. Justa. Castelvecchio Subequo dagegen ist eine reine Begräbnisstätte, von einem Heiligenkult hier wissen wir nichts. Die Entstehungszeit aller drei Katakomben dürfte nicht allzu weit auseinanderliegen. An Hand der Grabfunde scheint die Datierung der Katakombe von Castelvecchio Subequo im 4. Jh. anzusetzen zu sein, also bald nach den konstantinischen Kirchengründungen in Rom.
Abb. 8: San Vittorino, S. Michele, KatakombeDie kunsthistorisch ergiebigste der drei Katakomben ist die von S. Vittorino (Abb. 8). Man erreicht sie von der heutigen Oberkirche aus durch einen 24 m langen, gewölbten Gang, der, da dott keine Gräber gefunden wurden, ursprünglich wohl nicht zur Katakombe gehörte. Zwölf Stufen führen in die eigentlichen Grabkammern herab, die unsystematisch angelegt sind und aus vielen unregelmäßig gebildeten Räumen bestehen. Der erste Raum (B) ist 24 m lang mit Arkosolien, nischenartigen Vertiefungen in der Wand, die zur Bestattung dienten. Über acht Stufen erreicht man ein höher gelegenes, ausgebautes Gemach. Eine Reihe von vier verschieden gebildeten antiken Säulen teilt diesen Raum in zwei ungleiche Teile, wobei der rechte schmaler ist als der linke. Die drei vorderen Säulen tragen einen Architrav, auf dem die Tonnengewölbe der beiden Teilräume aufliegen. Wichtig ist der Raum G, an dessen hinterer Wand ein 2 m breiter Altar steht, der sicherlich sehr früh zu datieren ist. Fünf Öffnungen geben den Blick frei in eine kleine leere Kammer unter der Altarmensa, in der einstmals die Gebeine von Märtyrern verehrt wurden. Kunstgeschichtlich wichtiger ist der Sarkophag im Raume L, der später noch genauer beschrieben wird.
Von der Katakombe in Bazzano ist wenig zu sagen. Die heutige Krypta unter der Kirche S. Giusta, die häufig als Katakombe angesprochen wird, ist keine Grabstätte sondern eine mittelalterliche Anlage, deren Formen mit den Baugewohnheiten der Benediktiner übereinstimmen. Zwei Bogenöffnungen auf der linken Seite der Krypta führen in einen unregelmäßigen Raum in Form einer Grotte. Man glaubt, daß sich hier der Begräbnisplatz der hl. Justa befunden habe, obwohl an dieser Stelle keine Gräber nachgewiesen wurden. Erst hinter dieser Grotte sollen die eigentlichen Katakomben zu suchen sein, die sich Gerüchten zufolge bis in die Ortschaft Paganica erstreckten. Aus Angst, daß sich Besucher in den unterirdischen Stollen verirren könnten, hat man laut einer Aussage von 1903 den Zugang von der Grotte zu den Katakomben vermauett. Mit Mut und Geld würde dem Geheimnis noch manche Erkennmis zu entlocken sein.
Die Katakombe von Castelvecchio Subequo liegt etwa 500 m vom Ort entfernt in Richtung Gagliano. Sie besteht aus zwei Stollen von je 10 m Länge, die rechtwinklig aneinanderstoßen. Die Gänge sind am Boden etwa 115 cm breit und werden nach oben etwas weiter. Die Tonnengewölbe erreichen eine Höhe von ungefähr 1 m. Der vordere Stollen verläuft eben, während der hintere leicht ansteigt. Die Gräber befinden sich zu beiden Seiten der Gänge. Der Tote wurde so bestattet, daß seine Füße zum Ausgang wiesen, was einen frommen Theologen, der die Katakombe zum erstenmal wissenschaftlich bearbeitet hat, zu glauben bewog, man habe diese Position gewählt, damit die Verstorbenen bei der Auferstehung am Jüngsten Tage möglichst schnell den Ausgang der Gräberstadt erreichen könnten. Die geographische Lage der Katakombe ist kirchengeschichtlich interessant, denn sie befindet sich nahe an der Via Valeria, über die das Christentum von Rom aus leicht in das Land der Paeligner eindringen konnte. Die neuentdeckte Anlage fand man unausgeplündert vor, und so konnte man zahlreiche Funde sichern. Es tauchten Inschriften, Glas-und Tonkrüge auf, auch kamen die im Frühchristenturn beliebten Öllämpchen in großer Zahl ans Tageslicht. Sie befanden sich außen über dem Grab in kleinen Nischen, manchmal wurden sie auch im Innern des Grabes aufgestellt neben Ton-und Glasgefäßen, die wohl Balsam und Parfüm enthielten, sowie anderen Behälmissen, die zur Bereitstellung (S. 69) von Speisen und Getränken dienten. Das erinnert an das Weiterleben paganer Gebräuche, von denen sich die ersten Christen nicht von heute auf morgen lösen mochten.
Frühchristliche Friedhöfe sind in den Abruzzen historisch nicht gesichert. Keine Anlage ist vollständig erhalten. Die Lokalforschung glaubt sie, ohne eigentliche Belege zu liefern, in Forcone und Assergi festgestellt zu haben, und vielleicht mit besseren Gründen in Trasacco. Unweit der Bischofskirche von Valva (Corfinio) fand man Mosaiken mit schwarzen und weißen Steinen, antike und christliche, z.T. mit Marmor ausgelegte Gräber. Äußerst vage Vorstellungen haben wir von der Architektur der ersten christlichen Jahrhunderte. Natürlich müssen die vielen Bistumssitze über Kulträume verfügt haben, aber kein einziger ist erhalten, und es ist fraglich, wieweit mögliche Ausgrabungen Erfolge erzielen könnten. Die Freilegungen am Herkulesheiligtum bei Sulmona haben gezeigt, daß ein gewaltiger Erdrutsch, wahrscheinlich im 2. Jh. n. Chr., den Südteil der Anlage wegriß. Ober den Trümmern entstanden neue Bauten. Zu diesen gehört ein kleines apsidiales Gebäude, das man unter Umständen als Kultraum betrachten könnte. Bestätigt sich diese Annahme, so besäßen wir hier den frühesten kirchlichen Raum in den Abruzzen. Von ähnlicher Unsicherheit sind wir im Molise geplagt. In Sepino grenzt an das »Macellum« ein etwas höher gelegenes rechteckiges Gebäude mit apsidialem Abschluß. Spuren von Fußbodenmosaiken sind noch zu erkennen. Einwände gegen die These eines Kirchenbaues sind bislang nicht erhoben worden. Wir hätten es demnach hier mit einem der frühesten christlichen Architekturmonumente im Molise zu tun. Immerhin war Sepino im 5. und 6. Jh. Sitz eines Bischofs. Neue, aber noch zu begründende Nachrichten kommen aus Larino. Dort soll neben dem Friedhof eine kleine frühchristliche Basilikaanlage zum Vorschein gekommen sein. Laut mündlicher Aussage des Entdeckers soll der Bau im 4. oder 5. Jh. entstanden sein.
Den Dschungel von Hypothesen, welche die Kulträume betreffen, verlassen wir, wenn wir die frühchristliche Plastik betrachten, die gesicherter ist. Die Abruzzen haben einige Sarkophage überliefert, die zu den ältesten Beispielen christlicher Skulptur in unserer Region gehören. In der Krypta des Domes von Chieti werden in der Apsis unter dem Altar die Reliquien des hl. Justinus in einem kleinen frühchristlichen Marmorsarkophag aufgehoben. Der früheste Steinsarg mit biblischen Szenen ist der in S. Clemente a Casauria. Er dient als Altar unter dem Ziborium. Die Schauseite ist in fünf Felder eingeteilt, im Wechsel miteinander drei szenische Darstellungen und zwei breitere Ornamentflächen mit der in jener Zeit üblichen Riefelung. Das Relief in der Mitte zeigt einen Orans zwischen zwei Aposteln und die Szenen an den Seiten Begebenheiten aus dem Leben Petri, links die Gefangennahme, während das rechte äußere Feld nicht vollständig erhalten ist. Vielleicht handelte es sich um die Verleumdung. In diesem Fall müßte an der Fehlstelle der krähende Hahn dargestellt gewesen sein. Das Monument ist in die Zeit des Kaisers Konstantin zu datieren. In Form und Inhalt des Sarkophages sind römische Einflüsse zu erkennen.
Provinzieller gestaltet ist der Steinsarg im linken Seitenschiff der Peterskirche in Campovalano. Wilpert hat in seinem Monumentalwerk über die christlichen Sarkophage diesen Ort mit Campli verwechselt und das Stück fälschlicherweise dorthin verwiesen. Die Schauseite ist in der Horizontalen in zwei Zonen geteilt, und ähnlich wie in Casauria wechseln biblische Szenen mit breiteren Feldern in Riefelmuster. Wegen des schlechten Erhaltungszustandes ist der Inhalt der Darstellungen nicht ganz einfach zu erkennen. Im oberen linken Relief assistiert Christus dem Petrus, der die mystische Taufe des Zenturionen Cornelius vornimmt. Das obere rechte Bild zeigt, wie in Casauria, einen Orans zwischen zwei Aposteln. Die besterhaltene Szene sieht man in der unteren Zone auf der linken Seite. Dargestellt ist die Erschaffung Adams. Links sitzt der bärtige Gottvater auf einem Lehnstuhl. Er arbeitet wie ein Bildhauer an Adam, der auf einem Podest vor ihm steht und noch nicht ganz vollendet ist. Dieser werdende Mensch sieht noch etwas schemenhaft aus, aber Gottvater nimmt mit seiner Rechten bereits die letzten Verbesserungen an Adams Körper vor. Hinter diesem Menschen schaut ein bartloser Jüngling, mit der Rechten den Zipfel seines Gewandes haltend, dem Vorgang zu. Wir dürfen in ihm wohl die Figur Christi erblicken, denn in gleicher Gestalt erscheint er als Assistenzfigur des Petrus bei der Taufe des Cornelius wieder. Der Gedanke von Gottvater als bildendem Künstler ist hier nicht frei erfunden. Tertullian bezeichnet ihn als »plasmator«. Bei der unteren Szene auf der rechten Seite ist wahrscheinlich die wunderbare Brotvermehrung wiedergegeben. Christus zwischen zwei Aposteln hält in der Rechten wohl einen Brotlaib und in der Linken die Gesetzesrolle. Auf dem Boden liegen die Körbe mit Brot zur Verteilung bereit. Laut Inschrift lag in diesem Marmorsarkophag der Marmorhändler Aurelius Andronicus aus Nikomedien begraben. Auch der Sarkophag von Campovalano stammt aus der Zeit Konstantins d. Gr.
Der Sarkophag in der Katakombe des hl. Viktorin bei Amiternum (Tf. 26) ist in jüngster Zeit sinnlos restauriert und zusammengefügt worden, und es fehlen jegliche Hinweise, wie man zu der jetzigen Lösung gekommen ist.
Der marmorne Kasten ist 240 cm breit, 70 cm tief und 180 cm hoch; er stellt sich heute folgendermaßen dar: Auf der Schauseite tragen vier Pilaster mit Kapitellen einen mit einer Inschrift versehenen Architrav. Die Stützen sind in ungleichen Abständen angeordnet, so daß drei verschieden große Felder entstehen, von denen das linke schmucklos ist, während die beiden anderen mit spätantiken Marmorplatten ausgefüllt sind, die Scheiben-und Schuppenmuster zeigen. Ober der mittleren Platte ist ein Relief angebracht. Die Zentralfigur ist Christus mit dem Nimbus auf dem Globus sitzend und in der Linken die Gesetzesrolle haltend. Er reicht seine Rechte einer knienden Person, hinter der eine mit einer Toga bekleidete Figur steht, die ihre Hand auf die Schulter des Knienden legt und ihn Christus empfiehlt. Auf der gegenüberliegenden rechten Bildseite befindet sich eine akklamierende Gestalt ebenfalls im Togagewand. Die Szene spielt vor einer Portikusanlage. An der rechten Schmalseite (S. 70) des Sarkophags sieht man zwei weitere dekoriene Planen. die stilistisch mit denen der Vorderseite übereinstimmen. Die sehr feinen 3 cm hohen Lenem der Inschrift im Archi· trav besagen. daß der Bischof Quodvultdeus das Werk zu Ehren des hl. Viktorin verfenigt habe. Die Inschrift ist auf einer Tafel dargestellt, die von zwei Relieffiguren gehalten wird. Man hat in diesen beiden Petrus und Paulus sehen wollen. Da der Bischof Quodvultdeus von Amiternum ansonsten nicht überliefert ist, sind wir bei der Datierung des Sarkophags auf Stilkritik angewiesen. übereinstimmend hat man seine Entstehung im 4. oder 5. Jh. angenommen.
Außer Sarkophagen gibt es aus frühchristlicher Zeit nur noch sporadische Funde. Die wichtigsten kamen nach dem Erdbeben von 1915 bei der Wiederherstellung der Petenkirche in Alba Fucense zutage. Sie eröffnen die Reihe von Chorschrankenplanen, von denen wir im Mittelalter so viele schöne Beispiele in den Abruzzen finden. Eine der Planen zeigt Kreuze, die ohne schmückende Zutaten aus der steinernen Fläche herausgearbeitet sind, und deren Arme sich an den Enden verbreitern. Sie beherrschen das Bildfeld. und in der Schlichtheit und Strenge ihrer Form kommt die Bedeutung des christlichen Symbols eindringlich zum Ausdruck. Es gibt in Alba Fucense noch zwei weitere Reliefplanen mit Darstellungen von Kreuzen, welche mit Weinreben ver· schlungen sind; die eine ist naturalistisch antikisierend. während die andere mit dichten knotigen Verästelungen gröber gearbeitet ist. Alle drei Reliefs sind in die erste Hälfte des 6. Jh. zu datieren.
Ritzzeichnungen aus der Spätantike haben wir schon früher in der Petenkirche von Alba Fucense kennengelernt. Solche aus frühchristlicher Zeit sind seit den 70er Jahren dieses Jahrhundens in der Nähe von Alba Fucense in Trasacco am Fuciner See bekannt geworden. Ein Kalksteinblock (Höhe 43,4 cm, Breite ca. 27 cm, Dicke 13 cm) mit einer Ritzzeichnung wurde in einem alten Stall, als Fensterbrett dienend, gefunden. Die krausen Gravierungen lassen nur mit Mühe die Profilansicht eines Kriegers erkennen mit einer noch nicht endgültig entzifferten Beischrift, vielleicht dem Namen des Dargestellten. Eine in das Ende des 3. oder den Anfang des 4. Jh. vorgeschlagene Datierung wäre noch zu überprüfen. Eine zweite Ritzzeichnung wurde nur wenige Meter entfernd vom vorigen Steinblock entdeckt. Mit Mühe erkennt man eine Figur in Frontalansicht, anscheinend nackt und Waffen tragend. Stilistisch gehören beide Zeichnungen zusammen. Das Amt für Denkmalpflege in Chieti konnte in jüngster Zeit Mosaiken und Geräte ausfindig machen, die in die erste Hälfte des 4. Jh. datiert werden. Sie stammen aus Amiternum, Penna S. Andrea in der Provinz Teramo und aus Casalbordino bei Vasto.
Aus einer derartigen Überschau läßt sich ablesen, daß der Übergang von der Antike in die christliche Zeit in den Abruzzen wohl störungsfrei verlaufen ist. Die Fundorte der christlichen Gegenstände decken sich meistens mit den schon bekannten antiken Siedlungen, die keine umwälzenden Veränderungen erfuhren. Der nahtlose Übergang von der laten in die neue Ära ist sehr gut an den Inschriften und Monumenten, besonders in der Peterskirche von Alba Fucense, abzulesen. Hagiographische Quellen und Beispiele aus dem archäologischen Bestand machen glaubhaft, daß schon in vorkonstantinischer Zeit das Christentum in den Abruzzen verbreitet war. Antike und Frühchristentum bilden noch eine relative Einheit, verglichen mit den einschneidenden Umwälzungen, die mit dem Einfall der Langobarden ihren Anfang nahmen.
Von der Zeit der Langobarden bis zum Einfall der Normannen
Die Auseinandersetzungen der Römer mit Germanenstämmen gehören schon zur Zeit der Republik und der Kaiserzeit zur Tagesordnung. Neue Kenntnis von den Germanen erhielt Italien ungewollt durch die Einfälle der Westgocen und durch die Schaffung des Ostgotenreichrs, das von 493 bis 553 in Italien bestand. Von derartigen Konfrontationen wurde unser Bergland nicht allzusehr in Mitleidenschaft gezogen. Jedoch gerät die Region mit dem Einbruch der Langobarden in ein politisches und religiöses Schwingungsfeld, das nicht nur die Abruzzen und das Molise, sondern auch das mittelalterliche Europa erfaßt und teilweise geprägt hat. Die Langobarden entwickelten ihre Herrschaft im Bewußtsein Germanen zu sein. Der germanische Einfluß ist in haLaen nie so groß und stark gewesen wie zur Zeit ihrer Herrschaft auch die Wirkung der staufischen Kaiser in Italien ist nicht mit der ihren zu messen.
Mit der Invasion in Italien hatten es die an Wanderungen gewöhnten und erfahrenen Langobarden äußerst eilig. Aus ihrem Siedlungsgebiet in Pannonien brachen sie im April 568 auf und beherrschten Mailand schon am 3. September desselben Jahres. Schwerer taten sich die Eindringlinge mit der Eroberung von Pavia, seit den Gotentagen wichtigster Platz in Oberitalien. Nach dreijähriger Belagerung wurde die Stadt eingenommen und zur Hauptstadt des neuen Reiches gemacht. Gleichsam im Eilmarsch waren andere Streitkräfte an Pavia vorbeigegangen, denn schon 569 finden wir Faraoldus in seinem Herzogtum Spoleto, und 571 hören wir vom Herzogtum Benevent. Wie das Land zwischen diesen beiden Dukaten aufgeteilt war, erörtern wir bereits im Kapitel über die Einteilung der Abruzzen und des Molise in Verwaltungsbezirke.
Der Zeitpunkt der Invasion war von den Langobarden genial berechnet. Ihr Einfall in Italien war ein militärischer Spaziergang. Das Kaiserreich mit dem Sitz in Konstantinopel (S. 71) hatte seine Soldaten anderwärts im Einsatz und konnte dahn in Italien kaum etwas ausrichten. Auch die Frankenstämme, die Lust verspürten, sich Italiens zu bemächtigen, waren zum Zeitpunkt des Einrückens der Langobarden durch ihre Reichsteilung in Burgund, Neustrien und Austrasien geschwächt. Gelegentliche Störungen während der langobardischen Einwanderung in Oberitalien brachten den Franken keine sichtbaren Vorteile. So blieben die einheimischen römischen Siedler sich selbst überlassen und wurden ausgemerzt und die überlebenden zu Tributen und Steuern herangezogen. Paulus Diaconus, Langobarde und am Hofe von Pavia aufgewachsen, schrieb die Geschichte seines Volkes bis zum Jahre 744 und berichtet, daS das Territorium der Langobarden mit der Hauptstadt Pavia in 35 einzelne Herzogtümer aufgegliedert war. Diese bildeten eine militärisch-politische Föderation mit nur schwacher Bindung an die Hauptstadt.
Das Langobardenreich zeigt einige Otarakteristika, die in Italien neu waren. Es entstand hier ein Verwaltungsbereich unter Führung eines Königs, dessen Befugnisse auf Italien beschränkt blieben. Der römische Imperiumsgedanke spielt nun keine Rolle mehr, und es entwickelt sich zum etstenmal etwas, das dem Begriff des Nationalstaates näher kommt. Der Langobardenkönig regiert souverän und unabhängig vom Kaiser in Byzanz. Bislang galten West-und Ostrom immer noch als Reichseinheit. So waren Odoaker oder die Ostgotenkönige juristisch nur Statthalter des Kaisers in Italien.
Wie viele germanische Stämme waren auch die langobarden anfänglich Arianer. Diese religiöse Bewegung ging im 4. Jh. von dem in Alexandria lebenden Anus aus, der die Göttlichkeit Christi leugnete. Dieser These wegen gab es in der Ostkirche zahlreiche Konzilien und Kompromisse. Unter den Germanen hielten die Langobarden am längsten am Arianismus fest und erklärten sich damit zu den erbittertsten Feinden des römischen Katholizismus. Daher wurden beim Eindringen in Italien die Kirchen geplündert und zerstört, Priester und Mönche getötet. Es dauerte fast neunzig Jahre, bis zum Jahre 663, ehe der Katholizismus von den langobarden offiziell angenommen wurde.
Die Herzogtümer Spoleto und Benevent, damit auch die Abruzzen und das Molise, haben innerhalb des langobardischen Königreichs immer eine Sonderrolle eingenommen. Anfänglich wurden die Herzöge vom König eingesetzt, allmählich aber schlich sich die Erblichkeit ein, vor allem in den Randgebieten des Landes, in Friaul, Spolero und Belle'vent. Die Herzöge, zunächst nur militärische Anführer, wurden zu Territorialherren mit eigener Rechtssprechung und eigenem Recht zur Kriegsführung. Das Herzogtum Spolero umfaSte den größten Teil der Abruzzen und nördlich davon große Gebiete im östlichen Mittelitalien. Das noch größere Herzogtum Benevent erstreckte sich in der Blütezeit vom Flußlauf der Pescara bis nach Süditalien mit Ausnahme kleinerer Gebiete, die der oströmischen Herrschaft erhalten blieben, wie das Territorium von Otranto in Apulien, Teile des südlichen Kalabrien, Gaeta und Neapel. Die Abruzzen und das Molise waren also verschiedenen Dukaten zugeordnet, deren Interessen oft weit auseinanderlagen. Die Herzogtümer Benevent und Spoleto waren von den übrigen langobardischen Herzogtümern durch das Patrimonium getrennt. Diese päpstliche Domänenverwaltung unterstand formal 0strömischer Oberhoheit und umfaßte die Romagna, Teile der Marken, Umbriens und Latiums, Gebiete, die später dem Kirchenstaat zugehörten. Dieser päpstliche Korridor begünstigte natürlich den Umstand, daß in den Dukaten Spoleto und Benevent die Bindungen an die Hauptstadt Pavia lockerer waren als anderswo.
Die politisch-soziale Struktur des Langobardenreichs war völlig verschieden von der des römischen Imperiums. Es entstand ein ganz neues Straf-und Zivilrecht, auch hatte das neue Bild vom Herrscher wenig Ähnlichkeit mit antiken Vorbildern. Die Befugnisse, die anfänglich dem langobardischen König allein zugedacht waren, gingen bald auf die Herzöge über. Diese unterteilten ihre Länder weiter in Gastaldate, und jeder Gastaldat konnte kraft seiner eigenen Rechtsbefugnisse wiederum den Herzog vertreten. Die Gastaldate waren aber bei weitem nicht die kleinsten Verwaltungseinheiten. Diese bildeten kleinere Siedlungen, Dörfer und Kastelle. Dort hatte der Schultheiß mitzusprechen. Diese Dezentralisierung ist für die entfernteren Herzogtümer charakteristisch und schafft z.B. in den Abruuen und dem Molise eine nie dagewesene Situation. Bislang kannten wir don nur eine städtische Kultur. Zwar hörte die Pflege der Städte unter den Langobarden nicht auf, doch war sie weniger wichtig als bei den Römern. Hinzu kommt nun erstmals die Erschließung des Landes, die Bedeutung der Dötfer und der Kleinsiedlung. Die Aufgliederung der Verwaltung vermehrte die Zahl der Verantwortungen, die in den Händen von Langobarden mit kleinen Chargen lagen. In den Urkunden tauchen die Namen kleinster Dörfer und Siedlungen auf, die bisher noch nicht überliefert waren. Es ist aber nicht nur diese zahlenmäßige Vermehrung festzustellen, darüber hinaus werden viele der neu entstandenen Ortschaften geschichtsträchtig. Es bildet sich hier eine neue Gesellschaftsschicht, die innerlich und äußerlich in der Lage ist, den Hegemonieansprüchen der byzantinischen Kaiser und dem Machthunger der Sarazenen in Italien entgegenzutreten. Damit rückt unsere Region in den Brennpunkt europäischer und außereuropäischer Machtfragen.
Die staatspolitische Wirkung der Langobarden konnte erst zur Geltung kommen, als das Problem des Arianismus aus dem Weg geräumt war. Die Absage an diesen Glauben interessierte zunächst natürlich den Papst, dessen kirchliche Organisation durch die Ananer ins Wanken geraten war. Gregor d.Gr. zielte auf eine Verständigung hin und kam damit auch den Wünschen entgegen, die in den Reihen der Langobarden schon aufgeraucht waren. Der staatskluge Gregor fand eine Bundesgenossin in Theudelinde, Tochter des bayerischen Herzogs Garibald. Sie war von Haus aus eine treue Katholikin und Gemahlin der langobardischen Könige Authari (gest. 590) und Agilulf (gest. 616). Mit König Aribert, einem Brudersohn der Theudelinde, begann 663 (S. 72) die Reihe der katholischen Herrscher. Langsamer als im Herzogtum Spoleto erfolgte die Abkehr vom Arianismus im Herzogtum Benevent. Noch um die Mitte des 7. Jh. war dort die Hälfte der Bevölkerung arianisch. Solange es Arianer gab, war der katholische Klerus, soweit er überlebt hatte, fränkisch oder römisch. Wie in der weltlichen Verwaltung erfolgt nun auch in der Kirchenorganisation eine Umschichtung. Langobarden besetzen kirchliche Ämter und werden in unvorhergesehenem Maße die besten und treuesten Katholiken.
Trotz der strengen Scheidung von Langobarden und untergeordneten Römern muß eine Angleichung an die römische Lebensweise stattgefunden haben, so daß man von einer Romanisierung der Langobarden sprechen möchte. Ihre eigene Schriftsprache wurde nicht gepflegt. Alle uns bekannten Urkunden sind lateinisch abgefaßt, auch die berühmten Gesetze der Langobarden, aus völlig germanischen Vorstellungen erwachsen, sind lateinisch niedergeschrieben, freilich so unbeholfen, daß ein Lateinlehrer genügend zu korrigieren hätte. Die zahlreichen langobardischen Geschichtsschreiber bedienten sich der klassischen Sprache. Wir kennen keine langobardischen Inschriften, und alle Legenden auf den Münzen sind lateinisch. Als Umgangssprache hat sich langobardisch natürlich erhalten, aber auch da verschwinden allmählich die letzten Spuren, im Dukat von Benevent am Ende des 10. Jahrhunderts. Nach dem Fall von Pavia 772 übernahm Karl d.Gr. das Langobardenreich und nennt sich König der Franken und Langobarden, ebenso wie später die italienischen Nationalkönige (888-962) und danach die deutschen Kaiser wie Otto d.Gr. Das Weiterleben des langobardischen Namens verbürgt, daß die Verhältnisse sich nicht grundlegend änderten. Die Verwaltungseinrichtungen blieben weitgehend die alten, nur wurden, wenn es sich machen ließ, die Langobarden durch Franken ersetzt. Inzwischen waren jedoch anderweitig grundlegende Veränderungen vor sich gegangen. Der Kirchenstaat hatte sich als weltliche Macht etabliert. Seine Entstehung verdankte er der Pippinschen Schenkung. 754 ließ sich Papst Stephan II. von Pippin III. gegen übertragung der Merowingerkrone die zum Patrimonium Petri und zum Herzogtum Rom gehörigen Landstriche zuerkennen, das Gebiet zwischen Gaeta, Tivoli und Todi, zu dessen Abtretung Pippin die Langobarden gezwungen hatte. 755 fügte Pipp in noch Bologna, Ferrara und die Küste von Ravenna bis Ancona sowie die anstoßende Romagna hinzu. Diese Schenkung seines Vaters bestätigte Karl d.Gr. 774 dem Papst Hadrian I. und hinterlegte die Urkunde in der Peterskirche in Rom auf dem Altar und Grabe des Apostels Petrus. Wenn Karl sich schon König der Langobarden nennt, dann müßte er sich jedoch eingestehen, daß sein langobardisches Reich nicht so fest gefügt war wie ehedem. Die Herzogtümer Spoleto und Benevent hatten zu große Selbständigkeit erlangt, Benevent noch mehr als Spoleto. Als Karl 774 die langobardische Macht der fränkischen unterstellte, reagierte noch im selben Jahr das Herzogtum Benevent, in dem der schon 16 Jahre lang regierende Herzog Arichis sein Land zum selbständigen Fürstentum erklärte. Mit nationalem Stolz wurde hier das letzte Stück des alten Langobardenreichs verteidigt. Doch konnten die Langobarden von Benevent ihre Freiheit nicht allein aufrechterhalten. Von den Franken bedrängt, wurden sie in die Arme der im Süden benachbarten Byzantiner getrieben. Die Folge war eine Hellenisierung des jungen Fürstentums in Sitten und Gewohnheiten sowie in der Kunst. Der um 730 in Friaul geborene Paulus Diaconus ist in Benevent Lehrmeister der Adelperga in der griechischen Sprache. Diese Prinzessin war Tochter des Langobardenkönigs Desiderius und Gemahlin des Fürsten Arichis. Für diese feinsinnige Dame schrieb Paulus seine berühmte Historia Romana. Dies sei nur kurz eingeflochten, um anzudeuten, wie Benevent zum Drehpunkt wird, wo sich die byzantinisch-hellenistische und die karolingische Welt begegnen.
Manche Anzeichen weisen darauf hin, daß das Territorium Benevent weniger von Langobarden durchsetzt war als die nördlichen Dukate. Unter Führung ihres Herzogs Alzeco baten einwandernde Bulgaren um Ländereien zum Siedeln. Vom Herzog Romuald von Benevent (671-687) erhielten sie das verlassene Gebiet, wo einstmals die Städte Sepino, Bovianum und Isernia blühten. Aus dem bulgarischen Herzog wurde ein langobardischer Gastalde, und Paulus Diaconus berichtet, daß die Bulgaren zu seiner Zeit in dieser Gegend wohl das Vulgärlatein kannten, aber den Gebrauch der eigenen Sprache noch nicht aufgegeben hatten. Die Entvölkerung erfolgte durch die grausamen Sarazeneneinfälle, die ihren Höhepunkt im 10. Jh. erreichten. Eine anschauliche Schilderung gibt die Chronik von S. Vincenzo al Volturno: »In jener Zeit gab es in diesen Gegenden nur ganz wenig Burgen, sie waren voller Siedlungen und voll von Kirchen. Weder Angst noch Furcht gab es vor Kriegen, und alle erfreuten sich des höchsten Friedens, allerdings nur bis zur Zeit der Sarazenen.« Die Abtei Montecassino blieb über Jahrzehnte unbewohnt. Als Abt Aligernus 949 in sein Kloster zurückkehrte, besiedelte er das Umland mit Menschen aus dem Marserland. Dasselbe wiederholte sich in S. Vincenzo al Volturno. Abt Raimbald (920-944) holte zur Besiedlung Leute aus dem Paelignerland, aus Corfinio, heran, wahrscheinlich mit guten Erfahrungen, denn Abt Paulus (957-981) siedelte wieder Corfiniesen im Sangrotal an, besonders in Alfedena, und 962 überläßt der Abt das Gebiet von Montaquila in der Provinz Isernia sogar Siedlern fränkischer Herkunft (de finibus Franciae). Man sieht aus solchen Hinweisen, daß das Molise für die Regierung in Benevent nicht besonders interessant war, zumal von den nördlichen Nachbarn, den Spoletanern, kaum Gefahren drohten. Die Politik war auf Apulien und auf den Westen ausgerichtet, auf Capua, Salemo, Amalfi und Neapel. In eigentümlicher Analogie wiederholt sich ein Vorgang, den wir schon bei den Samnitern beobachteten, die gleichfalls politisch engagiert in Kampanien und nur wenig aktiv im Stammland um Boiano waren. Anders als mit Benevent verhielt es sich mit dem Herzogtum Spoleto, dessen Autonomie aus langobardischer Zeit (S. 73) allmählich von der neuen fränkischen Verwaltung verdrängt wurde. Karl d. Gr. verband mit diesem Dukat besondere politische Absichten. Die Herzöge hatten in seinem Auftrag auf das Geschehen in Rom zu achten, sie sollten den Papst beschirmen und ihn vor möglichen Feindseligkeiten schützen, die im Umland aufflackern konnten. So wurden die Spoletaner treueste Anhänger der fränkischen Partei in Italien, ganz im Gegensatz zu den Beneventanern. Die Spoletaner gelangten zu hohen Staatsstellungen. Guido (Wido), Herzog von Spoleto, stammte aus edler fränkischer Familie, verwandt mit Fulco, Erzbischof von Reims. Zur Frau hatte er Ageltrude, Tochter des Fürsten von Benevent. 891 wird Papst Stephan V. zur Kaiserkrönung Guidos gezwungen und 892 Papst Formosus zur Krönung von dessen Sohn Lambert. Lambert wurde 876 in S. Rufino di Valva geboren, einem Klostersitz in der Nähe von Sulmona, der von S. Vincenzo al Volturno aus verwaltet wurde. Aus Vaterfreuden stellte Guido eine Urkunde für S. Vincenzo aus, in der er dem Kloster soviel Gold vermachte, wie das Gewicht des eben geborenen Lambert betrug. Wie schwer dieser bei seiner Geburt war, ist leider nicht überliefert.
Heute ist es seltener, vor einer Generation jedoch war es häufiger, daß man vor allem im höher gelegenen Gebirge auf Siedlungen mit rothaarigen, sommersprossigen Menschen stieß, die noch Nachfahren der germanischen Eindringlinge waren. Wenn man die Urkundenbücher der Langobarden, Franken und deutschen Kaiser durcharbeitet, erregt die große Zahl germanischer Namen in den Abruzzen und im Molise immer wieder Verwunderung. Natürlich sind die Gastaiden nicht einheimisch, und doch erstaunt man über die Namensformen. So heißen z.B. die Vorsteher im Gastaldat von Valva (Corfinio): Camerinus (751), Anscaus (775), Ilpit (787), Aifred (852), Sanson (852), Framsit (854) und Ursus (966). Allein an Hand der Urkunden des Klosters Farfa hat man 1911 ein Büchlein zusammengestellt, das über die fränkischen Siedlungen in den Abruzzen vor dem Jahre 1000 handelt. Das Gebiet von Furcone, das alte Bistum bei L'Aquila, und der nördliche Teil der Diözese Valva hatten einen ungeheuren Zustrom nordischer Einwanderer erfahren. Zur Veranschaulichung nur wenige Beispiele. Am 6. Februar 873 vermacht Madelbert, fränkischer Herkunft und Sohn des Adelbett, nach salischem Recht (secundum nostram Salicham legern), seinen Landbesitz in Furcone dem Kloster in Farfa. Als Zeugen des Vertrags signieren in Amiternum, der Geburtsstadt des Sallust, folgende Personen: »Signum manus supradicti Madelperti, Frodoardi ex natione Francorum, Salichonis ex natione Francorum, Adelfredi ex natione Franeorum« usw. Ein anderes Beispiel aus der Chronik von Casauria: 872. schenkt ein Auderadus aus Amiternum »secundum ritum nostrae legis Langobardorum« 1900 Morgen Land an S. Clemente in Casauria im Beisein des deutschen Kaisers Ludwig II. Die Einwanderer bildeten nicht nur eine Oberschicht, wir finden sie auch in den niederen Klassen. Wieder ein Beispiel aus Furcone. Dort heißt der Schmied Filerad, der Gärtner Teudipart. In Furcone wird das Gesinde aufgezählt, das im Dienst des Klosters Farfa tätig ist. Es arbeiten da Sindiperga, Tochter der Ermiperga, Bona, Tochter der Acciana, Ladeperga, Tochter der Barda, Fuscula, Tochter der Rodiperga, Gisula, Tochter der Gaideperga, Astula, Tochter der Donata, Armilia und Lamperga, Töchter der Lunicunda, Autula, Tochter der Bonula, Causula, Pergula, Proda, Ursula, Töchter des Gärtners Ursus.
Es ist schwer zu beurteilen, ob die germanischen Siedler die Einheimischen verdrängten, oder ob sie in unbesiedelte Gegenden vorgedrungen sind. Der letztere Fall scheint mir zutreffender. Im 10. Jh. erscheinen neben germanischen Siedlungen slawische Kolonien im Marserland unweit des Fuciner Sees. Slawen tauchen in den Urkunden von S. Vincenzo al Volturno als Zeugen auf. Von der Besiedlung des Molise mit Bulgaren sprachen wir an anderer Stelle. Die neuen Niederlassungen der Langobarden und Franken können wir auch aus der topographischen Namensforschung erschließen. Das Wort »Guardia« z.B. geht auf das germanische Ward (Warte) zurück, und in dem Ort Guardia Vomano bei Notaresco haben wir es sicherlich mit einer fränkischen Siedlung zu tun. Nach Paulus Diaconus ist das Wort »Lama« langobardischen Ursprungs und bedeutet vom Wasser umspülte Siedlungen, lehmiges Gelände. Wir kennen die Ortschaft Lama dei Peligni, und im Tal des Aventino kommen Wortverbindungen mit Lama häufiger vor, ebenso in der Provinz Teramo. Das langobardische »Fara« bezeichnet den Zusammenschluß einiger Familien zum Schutz ihrer Siedlungen, gemeint ist der Hof oder die Sippe. Wieder überliefert die Provinz Chieti am besten. Dort liegen Fara San Martino und der Ort Fara Filiorum Petri. Die Chronik von Carpineto della Nora überliefert immer wieder ein Castellum Fara. Die Gemeinde Tossiccia entstand im 9. Jh. aus einer Siedlung, die dort Tosia, Feudalherr des benachbarten Ornano, angelegt hatte. Fresagrandinaria in der Provinz Chieti hieß früher Frisa di Grandinati. Dort residierte seit 1140 eine Familie Grandinati langobardischen Ursprungs.
Eine Vielzahl von Siedlungen wird erstmalig im 8. oder 9. Jh. genannt, und wir gehen nicht fehl, in solchen Fällen auf langobardische oder fränkische Gemeinwesen zu schließen. Nur einige Beispiele: Der Ort Mosciano S. Angelo wird 897 von Benediktinern gegründet, die Stadt Campli ist zum erstenmal 894 genannt. Nereto kommt schon in der Antike vor, ist aber eine langobardische Neugründung, die dem Herzogtum Spoleto untersteht. Neugründungen in der Provinz Pescara sind Manoppello aus dem 8. Jh. sowie im 9. Jh. Collecotvino und Moscufo, das 846 erwähnt wird. Der oben genannte Ort Fara San Martino existierte schon im Jahre 884.
Neben der weltlichen Verwaltung wurde auch die der kirchlichen Organisationen von Langobarden und Franken beherrscht. Die Klöster verfügten über ansehnlichen Landbesitz und fungierten selbständig wie Landesherren. überall entstanden neue, z.T. imposante Niederlassungen. Mochten die Gründungen zunächst aus echtem frommen Antrieb entstanden sein, so wurde doch im Lauf der Zeit die politische Wirkung ungeheuer. Es breitete sich ein feinmaschiges Netz (S. 74) geistlicher Siedlungen aus, die sich fest in der Hand der Langobarden und Franken befanden. Diese religiösen Gemeinschaften waren letztlich an das Papsttum in Rom gebunden und standen damit mehr oder minder im Gegensatz zum oströmischen Reich der Byzantiner, das von Konstantinopel aus regiert wurde und die Herrschaft über Italien beanspruchte. Ohne die kirchlichen Niederlassungen wären die langobardischen Herzog-und Fürstentümer wohl dem byzantinischen Druck und ihrer eigenen inneren Zerrissenheit erlegen. Der Ausweitung der byzantinischen Macht in Süditalien im 10. Jh. steht das Aufblühen der Klöster in Latium, den Abruzzen und dem Molise entgegen. Auch die Klöster hätten es schwer gehabt, den oströmischen Expansionsdrang abzuwehren, wenn nicht die Politik der erstarkenden deutschen Kaiser in die kirchliche Organisation eingegriffen hätte. Auf den Schlachtfeldern wurden keine wesentlichen Entscheidungen getroffen, und den Byzantinern ist es nicht gelungen, über Süditalien hinaus nach Norden vorzudringen. Im Gegenteil, ungefähr 1020 sicherte der byzantinische Befehlshaber von Bari das byzantinisch gewordene Apulien vorsorglich nach Norden durch eine Verteidigungslinie gegen mögliche überfälle aus dem Molise und den Abruzzen ab. Zu diesem Zweck baute er Befestigungen und gründete eine neue Stadt, Troia, die möglichen Angriffen standhalten sollte. Neben den Byzantinern gab es in Süditalien eine zweite Gefahr. Die Mächte des Islams, die in Sizilien schon festen Fuß gefaßt hatten, versuchten, von Süditalien aus die Apenninhalbinsel zu erobern. Die Mohammedaner, die zunächst von den unter sich zerstrittenen Beneventanern zu Hilfe gerufen worden waren, verheerten das Land schlimmer als die Byzantiner. Daß die Langobarden und Franken trotz größter Verluste das Schreckgespenst der Sarazenen bannen konnten, liegt zum Teil dar an, daß in den Abruzzen, dem Molise und den Nachbargebieten eine zwar dezentralisierte Verwaltung bestand, die indessen über hervorragende Kräfte verfügte, die einen dauernden Sieg der Fremdmächte verhindern konnten.
Wir kennen sechs bedeutende langobardische Klostergründungen, drei davon in Oberitalien, nämlich Bobbio, gegründet 614, das Kontakte zur Hauptstadt Pavia unterhielt, Novalesa, gegründet 726 in der Nähe von Susa als Bollwerk gegen das fränkische Reich, und Nonantola, 751/752 gegründet an der Grenze des Langobardenreichs zum Exarchat von Ravenna. Wichtiger in unserem Zusammenhang sind die drei Klöster im südlicheren Italien. Mit Hilfe des Herzogs Faroald II. entstand im Herzogtum Spoleto 680 das Kloster Farfa, von dort aus erfolgte 705/707 die Gründung von S. Vincenzo al Volturno im Molise im Gebiet des Herzogtums Benevent. Als langobardische Neugründung kann man auch Montecassino betrachten. Das von Benedikt von Nursia errichtete Kloster hatte nach dessen Tod nur eine kurze Lebensdauer von 34 Jahren. Zota, Arianer und Herzog von Spoleto, zerstörte es 581 weitgehend, so daß die Mönche nach Rom auswanderten, und erst 717 wurde das Kloster von dem Langobarden Petronax aus Brescia nach der Regel des Benedikt neu organisiert. Farfa und Montecassino sind in unmittelbarer Nähe zu den Abruzzen und dem Molise gelegen und können wegen ihrer zahllosen Ländereien, Kirchen und Klöster in unserer Region nicht unberücksichtigt bleiben. Im 9. Jh. erhielten die Abruzzen zusätzlich ein eigenes Reichskloster in S. Clemente a Casauria, eine persönliche Stiftung des deutschen Kaisers Ludwig II.
Als Karl d.Gr. 774 das Langobardenreich unter seine Oberhoheit brachte, hatten die Franken schon längst ihren Einzug in Italien gehalten, nicht als weltliche Herrscher sondern in den Organisationen der Kirche wirkend, wo sie bereits ihre Ämter und Pfründen innehatten. Diesen Vorgang leitete die vorausschauende Politik Gregors d. Gr. ein. Dieser Papst hatte eine besondere Vorliebe für die katholischen Franken. In Verbindung mit ihnen konnte er die Christianisierung der Angelsachsen betreiben, und in ihnen fand er ausgezeichnete Verbündete gegen die barbarischen langobardischen Arianer. Als diese schließlich zum Katholizismus übertraten, waren ihnen die in religiösen Praktiken viel erfahreneren Franken in der Besetzung der Ämter zuvorgekommen. Die Langobarden haben die Vormacht ihrer fränkischen Kollegen nie überwinden können. Lange Zeit in Arianer und Katholiken gespalten, haben sie selbst die Franken oft zu Hilfe gerufen. So ist z.B. Columban, ein Ire von Geburt und treu er Katholik, aus dem Frankenland in das Langobardenreich eingewandert, wo er 614 das von den Langobarden gestiftete Kloster Bobbio mitbegründete. Hier entstand bald ein Sitz der Wissenschaften, der viele irische Mönche anlockte. Columban verfaßte eine Schrift gegen die Arianer.
Ähnlich stand es um Farfa. Bis zum Ausgang des 8. Jh. wurden die Äbte mit nur einer Ausnahme aus dem Frankenreich geholt. Der erste Abt Thomas kommt aus Maurienne in Savoyen, der zweite, Aunctpertus, aus Toulouse, der dritte, Lucerius, aus Frankreich, der vierte, Fulcoaldus, aus Aquitanien, der fünfte, Wendelbertus, aus Aquitanien, der sechste, Alanus, aus Aquitanien, nur der siebte Abt, Probatus, stammt aus dem Sabinerland, der achte Abt, Ragambaldus, aus Gallien, der neunte Abt, Altbertus, kommt aus Paris, der zehnte, Mauroaldus, ist ein Franke aus Worms am Rhein. Sicherlich »langobardisch« war die Abtei S. Vincenzo al Volturno. Zwar waren die drei Gründer und Äbte mit dem langobardischen Herzogshaus in Benevent verwandt, doch orientierten sie sich am religiösen Leben im Frankenreich.
Bis zu den Zeiten der letzten Langobarden war Montecassino ein armes Kloster. Dann erhielt es vom 8. bis zum 12. Jh. Schenkungen, die sich über ganz Italien erstreckten, von Sizilien bis zum Po, von Sardinien bis nach Dalmatien, und auch außerhalb Italiens verfügte das Kloster über Ländereien in Frankreich und Spanien, sogar in Ungarn und in der Türkei. Zu diesem Besitz gehörten Hunderte von Klöstern und Kirchen, viele Kastelle mit ihren Territorien. Das Kloster stellte eine Macht dar, die erst im 13. und 14. Jh. durch das Aufblühen der Bettelorden und der Städte an Bedeutung verlor. Die entlegenen Besitzungen von Montecassino hießen Zellen und Propsteien, und ihre Vorsteher wur (S. 75) den in der Regel vom Mutterkloster ernannt. Sie zahlten jährlich einen Zins und durften von sich aus nichts veräußern. Montecassino besaß schon um das Jahr 1000 Ländereien im Marserland sowie in und um Venafro, im ganzen war der Besitz in den Abruzzen größer als im Molise. Zu Montecassino gehörten in der Provinz L'Aquila das Kloster S. Angelo bei Alba Fucense, die Kirche S. Maria delle Grazie in Luco dei Marsi und die Abtei S. Angelo in Barreggio bei Villetta Barrea, in der Provinz Pescara das 1020 gegründete Kloster S. Maria di Cartignano bei Bussi und das berühmte Kloster S. Liberatore alla Maiella in der Nähe von Serramonacesca. Im Tal des Flüßchens Tresta in der Provinz Chieti besaß Montecassino 1032 ein Salvatorkloster. Auf der bekannten Bronzetür, die Abt Desiderius in Konstantinopel für Montecassino gießen ließ, prangten die Namen und Wappen der hervorragendsten Besitzungen, von denen ein Kastell in Penne, die oben genannte Kirche S. Angelo di Barrea und eine Benediktinerkirche in Venafro verzeichnet werden.
Auch das Kloster Farfa hatte seine Besitzungen weit mehr in den Abruzzen verstreut als im Molise. Dieser langobardischen Gründung unterstanden die Kirchen S. Maria a Mare bei Giulianova, anfänglich S. Pellegrino in Bominaco und die Abtei S. Giovanni in Venere bei Fossacesia. Die von Farfa unterhaltenen Ländereien lagen zumeist am Oberlauf des Aterno in Amiternum, Furcone, Paganica und S. Demetrio ne'Vestini, im Marserland in S. Potito bei Ovindoli, in Paterno bei Avezzano, in Trasacco und Pescina, andere in Teramo, Atri, Penne, in Carsoli, Raiano, Corfinio, in Chieti und Atessa. Nimmt man den ansehnlichen Klosterbesitz von S. Vincenzo al Volturno und von S. Clemente a Casauria in unserer Region hinzu, so mag man eine Vorstellung bekommen, wie durchlöchert der weltliche Besitz der Dukate von Spoleto und Benevent war.
Vor dem Einfall der Normannen sind erstaunlich wenig Kirchenbauten erhalten. Indessen geht man fehl mit der Annahme, die Bautätigkeit in unserer Region habe erst in der romanischen Zeit begonnen. Nur die Ursache für das fast völlige Verschwinden der Monumente ist schwer auszumachen. Ganz sicher fielen die wichtigsten Bauten den Sarazeneneinfällen zum Opfer, auch mögen tellurische Einwirkungen eine Rolle gespielt haben. Da die Kirchen und Klöster aus langobardischer und fränkischer Zeit in späteren Jahrhunderten oft überbaut wurden, möchte man annehmen, daß durch gezielte Grabungen an die ursprünglichen Bauten heranzukommen wäre. Deranige Unternehmungen sind bislang nicht in Gang gekommen, und so bleiben wir vorläufig auf die historische überlieferung angewiesen, die wir in diesem Zusammenhang nur andeuten können. In Campovalano entstand im 8. Jh. eine Benediktinerabtei, die im 12. und 13. Jh. neu gebaut wurde. S. Maria di Propezzano bei Morro d'Oro ist eine Kirche aus den Anfängen des 14. Jahrhundens. Am Eingangsportal der Kirche steht in schwarzen gotischen Lettern und mit roten Initialen die Gründungsgeschichte der Kirche geschrieben. Die lange Inschrift erzählt von der Heimreise dreier deutscher Rompilger, die als Erzbischöfe bezeichnet werden. Zur Nacht binden sie ihre Pferde an einen Baum, hängen die mitgeführten Reliquien in den Zweigen auf und legen sich darunter schlafen. In ihrem Traum beginnt der Baum plötzlich in den Himmel zu wachsen, die Gottesmutter erscheint den Pilgern und gebietet ihnen, ihr an dieser Stelle ein Gotteshaus zu bauen. Papst Gregor II. hört von dem Wunder, reist in die Abruzzen, weiht anno 715 die Kirche und verspricht allen Pilgern, die hierher wallfahren, die Vergebung der Sünden. Die Existenz einer früheren Kirche bestätigt sich durch noch vorhandene Teile des alten Bauschmucks sowie durch die jüngst freigelegte Apsis eines einschiffigen Baues. Die heutige Michaelskirche in Citta S. Angelo stammt von 1326 und liegt über einem früheren Bau des 9. Jahrhunderts. Die wegen ihrer Malereien berühmte Kirche S. Maria in Piano in Loreto Aprutino geht auf eine langobardische Gründung zurück. Die von Papst Coelestin V. restaurierte Abtei S. Spirito della Maiella bei Roccamorice bestand schon im 9. Jahrhundert. Aus eben dieser Zeit hören wir von einer der hl. Agatha geweihten Kirche in Chieti und von der Abtei S. Giovanni in Venere bei Fossacesia, an die im 8. und 9. Jh. reiche Schenkungen ergingen. Die Benediktinerabtei S. Stefano in Rivomare bei Casalbordino Stazione wurde 842. errichtet. Eine Gründung des 8. oder 9. Jh. ist die Pfarrkirche in S. Eusanio Forconese, 1198 von neuem erbaut und 1461 durch Erdbeben vernichtet. Vor 1061 existierte in Avezzano eine Trinitätskirche, vor 944 bestand ein Benediktinerkloster in Larino, und 1003 gab es in Boiano ein dem hl. Apollinaris geweihtes Gotteshaus.
Die Errichtung von Klöstern und das Anwachsen ihres Reichtums wurde durch höchste Stellen in der langobardischen und fränkischen Verwaltung gefördert. Eine Inschrift mit großen Lettern am Portal von S. Pietro ad Oratorium verkündet, daß dieses Gotteshaus von König Desiderius gegründet und im Jahre 1100 renoviert worden sei. Desiderius regierte seit 756 als letzter König der Langobarden. Aus der Chronik von S. Vincenzo al Volturno wissen wir jedoch, daß die Peterskirche schon 752 existierte. Desiderius kann daher kaum der Gründer und Erbauer gewesen sein, vielleicht war er Schirmherr oder Mitbeschützer dieser Kirche. Sicherere Nachrichten haben wir über die Schenkungen der Herzöge von Spoleto. Sie stifteten nicht nur an das in ihrem Dukat gelegene Farfa sondern auch an S. Vincenzo al Volturno im Gebiet des Herzogtums von Benevent. Der langobardische Herzog Hildebrand von Spoleto (gest. 789) vermachte 775 Landbesitz im Marserland an S. Vincenzo al Volturno und im selben Jahr andere Ländereien im Marsergebiet und um Penne sowie einen Hafen am Fuciner See an das Kloster Montecassino. 778 kommen neue Gebiete aus dem Marserland an S. Vincenzo al Volturno. 973 stiftete Trasmundus, Graf von Chieti, Herzog von Spoleto und Markgraf von Ca merino, Landbesitz an das Kloster S. Giovanni in Venere.
Mit ihren Schenkungen standen die Beneventaner nicht nach. Bevorzugt wird wieder S. Vincenzo. Unter den Fürsten ragt Sicard (832-839) hervor, der 833 und 836 Besitzungen (S. 76) in Venafro an S. Vincenzo schenkt. Wichtiger ist ein Privileg von 967, in dem Paldulf I. Eisenhaupt, Fürst von Capua und Benevent, die Klöster Montecassino und S. Vincenzo al Volturno ermächtigt, ihre Domänen und Außenbesitzungen nach eigenem Gutdünken zu sichern und militärisch zu befestigen. Diese Urkunde ist grundlegend für die Entwicklung und das Aufblühen der ländlichen Gemeinden im 11. Jahrhundert. Die kleinen befestigten Orte in unserer Region bieten heutzutage einen pittoresken Anblick und üben eine starke Faszination auf den Reisenden aus.
Neben den Regierenden war auch die Verwandtschaft des Herzogs-und Fürstenhauses dem Katholizismus tatkräftig ergeben. Das wichtigste Beispiel hierfür ist die Gründung des schon vielfach genannten Klosters S. Vincenzo al Volturno, das zu den hervorragendsten benediktinischen Mönchssiedlungen Süditaliens gehört, berühmt in der Kirchengeschichte sowie in der humanistischen und künstlerischen Tradition. Die bereits erwähnten Gründer waren drei junge Edelmänner, zwei Brüder und deren Vetter, Paldo, Tato und Taso, Verwandte des Herzogs Gisulf von Benevent (689-706). Sie hatten sich dem geistlichen Leben zugewandt und ihre Heimat verlassen, um die Klöster im Frankenreich kennen zu lernen. Auf ihrer Reise wurden sie in der jungen Mönchsstadt Farfa nördlich von Rom von dem fränkischen Abt Thomas von Maurienne empfangen und angehalten, ihr Leben Gott an den Quellen des Volturno zu widmen. Laut der Chronik von Farfa erwirkte Thomas vom Herzog Gisulf das notwendige Gelände und zeichnete selbst den Plan des Klosters. Dieses wurde von den drei Edelleuten 703 an der Stelle gegründet, wo bereits ein kleines dem hl. Vincenz geweihtes Oratorium bestand. Paldo stirbt dort als erster Abt 720, Tato als zweiter 729 und Taso als dritter 739. Siebzig Jahre nach der Gründung zählte das Kloster 500 Mönche. 815 schenkte Alahis, Sohn des Fürsten Arichis von Benevent (774-787), Besitzungen in Venafro, u.a. eine Marienkirche, an das Kloster S. Vincenzo.
Die Herzöge und Fürsten von Benevent waren immer Langobarden. Anders im Dukat Spoleto. Hildebrand, gest. 789, ist letzter langobardischer Herzog, sein Nachfolger Guinigisus (789-822) ist dagegen Franke. Eine neue Schicht entwickelte sich aus den erblich gewordenen Gastaldaten, es bildeten sich Feudalfamilien, die hohe politische Bedeutung erlangten und ihren Landbesitz mehrten. Am wichtigsten sind in den Abruzzen die Grafen des Marserlandes. Ihr Ursprung geht in das 10. Jh. zurück. Stammvater war Berardus, mit Beinamen Francicus, verwandt mit Hugo, König von Italien (926-947). Von ihm erhielt Berardus die Provinz Valeria und die Grafschaft der Marser. Diese Grafen besaßen auch Celano. Das Geschlecht erlischt im 15. Jh. und hat bis zu seinem Ende nicht an Bedeutung verloren.
Bernhard, Graf von Penne, Sohn des Lindunus, gründet 962. die bekannte Abtei S. Bartolomeo in Carpineto della Nora. Dieser Graf ist auch Stifter des Marienklosters in Picciano, östlich von Penne. Oderisius I., Graf von Valva, ein Franke, gründet ungefähr 1001 die Marienkirche in Bominaco, die, freilich in späterer Zeit umgestaltet, zu den schönsten Kirchen der Abruzzen zählt. Der Gründer der Abtei S. Giovanni Battista bei Collimento, einem Ortsteil von Lucoli bei L'Aquila, ist ein Franke, der uns 1077 begegnet. Er nennt sich in der Stiftungsurkunde folgendermaßen: »Ich, Graf Oderisius, Sohn des Grafen Berardus, fränkischer Abstammung, wohnhaft im Dukat Spoleto, in der Nähe von Furcone in der Burg Collimento.« Das Kloster existiert noch und zeigt romanische Spuren aus dem 12. und 13. Jh., im Innern aber ist es im Barock umgestaltet worden. Daneben finden wir auch Stifter, die keine hohen Ämter bekleidet haben. 926 gibt z.B. ein Franke namens Rainardus Geld zum Wiederaufbau von S. Vincenzo al Volturno, dafür überläßt Abt Raimbaldus (920-944) dem Geldgeber Ländereien in der Gegend von Corfinio. 981 vermacht ein Alipertus, Sohn des Roffridus d' Alimanta, Landbesitz an das Kloster S. Giovanni in Venere.
Die Präsenz der Byzantiner und Sarazenen in Süditalien einerseits und die Macht des jungen Kirchenstaates andrerseits boten den deutschen Kaisern genügend Anlaß, in diesen Grenzlandschaften aktive Politik zu treiben. Grundlage für alles Handeln war das Wohlwollen der Päpste, und so versuchte man auf jede nur mögliche Weise, Einfluß auf die Besetzung des Stuhles Petri zu erlangen. 983-984 wurde Johannes XIV. Papst, vorher Erzkanzler Kaiser Ottos II. in Italien. Hinter dem Namen Gregor V. verbirgt sich Bruno von Kärnten, der erste deutsche Papst und Urenkel Ottos d.Gr. Am 3. Mai 996 wurde er zum Papst gewählt, und schon am 21. desselben Monats krönte das erst 24jährige Oberhaupt der Christenheit seinen 16jährigen Vetter Otto III. zum Kaiser der Römer. Und eine Urkunde überliefert den erlauchten Kreis, der in der Peterskirche in Rom dieser Feier beiwohnte. Vertreten waren die Stämme der Römer, Franken, Bayern, Sachsen, Elsässer, Schwaben und Lothringer. Von 1046 bis 1057 regierten sogar vier deutsche Päpste nacheinander.
Die Langobarden im Südreich von Benevent waren dem deutschen Kaiser gegenüber oft sehr kritisch eingestellt, sie waren gleichsam Diener zweier Herren. Ostrom hatte den Anspruch auf dieses Land nie aufgegeben, und die deutschen Kaiser versuchten ihrerseits, ihre Oberhoheit über dieses Gebiet wirksam werden zu lassen. Ihre Politik zielt jedoch nicht auf völlige Unterwerfung ab. Man bediente sich anderer Mittel, indem man in diesen Spannungsgebieten versuchte, über die Klöster Einfluß zu gewinnen. Die wichtigsten von ihnen wurden zu Reichsklöstern erklärt, die direkt vom Kaiser abhängig waren. Den Reichsrechten, die die Kaiser in Farfa, Montecassino, S. Vincenzo al Volturno und in S. Clemente a Casauria innehatten, kam also hohe politische Bedeutung zu, und sie wurden von seiten der Langobarden offiziell auch nicht bestritten. Die aktive Politik der deutschen Kaiser in Süditalien beginnt mit Karl d. Gr. und endet mehr oder weniger mit der Konstituierung des Normannenreiches.
Das Nationalitätenproblem, hier Langobarden, dort Franken oder deutsche Kaiser, konnte natürlich virulent werden. In den 80er Jahren des 8. Jh. gab es unter den Mön (S. 77) chen in S. Vincenzo eine langobardische und eine fränkische Partei. Mehrere Mönche, die zu letzterer gehörten, beanstandeten in jener Zeit, daß der Abt in seinen Gebeten nicht die Fürbitte für den König Karl, den späteren Kaiser Karl d. Gr., einschloß und sich darüber hinaus ungebührlich über ihn geäußert habe. Streitigkeiten konnten auch bei der Berufung des Abtes entstehen, wenn dieser ausgesprochener Parteigänger der fränkisch-deutschen oder der griechisch-byzantinischen Seite war. Derartige Machtfragen bestimmten längere Zeit die Geschicke von Montecassino. Atenolf, Abt dieses Klosters, war Sohn des Fürsten von Benevent und Bruder Paldolfs III., des energischen Fürsten von Capua. Das Hauptziel dieser beiden war die Absage an den deutschen Kaiser und die Begünstigung der byzantinischen Politik. Abt Atenolf wurde als Rebell betrachtet, und als sich Kaiser Heinrich II. 1022 im Beneventanischen sowie in Montecassino aufhielt, wollte er nach Konstantinopel fliehen. Er ertrank auf der in Otranto begonnenen Seereise. Der Kaiser setzte sich nun mit Nachdruck für die Nachfolge eines Kandidaten ein, der seine Politik unterstützte und fand in seinem Freund Theobald die geeignete Persönlichkeit. Dieser kannte die byzantinische Welt in Konstantinopel aus eigener Anschauung sehr gut und war vor seiner Abtszeit Propst in dem von ihm erbauten Kloster S. Liberatore alla Maiella in den Abruzzen gewesen. Als Parteigänger des Kaisers kam Theobald natürlich in Konflikt mit seinem Landesherrn Paldolf III., dem Bruder seines Vorgängerabtes. Theobald wird in Capua von Paldolf gefangengehalten und stirbt 1036 im Exil. Nach dem Tode Heinrichs II. ging Paldolf mit einem von ihm als Abt eingesetzten kalabresischen Mönch vollends zur griechischen Partei über. Darauf mußte Kaiser Konrad von neuem intervenieren. Paldolf III. und sein Abt flohen 1039 nach Konstantinopel, und neuer Abt von Montecassino wurde der dem Kaiser gewogene Richerus aus Bayern. Das Beispiel von Montecassino mag zeigen, wie kompliziert das Gefüge eines Klosters ist, das sich im Spannungsfeld zweier Imperien befindet. Der bedeutendste in der Liste der Äbte von Montecassino war ein Langobarde, der seit 1058 amtierende Desiderius, Sohn des Fürsten von Benevent, von Papst Gregor VII. als Nachfolger gewünscht und als Papst Viktor III. von 1086-1087 auf dem Stuhl Petri.
Wir können hier nicht im entferntesten die deutsche Kaiserpolitik in Süditalien nachzeichnen. Trotzdem mag man erstaunt sein zu erfahren, wie stark die Abruzzen und das Molise am internationalen Kräftespiel als Schauplatz und in eigener Wirksamkeit beteiligt waren. Auf seinen zahlreichen Italienfahrten regelt Karl d. Gr. seine Reichsinteressen ganz persönlich. 775 weilt er in S. Vincenzo al Volturno, 787 in Montecassino und Capua, 801 in Spoleto. Sein Sohn, Kaiser Ludwig I., der Fromme, ist besonderer Wohltäter von S. Vincenzo al Volturno, wo er sich 818 aufhält. 831 schenkt er 21 Häuser in Amiternum an S. Vincenzo, und die Chronik des Klosters spricht von einem Neubau, den Ludwig I. mit dem Abt Josua (792-817) durchgeführt habe. Die Beiden waren miteinander verwandt, Josua war am kaiserlichen Hof geboren und erzogen.
Unter den karolingischen Herrschern ist in unserer Region besonders Kaiser Ludwig II. wirksam. Dieser in seinen Unternehmungen nicht vom Glück begünstigte Kaiser hatte die besten Absichten, die Sarazenen aus Süditalien zu vertreiben. Dies gelang ihm nur teilweise, weil er zu wenig Hilfestellung, ja geradezu Feindschaft, im Fürstentum Benevent fand. Dagegen wurde er durch die beiden Klöster S. Vincenzo al Volturno und Montecassino unterstützt. Vom 13. August bis 17. September 871 wurde Ludwigi I. in Benevent von seinem eigenen Vasallen, dem dortigen Prinzen, gefangengehalten. Nach seiner Freilassung gelobte er die Gründung eines Klosters; so entstand San Clemente a Casauria. 871 kaufte er eine Insel in der Pescara und errichtete darauf 872. eine Kirche zu Ehren der Dreifaltigkeit. Als er im selben Jahr von Papst Hadrian II. die Reliquie des hl. Clemens zum Geschenk erhielt, ließ er sie dorthin überführen, und die Kirche erhielt von nun an den Namen S. Clemente. Große Landschenkungen erhielt Casauria vom Kaiser in den Jahren 87,3 und 874, und die neue Niederlassung gehörte fortan in die stolze Reihe der Reichsklöster in Italien. Der kaiserliche Einfluß auf dieses Kloster dauerte nur bis zum 11. Jh., die letzte Kaiserurkunde zugunsten Casaurias stammt von 1047. Kaiser Ludwig besuchte seine Gründung öfter und im Jahre 87,3 auch für längere Zeit, damals verweilte er dort vom September bis nach Weihnachten. Die Gründungsgeschichte wird historisch getreu in einem Relief des 12..Jh. über dem Eingang in die Klosterkirche dargestellt. Auch die Kaisermutter Ermengarda war an der Gründung Casaurias interessiert. Sie verfügte über eigene Besitzungen in der Gegend von Penne, die sie der neuen Niederlassung vermachte. Ihr verdanken wir wahrscheinlich auch die Stiftung der Clemenskirche in S. Clemente al Vomano in der Provinz Teramo. Ludwig II. schenkte 866 Besitz im Gebiet von Venafro an das Kloster S. Vincenzo al Volturno. In der Nähe der Kirche S. Pietro in Alba Fucense sind noch Ruinen einer Benediktinerabtei S. Angelo zu sehen. Sie gehörte seit 872 zu Montecassino und war ein Geschenk Ludwigs II. Eine andere ehemals berühmte karolingische Niederlassung ist heute so gut wie vergessen. Dort, wo jetzt der Friedhof von Villetta Barrea liegt, erhob sich einst das Benediktinerkloster S. Angelo in Barreggio, errichtet im 8. Jh. mit einer Blütezeit um die Mitte des 9. Jahrhunderts. Das Kloster war mit besten Privilegien ausgestattet, die es von Karl d.Gr., Ludwig dem Frommen und seinem Sohn, Kaiser Lotharl. (840-855), erhielt. Ludwig II. und seine Gemahlin Engelberga besuchten das von ihren Vorfahren begünstigte Kloster 872, als sie von Sulmona über Scanno nach Montecassino reisten. Nachdem er dort ehrenvoll aufgenommen worden war, bedankte sich der Kaiser mit Schenkungen neuer Ländereien. Dann ließ er in Villetta Barrea eine Abteikirche errichten, deren Schönheit die Zeitgenossen bezeugen. An den Aufenthalt des Kaiserpaares erinnert in der Nähe des Ortes eine Quelle, die noch heute »Fonte della Regina« genannt wird. Das Kloster wurde von Sarazenen zerstört und erlangte nie wieder die frühere Bedeutung.
Nach der Karolingerzeit waren die Kaiser in den Abruz (S. 78) zen und im Molise weniger baufreudig als ihre Vorgänger. Sie sicherten den erworbenen Bestand, begünstigten durch Privilegien die großen Klöster und hielten sich oft in unserem Bergland auf. Die ottonischen Kaiser treiben wieder aktive Politik in Süditalien. Otto d. Gr. hält sich während seiner Regierungszeit allein sechs Jahre in Italien auf. Allerdings sind seine militärischen Bewegungen gegen die Byzantiner im Süden nur Augenblickserfolge geblieben. 962 schenkt er dem Papst Besitzungen im Dukat von Spoleto, u.a. in Teramo, Amiternum, Furcone, Valva und im Marserland, am 18. Februar 964 schenkt er Ländereien im Territorium von Penne an Montecassino, und 968 urkundete er für S. Vincenzo al Volturno. Otto I. ist öfter persönlich in den Abruzzen gewesen, am 12. Februar 964 hält er sich in Raiano bei Corfinio auf, am 18. und 19. desselben Monats in Pa terno bei Avezzano, 968 treffen wir ihn wieder in den Abruzzen an, wo er Angelegenheiten der Klöster S. Clemente a Casauria und S. Vincenzo al Volturno regelt.
Otto II. heiratete 972 in Rom die Griechin Theophano, und sie erhält u.a. die Grafschaft Pescara zum Geschenk. Das Kloster Casauria wird von dem jungen Kaiser bedacht. 981 hält er sich im Marserland auf und muß eine Zuneigung zu dieser Landschaft gefaßt haben. Denn in einer Hochebene baute er in Rocca di Cambio, an der Straße, die heute von L'Aquila über Ovindoli nach Celano führt, eine Villa oder einen Palast, um dort die heißen Sommermonate zu verbringen. Mit seinen 1434 Metern ist dieser Ort der höchste in den Abruzzen, und nur wenige wissen, daß er im Mittelalter Rocca Ottonesca hieß, in Erinnerung an Kaiser Otto II. Viel Freude wird dieser an seinem Feriensitz nicht gehabt haben. 982 verliert er bei Stilo im südlichen Kalabrien die leichtfertig begonnene Schlacht gegen die Sarazenen; es ist die größte Niederlage, die das Heilige Römische Reich seit Karl d. Gr. erlitten hat, und bei der die Blüte der germanischen Aristokratie ums Leben kam. Wie ein Wunder und auf abenteuerliche Weise entgingen der Kaiser und seine Frau Theophano diesem Desaster, und am Ende seines Lebens taucht Otto nochmals in unserem Bergland auf. Am 24. August 983 urkundet er zugunsten von S. Vincenzo al Volturno. Im selben Monat hält er sich im Tal des Trigno auf und kommt einige Zeit später nach Larino. Dort erfährt er vom Tode des Papstes Benedikt VII. und kehrt unverzüglich nach Rom zurück, um Einfluß auf die Papstnachfolge zu nehmen. Nur wenig später stirbt der Kaiser am 7. Dezember im Alter von 28 Jahren. Sein Porphyrsarg ist heute noch in der Peterskirche in Rom zu sehen. Sein Sohn Otto III. ist am 2. Februar 994 im Gebiet von Valva anzutreffen, und wir wissen, daß er S. Vincenzo al Volturno Privilegien verliehen hat.
Es ist eigentümlich zu beobachten, wie es die deutschen Kaiser und germanischen Völker immer wieder, auf fast magische Weise, nach Süditalien gezogen hat; sie kamen mit weltoffenen Ideen aber wenig Möglichkeiten zur Realisierung. Nach dem mißlungenen Unternehmen Ottos II. bei Stilo sind wir von neuem über die Heeresbewegungen nach Süditalien unter Kaiser Heinrich II. unterrichtet. Der Plan der Kriegsexpedition gegen die Byzantiner entstand in Deutschland. Im November 1021 stellt der Kaiser in Augsburg sein Heer zusammen, bestehend aus Bayern, Schwaben und Lothringern. Mit 60000 Kriegern zieht er über den Brenner nach Ravenna, wo er Ende Dezember anlangt. Hier wird das Kriegsvolk in drei Gruppen unterteilt. Die größte Heeressäule mit nahezu 30000 Soldaten steht unter kaiserlichem Befehl, zieht die adriatische Küste entlang, und in den Abruzzen empfängt der Kaiser den Treueid der Grafen von Penne und von Chieti. Eine andere Einheit mit 11000 Soldaten führte der Erzbischof von Aquileia an. Er marschierte direkt auf das Marserland zu und vereinigte sich am Fuciner See mit den Truppen unter kaiserlichem Befehl. Das dritte Corps mit 20000 Kriegern unter Erzbischof Piligrim von Köln handelte selbständig und zog über Rom nach Kampanien. Der Erfolg dieses Mammutunternehmens stand in gar keinem Verhältnis zum Einsatz. Zunächst ging es darum, die abtrünnigen Vasallen in Benevent und Capua zu bändigen. Der Kaiser kommt nach Benevent, urkundet von dort für S. Vincenzo al Volturno, aber das Hauptziel, die Befreiung Süditaliens von den Byzantinern, wurde nicht erreicht. Die historischen Quellen sind sich nicht einig, ob es dem Kaiser gelungen ist, die byzantinische Festung Troia zu besetzen.
Ähnliche Bemühungen wiederholen sich unter dem Kaiser Konrad II. 1026 stößt sein Heer wieder an der adriatischen Küste entlang nach Apulien vor. Es ist aber nicht sicher, ob der Kaiser mit seinen Truppen den Lauf der Pescara nach Süden überschritten hat. Erst später erscheint Konrad wieder in den Abruzzen. 1038 treffen wir ihn im Reichskloster von Casauria an und am 14. Juni desselben Jahres in Perano unweit des Sangroflusses. Auch er urkundete für S. Vincenzo al Volturno. Die Präsenz der nachfolgenden Kaiser in den Abruzzen wird immer seltener. Heinrich III. erteilt dem hl. Adalbert, Mönch von Casauria, Erlaubnis für Kirchengründungen. 1047 hält er sich in Montecassino auf. Kaiser Lothar III. von Supplinburg weilt 1137 mit seiner Gemahlin Richenza, Tochter Heinrichs des Fetten, Graf von Northeim, am Flußlauf des Trigno, und von dort besucht er das Kloster S. Clemente a Casauria, und auf dem Wege nach Apulien kommt er an Termoli vorbei.
Die Geschicke dieser Jahrhunderte wurden wohl nicht allein von der Allmacht der neuen Germanenstämme bestimmt, Reste der bodenständigen Bevölkerung haben sicherlich überlebt und weiter gewirkt. Aus dem abruzzesischen Umkreis taucht eine Persönlichkeit auf, die wir kurz zu erwähnen haben. Papst Bonifaz IV. (608-615) stammte aus dem Marserland, aus Marruvium, dem heutigen S. Benedetto dei Marsi. Es ist in dieser Zeit ein Sonderfall, daß ein Nichtrömer zum Papst gewählt wird. Sein Vorbild war Gregor I., der Große, und wie sein Vorgänger begünstigte er das Mönchtum, das ja im Marserland schon lange Zeit starke Wurzeln geschlagen hatte. Man sagt Bonifaz nach, er habe in Marruvium ein großes Benediktinerkloster gegründet. Ob ihm das tatsächlich gelungen ist, möchte man angesichts des unglückseligen Verhältnisses der katholischen Kirche zu den langobardischen Arianern bezweifeln. Bonifaz ist (S. 79) der erste unter den Päpsten, der das heidnische Rom in eine Christenstadt umgewandelt hat. Er erhielt vom oströmisehen Kaiser Phokas das Pantheon zum Geschenk und weihte den antiken Bau der Muttergottes.
Im 10. Jh. blüht in Kalabrien und Apulien ein Mönchtum mit griechischer Sprache und griechischer Liturgie, dessen Angehörige in die umliegenden Landschaften auswandern. Dabei ist nicht zu sagen, ob dahinter ein Expansionsdrang des wiedererstarkten Griechentums in Süditalien steht, oder ob die Furcht vor den Sarazenen den Anstoß gab. Exponent dieser Bewegung ist der hl. Nilus aus Rossano. Wir treffen ihn 980 in Capua an, in Montecassino wurde er mit allen Ehren empfangen, und Kaiser Otto III. führte in der Nähe von Rom vertraute Gespräche mit ihm. Man hat bislang kaum beachtet, daß auch in den Abruzzen Vertreter dieser religiösen Bewegung auftreten. In diesem Zusammenhang ist Fako zu nennen, der im 10. Jh. in Kalabrien zu dem Umkreis der Basilianermönche gehörte und in die Abruzzen einwanderte. Ansonsten wissen wir von dem Leben des Mönches, der der Schutzheilige des Ortes Palena in der Provinz Chieti ist, wenig. Ein anderer kalabresisch-griechischer Mönch war der hl. Nikolaus. Auch er lebte im 10. Jh. und hing einer Gruppe von 29 Mönchen in Cosenza an, die wegen Bedrohung durch die Sarazenen am Ende des Jahrhunderts das Tal des Cratiflusses verließen und unter ihrem Abt Hilarion in die Abruzzen kamen, wo sie am Lauf des Aventino neue Klöster gründeten. 1338 wurden die Gebeine des hl. Nikolaus in die Franziskanerkirche von Guardiagrele überführt, wo sie in einer Kristallurne hinter dem Hauptaltar aufbewahrt werden. In einer Nebenkapelle gibt es eine kleine Sammlung von Votivbildern, die dem Heiligen als Zeichen der Verehrung und als Dank für seine Wirksamkeit gewidmet sind. Das Anachoretenleben konnte auch von den großen lateinischen Klöstern befürwortet werden. Unter Abt Guido von Casauria (1024-1045) lebte der hl. Adalbertus, Mönch von Casauria. Von seinem Kloster erhielt er die Erlaubnis, Eremit zu werden und bewohnte verschiedene Einsiedeleien, wofür sich die Abruzzen bestens anbieten. Adalbeet erneuerte alte und gründete neue Klöster in Penne, Chieti und in der Diözese Valva. Sein Bild ist auf einer Miniatur des 12. Jh. in der Chronik von Casauria in der Pariser Nationalbibliothek dargestellt.
Der hl. Dominikus von Sora (951-1031) stammte aus Foligno im Dukat Spoleto. Sein Hang zum Eremitenleben führte ihn in den abruzzesischen Apennin. Beim See von Scanno gründete er die Kirche S. Pietro ad Lacum und unterstellte dort die Mönche einem Prior. Dann trieb es ihn weiter nach Süden in das Molise. Dort gab ihm der Graf Borrellus um 981 die Möglichkeit, das Kloster S. Pietro Avellana zu bauen, das von dessen gleichnamigem Sohn noch 1025 Schenkungen erhält. Später gründet Dominikus das Bartholomäuskloster Trisulti in der Provinz Frosinone und 1011 ein Kloster bei Sora am Lirifluß, eine Niederlassung, die nach dem Tode des Heiligen von Oderisius, Graf der Marser, mit Kirchengerät ausgestattet wird. Oderisius' gleichnamiger Sohn wird 1087 Abt von Montecassino. Dominikus gilt als Heiler von Schlangenbissen, und ihm ist eine Kirche in Cocullo gewidmet, in der noch heutzutage alljährlich dem Heiligen an seinem Fest Schlangen dargebracht werden.
Reliquienkult und Reliquienhandel erreichen ihren Höhepunkt im 10. Jahrhundert. Die Überführung der Gebeine des hl. Clemens von Rom nach Casauria spielte eine wichtige Rolle bei der Gründung des Reichsklosters Ludwigs II., wie bereits dargestellt wurde. Von einem anderen Fall berichtet der Geschichtsschreiber Sigebert von Gembloux (gest. 1112). Er erzählt von einer Translation der Reliquien der hl. Lucia von Syrakus nach Corfinio. Das war wahrscheinlich ein Unternehmen des Faroaldus II. von Spoleto, den wir als Stifter des Klosters Farfa kennenlernten. Theoderich I., Bischof von Metz (gest. 984), der zusammen mit Kaiser Otto I. in Italien war und noch im unglückseligen Feldzug Ottos II. gegen die Sarazenen eine große Rolle spielte, holte 970 viele Reliquien aus Italien in seine Bischofsstadt, u.a. auch die der hl. Lucia aus Corfinio.
Der heilige Benedikt hatte in seinen Regeln die Mönche noch nicht zur geistigen und wissenschaftlichen Betätigung aufgefordert. Erst die nächste Generation mit Cassiodor, der in dem von ihm gegründeten Kloster Vivarium in Kalabrien wirkte, widmete sich den geistigen Disziplinen. Cassiodor verpflichtete seine Mönche, auch Bücher profanen Inhalts zu studieren und sie durch fleißiges Abschreiben zu tradieren. Diese neuen weltlichen Interessengebiete sind dann in späteren Jahrhunderten in Montecassino sehr gepflegt worden, und es entstand hier ein geistiger Mittelpunkt, dem in Italien, vielleicht mit Ausnahme von Bobbio, nichts Vergleichbares zur Seite zu stellen ist. Begünstigt durch seine geographische Lage zwischen dem östlichen und westlichen Imperium, konnte Montecassino zu einer Stätte werden, wo dem christlichen Abendland die antiken Wissenschaften vermittelt wurden. Es entstanden dort Übersetzungen medizinischer und philosophischer Werke aus dem Griechischen. Eine Intensität des Studiums wie hier wurde in anderen Klöstern nicht erreicht, weder in Farfa noch in S. Vincenzo al Volturno oder in S. Clemente a Casauria. Da diese aber in dauernder Verbindung mit Montecassino standen, mag mancher geistige Brosamen vom Tisch des Mutterklosters auf die Nachbarklöster gefallen sein.
Montecassino war seit dem 8. Jh. eine geistige Begegnungsstätte der ganzen Welt. Dazu nur einige Schlagzeilen. Willibald, ein Engländer, machte 720 eine Pilgerreise ins Heilige Land, kehrte 729 nach Italien zurück und ließ sich in Montecassino nieder. Er schloß sich später dem Missionswerk des Bonifatius an, wurde Bischof von Eichstätt, wo er ein Kloster gründete und 781 starb. Im Jahre 744 gründete der ebengenannte Bonifatius das Kloster Fulda. Der erste Abt dieser Niederlassung wurde sein Lieblingsschüler Sturmi, der die Stätten des hl. Benedikt aufgesucht hatte. Der Langobardenkönig Ratchis zog sich 749 von seinen Regierungsgeschäften zurück und wurde Mönch in Montecassino. Karlmann, Bruder Pippins des Kleinen, entsagte 747 der fränkischen Herrschaft, zog nach Italien, gründete das Kloster auf dem Berg Sorakte bei Rom und wurde 750 (S. 80) Mönch in Montecassino. Anselm, Herzog von Friaul und Verwandter des Langobardenkönigs Aistulf, war Mitbegründer des Klosters Nonantola. Auch er hielt sich in Montecassino auf. Paulus Diaconus trat ungefähr 779 in das Mutterkloster ein und widmete sich hier literarischen Arbeiten. Auf Wunsch Karls d. Gr. verfaßte er eine Auswahl von Predigten für das ganze Jahr, schrieb eine Biographie Gregors d. Gr., und in Montecassino entstand sein Hauptwerk, die Geschichte der Langobarden, die er bis zum Jahre 744 aufgezeichnet hat. Der hl. Adalhardus (gest. 827) war ein Verwandter Karls d. Gr. Nach einer anfänglichen Tätigkeit in Corbie siedelte er nach Montecassino über und ging dann wieder zurück nach Corbie, wo er Abt wurde. Der hl. Liudger, friesischer Abkunft, lehrte einige Zeit in Utrecht. Er hat Montecassino besucht und danach die Klostergründung in Werden a.d. Ruhr betrieben. Er wurde später Bischof von Münster und starb 809. Der an den Wissenschaften interessierte Langobarde Bettharius wurde 848 Abt von Montecassino, empfing 866 Kaiser Ludwig II. in seinem Kloster und verherrlichte dessen mitreisende Gemahlin in poetischen Ansprachen. Er sammelte Handschriften grammatischen und medizinischen Inhalts; 883 wurde er von den Sarazenen ermordet. Erchempett von Montecassino, der noch 904 lebte, Sohn des Langobarden Adelgarius, eines angesehenen Bürgers von Teano, führte die unvollendete Langobardengeschichte des Paulus Diaconus bis zum Jahre 889 weiter; außerdem machte er sich als Poet einen Namen. Theoderich von Fleury kam 1002. längere Zeit nach Rom und war danach in Montecassino literarisch tätig. Im 11. Jh. ist der Humanist Laurentius von Montecassino zu nennen, der eine ausgezeichnete Geschichte des böhmischen Herzogs und Märtyrers Wenzeslaus verfaßte. Theobald II., Abt von Montecassino (1022-1035), lernten wir schon als Freund Kaiser Heinrichs II. kennen. Er war Propst in S. Liberatore alla Maiella in den Abruzzen und großer Bücherfreund. Auf einer Miniatur im Kodex 73 des 11. Jh. in Montecassino ist Theobald vortrefflich dargestellt, wie er als Stifter mit geneigtem Haupt dem hl. Benedikt die Abschrift der Moralia des Papstes Gregor d. Gr. überreicht. Dieses Stifterbild verrät den Einfluß byzantinischer Miniaturen. Eigentümlich ist die Umrandung der Darstellung mit einem Palmettenmuster, das später in romanischer Zeit häufig als Schmuckmotiv in der Reliefkunst vorkommt. Einer der glänzendsten Humanisten des 11. Jh. ist Erzbischof Alphanus von Salerno mit Kenntnissen in der Medizin, der Grammatik, der Musik und noch Poet dazu. Er ging in Montecassino ein und aus und verherrlichte die Äbte in seinen Gesängen. Ein anderer Salernitaner, der in Montecassino ein geschätzter Mönch wurde, ist Waifarius. Seine Predigten und Gedichte aus der 2. Hälfte des 11. Jh. sind noch im Mutterkloster erhalten.
Geringer scheint das humanistische Leben in den anderen Klöstern der Dukate Spoleto und Benevent gewesen zu sein. In Farfa lebte Alanus (gest. 770) aus Aquitanien, er war dort sechster Abt und war ein gebildeter Mann. Auf ihn geht eine Predigtsammlung zurück, die die älteste ist, welche sich auf ein ganzes Jahr bezieht. Dieses Homiliar wurde später als Grundlage für die Lesungen in der Peterskirche in Rom benutzt.
Im Gegensatz zu seinem Vater Konrad II. war Kaiser Heinrichm. (1039-1056) sehr gebildet. Er wurde von Gelehrten erzogen und erhielt in den Freien Künsten Unterricht von Almerich, der Abt in Pavia war. Aus Dankbarkeit machte der Kaiser später diesen verdienten Mann zum Abt im Kloster Farfa.
Ober einen großartigen Humanisten verfügte das Kloster S. Vincenzo al Volturno. Ambrosius Autpertus wurde dort 777 zum Abt gewählt. Schon ein Jahr später dankte er ab; er starb 784. Er ist fränkischer Abstammung und seine Bildung und schriftstellerische Gewandtheit machten ihn zu einer der imposantesten Persönlichkeiten vor der karolingischen Renaissance. Bis heute gibt es noch keine kritische Ausgabe seiner Werke. In zehn Büchern schrieb er einen langen Kommentar zur Apokalypse, dann verfaßte er die Gründungsgeschichte seines Klosters, eine von Paulus Diaconus gelobte Schrift, die in die später entstandene Chronik von S. Vincenzo al Volturno aufgenommen wurde und auch in Auszügen in der Chronik von Farfa vorkommt. Vor dem hl. Bernhard von Clairvaux ist Ambrosius Autpertus der bedeutendste Mariologe gewesen. Die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel hielt er für ungewiß. Seine Schrift »Conflictus vitiorum atque virtutum« ist Lantfrid gewidmet, dem ersten Abt von Benediktbeuern.
S. Clemente a Casauria hatte einen Humanisten in dem seit 1046 amtierenden Abt Dominicus. Zuvor war er Prior im Kloster Fruttuaria, einer Gründung des Königs Arduin von Ivrea (gest. 1015). Dominicus wird als religiöser Mann geschildert. Wegen seiner medizinischen Kenntnisse fiel er dem Kaiser Heinrich III. auf, der ihm sehr gewogen war, und mit dessen Zustimmung er Abt von Casauria wurde. Später begegnen wir ihm als Bischof von Valva unter Beibehaltung seiner Abtswürde.
Die Erinnerung an die Zeit der Langobarden und Franken ist in den Abruzzen lebendig geblieben, wobei die Langobarden kühl und fast ablehnend betrachtet werden im Gegensatz zu den Franken, zu denen aus Sagen und Erzählungen eine große Zuneigung spricht. In manchen Ortsnamen klingt noch die einstige Anwesenheit der Franken nach. Ein offenkundiges Beispiel ist Francavilla, das eine fränkische Siedlung bezeichnet. An die Schlacht von Roncesvalles, in der 778 die Nachhut Karls d. Gr. von den Basken geschlagen wurde und sein Paladin Roland gefallen sein soll, knüpft der Name der Kirche S. Maria di Roncisvalle (heute S. Maria Giovanna) vor der westlichen Stadtmauer von Sulmona an. Wie die berühmte Abtei im spanischen Roncesvalles, war auch die Kirche in Sulmona in Händen von Augustinern, und beide Niederlassungen verfügten über Hospize. Ortsbezeichnungen in Verbindung mit den Namen der Paladine, mit Rinaldo und Orlando (Roland), sind nicht selten. Ebenso haben sich Legenden von Karl d. Gr. erhalten; so gilt er z.B. als Stadtgcünder von Penne, und die Gegend von S. Liberatore alla Maiella ist reich an Sagen, die ihn betreffen. Dem Volksglauben nach ist der Kaiser der Gründer des Klo (S. 81) sters gewesen und hat es aus Dankbarkeit für den Sieg über einen großen heidnischen König gestiftet. In der Nähe der Niederlassung, zwischen Serramonacesca und Manoppello, liegt, von Bergen umschlossen, die Ebene der Paladine (Piana dei Paladini). Hier soll der Legende nach die Schlacht Karls d. Gr. stattgefunden haben. Als Wahrzeichen dieses Sieges wurden in diesen Gefilden zwei mächtige Burgen errichtet. Giganten waren die Bauleute, und obwohl die Kastelle einen Kilometer voneinander entfernt lagen, reichten sich die Riesen Hammer und Maurerkellen von einer Burg zur anderen. Der Florentiner Dichter Puki, Freund des Lorenzo de'Medici, hat in seinem Rittergedicht Morgante diesen Sieg Karls d.Gr. besungen. Die karolingische Tradition wird durch die Malereien des 16. Jh. in der Apsis von S. Liberatore bestätigt. Darin werden dem hl. Benedikt von Karl d. Gr. die Stiftungsurkunde und von Theobald, Propst von S. Liberatore, das Kirchenmodell überreicht.
Roland ist der gefeiertste Held der Karlssage. Eine der ihn betreffenden Legenden erinnert flüchtig an die Ovidsagen in den Abruzzen. Sie wurde von Francesco Savini, einem hervorragenden Gelehrten aus Teramo, festgehalten. Weithin sichtbar in der Ebene zwischen Giulianova und Teramo sind die Reste zweier römischer Grabmäler. Es wird erzählt, daß die Leute der Gegend darin die Fußstapfen des Riesen Roland sehen. Der Legende nach lebte er zur Zeit der Feen und war so groß, daß er mit einem Schritt die Entfernung zwischen den beiden Steinruinen, die etwa 200 bis 300 m beträgt, übetwinden konnte. Man sollte meinen, ein solcher Koloß hätte die Erde und ihre Bewohner erzittern lassen. Aber dem war nicht so. Er lebte nämlich in jenen seligen Zeiten, als noch die höchsten Herren das Land mit dem Pflug bearbeiteten. Wenn der Abend kam, spannte er die Zugochsen vom Pfluge los, steckte diesen sowie die Tiere in die Taschen seines Wamses und machte sich auf den Heimweg nach Rom. Denn dank seiner großen Schritte hatte er keine Mühe, täglich dieses entfernte Nachtquartier zu erreichen.
Guardia d'Orlando ist ein Berg (1353 m) oberhalb von Colli di Monte Bove bei Carsoli. Der Volksmund will, daß Roland dort oben Wache hielt, um das Marserland vor den Einfällen der Sarazenen zu schützen.
Unvergessen ist z.B. auch die Zerstörung Chietis im Jahre 801 durch Pippin, Sohn Karls d. Gr. Die Ungerechtigkeit und Grausamkeit, mit denen er vorging, sind der Bevölkerung übertrieben lebendig in Erinnerung geblieben. Man kann noch heute einen Bewohner von Chieti wegen eines Unrechts beschimpfen, indem man »re Pippino« sagt, worauf der Betroffene verstanden hat, was gemeint ist.
Der Hang zu abstrusen Vorstellungen manifestiert sich in den Abruzzen und im Molise in frühmittelalterlicher Zeit auch durch die Anwendung des magischen Quadrats:
R 0 T A S
0 P E R A
T E N E T
A R E P 0
S A T 0 R
Diese Zauberformel besteht aus 25 Buchstaben, die zu einem Quadrat von 5 x 5 Wörtern zusammengeordnet sind, und deren Lesung von allen Seiten gleichlautend ist, von vorwärts, von rückwärts, von oben nach unten und umgekehrt. Zum erstenmal begegnet man diesem Kuriosum in Pompeji 79 n. Chr. Es war eine im Abendland weit verbreitete Formel zur Abwehr von Unheil, vor allem bei Tollwut und Brandgefahr gebraucht. Wir finden sie aufgeschrieben, eingeritzt oder in Teig gebacken, und sie fehlt in keinem Zauberbuch. In unserer Region begegnen wir dem magischen Quadrat an der Außenwand von S. Pietro ad Oratorium bei Capestrano, am Kirchturm von S. Felice del Molise in der Provinz Campobasso und im 13. Jh. an der Fassade von S. Lucia in Magliano dei Marsi auf der Schmuckplatte, die links vom Barockfenster eingelassen ist. Darauf ist ein Löwe dargestellt, der eine nackte Frau gepackt hat, und zwischen dessen Beinen sich die Inschrift befindet.
Der Hemmschuh für die Entwicklung der Abruzzen und des Molise zur Zeit der Langobarden, Franken und deutschen Kaiser waren weniger die Byzantiner als die Sarazenen. Nach den punischen Kriegen hat es ein gutes Jahrtausend gedauert, bevor neuerlich Bestrebungen von Afrika ausgingen, das Mittelmeerbecken in die Hand zu bekommen. Die Araber versuchten, ihre Macht in drei Erdteilen auszubreiten, in Asien, Afrika und Europa. Den Höhepunkt ihrer kulturellen Blüte erlangten sie ungefähr in der Mitte des 10. Jh. mit bedeutenden Bildungsstätten in Spanien, besonders in Sevilla und Cordova. Dort hatte Papst Silvester II. studiert, der größte Gelehrte seiner Zeit, bekannt als Mathematiker, Astronom und Philosoph, bewandert in den Naturwissenschaften sowie Lehrer und Freund Kaiser Ottos III. In Italien waren im 9. und 10. Jh. die geistigen Beziehungen zu den Arabern dürftig. Hier war damals das Kriegsbeil bestimmend. Seit 827 wurde von Afrika aus zunächst Sizilien erobert, 831 kapitulierte Palermo, 843 erlag Messina und 878 Syrakus. Erst den Normannen gelang es, die Eindringlinge wieder aus Sizilien zu verdrängen. Die überfälle auf das Festland begannen vor der Mitte des 9. Jh. so erfolgreich, daß es bald zu festen Siedlungen kam, z.B. in Reggio Calabria, und bereits 841 bestand das Sultanat von Bari. Um 860 waren die Sarazenen in Süditalien auf dem Höhepunkt ihrer Macht, die hier keineswegs geringer war als in Sizilien. Begünstigt wurden die Unternehmungen der Araber durch die Zerstrittenheit der Langobarden. Wie gesagt, riefen die Beneventaner in ihrer Bedrängnis die Sarazenen zu Hilfe und verbündeten sich mit ihnen. Daß deren Vordringen abgewehrt werden konnte, ist jedoch nicht so sehr das Verdienst der Byzantiner, die selbst viel Land verloren, als vielmehr die Folge deutscher Kaiserpolitik, die starke Rückendeckung im Kirchenstaat und im Dukat von Spoleto nördlich der Pescara fand. Die fränkische Partei hatte ja bereits hundert Jahre früher die Sarazenen kennengelernt, als 732 Karl Martell in der Schlacht zwischen Tours und Poitiers den welthistorischen Sieg über die Araber erfocht.
Die Langobarden waren kein seefahrendes Volk, ihre kriegerischen Erfolge lagen vorwiegend im Binnenland und (S. 82) nur selten an den Küsten. Daher ging der Feind bei seinen Landungen in Süditalien kein großes Risiko ein. Die Kriegstaktik der Sarazenen war sehr überlegt. Zunächst galt es, weit ins Landinnere vorzudringen, um die donigen Gebiete durch Plünderung und Brandschatzung mürbe zu machen. Das nächste Ziel war die Anlage größerer Siedlungen mitten im Feindesland, um von da aus Beutezüge zu unternehmen. Deranige Räuberhauptquaniere befanden sich in Kampanien in Agropoli und am Lauf des Garigliano, dann im samnitischen Binnenland in Sepino und Boiano. Die Verheerun· gen sind im Dukat Benevent stärker gewesen als im Herzogtum Spoleto, das aber keineswegs verschont blieb. Angriffsziele der Araberhorden waren vor allem die Klöster. Weniger hatten sie es auf die weltlichen Potentaten abgesehen. Denn sie wußten, daß ihr größter Gegner die Kirche samt ihren Organisationen war, und daher haben die Unternehmungen der Sarazenen den Charakter eines Religionskrieges. Einer ihrer ersten Angriffe richtete sich gegen den Sitz der Christenheit; 846 landeten sie in Ostia und plünderten Rom, wobei die Paulskirche und die Peterskirche schwer in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die großen langobardischen Klöster und Reichsklöster verschwinden in dieser Zeit buchstäblich von der Erdoberfläche, Montecassino wird 883 und Farfa 891 zerstört.
In unseren Gebieten beginnen die Verwüstungen in den 40er Jahren des 9. Jahrhunderts. Zwischen 840 und 850 dringt der Bandenchef Massar, auch Abumassar genannt, in die Gegend nordwestlich von Benevent ein, stößt am Oberlauf des Volturno weiter vor, plündert das Kloster S. Vito bei Isernia und bedroht Isernia selbst. Ihn und viele andere Sarazenen ließ Kaiser Ludwig II. während seiner Anwesenheit in Benevent köpfen. Von Bari, dem Hauptsitz der Araber, stanet der Sultan 858 einen Raubzug, er erobert Venafro und den Oberlauf des Volturno und plünden das reiche Kloster S. Vincenzo al Volturno. 881 ereilt die Vernichtung die Orte Boiano, Isernia und einen Teil von Corfinio. Der schlimmste überlieferte Sarazeneneinfall erfolgte am 11. Oktober 881 und traf zum zweiten Mal S. Vincenzo. Die Zahl der ermordeten Mönche schwankt zwischen 500 und 900. Das einstmals blühende Alba Fucense wurde im 9. und 10. Jh. zerstört, ebenso die in ihrer Zeit berühmte Abtei S. Stcfano in Rivomare bei der Eisenbahnstation Casalbordino. 920 fiel das Reichskloster S. Clemente a Casauria, 937 die durch viele Kaiser begünstigte Benediktinerabtei S. Angelo in Barreggio in Villetta Barrea. Angriffe der Sarazenen ereigneten sich noch im 11. Jahrhundert. 1081 überfielen Horden das Gebiet von Ortona und S. Vito Chietino. Zu den Einfällen der Araber kommen noch die der Hunnen hinzu. 915 drangen diese vom Lauf des Garigliano bis in das Gebiet der Marser vor, ein anderes Mal, 938, zerstörten sie die bekannte Kirche SS. Rufino e Cesidio in Trasacco und erwas später Corfinio. Ein berühmter Korsar, Saian, hatte schon im 10. Jh. Tarent und die Küste des Tyrrhenischen Meeres gebrandschatzt, ein anderes Mal verlegte er seine Züge an die adriatische Küste, und Opfer wurde die Stadt Termoli.
Die Sarazeneneinfälle waren kein kurzfristiges Unheil. Sie haben auf viele Jahrzehnte das aufblühende Klosterleben in Süditalien lahmgelegt, und vielen Niederlassungen ist es fortan nicht mehr gelungen, den alten Glanz ihrer Bauten und die alten Leidenschaften in ihren wissenschaftlichen Bestrebungen zurückzugewinnen. In Montecassino entstand eine Vakanz von 67 Jahren, nachdem 883 die Bauten zerstört, Abt und Mönche ermordet wurden und die Überlebenden nach Teano in Kampanien geflohen waren. Durch Brand des dortigen Klosters ereilte die Mönche 896 neu es Unheil, sie wandenen weiter nach Capua und kehnen 950 unter dem Abt Aligernus zu ihrem Stammsitz zurück. Die Mönche von S. Vincenzo al Volturno brauchten 33 Jahre, um ihr Kloster wieder funktionsfähig zu machen. In der Zwischenzeit fanden sie in Capua oder in Benevent Unterkunft. In S. Angelo in Barreggio ist ein Stillstand von 80 Jahren zu errechnen. Der Zerstörung, bei der die Fundamente der Kirche jedoch nicht in Mitleidenschaft gezogen wurden, folgte erst 1017 ein Wiederaufbau, ausgeführt von Azzo, Mönch aus Montecassino, ohne daß das Kloster je das alte Ansehen wiedererlangte. 40 Jahre Vakanz sind in Farfa anzusetzen. Der erste Angriff geschah 890. Nach siebenjähriger Belagerung entschloß sich der Abt zur Abwanderung, einige Mönche schickte er nach Rom, andere nach Rieti und in die Marken. Araber, die wahrscheinlich in der Provinz Valeria saßen, übernahmen Farfa als Ausgangsbasis für neue Raubüberfälle. 930 und 936 kehrten die Mönche nach Farfa zurück, völlig verwahrlost, und es bedurfte Reformen, um das Klosterleben wieder in geordnete Bahnen zu bringen.
Das Kloster S. Clemente a Casauria wurde 920 zerstört; kurze Zeit nach dem Sarazeneneinfall starb Abt Itto. Schlicht und trostlos berichtet die Chronik von Casauria über die damalige Situation: »Nach seinem Tode war das Kloster ohne Leitung, weil die Mönche verstreut waren, Hab und Gut vernichtet, Dörfer und Burgen zerstört. Und es war keiner in der Umgebung, der Hilfe hätte bringen können, denn ein jeder war mit seinem eigenen Unglück ausgelastet.« Auch in Casauria erfolgte der Wiederaufbau äußerst langsam, selbst Abt Adam I., der aus der kaiserlichen Verwaltung kam und auf Anordnung Ottos III. das Kloster übernahm, konnte nicht viel ausrichten. Neuen Reichtum erlangte das Reichskloster erst nach dem Jahre 1000.
Betrachten wir die Kunsttätigkeit dieser Zeit, so dürfen wir nicht zu große Erwartungen hegen. Was von der Architektur erhalten ist, ist so dürftig, daß kein geschlossenes Bild entstehen kann. Zudem hat die Lokalgeschichte einige Bauten der langobardischen oder fränkischen Epoche zugeschrieben, die immer wieder mit Beharrlichkeit zitiert werden, deren Einordnung einer kritischen Sicht jedoch nicht standhält. Daß der Kirchenbau weit verbreitet war, bezeugt die dekorative Bauplastik dieser Zeit, von der in unserer Region mehr als in anderen italienischen Landschaften erhalten ist.
Die Mönchsstadt S. Vincenzo al Volturno ist der Ort, der die künstlerischen Vorgänge am besten überliefert. Auf die (S. 83) Gründung von 703 folgte ein schnelles Aufblühen. Die Vincenzbasilika ist die erste Kirche, von der wir etwas mehr als nur historische Fakten wissen. Diese von Abt Josua (792-817) unter Mithilfe Kaiser Ludwigs des Frommen gebaute Kirche war mit 32 prächtigen Säulen ausgestattet. Das außerordentlich kostbare Material karn aus einern antiken Tempel in der Gegend von Capua. Reste davon sind noch heute im Klostergelände verstreut. Bald nach josua wird Epiphanias Abt (824-842). Dieser wurde in der Nähe des Klosters geboren, in S. Martino am Berge Marsicus oberhalb der Quellen des Volturno. Laut der Chronik von S. Vincenzo baute er in der Mönchsstadt zwei Gotteshäuser auf kleinen, vorn Flußlauf des Voltumo gebildeten Inseln. Das eine war eine Marienkirche, das andere eine Laurentiuskirehe, welch letztere der Zerstörung der Sarazenen teilweise entgangen ist, so daß wir heute noch Teile der Architektur und vor allem die großartigen Malereien in der Krypta betrachten können, auf die wir noch zurückkommen werden. Den Grundriß der Krypta (Abb. 9) bildet ein unregelmäßiges griechisches Kreuz. Die Ausdehnung der Querarme beträgt insgesamt etwa 7 m in der Länge und 1,50 m in der Breite. Die etwa 4 m langen Längsarme sind breiter. Die mittlere Höhe des Innenraumes mißt ungefähr 3 m. Die Kreuzarme werden von Tonnengewölben überspannt, die sich in der Mitte auf ungeschickte Weise durchdringen.
Abb. 9: San Vincenzo al Voltumo,S. Lorenzo, schematischer Grundriß der KryptaZu wenig Aufmerksamkeit hat man bisher den übrigen Teilen der Lorenzkirche gewidmet, von der noch stattliche Reste erhalten sind. Die Größe der Hauptkirche beträgt ungefähr 11,50 x 6,50 m, bei einer Mauerdicke von etwa 60 cm. Die Reste der Wände sind ein bis zwei Meter hoch. Die Kirche wird im Abstand von mindestens einem Meter von einer Mauer umgeben, die wahrscheinlich das Gebäude gegen den Schub des ansteigenden Geländes sichern sollte. Der Eingang der Kirche liegt im Osten, und das Portal, dessen Marmorschwelle noch vorhanden ist, war etwa 1,20 m breit. Ein zweiter Eingang liegt ungefähr in der Mitte der linken Langhauswand. Im Westen befindet sich die Krypta, die mit Fenstern versehen ist. Der noch gut erkennbare Chor darüber liegt etwa 1,65 m höher als das Kirchenschiff, von welchem zwei Treppen, zwischen denen sich ein kleines Fenster zur Krypta öffnet, hinaufführen. Die Choranlage besteht aus einern wohlgeformten Trikonchos, dessen Ausdehnung in der Querrichtung etwa 6,50 m und in der Tiefe ungefähr 4,50 m beträgt. Der Chor ist im oberen Teil zerstört, doch sind noch Spuren von Malereien der Sockelzone zu erkennen, die von einem ornamentierten »velum« überzogen ist, das sich auf weißem Grund durch alle drei Konchen hinzieht. Das Muster des Stoffes im lebhaften Farbwechsel von Gelb, Rot und Grün besteht aus Quadraten mit eingezeichneten Kreuzen; in einigen sind noch Reste von Tierdarstellungen sichtbar. An mehreren Stellen kann man unter dieser Farbschicht noch eine ältere erkennen. In der Mitte der Hauptapsis steht der runde Stumpf eines Altars aus Marmor.
848 wurde S. Vincenzo durch Erdbeben in Mitleidenschaft gezogen, einige jahre später erschienen die Sarazenen zum ersten Mal und plünderten und brandschatzten. Aber erst 881 erfolgte die fast totale Vernichtung durch die Araberhorden. Von elf Kirchen und Kapellen wurden zehn zerstört. Von der Hauptkirche blieb der Marmorfußboden übrig, getränkt vom Blut der ermordeten Mönche. Diese nicht völlig zerstörte Kirche wurde von Abt Johannes IV. (998 bis 1007) mit großer Mühe wiederhergestellt unter Beibehaltung der früheren Ausmaße. Die Chronik von S. Vincenzo überliefert noch eine andere Kirche, die Abt Godepertus (902-920) begonnen hatte, und die unter Abt Raimbaldus (920-944) ausgemalt und vollendet wurde.
Aus stilistischen Gründen ist die Grottenkirche S. Angelo in Vetitu (in Vetulis) wohl noch vor das jahr 1000 anzusetzen. Sie liegt oberhalb der Landstraße, die von Sulmona nach Pacentro führt. Am Kilometerstein 3,1 geht es ohne Weg zwischen Olivenbäumen etwa 100 m zu dem heiligen Ort hinauf. Dieser besteht aus einer Kalksteingrotte mit einern Vorraum, dessen Seitenmauern mit alten Farbspuren noch vorhanden sind. Den Zugang vom Vorraum zur Höhle bilden drei Bögen, von denen der mittlere höher und breiter ist als die beiden seitlichen. Dahinter erkennt man eine dreischiffige Anlage sowie das Tonnengewölbe, das an den mittleren Bogen anschließt. Für den Bau bediente man sich antiker Spolien. Neben einer Säule mit einem glatten Schaft gibt es eine elegantere mit Kannelüren, ionische Kapitelle werden abgearbeitet, Säulenbasen als Kapitelle wiederverwendet, und eine in der Längsrichtung durchgesägte antike Grabstele dient als Pilaster. Auf eine frühe Datierung verweisen die Einritzungen auf den Keilsteinen der Rundbogen, kleine Kreuze, Kelche, Fische und Nachahmungen des antiken Musters mit dem gewundenen Tau. Wahrscheinlich aus späterer Zeit stammt im Grottengrund eine brunnenähnliche Aushöhlung zum Sammeln von Quellwasser. Die Grotte von Sulmona muß noch bis in die neuere Zeit als Heiligtum gedient haben, wie eine steinerne Rahmung aus der Renaissance für ein Altarbild oder einen Sakramentsschrank erkennen läßt.
Das Archiv von Montecassino verwahrt Aufzeichnungen des Propstes Theobald von S. Liberatore aHa Maiella, den wir schon als Freund Kaiser Heinrichs IJ. kennenlernten. 1019 schreibt er eine Selbstbiographie und gibt Rechenschaft von seinen Taten als Propst. Er stammte aus edler Familie in der Grafschaft Chieti, war Mönch in Montecas (S. 84) sino und Besucher des Heiligen Landes gewesen. Nach dem Erdbeben von 990, das das Kloster S. Liberatore in Mitleidenschaft gezogen hatte, wurde er dorthin entsandt und leitete die Geschicke dieser Niederlassung von 1007 bis 1019. Er fand an diesem Ort eine sehr kleine, schlecht beleuchtete Kirche vor, und die hölzernen Klostergebäude drohten einzufallen. Kurz nach seiner Ankunft begann er mit Neubauten, wozu er Felsstein verwandte. Die Fundamente der alten Kirche blieben bestehen, aber er verlängerte sie sowohl nach Westen wie nach Osten, wo er außerdem eine Krypta anlegte. Er ließ das Gebäude völlig ausmalen und schmückte es mit neuen Fenstern. Die neugebaute Kirche besaß sechs Altäre, der Hauptaltar war dem Salvator geweiht. Der Verfall von S. Liberatore betraf nicht allein die Bauten des Klosters, sondern hatte das gesamte mönchische Leben an diesem Ort erfaßt, wie wir aus einer anderen Quelle wissen. Einige Jahre vor Theobald war der aus Capua stammende Mönch Aldemarius von Montecassino nach S. Liberatore gekommen. Er muß Ende des 10. oder Anfang des 11. Jh. gestorben sein. Den Mönchen, sagt Aldemarius, mangelt es jeder Kenntnis von Kirchenmusik, auch fehlten wichtige Bücher für den Gottesdienst. Aldemarius schrieb für die Mönche ein Antiphonarium und hatte Eile, den Ort wieder zu verlassen.
Abb. 10: S. Clemente a Casauria, KryptaKunstwerke so früh wie möglich zu datieren, ist eine bekannte Neigung der Kunsthistoriker. Dafür gibt es auch Beispiele in den Abruzzen. Fehlurteile werden in Handbüchern und Kunstführern weitergeschleppt und von einer Generation zur anderen überliefert. Nur eine kurze Stellungnahme zu den bekanntesten Fällen. Weil Gregor d. Gr. schon einen Bischofssitz in Teramo erwähnt, war man rasch dabei, die eigentümliche Arkadenstellung in der Apsis der Kathedrale S. Getulio in das 5. oder 6. Jh. zu datieren, andere schlugen das 7. oder 8. Jh. vor. Es handelt sich hierbei um drei Bogenöffnungen, von denen die mittlere von zwei Monolithsäulen aus weiß und grüngesprenkeltem Cipollin (Zwiebelmarmor) mit korinthischen Marmorkapitellen getragen wird und beträchtlich breiter ist als die seitlichen, die gleiche Weiten aufweisen. Die Bögen sind aus Ziegelstein gemauert und stehen mit dem gesicherten Bau des 12. Jh. in keinem Verband. Indessen decken sich der Scheitel der mittleren Arkade und derjenige des Chorbogens aus romanischer Zeit. Der ältere Baurest wird somit gliederndes Element und in den Bau des 12. Jh. einbezogen, wobei allerdings die kleineren Seiten bögen des Triforiums verdeckt wurden. Solange keine speziellen Grabungen angestellt werden, bleibt die Funktion des Triforiums ungeklärt. Da die Fundamente beider Bauteile auf gleichem Niveau ansetzen, dürfte ihre zeitliche Entstehung nicht weit auseinanderliegen.
Völlig unsicher ist die Datierung der Krypta von S. Clemente a Casauria. Man glaubt, hier noch einen karolingischen Raum aus der Gründungszeit 874 zu erkennen. Der Grundriß der Krypta aber ist so entwickelt, daß Vergleichsbeispiele aus dieser Epoche kaum zu finden sind. Der übrige Bau, so wie wir ihn heute sehen, wurde 1176 begonnen und ist das Werk des Abtes Leonas (gest. 1182) und seines Nachfolgers Joel. Zwischen der Gründung 874 und 1176 hat die Chronik von Casauria manche Daten überliefert, die für eine Datierung der Krypta nützlich sein könnten. Wir wissen, daß die Kirche 920 von Sarazenen zerstört wurde und hören von Neubauten in den Jahren 951 und 970. Das Gotteshaus fiel aufs neue 1078 durch Brandschatzung des Normannen Hugo Maumouzet, Graf von Manoppello, zusammen. Der Wiederaufbau erfolgte unter Abt Grimoald zwischen 1090 und 1101. Die Neuweihe fand 1105 statt. Des entwickelten Grundrisses wegen bietet sich als nächster Vergleich die Krypta des Domes von Sulmona an, die 1075 datiert ist. Vielleicht verwendete man in S. Clemente Material einer älteren Krypta, jedoch ist der heutige Raumkörper nicht karolingisch. Man erreicht den Unterbau (Abb.10) durch zwei Eingänge vom Kirchenschiff. Seine künstlerische Qualität ist nicht sehr bedeutend. Der Raum wirkt gedrückt, die Stützen sind kaum mannshoch und setzen 20 cm unter dem modemen Fußbodenniveau auf dem gewachsenen Fels an. Eine Reihe von acht Säulen in ungleichen Abständen teilt den Raum in der Querrichtung, so daß neun Schiffe mit einer Tiefe von zwei Jochen entstehen. Das Gewölbe der halbkreisförmigen Apsis wird von vier weiteren Säulen mit korinthischen Kapitellen getragen. Die Gewölbe der Krypta wurden zwischen den Gurtbogen mit leichtem lokalen Tuffstein ausgefüllt, die Stützen sind zum größten Teil antiken Ursprungs. Die wenigen Basen, die verwendet wurden, hat man auf den Kopf gestellt; die Kapitelle sind grob und schmucklos gearbeitet. An der Apsiswand sind rechts noch Reste einer alten Steinbank, die sich einst um die Rundung zog. Ausgrabungen könnten Anhaltspunkte für eine genauere zeitliche Bestimmung bieten, ebenso die Feststellung der Beschaffenheit des Mauerwerks an der Nord-und Südseite, ferner wäre zu prüfen, ob die Krypta sich ursprünglich weiter nach Westen fortsetzte. Für eine Datierung wären unter Umständen die Reste dekorativer Malereien heranzuziehen, die im Tonnengewölbe der Nordseite sichtbar sind. Es handelt sich um seltsam systemlos verlaufende dekorative Bänder, die sich in unregelmäßigen Abständen verknoten. Für eine Frühdatierung könnten allerdings die Entlüfter (S. 85) sprechen, die in Krypten an sich ungebräuchlich sind. Einen von diesen hat man bei der letzten Restaurierung aus unerklärlichen Gründen zugemauert, während noch ein Beispiel links an der Wand der Apsis zu sehen ist in Form eines vertikalen Schachts aus zylinderförmigen Tonröhren.
Ihrer Würfelkapitelle wegen datiert man die Krypta der Kathedrale von Penne gewöhnlich vor das Jahr 1000. Jedoch finden wir derartige Formen, die aus der Lombardei in die Abruzzen eingedrungen sein mögen, öfters in unserer Region, wo sie sich lange halten; sie kommen in S. Giusta in Bazzano und noch im 14. Jh. unweit von Penne in S. Maria di Propezzano vor. Die einfachen kubischen Kapitelle bilden einen reizvollen Gegensatz zu den Monolithsäulen aus Granit, denen sie ohne Verbindung aufgesetzt sind. Letztere sind vielleicht sogar aus dem Osten importiert und hatten bereits in der Antike in Penne Verwendung gefunden. Die fünfschiffige Krypta besteht aus vier freistehenden Säulen und zwei Pfeilern. Ihre Kantungen und Vorlagen lassen schließen, daß es sich hier um eine der früheren Krypten in den Abruzzen handelt, die wahrscheinlich am Ende des 11. oder am Anfang des 12. Jh. entstanden ist.
Die kleine Landkirche S. Maria a Vico liegt nördlich der Landstraße, die von Nereto über S. Egidio alla Vibrata nach Ascoli Piceno führt. Der Bau wird heute allgemein von der Forschung als die älteste vollständig erhaltene Kirche der Abruzzen angesehen und vor das Jahr 1000 angesetzt. Diese frühe Datierung scheint trotz gewisser altertümlicher Einzelformen unzulässig. Das klare und bestimmte Absetzen der einzelnen Baukörper, die schwere massive Gestaltung des Campanile und das Portal weisen vielmehr in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts. In einer Urkunde des Papstes Anastasius IV. vom 27. November 1153 wird die Kirche zum ersten Mal erwähnt. Der Bau ist eine dreischiffige Anlage mit nur einer Apsis, die der Breite des Mittelschiffs entspricht. Gedrungene Säulen, die Rundbogen tragen, gliedern den Raum mit offenem Dachstuhl in sieben Joche. Der Campanile nimmt das erste Feld des linken Seitenschiffs und noch ein Stück des Mittelschiffs ein. Dieser Einbau bedingte die besondere Gestaltung der beiden ersten Stützen. Die linke ist ein rechteckiger Wandvorsprung am Campanile. Dem entspricht auf der gegenüberliegenden Seite ein Pfeiler, dem man zum Eingang hin eine Halbsäule vorlegte. Die Fassade des Turmes und die des Mittelschiffs liegen in einer Flucht. Wir begegnen hier ebenso wie in S. Angelo in Pianella, S. Giustino in Paganica und an der Fassade von S. Maria di Propezzano, die allerdings viel später entstand, einer eindrucksvollen Staffelung der Baukörper. Die Fensterrose ist das Werk moderner Restaurierung. Die Frage, ob sie eine ältere ersetzt, ist nicht mehr zu entscheiden, weil an der Fassade des Mittelschiffs starke Eingriffe vorgenommen wurden. Das kampanisch anmutende Kirchenportal mit Pfosten und Architrav ist sehr schlicht gehalten. Im Entlastungsbogen erkennen wir grob gearbeitete Rosetten und im 12. Jh. entstandene Evangelistensymbole. Die Kirche verdient ihrer Mauertechnik wegen einiges Interesse. Wie öfter im Gebiet von Teramo werden Ziegelstein und behauener Naturstein gebraucht. Bei der Verwendung der Ziegel begegnen wir einer Seltenheit im frühen romanischen Kirchenbau der Abruzzen, dem sogenannten »opus spicatum«. Dabei wechseln schmale horizontale Lagen mit solchen, in denen die Ziegel zu einem Fischgräten-oder Ährenmuster angeordnet sind, ein Motiv, das, aus der antiken römischen Baukunst hervorgegangen, im Mittelalter in der Lombardei nachlebt, so daß wir in diesem Fall wohl nördliche Einflüsse vermuten können. Zum alten Bestand der Kirche gehören die sehr gut erhaltenen Transennenfenster mit verschiedenen Mustern, die -was selten ist -sich noch an ihrer ursprünglichen Stelle befinden.
Die Krypta der Kathedrale von Termoli ist modern und wurde 1935 anläßlich von Restaurierungsarbeiten angelegt. Bei diesem Unternehmen entdeckte man die Fundamente einer älteren Kirche aus dem Ende des 11. oder dem Anfang des 12. Jh.; es ist eine dreischiffige Anlage mit drei Apsiden. Im übereifer hat man diese Funde der historischen Frühzeit des Domes, dem 7. oder 8. Jh. zugeordnet.
Die Magazine, die man in Tagliacozzo an der rechten Langhauswand der Kirche SS. Cosma e Damiano sieht, sollen die Umgestaltungen einer Kirche sein, die dort vor dem 10. Jh. bestand. Indessen sind diese Räume nichts anderes als die früheren Seitenkapellen von SS. Cosma e Damiano.
Oft werden von der Lokalgeschichte Architekturreste voreilig auf die historisch überlieferte erste Gründung eines Baues bezogen. 50 werden kümmerliche Reste der Benediktinerabtei S. Stefano in Rivomare bei Casalbordino in das Jahr der Gründung 842 datiert. Sie müßten demnach die Zerstörungen der Sarazenen, Ungarn, Normannen, Kreuzzügler (1104) und endlich die Zertrümmerung durch den Korsaren Piali Pascia im 16. Jh. überdauert haben. Ein ähnlicher Fall findet sich in Bucchianico. Aus Schriftquellen wissen wir, daß der schon erwähnte Aldemarius aus Capua und Mönch von Montecassino am Ende des 10. oder am Anfang des 11. Jh. verschiedene Klöster in den Abruzzen gründete, unter anderem ein Kloster in Bucchianico, dessen Abt er wurde. Nun datiert man ohne Begründung Teile der Pfarrkirche S. Angelo e S. Salvatore an der Piazza Roma in das 10. Jahrhundert.
Die ornamentale Kunst in Stein ist in den Abruzzen in zahlreichen Beispielen überliefert, die aber nur wenig studiert und über die Grenzen des Landes hinaus kaum bekannt wurden. Ebenso wie man im 12. und 13. Jh. antike römische Spolien zu sammeln begann, um sie an und in Kirchenbauten wiederzuverwenden, verfuhr man auch mit den Objekten aus der Zeit der Langobarden und Franken. In den nachfolgenden Jahrhunderten hatte man wenig Interesse für derartige Dinge gehabt, und sie führten ein vergessenes Leben als Versatzstücke im Mauerwerk mittelalterlicher Bauten, in Chorschranken oder im Kircheninventar. Inzwischen hat sich ihre Wertschätzung gewandelt, und aus Angst vor Diebstählen hat man sie, wo es die Größe der Objekte erlaubte, oft etwas voreilig aus dem alten Verband gelöst und im Nationalmuseum in L'Aquila untergebracht.
Die ornamentalen Reliefs dieser Zeit sind steril und ein (S. 86) fallslos. Das Fehlen der künstlerischen Kraft macht es oft schwierig, die Stücke in eine chronologische Ordnung zu bringen. Keines ist datiert, am ehesten hilft hier die Geschichtswissenschaft weiter, die Gründungsdaten von Klöstern und Kirchen liefern kann.
Man hat noch nicht genügend beachtet, daß aus den bisher bekannten Fundorten gewisse Schlüsse zu ziehen sind. Das Herzogtum von Spoleto hat weit mehr Objekte überliefert als das von Benevent. Im Spoletaner Teil der Abruzzen kommen die meisten in der heutigen Provinz L'Aquila vor, dann folgt die Provinz Teramo, und in weitem Abstand folgen die Provinzen von Pescara und Chieti. Als Grenze bietet sich, wie sooft, der Flußlauf der Pese ara an. Das Material ist fast durchweg der lokale, leicht zerbrechliche Kalkstein, und daher resultiert der bruchstückhafte und oft schlechte Erhaltungszustand. Die dekorierten Platten und Leisten dienten vielerlei Zwecken, sie zierten Pilaster und Türrahmen, Altäre, Ziborien und Kanzeln, und wir finden sie als künstlerischen Schmuck in Fensteröffnungen.
Die Behandlung der Formen ist spröde, und sie zeigen kaum Binnenzeichnung. Das Relief besteht aus zwei Schichten, dem vertieften Grund, von dem sich ohne plastische Modellierung die Darstellung abhebt. In dieser Art gearbeitet sind ein Stein mit einer Palmette in Corfinio, die Kreuze von S. Giustino in Paganica, Schmuckplatten mit Quadraten, in die wiederum kleinere Quadrate eingefügt sind, wie z.B. in Paganica und S. Giovanni ad Insulam. Ebenfalls diesen Stil zeigt ein Relief mit einer Arkadendarstellung in S. Pietro ad Oratorium.
Das beliebteste Motiv dieser frühen Kunst ist das Flechtbandmuster, das von vielen immer wieder für eine Erfindung der Langobarden gehalten wird, die diese bei ihrer Einwanderung aus dem Norden nach Italien mitgebracht hätten. Aber die zeitlichen Anfänge des Flechtbandes liegen bereits in der sumerischen Kunst, die Muster sind in der Spätantike und in der frühen byzantinischen Zeit bekannt, und in der koptischen Kunst ist dieser Formenapparat mit allen seinen Variationen bis zum Überfluß vorhanden. Also kann von einer Erfindung der Langobarden nicht die Rede sein, aber noch ist nicht die Frage beantwortet worden, warum gerade in der künstlerischen Ausdrucksweise dieses Stammes dieses Motiv eine so wesentliche Rolle spielt. Das Flechtband erscheint oft ohne Anfang und ohne Ende in sich verschlungen, selten ist es ein-und zweifädig, meistens ist es aus drei Fäden gebildet, und es entstehen verzwickte und geistreiche Kombinationen durch Verknotungen und Verschlingungen, Netzgeschlinge, Quadrat-, Oval-und Kreisgeschlinge usw. Die Künstler haben durchweg eine Abneigung gegen leere Stellen und füllen die Flächen in den Schlingen mit geometrischen und vegetabilen Formen oder aber mit Tierdarstellungen. Am beliebtesten sind der Pfau und das Lamm. Dazu gesellen sich Chimären, Greifen, Drachen, aber auch Hirsche, Löwen, Schlangen und Tauben.
Eine Analyse des Flechtbandmusters in den Abruzzen wäre ein Spezialstudium und ist an dieser Stelle gar nicht durchzuführen. Aber trotzdem seien hier zumindest die Fundorte aufgezählt. Dazu gehören in der Provinz L'Aquila Avezzano, Castelvecchio Calvisio, wo erst vor kurzem ein Muster dieser Art entdeckt wurde, Corfinio mit vielen und ausgezeichneten Beispielen, die während der Restaurierungen der Kathedrale um 1967 zum Vorschein kamen, Fagnano Alto mit Funden in der zerstörten Kirche S. Pietro und S. Maria und schließlich Furcone, der aufgelöste Bischofssitz bei Civita di Bagno. Neue Funde stammen aus der kleinen Landkirche S. Giovanni in der Nähe von Introdacqua. Die Kirche S. Giustino in Paganica ist ein Bau aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Bei den Restaurierungen in den Jahren 1946/1947 kamen zu bereits Bekanntem noch 55 neue Objekte aus dem 9. Jh. hinzu. Andere neue qualitätvolle Funde sind in der kleinen Landkirche Madonna dell'Assunta, gewöhnlich »Madonna di Contra« genannt, bei Raiano zu sehen. Fast unbekannt sind die Muster in der eigentümlichen, noch nicht erforschten Kirche S. Benedetto in Perillis. Eine wahre Fundgrube bilden die Beispiele aus S. Pietro ad Oratorium bei Capestrano, die teilweise an Ort und Stelle und teilweise im Nationalmuseum von L'Aquila studiert werden können. Endlich gibt es mannigfache Beispiele in S. Vittorino in der Nähe des antiken Amiternum.
In der Provinz Teramo sieht man Flechtbandmuster in Bellante, in S. Giovanni al Mavone bei Isola del Gran Sasso und in S. Maria di Propezzano; in der Provinz Pescara begegnen wir ihnen in der Lorenzkirche in Bussi und in der Kathedrale von Penne. In der dem Erzengel Michael geweihten Grotte bei Lama dei Peligni, die im Mittelalter zu Montecassino gehörte, wurden Schmuck reste eines Altars gefunden, die aus dem 8. oder 9. Jh. stammen sollen. Interessanter ist das Nordportal von S. Giovanni in Venere, das ein Magister Alexander erbaute, der sich in einer 1204 datierten Inschrift nennt. Er übernahm die einzelnen Schmucksteine von einem älteren Bau, den Abt Odorisius nach 1165 abreißen ließ, und dessen einzige Überbleibsel sie sind. Wahrscheinlich stammen sie von der Scheidewand zwischen Chor und Mittelschiff einer früheren Kirche. Der erste historisch überlieferte Bau wurde von Trasmundus II. 1015 errichtet. Indessen wäre eine noch frühere Datierung der Ornamentsteine möglich, denn wir wissen, daß Trasmundus seinen Bau an die Stelle eines älteren setzte.
Die Verehrung für die Schmuckreliefs der Langobardenzeit war im 12. Jh. so groß, daß man, wie wir sahen, die Objekte wieder zur Schau stellte. Man ging aber in romanischer Zeit noch einen Schritt weiter und griff die Muster der Altvorderen wieder auf. Beispiele dieser Art finden wir in der Ziborien-und Kanzelwerkstatt der Meister Robertus, Nikodemus und ihrer Mitarbeiter. Zwischen 1150 und 1166 werden die aus langobardischer Zeit bekannten Flechtwerke nachgeahmt an den Ziborien in S. Maria in Valle Porclaneta bei Rosciolo und in der Kirche S. Clemente al Vomano, an den Kanzeln von S. Maria in Valle Porclaneta, Moscufo und Cugnoli.
Das hervorragend gearbeitete Relief der Pfarrkirche (Assunta) in Paganica (Tf. 29) an der Außenmauer rechts vom Hauptportal verarbeitet weitere bei den Langobarden sehr (S. 87) beliebte Motive. Die rechteckige Steinplatte zeigt einen Rhombus, in dessen Mitte eine von Tieren umgebene Rosette erscheint. In den Bildecken sind zwei Pfaue und ein von einem Hund verfolgter Hirsch dargestellt. Vergleicht man dieses Stück mit den Fragmenten in der Landkirche Madonna di Contra bei Raiano, so wird bei aller Ähnlichkeit der Motive der zeitliche Unterschied zwischen den beiden Kunstwerken deutlich. Der heutige Hauptaltar der Kirche S. Pietro in Alba Fucense zeigt als Antependium eine feingearbeitete Steinplatte mit Riemenmuster aus dem 13. Jahrhundert.
Bei der Nachahmung des Flechtbandmusters mögen die Vorbilder nicht nur der Reliefkunst entnommen worden sein sondern auch Miniaturen und Goldschmiedewerken, wo dieses Ornament ebenso gepflegt wurde. In der romanischen Malerei taucht es ausgerechnet in Verbindung mit dem hl. Michael auf, dem besonderen Schutzpatron der Langobarden. Im Hintergrund einer Darstellung des 13. Jh. in Fossa mit dem Heiligen, der die Seelen wägt, finden wir ein geometrisches Muster mit kreisförmigen und ovalen Schlingen. Das Motiv wird im Bild des wägenden Michacls in S. Maria di Ronzano wieder aufgenommen.
Probleme werfen die vielen Versatz-und Ornamentblöcke der Kathedrale von Guardialfiera auf, die in der Kunstgeschichte völlig unbeachtet sind. Das Bistum Guardialfiera wurde von Papst Alexander II. (1061-1073) gegründet. Die Kirche wurde im 15. Jh. erneuert, und dabei verwandte man im Mauerwerk altes Material, das langobardisches Flechtwerk zeigt. Wenn es aus der Zeit der Kathedralgründung im späten 11. Jh. stammt, so hätten wir es in diesem Fall mit einem Nachleben« zu tun. Eine andere Möglichkeit wäre, daß beim Bau des 11. Jh. bereits Schmucksteine einer noch früheren Kirche verwendet wurden. In diesem Fall hätten wir es mit originalen Reliefs aus der Langobardenzeit zu tun. Die Entscheidung wird dadurch erschwert, daß im Molise Vergleichsbeispiele fehlen. Die Versatzsteine zeigen einen großen Formenreichtum. Beliebt sind die bekannten Flechtmuster, deren Bänder aber nicht straff gespannt, sondern locker miteinander verflochten sind, so daß das Verschlingen und Verknüpfen deutlich sichtbar gemacht wird. Die Pflanzenmuster verraten dieselbe weiche, etwas nervöse Künstlerhand. Kreise oder Ellipsen sind unregelmäßig gebildet. Gerade das Weiche und Verfließende der Formen verbindet diese Darstellungen mit ähnlichen, die auf PolsterkapiteHen im Museum von S. Sofia in Benevent vorkommen. Andere Schmuck platten sind außerordentlich zart behandelt, ihre Reliefs zeigen so geringfügige Tiefenstufungen, daß man sie nur bei schrägem Lichteinfall erkennt. Der Reichtum der Einfälle zeigt sich auch in einer in die Wand eingelassenen hochrechteckigen Platte. Zuunterst steht ein mit einem Rock bekleideter Mann, der eine Keule in der Rechten hält, und über dessen Kopf ein Huhn flattert. Auf diesen folgen drei übereinanderstehende Vierfüßler, die durch ihre zierlichen und kecken Bewegungen auffallen. Etwas gröber gearbeitet ist auf einem anderen Baustein ein geflügeltes Tierpaar, das aus der eucharistischen Vase trinkt. Eine völlig neue Technik läßt sich an einer Platte in der Fassade rechts vom Hauptportal beobachten. Dargestellt sind ein Stier oder ein Büffel und links davon ein Mann. Rumpf und Schwanz dieses Tieres sind in Kerbschnitt gearbeitet, wobei die Einschnitte so tief sind, daß der Grund fast unsichtbar ist, und das Ganze gleichsam als ein Filigran aus Stein erscheint. Die Vielfalt der Muster an den Außenwänden der Kathedrale ist so groß, daß der Betrachter ausgiebig Gelegenheit zu weiteren Entdeckungen hat.
Wie gesagt, sind die Schlingen des Flechtbandmusters fast immer mit figürlichen Darstellungen ausgefüllt, z.B. mit Tieren, seltener mit Menschen. In den Abruzzen haben sich von dieser Art ganz hervorragende Beispiele erhalten. Fast hätten wir ein datiertes Objekt in dem Sarkophag des Bischofs Albinus aus Furcone (Tf. 27), den der Gottesmann sich zu seinen Lebzeiten anfertigen ließ. Das sagt er in ungewöhnlich schlechtem Latein in der gemeißelten Grabinschrift. Aber leider ist historisch kein Bischof Albinus aus Furcone überliefert, und so sind wir wieder auf die Stilkritik angewiesen, wobei die Datierungen des Sarkophages vom 7. bis zum 9. Jh. schwanken. Er wurde 1866 in den Ruinen der Kathedrale von Furcone gefunden und dann in die Kathedrale von L'Aquila gebracht, wo er links vom Hauptportal zu sehen ist. Die erwähnte Inschrift sowie ein Kreuz befinden sich in einem Rundmedaillon, das aber eigentümlicherweise nicht in der Mitte der Sarkophagfront sitzt, so daß die Frage auftaucht, ob der an der linken Seite zerstörte Steinsarg ursprünglich vielleicht länger war. Das Medaillon wird zu beiden Seiten von Flechtbändern und Rosetten gerahmt. Anschließend folgen rechts zwei übereinanderstehende weidende Lämmer vor einem Kreuz.
In den Ruinen der Kathedrale von Furcone ist noch der rechte Türpfosten des Hauptportals erhalten, ein seltenes Beispiel von dekorativer Architektur dieser Zeit. Der Monolithkalkstein ist an seiner Schauseite in drei Felder unterteilt, ein jegliches mit einer Tierdarstellung, zuoberst eine Chimäre, in der Mitte ein Wolf, der eine Schlange beißt, und unten ein Löwe. Die flach gearbeiteten Tiere werden von Zierbändern eingerahmt, von denen die inneren glatt sind und die äußeren Zickzackmuster sowie Wellenlinien mit Blättern zeigen.
Die Erzeugnisse dieser Zeit sind jedoch nicht nur grob und unbeholfen. In der Schmuckplatte der Kirche Madonna di Contra bei Raiano begegnen wir einer nervösen Eleganz. Der querrechteckige Kalkstein wird durch Doppelrillen in drei Trapeze eingeteilt, wobei das mittlere breiter ist als die beiden seitlichen. Das Mittelfeld wird in seiner ganzen Ausdehnung von einem Kreuz eingenommen, dessen Mitte durch eine Rosette betont wird. Die verbleibende Fläche ist mit vielen feinen Spiralen übersät. Die Darstellungen der Seitenfelder gleichen sich fast spiegelbildlich. Zwei langgestreckte Pfauen picken an einer Weinrebe, den übrigen Raum füllen ein F1abellum -das ist ein Bischofsfächer -, Blüten und Spiralen. Das Ziborium in S. Prospero in Perugia zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit dieser Schmuckplatte, und eine Datierung in das 8. oder 9. Jh. ist wahrscheinlich.
(S. 88)In der wohl von Ermengarda, der Mutter Kaiser Ludwigs II., gegründeten Clemenskirche bei Guardia Vomano sind in der Außenmauer in der Nähe der Apsiden dekorative Überbleibsel aus der Gründungszeit eingemauert. Dazu gehört eine Kalksteinplatte. Sie zeigt zwei parallellaufende Flechtbänder, die je vier Schlingen bilden, in denen Vögel Weintrauben naschen.
Das reifste und seltenste Produkt unserer Gruppe ist der Kalkstein aus S. Giustino in Paganica, heute im Nationalmuseum von L'Aquila. Die Schauseite wird von einem doppelten Wellenband gerahmt, in dem abwechselnd eine Traube und ein Blatt erscheinen. Der untere Teil der Platte ist beschädigt. Zwei vorgestellte Säulen mit Kapitellen teilen sie in drei Felder, von denen das mittlere wieder breiter ist als die beiden äußeren. Jedes zeigt die Darstellung einer Art Gemmenkreuz, wobei die Fläche zwischen den Kreuzarmen mit Vögeln, Vierfüßlern und Rosetten ausgefüllt ist. Im Mittelfeld erkennt man unten noch die Köpfe von zwei Hirschen, die aus der eucharistischen Schale trinken. Auf der Rückseite der Steintafel ist eine zeitgenössische Inschrift eingemeißelt, was ein äußerst seltener Fall in der dekorativen Plastik ist. Es geht daraus hervor, daß die beiden Brüder, die Presbyter Eudo und Tactecausus, dieses Kunstwerk mit Gottes Hilfe zu Ehren des hl. Bischofs Justinus haben machen lassen. Die Stifternamen von Langobarden oder Franken wundern uns nicht, nachdem wir gerade im Bistum Furcone, zu dem auch Paganica gehörte, schon so viel von diesen beiden Stämmen hörten.
Vor nicht langer Zeit wurde in S. Vittorino bei Amiternum das Fragment eines Flechtbandes gefunden. In einer der Schlingen erscheint in kurzer Tunika eine Oransfigur. Die Arbeit ist wohl dem 9. Jh. zuzurechnen.
Wir kennen in den Abruzzen in der Reliefkunst viele Beispiele, wo das Ornament und speziell das Flechtband in den Hintergrund tritt und die Figur -das Tier und der Menschbevorzugter Bildträger wird. So erscheinen an der Außenwand von S. Maria di Propezzano auf einer Kalksteinplatte des 8. Jh. zwei Löwen. Interessanter ist in S. Giovanni ad Insulam die Darstellung von zwei übereinanderstehenden Vierfüßlern, von denen der untere von einem säugenden Jungtier begleitet ist. Es sind wahrscheinlich Esel, die Blätter von einem schematisch gebildeten Baum fressen. Die Bildmitte nehmen zwei Dreiecke ein, die mit ihren Spitzen an einanderstoßen und an die Form eines Stundenglases erinnern, ein Motiv, das wir schon in der Grotte S. Angela in Vetulis bei Sulmona beobachten konnten. Bei den Tierdarstellungen von S. Giovanni ad Insulam bemerken wir formale Neuerungen. Mit ihrer Kopfwendung sind sie auf den Beschauer bezogen, und ihre Körpergestaltung hat sich durch Einritzungen belebt, ihre Anatomie mit den Schenkelansätzen wird deutlich, und sogar die charakteristischei. Hufe sind erkennbar. Kompliziert ist der Altaraufbau in S. Bartolomeo in Carpineto della Nora. Die Altarplatte wird von vier Säulen getragen. Die Polsterkapitelle zeigen Tierdarstellungen aus der Gründungszeit im 10. Jh., während die Basen aus Kapitellen in romanischer Zeit gebildet sind.
In der Ruine der Kathedrale von Furcone sieht man eine Steinplatte mit vier Pfauen, die wohl zum Hauptportal gehört hat. Leider sind die menschlichen Figuren an der Außenseite der Kirche S. Maria dei Ponte bei Tione degli Abruzzi so hoch angebracht, daß man sie nicht aus der Nähe studieren kann. Die linke Figur erscheint in Frontalansicht, daneben erkennt man zwei andere schreitende Gestalten im Profil. In S. Paolo di Peltuino bei Prata d'Ansidonia sieht man im Inneren an der linken Langhauswand einen hochbeinigen Hirsch (Tf. 28), der eine Schlange beißt, und auf dessen Kopf eine Taube sitzt. Verwitterte Schmucksteine kommen an der Außenwand von S. Maria in Bominaco vor. Der eine zeigt auf einem galoppierenden Pferd einen Reiter mit ausgestreckten Armen und in seiner Rechten eine Waffe schwingend, der andere stellt einen Vierfüßler mit zurückgewendetem Kopf dar. Charakteristisch bei den Tieren beider Steine ist die Behandlung der langen Schwänze, die sich an die Hinterläufe anschmiegen, so daß der Eindruck von drei Beinen entsteht. Vergleichsbeispiele finden wir am Außenbau der Kathedrale von Guardialfiera oder in L'Aquila in den Lämmern des Albinussarkophages im Dom oder noch besser im Nationalmuseum von L'Aquila bei einem Vierfüßler aus S. Pietro in Alba Fucense oder schließlich bei den vier Tieren, die das Mittelfeld der großen Schmuckplatte von S. Giustino in Paganica einnehmen.
Originelle Phantasietiere zeigt eine Schmuckplatte von S. Pietro ad Oratorium. Da gibt es Gebilde mit löwenartigen Köpfen und Schlangenleibern. Zwei andere Tiere wiederum kehren einander den Rücken zu, und ihre Schwänze vereinigen sich zu einem einzigen großartigen Ornament. Dann finden wir ein Tierpaar, zwischen dem eine antikisierende Deckelvase steht, auf die jedes in kecker Bewegung eine Vordertatze legt.
Zwei Fragmente stammen aus der Kirche S. Chiara in Gagliano Aterno und werden heute im dortigen Rathaus verwahrt. Schon die Maße der Steine lassen darauf schließen, daß sie einstmals zusammengehörten. Ihren unteren Abschluß bildet eine gekrümmte Steinleiste, die auf einen Bogen hinweist, wie wir ihn an Ziborien und Kanzeln wiederfinden. Darüber erscheinen nicht näher bestimmbare Tiere. Die linke Platte zeigt die übliche Darstellung zweier Vögel, die aus einer Vase trinken, während die rechte zwei Vierfüßler und einen riesigen Fisch aufweist.
S. Maria di Canneto ist eine der schönsten Kirchen des Molise. Ein Neubau des 12. Jh. verwendete dekorative Steine einer früheren langobardischen Kirche. Historisch ist das Gotteshaus seit 706 überliefert, und wir wissen, daß es 944 von Montecassino abhängig war. Am Außenbau ist ein Versatzstein wichtig, auf dem ein Vogel und eine Schlange abgebildet sind. Eigentümlich ist die Form der Schlange, die man bei flüchtigem Hinsehen für eine Spirale halten könnte. Tatsächlich aber handelt es sich um die Darstellung des r kreisförmig eingerollten Reptils. Diese Interpretation , könnte gewagt erscheinen, wenn wir nicht die Goldamulette des 7. Jh. kennen würden, die in Norwegen gefunden wurden, von denen ein schönes Exemplar mit der oben beschrie (S. 89) benen Form im Universitätsmuseum von Oslo zu sehen ist. In Italien kommen andere Beispiele in der Trinitätskirche in Venosa in der Provinz Potenza vor. Ist man auf diese ornamentale Schlangendarstellung aufmerksam geworden, so ist man geneigt, ähnliche Spiralen ebenso zu deuten; z.B. finden wir sie auf einem Versatzstein in Guardialfiera oder aber auf den kleinen Trapezflächen der Platte in der Kirche Madonna di Contra bei Raiano oder schließlich auf einem Steinblock in S. Maria in Bominaco. Deutlich ist die spiralförmige Schlange auf einem Versatzstück in S. Giovanni ad Insulam zu erkennen. Ein Phantasietier umklammert den Körper mit den Vorderklauen und beginnt die Beute vom Schwanz aus zu vertilgen. Dieses Beispiel stammt jedoch nicht aus der Zeit der Langobarden, sondern ist eine in der Romanik entstandene Reminiszenz.
Die Kirche S. Maria di Canneto überliefen die einzige mir bekannte christologische Szene in der Reliefkunst dieser frühen bit in unserer Region, die Darstellung des Abendmahles. Der Kalkstein zeigt nach der Darstellung des fünften Apostels einen Sprung, und vielleicht ist der Abschluß auf der rechten Seite nicht mehr erhalten. Der Stein diente lange unbeachtet als Fußboden plane in der Kirche; dadurch wurde er abgenum. so daß das Relief besonders flächig und ausdruckslos encheint. Heute dient er als Antependium des Hauptaltars. Christus sim an der linken Schmalseite des langen Tisches, um den zehn Apostel, wie Mönche mit Tuniken und Kapuzen bekleidet, versammelt sind. Es gibt durchaus Abendmahlsdarstellungen, bei denen die Zwölfzahl der Apostel nicht erreicht wird, andrerseits können sich die zwei fehlenden Apostel möglicherweise an der oben genannten Fehlstelle befunden haben. Auf der Tischplatte sicht man die Gegenstände, die zur Abendmahlshandlung gehören, Brote, Geschirr, Fisch usw. Die Hände aller Apostel sind über dem Leib gefaltet und ihre Gesichter durch Einritzungen kenntlich gemacht.
Die Darstellung des Kreuzes in der dekorativen Kunst ist gleichsam die Hausmarke in der Zeit der Langobarden und Franken. Oft werden drei Kreuze nebeneinander dargestellt. Es ist beliebt, die Flächen zwischen den Armen wiederum mit kleineren Kreuzen zu füllen, wie sehr schön auf den beiden Kanzelfragmenten von Cina S. Angelo zu sehen ist. In der Behandlung der Kreuzesschäfte blüht eine Variationsfreudigkeit sondergleichen. Man kennt das griechische und lateinische Kreuz. Die meisten Schäfte verbreitern sich an den Enden. Sie können glan und unbearbeitet sein, oft jedoch sind die Kreuzarme dekorien, sei es mit einem Zickzackmuster wie am Sarkophag des Albinus, sei es mit Rechtbändern wie an den Kanzeln von Cina S. Angelo und Vinorito bei Raiano, sei es durch imitierte Gemmen wie auf der großen Schmuckplarte von S. Giustino in Paganica oder endlich vegetabile Formen wie auf den Kreuzen der Schmuckplane in der Kirche Madonna di Contra bei Raiano.
Besonders geläufig ist die Form des Kreuzes, die in S. Pietro ad Oratorium am deutlichsten ausgeprägt ist. Aus den verbreiterten Schaffenden entwickeln sich je zwei Voluten. Diese Spiralen können oft bizarre Windungen zeigen. Zu dieser Gruppe gehön das Kreuz der Kanzelplane von Vinorito. In der Landkirche Madonna di Contra gibt es gleich zwei großartige Beispiele dieser Art, von denen das eine Kreuz mit üppig gebilderen Voluten mit dem in der Kirche von S. Benedeno in Perillis fast identisch ist. Weiterhin ist hier noch ein Versatzstück am Ponal von S.8enedeno dei Marsi zu nennen.
Die Abruzzen haben aus der bis vor 1000 eine Anzahl von Transennen überliefen, d.h. Steinplanen, aus denen ein Muster ausgesägt ist. Bereits die Antike kannte diese Technik. Derartig durchbrochene Planen konnten verschiedene Funktionen haben. Meistens dienten sie als Fensterfüllungen -wobei sie unverglast blieben -und ließen das licht gleichsam gefilten in den Innenraum eindringen. Transennen wurden auch zur Errichtung von Chonchranken verwendet, oder man schloß, wie in S. Vinorino bei Arniternum, mit einer solchen Platte das unter der Altarmensa befindliche Gehäuse, in dem die Gebeine eines Märtyrers aufbewahn wurden, die man durch das Steinginer betrachten konnte. Transennen als Fensterfüllungen kommen nur bis zum frühen Mittelalter vor. In den Abruzzen lebt diese Technik in den berühmten Rundfenstern an den Fassaden weiter, jedoch haben diese stilistisch mit den frühen Werken nichts zu tun.
Die in unserer Region bekannten Transennen weisen nur geometrische Muster auf. Steinerne Fensterplatten haben sich eigentümlicherweise nur in der Provinz Teramo erhalten. wo sie in S. Maria a Vico bei S. Omero und in S. Pierro in Campovalano unbeschädigt auf uns gekommen sind. In S. Maria a Vico ist die Oberfläche der Planen mit kreis-und kreuzförmigen Mustern glatt. Ausnahmsweise ist das Material hier kein örtlicher Kalkstein, sondern Travertin, der wahrscheinlich aus Brüchen in der Nähe von Ascoli Piceno kommt. Andere und sehr seltene Formen zeigen die beiden Fenster von Campovalano, deren oberer Abschluß bogenförmig ist. Ein jedes besteht aus zwei Flügeln, die in rechteckige Felder unterteilt sind, welche kompliziene elliptische Verschlingungen zeigen. Bänder und Rahmungen sind mit Rechtwerk verzien. Das Dommuseum in Atri verwahrt das Fragment einer Transenne, deren Ornament demjenigen in Campovalano sehr ähnelt. Andere Reste mit Rhomben und Quadraten befinden sich in der Kirche S. Giovanni ad Insulam. Die Plane mit dem engmaschigen Rechtwerk an der Fassade von S. Marco in L'Aquila ist eine Transenne, die wahncheinlich zu einer Chonchranke gehörte. Einzigartig in der Form ist die fast quadratische Kalksteintransenne aus S. Pierro ad Oratorium, heute im Nationalmuseum von L'Aquila. Um ein Kreisband mit einer zweireihigen Perlschnur legen sich vier Bögen, so daß eine Art Vierpaß entsteht. Auch hier dürfte es sich um Teile einer Chorschranke handeln.
Die Abruzzen überliefern aus der Zeit vor 1000 Kanzelfragmente in Citta S. Angela und in Virtorito bei Raiano. Im ersten Fall handelt es sich um zwei Kanzelvorsptünge, d.h. um die vorspringenden Rundungen der Kanzelbühne. Diese Fragmente mit Kreuzen und elliptischen Verschlingungen (S. 90) sind heute in den unteren Teil zweier Säulen aus Ziegelstein eingelassen. Diese dienen als Türpfosten für ein modernes Eisengitter, das Zugang zur Collegiata, der größten Kirche von Citta S. Angelo, gewährt. Von einer Schmuckplatte, die gewisse Beziehungen zu den Vorsprüngen von Citta S. Angelo erkennen läßt, können wir ebenfalls annehmen, daß sie zu einer Kanzel gehört hat. Sie ist in der Kirche S. Michele in Vittorito aufgestellt und kam bei der letzten Restaurierung des Gebäudes zum Vorschein. Die in Citta S. Angelo strenge und klare Komposition des Musters ist hier viel lockerer geworden, es fehlt die Festigkeit der Rahmung, die am früheren Denkmal jedem Ornamentpartikel seinen bestimmten Platz zuwies. Vergröbert sind auch die Schmuckelemente selbst.
Die Fresken in der Krypta von S. Vincenzo al Volturno sind in dieser Epoche ein einzigartiges Zeugnis in Süditalien. Ihre relativ frische Farbe ist dem Umstand zu verdanken, daß die Erde über Jahrhunderte die Malschicht bedeckte. Durch einen Zufall wurden sie in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts bekannt. Das untere Drittel der Malereien ist rein dekorativ und imitiert Marmor und kostbare Stoffe. Schwarze und rote Bänder bilden den oberen Abschluß dieser Sockelzone. Darüber beginnen die figürlichen Szenen, die sich in den Gewölben fortsetzen. Im Treppengewölbe des Eingangs zur Krypta befindet sich ein schlecht erhaltenes Fresko. Man erkennt Reste eines wehenden Umhangs, aus dem zu schließen ist, daß sich die dazugehörige, heute nicht mehr sichtbare Gestalt einer anderen Figur, die aus der Höhe ein Buch darreicht, näherte. Auch von letzterer sind kaum noch Spuren übriggeblieben. Die eigentlichen Malereien der Krypta beginnen an der Wand links vom Eingang und setzen sich auf der gegenüberliegenden Seite fort. Dargestellt ist ein Zug von sechs Jungfrauen (Tf. 34), durch eine schlanke Amphora in zwei Gruppen von je zwei und vier geteilt. Die Prozession bewegt sich auf das Zentrum der Krypta hin. Die Frauen tragen byzantinische Hoftracht und darüber einen Schleier, der durch ein Diadem auf ihrem Kopf gehalten wird, und den sie mit ihrer linken Hand raffen. In dieser tragen sie eine juwelenverzierte Krone, während sie mit ihrer Rechten ein Kreuz umgreifen, das sie an die Brust drücken. Im anschließenden westlichen Kreuzarm waren fünf Engel oder Erzengel dargestellt, von denen der eine durch Beischrift als Raphael bezeichnet ist. In der linken Hand halten sie die Weltkugel und in der rechten das Szepter. Sie sind mit reichen, kostbaren Gewändern bekleidet und haben große, majestätisch ausgebreitete Flügel. Auf der westlichen Wand des nördlichen Querarms wird das Martyrium des hl. Lorenz (Tf. 32) gezeigt. Im Gegensatz zu den vorhergehenden repräsentativen Malereien mit ihrer meditativen Stimmung fällt hier ein eigentümlicher Realismus auf, der sich in einer erregten Bewegtheit der Figuren äußert. Über der roten Kohlenglut liegt der nackte Lorenz auf dem Rost und wird von drei Schergen gequält. Zwei zur Rechten drücken ihn mit langen Zangen nieder, während auf der gegenüberliegenden Seite der dritte seine Handgelenke mit einer Schnur gefesselt hat. In der linken oberen Ecke beugt sich ein Richter auf seinem Thron nach vorn und gibt den Folterknechten Anweisungen. Sein formaler und inhaltlicher Gegenspieler auf der anderen Seite ist ein Engel, der in fast senkrechtem Sturz aus der Höhe dem Märtyrer mit ausgestrecktem Arm zu Hilfe eilt. Die nächstfolgende stark beschädigte Szene in einer gemalten architektonischen Rahmung stellt die Steinigung des hl. Stephanus dar. Die kurzen Gewänder der Steinwerfer sind außerordentlich bewegt. Zwischen diesen beiden Märtyrerszenen ist eine kleine Nische eingefügt, auf deren blauem Grund mit einiger Mühe die weiße Figur eines Diakons -so sagt die Inschrift -erkennbar ist. Der rechteckige Nimbus läßt uns in ihm das Bildnis eines Zeitgenossen erkennen, in dem wir vielleicht den Stifter sehen dürfen. Im Gewölbe des Nordarmes ist die Hand Gottes in der etwas nervösen Zartheit gemalt, die für alle Handdarstellungen dieser Fresken kennzeichnend ist. Gegenüber dem Martyrium des Stephanus erblickt man in sehr schlechtem Zustand die Erscheinung des Engels (Tf. 31) vor den Frauen am Grabe. Die Inschrift »Sepulcrum Domini« in eleganten Kapitälchen ist noch lesbar. Darauf folgt wiederum eine kleine Nische, in der vor blauem Hintergrund und auf einem ornamentalen Sockel aufrecht stehend der junge und bartlose Christus gemalt ist. Mit der rechten Hand macht er den griechischen Segensgestus, während er in der linken ein geöffnetes Buch hält mit dem Text »Ego sum Dominus Abraham«. Zu seinen Seiten befinden sich die Diakone Lorenz und Stephan. Anschließend kommt die großartige Kreuzigungsszene. Die Gestalten der Maria und des Johannes sind stark bewegt. Maria trägt ein purpurfarbenes Gewand und hält ein Tuch in den klagend erhobenen Händen. Zu beiden Seiten des Kreuzes sind Sonne und Mond als rote und gelbe Scheibe dargestellt. Zu Füßen Christi kniet ein reichgekleideter Mönch (Tf. 30) mit ausgestreckten Händen und feingezeichneten Gesichtszügen. Der rechteckige Nimbus kennzeichnet auch diese Darstellung als zeitgenössisches Bildnis. Aus fast übergroßen Lettern am unteren Rande des Gemäldes erfahren wir, daß es sich bei dem Porträtierten um »Dominus Epyphanius abbas« handelt. Dieser Abt leitete die Geschicke des Klosters von 826 bis 843. Da wir aus der Chronik von S. Vincenzo al Volturno wissen, daß Epiphanias dort eine Lorenzkirche baute, dürfen wir ihn mit Recht auch für den Auftraggeber der Fresken halten, die damit sehr genau zu datieren sind, was in dieser Frühzeit der italienischen Freskomalerei ein seltener Fall ist. Links oben in der Kreuzigungsszene erscheint die Personifikation der trauernden Stadt Jerusalem (Tf. 33), eine Darstellung, die für jene Epoche eine ikonographische Besonderheit bedeutet. Vor der Ansicht Jerusalems sitzt eine reichgekleidete Frau mit einer Krone, deren Zacken als Zinnen gebildet sind. Trauernd und sinnend stützt die Gestalt die Wange in die Hand. Sie verharrt in sibyllinischer Vorahnung des Unglücks, das über Jerusalem kommen wird. Die Idee der personifizierten Stadt geht auf spätantike Vorbilder zurück, während sich der Künstler bei der formalen Gestaltung der Trauernden von griechisch-römischen Grabreliefs anregen ließ.
(S. 91)Der östliche Kreuzarm der Krypta zeigt Fresken mit der Lebensgeschichte Jesu. Auf der nördlichen Wand befindet sich die Geburtsszene und im Osten zu beiden Seiten des Kryptafensters die Verkündigung. Besonders eindrucksvoll ist der Engel Gabriel, der mit dem Segensgestus und einem Stab in der Linken vom Himmel herabstürzt. Maria erscheint wie eine byzantinische Kaiserin. Ihre rechte Hand drückt Abwehr aus, während sie mit der linken den Spinnrocken hält. Ihre Ohren schmücken Ringe mit reichen Gehängen, auf ihrem blonden Haar trägt sie ein perlenbesetztes Diadem. Darauf folgt die Darstellung mit der Waschung des Jesuskindes. Das nackte Kind steht aufrecht in einem kunstvoll gearbeiteten Metallbecken und stützt sich mit der linken Hand leicht auf den Wannenrand. Die eine der mit dem Bad beschäftigten Frauen ist inschriftlich als Salome bezeichnet. Ein anderes Bild an dieser östlichen Wand zeigt die thronende Maria mit dem segnenden Kind in einer Mandorla. Vor den hohen Stufen des Thrones kniet ein Mönch, der hingebungsvoll einen Fuß Mariens mit seinen Händen umfaßt. Hier hat sich der Künstler der Fresken selbst dargestellt, indem er in der damals üblichen Form seine Verehrung zum Ausdruck bringt. Leider ist die dazugehörige Inschrift unleserlich, nur mit Mühe sind die Buchstaben ... nus ... pr ... zu erkennen. Vielleicht könnte man mit modernen technischen Mitteln in der Entzifferung noch weiter kommen. Unter dem beschriebenen Bild ist die Ornamentmalerei zerstört. An diese Stelle malte man später die Halbfiguren dreier Heiliger, deren Ausführung gröber ist als die der übrigen Fresken. Diese sind alle von der Hand eines Künstlers geschaffen, dessen Einfluß auch in den jüngeren Malereien unverkennbar ist.
In dem nach Osten gerichteten Längsarm werden in den Gewölben Maria und Christus verherrlicht. Der bättige Christus mit einer großen Aureole steht auf einer mit Sternen gezierten Weltkugel. Maria erscheint hier in hieratischer Haltung, eingeschlossen in große verschiedenfarbige konzentrische Kreise, die den Kosmos versinnbildlichen. Sie hat die weitgeöffnete rechte Hand erhoben, während sie mit ihrer linken auf dem Schoß ein Buch hält mit der Schrift »Beatam me dicent«. In diesem Freskenzyklus scheint das Ziel des Künstlers die Verherrlichung der Maria gewesen zu sein, nachdem er sie in ihren menschlich-irdischen Leiden geschildert hat. Ikonographisch und stilistisch mischen sich in den Malereien verschiedene Richtungen. Die Grundlage ist meist die byzantinische Kunst. Sie wird aber nirgends sklavisch nachgeahmt, am wenigsten in der durchaus persönlichen und unkonventionellen Zeichnung der Figuren. Es bildet sich hier am Rande der byzantinischen Welt eine lokale benediktinische Schule, die nicht nur von Byzanz, sondern auch von der karolingischen und vor allem von der stadtrömischen Kunst beeinflußt war.
Von kunstgewerblichen Gegenständen aus frühmittelaltedicher Zeit ist in den Abruzzen und im Molise kaum etwas erhalten. Wie reich aber Kirchen mit kostbarem Inventar ausgestattet sein konnten, zeigt der autobiographische Bericht des Propstes Theobald (1007-1019), worin er seine Anschaffungen für die Kirche S. Liberatore aHa Maiella erwähnt. Wir ahnen etwas von dem Reichtum einer zu Montecassino gehörigen Kirche, in die Kostbarkeiten aus Konstantinopel und den arabischen Ländern kamen. Theobald zählt auf: »Vor dem Hauptaltar des Salvators brachte ich eine silberne Tafel von besonderer Schönheit an, die ich teilweise vergolden ließ. Das Silber dafür erhielt ich eigens von meinen Eltern. Die Altarbekleidung besteht aus zwei Tüchern und seidenen Decken aus Konstantinopel. Ferner machte ich, Theobald, Mönch und Propst in dieser vorgenannten Kirche S. Liberatore, zwei Weihrauchpfannen aus zehn Pfund schwerem bestem Silber, das wir teilweise auf wunderschöne Weise vergolden ließen, und ich stellte hier ein anderes Weihrauchgefäß mit Buckelzierde und vergoldeten Figuren auf; es war ebenfalls aus Silber und gehörte einstens meinem Vater. Dann ließ ich einen Kelch aus bestem Silber anfertigen mit zwei Patenen, alles zusammen etwa sechs Pfund schwer, hinzu kommen zwei Kelche aus billigerem Silber mit ihren Deckeln, ein anderthalb Pfund schwerer vergoldeter Silberkelch sowie ein Weihrauch gefäß aus Silber. Dann ließ ich ein silbernes, ganz mit Gold überzogenes Kreuz machen und ein anderes ähnliches aus reinem Gold. In diesen brachte ich Reliquien vom Kreuze des Herrn und von vielen Heiligen unter. Auf die Altarmensa des hl. Liberatore stellte ich ein Elfenbeinbild, auf dem die Gestalt der hl. Mutter Gottes, der Jungfrau Maria, dargestellt ist und drumherum Bilder hll. Märtyrer und Bekenner, dazu kommen noch zwei Kristallkreuze. über diesen Altar legte ich Seidendecken aus Konstantinopel. Wir kauften dort zwei überkleider, eines rosenfarbig, das andere aus Purpur •.. In der vorgenannten Kirche machten wir zwei Kronleuchter aus bestem Messing und stellten ein seidenes Gewand aus, das einstmals dem Grafen Trasmundus gehörte; wir ordneten an, daß es an Festtagen zu seiner Erinnerung hier aufgehängt werden sollte. Ich besorgte auch einen Seidenstoff mit vier Löwen, den ich ringsum mit bestem Tuch schmücken ließ.« Wir wissen, daß Theobald für S. Liberatore fünf Kirchenglocken anschaffte, drei davon kaufte er alt, und zwei ließ er eigens gießen. Unter dem Apsisbogen der Kirche errichtete er einen eisernen Ständer zur Aufstellung von Kerzen, deren Wachs aus Babyion kam. Weitere Seidendecken für den Altar kaufte er von Muselmanen in Spanien und in Afrika.
Theobald richtete für seine einsam an den Hängen der Maiella gelegenen Propstei eine ansehnliche Bibliothek ein. Er ließ etwa 60 Bücher abschreiben, die meist liturgischen Inhalts waren oder das Leben der Heiligen betrafen. Dabei vernachläßigre er aber nicht die weltliche Literatur. Zu seinen Anschaffungen gehörten z.B. die lateinische Grammatik des Römers Donatus, der in der Mitte des 4. Jh. n. ehr. lebte, das Werk des römischen Geschichtsschreibers Paulus Orosius, die Etymologien des Isidor von Sevilla und eine Geschichte der Angelsachsen (Historia Anglorum). Die Einbände waren aus kostbaren Stoffen, z.T. auch aus schwarzem Leder. Andere Buchdeckel zierten silberne Kreuze mit Buckeln, Gemmen und Fibeln aus Silber. Von einer Schreib (S. 92) schule und Miniatoren wissen wir schon aus der Zeit vor Theobald. Die frühesten Belege der Miniaturmalerei in den Abruzzen stammen aus Chieti. Von dort kommt der Kodex des Vatikans Reg. 1997, der im 9. oder 10. Jh. geschrieben wurde. Seine Zierbuchstaben zeigen wenig Charakteristisches. Ein Konzil, das 840 in Chieti stattfand, überliefert den Namen des Dekans Giselpertus, der zum Leiter der Sängerschule (schola cantorum) und der Schreiberwerkstatt (magister scribarum) bestimmt wurde. Eine weitere Handschrift des 9. Jh. gelangte aus dem Kathedralkapitel in Chieti in die Benediktinerabtei auf der Insel Reichenau und später in die Landesbibliothek Karlsruhe, wo sie die Signatur CCXXIX erhielt.
Der italienische Kunsthistoriker Toesca nimmt an, daß der Kodex Add. Ms. 5463 im Britischen Museum in London in S. Vincenzo al Volturno im 8. Jh. entstanden ist. Er ist mit Miniaturen versehen und zeigt die schöne, regelmäßige Unzialschrift jener Zeit. Am Ende des Evangelientextes findet sich die Bemerkung, daß das Manuskript vom Mönch Lupus auf Anordnung des Abtes Atto geschrieben wurde. Dieser war von 739-760 Abt von S. Vincenzo. Die Handschrift befand sich noch im 15. Jh. im Kloster S. Pietro in Benevent.
Die Zeit der Normannen und Hohenstaufen
Geschichte
Die gesellschaftliche Umschichtung in den Abruzzen und im Molise konnten wir im vorigen Kapitel über einen Zeitraum von ungefähr fünf Jahrhunderten verfolgen, angefangen von dem Einfall der Langobarden und Franken bis zur Kontrolle des Landes durch die karolingischen, sächsischen und salischen Könige und Kaiser. Die nächste zu behandelnde Epoche umfaßt nur zwei Jahrhunderte. Es ist die Zeit der Normannen und Hohenstaufen, wo Traditionen weiterleben und viel Neues entsteht. Zwar spielen jetzt die Abruzzen im Verhältnis zum übrigen Süditalien keine politisch wichtige Rolle, doch fällt in diesen Zeitraum die größte geistige Entfaltung unserer Bergvölker. Gerade in der kulturellen Blüte des 12. und 13. Jh.liegt die Faszination dieser Landschaft.
Die neuen Herrscher, zunächst die Normannen, verhielten sich anders als die Langobarden. Sie drangen nicht von Oberitalien kommend in Süditalien ein, sondern sind umgekehrt von Süden nach Norden vorgestoßen. Verändert war auch das Zahlenverhältnis gegenüber den früheren Invasoren. Es handelte sich hier nicht mehr um den Einbruch eines ganzen Volksstammes, sondern es agierten wenige tatenfrohe Personen, die von dem in sich zerstrittenen Adel im Dukat von Benevent zu Hilfe gerufen wurden, ähnlich wie vordem die Muselmanen. Wie aus den wahllos plündernden Normannen in Süditalien ein planvoll gefestigter Staat entstand, ist ein langer Weg und hier nicht zu beschreiben. Wurden die Langobarden nach ihrer Abwendung vom Arianismus die treuesten Katholiken und Mehrer des Besitzes von Kirchen und Klöstern, ebenso wie spätet die Franken und deutschen Kaiser, so hüten sich die Normannen und Staufer im Gegenteil, den Landbesitz der geistlichen Herren anschwellen zu lassen. S. Vincenzo al Volturno und Montecassino bekamen diese ablehnende Haltung bald zu spüren. Bei dem Besuch König Rogers II. von Sizilien in Montecassino 1140 vermissen wir die großartigen Schenkungen, wie wir sie von den deutschen Kaisern oder den Herren in den Dukaten Spoleto und Benevent kennen. Roger verbietet, daß noch irgend welche Stiftungen aus seinem Königreich an Montecassino gemacht werden. Mit der übereignung von Ländereien war es damit praktisch zu Ende.
Spielten unter den Langobarden und Franken die Dukate von Spoleto und Benevent mit Capua und Salerno die führende Rolle, so verlagert sich das Schwergewicht nach der Vertreibung der Griechen und Araber durch die Normannen in das südliche Italien. Die neuen Herren konzentrierten sich anfänglich auf Apulien und Kalabrien. Dann aber wird 1061 Messina erobert, und seit 1072 ist Palermo eine normannische Stadt. 1130 nennt sich Rogern. König von Sizilien, Kalabrien und Apulien. Hauptstadt des Reiches wird Palermo.
Friedrich II. von Hohenstaufen stützte sich zum großen Teil in seiner Organisation auf die Verwaltung der Normannen. Neu aber ist die Straffung des inneren Aufbaus im Sinne seines absolutistischen Konzepts. Die Konstitutionen und Gesetze, die Friedrich erließ, waren die modernsten und reifsten, die das Mittelalter hervorgebracht hat, ebenso wie die Organisation des Kanzlei-und des Steuerwesens. Anfänglich wurden Vertreter des geistlichen Standes und des Adels in die Verwaltung eingespannt. Um sich aber der selten zu bezähmenden Machtgelüste dieser Herren zu entledigen, erfolgte soziologisch gesehen eine ziemlich radikale Umbesetzung der Verwaltungsstellen. Es entstand ein Beamtenapparat, in dem der juristisch ausgebildete Fachmann die kaiserlichen Anordnungen auszuführen hatte. Ethisch wurden die größten Anforderungen gestellt, die neuen Justitiare sollten der Spiegel der Gerechtigkeit sein. Da als Ausbildungsstätten für Juristen und Notare nur die weitentfernten Universitäten von Paris und Bologna zur Verfügung standen, gründete Friedrich in Neapel eine eigene Universität, eine königliche Anstalt, die in erster Linie für seine Staatszwecke da zu sein hatte. Durch Ausschaltung der machthungrigen und intriganten Feudalen kamen neue Kräfte hoch, die dem Staat uneigennützig dienten. Darunter war auch eine große Zahl von Abruzzesen, mehr als während der Normannenzeit in der Verwaltung tätig waren. Die Einrich (S. 93) tung der staufischen Universität bedeutet für die Abruzzesen ein nachhaltiges Ereignis. Bis weit in das 20. Jh. ist Neapel die bevorzugte Universitätsstadt des Abruzzenlandes geblieben.
In der Zeit der Normannen und Staufer spielte die Entwicklung der Städte eine nie dagewesene Rolle. Man denke an die Italien züge Friedrichs Barbarossa in Oberitalien, wo er versuchte, ein Auskommen mit den Städten zu erreichen, ein Problem, das auch später von Friedrich II. nicht gelöst werden konnte. In Süditalien waren die Städte unter Kontrolle des sizilianischen Hofes; das war die Blütezeit für Palermo und Cefalù, auf dem Festland für Bari, Trani, Molfetta, Barletta, Salerno, Neapel usw. Die Abruzzen und das Molise blieben von dieser Entwicklung jedoch weitgehend ausgeschlossen. Zwar erlangte die schon unter den Frentanern genannte Hafenstadt Ortona unter Heinrich VI. und Friedrich II. Bedeutung. Letzterer stützte sich bei der Ausweitung seiner Macht und bei seinen Beziehungen zum Heiligen Land, zu Venedig, Genua und Pisa auf eine eigene große Flotte, und er erkannte die Geschicklichkeit der Einwohner von Ortona im Schiffsbau, so daß die Stadt mit Freiheiten ausgestattet wurde. Die Gründung der Stadt L'Aquila durch die Staufer erfolgte erst am Ende der Regierungszeit des deutschen Kaiserhauses, und die Blüte des Ortes begann nicht vor der Herrschaft der Anjou. So blieben die Siedlungen und die von der römischen Antike her bekannten Städte mehr oder weniger sich selbst überlassen und nahmen kaum an den Geschehnissen der großen Welt teil. Das Leben in diesen Orten war statisch und konservativ, und infolge dieser historischen Situation unterscheiden sich noch heute die Abruzzen von den übrigen süditalienisehen Provinzen, mit denen sie doch bis 1860 eine politische Einheit gebildet haben.
Der Besucher der Abruzzen würde sich irren wenn er glaubte, hier auf Spuren der normannischen und staufischen Kunst zu treffen. Direkte Zeugnisse aus dieser Epoche finden sich hier nur selten, kaum etwas von den Normannen und von den Staufern lassen sich nur sporadische Einflüsse aus dem Süden feststellen. Die Kunst der Normannen und Staufer manifestiert sich an den Brennpunkten ihrer Macht. Die Hofkunst in Palermo setzte sich aus verschiedenen Elementen zusammen. Es blühte dort die Zivilisation der Araber und Griechen, man verstand sehr viel von der lateinischen Welt und wußte genau, was sich an den Höfen in Frankreich und England tat oder in den reichen Städten der damaligen Welt. Die Abruzzen und das Molise zeigen nichts von dieser Pracht, keine Mosaiken und außer in Casauria keine feinen byzantinisch beeinflußten Bronzetüren. In den Randgebieten des sizilianischen Königreichs ist von der verfeinerten Kultur der Herrscher nichts zu spüren. Unser Bergland bewahrte die lateinische Tradition,und das, was hier entstand, blieb mehr lokalen Kräften überlassen, mit denen wir uns noch zu beschäftigen haben. Lange Zeit hindurch wehrte sich unsere Region gegen alles, was aus dem Süden kam, gegen die Phönizier, die Griechen und Araber. Das süditalienische Reich, dieser modernste Staat des Mittelalters, war ein Gebilde in dem heterogene Kräfte wirksam waren. Das arabische Moment, das in der Kunst, in der Verwaltung und noch bis zum 13. Jh. im Heerwesen eine Bedeutung ersten Ranges besaß, konnte in den nördlichen Provinzen des Königreichs so wenig Fuß fassen wie die Einflüsse der Griechen und der internationalen Welt. Keine andere Provinz des Königreichs kannte so viele Abtrünnige und Rebellen wie die Abruzzen und das Molise. Es ist aber noch nie danach gefragt worden, ob das Rebellieren nur die Weigerung bedeutet, sich einem bestimmten Staat unterzuordnen, oder ob die Aufsässigkeit ein ganz allgemeiner Wesenszug dieses Bergvolkes ist.
Der Einbruch der Normannen in die Abruzzen war in militärischer Hinsicht kein großes Wagnis. Die zahlreichen Adelsfamilien hatten sich nicht verbündet, um Angriffe von außen abzuwehren. Der politische Einfluß und die praktische Hilfe der Herzöge von Spoleto nahmen ab. 1070 starb Herzog Goffredo il Barbato von Spoleto. Mit ihm hörte die engere Verbindung des Dukats mit den Abruzzen auf. Mit der Hilfeleistung der deutschen Kaiser war es nicht besser bestellt. Sogar ein Nachlassen der kaiserlichen Gewalt in den Reichsklöstern ist zu beobachten, was ein Beispiel erläutern mag. Grimoald, Abt des Reichsklosters S. Clemente a Casauria, ist der erste, der vom Papst in seinem Amt bestätigt wurde. Urban 11. verlieh ihm den Krummstab, während seine Vorgänger vom Kaiser eingesetzt wurden und zum Zeichen ihrer Würde das Szepter erhielten.
Die mangelnde herrscherliehe Unterstützung wurde durch die Erstarkung des Kirchenstaates etwas ausgeglichen, doch mußte dieser trotz einiger Teilerfolge auf die Dauer vor den Normannen kapitulieren.
Die erste wichtige Berührung mit den feindlichen Normannen kam durch den Papst. Leo IX., vordem Bruno Graf von Egisheim-Dagsburg, Bischof von Toul und Vetter Kaiser Heinrichs III., zog 1053 mit einem Heer nach Benevent, um die Stadt gegen die Normannen zu verteidigen. Sein Kanzler, Friedrich von Lothringen, der spätere Papst Stephan IX., sammelte für das Unternehmen Verbündete und Soldaten. Unterstützung fand er bei langobardischen Grafen am Oberlauf des Liriflusses, im Gebiet der Marser, in der Gegend von Valva und im adriatischen Teil der Abruzzen. Die Expedition nahm ein böses Ende. Die Normannen erfochten am 18. Juni unter den Mauern der Stadt Civitate im nördlichen Apulien den entscheidenden Sieg, und der Papst geriet in die Gefangenschaft seiner Vasallen. Mit diesem Sieg begann die Staatsgründung der Normannen.
Die Eroberer begannen zunächst ihr Reich in Apulien und Kalabrien aufzubauen. Schon 1059 läßt sich Robert Guiscard von Papst Nikolaus II., vordem Gerhard von Burgund, mit diesen beiden Ländern und mit Sizilien, das noch im Besitz der Araber war, belehnen. Dafür verpflichtete er sich, den Stuhl Petri zu schützen und jährlich Tribut zu zahlen. Nach der Mitte des II.Jh. kam es zu ersten Scharmützeln in den Abruzzen, als die Normannen in den südlichen Teil der Provinz Chieti einfielen, aus dem sie sich aber bald wieder zurückzogen. 1058 tauchen sie im Tal des Sangro auf, und (S. 94) 1061 befestigt Abt Oderisius von S. Giovanni in Venere sein Kloster gegen mögliche Angriffe der Normannen. Seit 1061 beginnt Gottfried, der Bruder Robert Guiscards, das Territorium von Chieti zu erobern, und sein Sohn Robert von Loritello drang bis Ortona vor. Die Vorstöße gingen schnell weiter. 1064 stehen die Angreifer vor S. Clemente a Casauria, und die Vasallen des Klosters sind dankbar für die überfälle, im Glauben, dadurch Gelegenheit zu einer Revolte gegen das Kloster zu erlangen, um sich Erleichterungen zu verschaffen. Die Eroberungszüge Roberts von Loritello gingen entlang der adriatischen Küste. Er wurde unterstützt von seinem Bruder Dreux mit Beinamen Tasso, dessen Sohn Wilhelm Bischof von Chieti wurde. Die Einnahme des abruzzesischen Hochlandes erfolgte durch den Normannen Jordan. Als Fürst von Capua regierte er ab 1078 und starb 1090. So wurde das alte Gebiet der Langobarden aufgelöst und zwischen dem normannischen Herzogtum Apulien und dem Fürstentum Capua aufgeteilt. Die Stadt Benevent selbst wurde Teil des Kirchenstaates, und vom langobardischen Herzogtum Spoleto trennte sich der Dukat von Fermo ab, dem der nördliche Teil der Abruzzen mit Teramo und Penne unterstand.
Gegen die Eroberung der Abruzzen protestierte der Kirchenstaat sehr scharf. Anfänglich schien den Päpsten der Einfall der Normannen gefährlicher als die grausamen übergriffe der Muselmanen. Um den ansässigen Adel zu schützen, drohte Gregor VII. 1078, alle Normannen zu exkommunizieren, die das Territorium Petri, den Dukat von Fermo, das Herzogtum Spoleto, Benevent und Kampanien angreifen würden. Gregors Abneigung gegen die Normannen hatte eine lange Vorgeschichte. Als Mönch Hildebrand war er zugegen, als Trasmundus, der Abt des Marienklosters auf den Tremiti-Inseln in Apulien, seine Mitbrüder strafte, nachdem diese sich der normannischen Partei zugewandt und gegen den Abt revoltiert hatten. Trasmundus ließ ihnen die Zungen ausreißen und die Augen blenden. Hildebrand verteidigte diese grausame Tat. Nach dem Bruch mit Robert Guiscard setzte der nunmehrige Gregor VII. eben jenen Trasmundus als Abt von S. Clemente a Casauria ein und machte ihn gleichzeitig zum Bischof von Valva.
Um das Jahr 1095 besaßen die Normannen in der Provinz Chieti u.a. folgende Orte: Chieti, Villamagna, Lanciano, Atessa, Ortona, Torre -heute Torrebruna bei Vasto -, Civitaluparello, Gissi bei Vasto und Scuculla, das heutige Sconcola, zur Gemeinde Ripa Teatina gehörig.
Die planmäßige Eroberung setzte 1140 ein. In diesem Jahr treffen wir König Rogern. in Montecassino, in Chieti und in S. Clemente a Casauria an. Dort nahm er an der Messe teil und lobte die außergewöhnliche Schönheit des Kruzifixes im Chor; das ist eine für das Mittelalter seltene ästhetische Aussage aus dem Munde eines mit den Künsten vertrauten Herrschers. Die beiden Königssöhne Roger, Herzog von Apulien, und Alphons von Capua operierten gleichzeitig in unserem Bergland. Die erste Unternehmung führte Alphons durch, wobei er die gegen seine Herrschaft rebellierenden Untertanen in der Grafschaft Manoppello niederzwang. Dort wurde 1140 ein neuer Graf, Bohemund von Tarsia, eingesetzt. Dann unterwarf er das Gebiet zwischen der Pescara und dem Tronto, das entspricht dem Territorium der Grafschaften Chieti und Penne. In dieser Gegend finden nach 1140 keine weiteren Kämpfe mehr statt. 1143 erobern die beiden Brüder das Marserland. Der Kirchenstaat mußte den normannischen Zugewinn hinnehmen. 1156 schloß Papst Hadrian IV. mit König Wilhelm I. in Benevent einen Vertrag, in dem der Besitz der Normannen in den jüngst eroberten Gebieten in den Abruzzen anerkannt wurde. Dafür erhielt der Papst zum Ausgleich die Stadt Chieti und finanzielle Entschädigung.
Die deutschen Kaiser betrachteten Süditalien immer noch als zu ihrem Reich gehörig, und somit waren sie die natürlichen Gegner der Normannen. Zwischen Wilhelm II. von Sizilien und Friedrich Barbarossa kommt es in den Abruzzen zum feindlichen Zusammenstoß. Die Deutschen gewinnen die Schlacht bei Carsoli, die von Erzbischof Christian von Mainz geleitet wurde. Doch blieb dieser Sieg ohne große politische Folgen. Die Verbindung des normannischen Königreichs mit dem deutschen Kaiserreich kam durch politische Heirat zustande. Der Sohn Barbarossas, Heinrich VI., heiratete am 27. Januar 1186 in Mailand Konstanze, Tochter des König Rogers II. von Sizilien. Der regierende König Wilhelm II., ein Enkel von Roger II., stirbt am 18. November 1189 kinderlos, und so wird Konstanze Erbin des Südreiches. Zunächst hatte es der mit Süditalien nicht vertraute Heinrich schwer, das Erbe der Konstanze unter seine Kontrolle zu bekommen, zumal eine vom Papst geförderte Gegenpartei den Halbbruder Wilhelms II., Tankred, Herzog von Lecce, zum König von Sizilien erhob. Damit waren kriegerische Auseinandersetzungen unvermeidlich gewQrden. Im Auftrag Heinrichs VI. überschreitet 1190 Heinrich von Kalden an der Spitze eines deutschen Heeres bei Rieti die Grenze zwischen dem Kirchenstaat und den Abruzzen. Wahrscheinlich mit Unterstützung der Grafen von Celano besetzt er Amiternum, Corfinio und Chieti. Bei Ortona allerdings erlitt er eine Schlappe, dennoch gelang es ihm, mit Hilfe des Grafen von Andria und der Grafen der Abruzzen in Apulien einzufallen. Tankred konnte diesen ersten Versuch der Deutschen, in das Königreich einzudringen, mit Mühe gerade noch abwehren. Er sah voraus, daß Heinrich VI. nach seiner Krönung zum Kaiser durch den greisen Coelestin III. gegen ihn vorgehen würde. Daher versicherte sich Tankred 1192 in Termoli der Treue seiner Untertanen. In diesem Jahr fanden die feindlichen Auseinandersetzungen besonders in der Gegend von Montecassino und in den Abruzzen statt, wo Tankred z.B. in Alba Fucense operierte. Ende 1192 rückte die kaiserliche Partei in die Abruzzen ein. Ihr Anführer war Berthold von Künsberg. Er besetzte von neuem Amiternum sowie Corfinio und griff dann das Molise an. Am 11. November 1192 fiel Venafro, und wenig später wurde Monteroduni in der Provinz Isernia erobert. Aber kurze Zeit darauf starben erst Berthold und dann I 194 Tankred von Lecce. Die Regentschaft übernahm seine Frau Sibylle, die jedoch den Siegeszug der Staufer nicht aufhalten (S. 95) konnte. Im Oktober 1194 ist Heinrich VI. in Messina und am 20. November zieht er in Palermo ein. Der Kaiser verlieh die Grafschaft Molise 1192 an Berrhold von Künsberg, 1195 an Konrad von Lützelnharr und 1197 an Markward von Anweiler. Diese Region kam Anfang des 13. Jh. an das Haus Celano, wurde aber nach dessen Sturz zwischen 1221 und 1250 zumeist unmittelbar von der Krone verwaltet. König Manfred verlieh Isernia mit der neugeschaffenen Grafschaft Venafro 1257 an Ubertinus de Lando aus Piacenza, der diesen Besitz, obwohl meist abwesend, bis 1266 behauptete.
In der Zeit der Normannen und Staufer erfahren wir in unserem Bergland auch einiges über die Juden. Wahrscheinlich hatten sie dort immer gewohnt, ohne aber geschichtlich wirksam gewesen zu sein. Schon der Korrespondenz Gregors d. Gr. um das Jahr 600 ist allerlei über die Situation der Juden in Italien zu entnehmen. Er schreibt von einem Juden in Venafro, der unerlaubterweise liturgische Gefäße erwarb, die er zurückerstatten mußte. In der im gegenwärtigen Kapitel behandelten Zeit finden wir die meisten jüdischen Gemeinden an der Adriaküste, wo der Handel zur See betrieben wurde, in Vasto, Lanciano, Ortona und Pescara. 1092 machte eine Judengemeinschaft in Aterno bei Pescara von sich reden. Sie wurde beschuldigt, am Abend vor Karfreitag in ihrer Synagoge eine Ritualrache an einem Kruzifix vorgenommen zu haben. 1156 wurden die Juden aus Lanciano vertrieben, 1191 durften acht Familien wieder dorthin zurückkehren. Friedrich II. organisierte den Handel im Südreich neu und bediente sich dabei auch der Hilfe von Juden. 1231 ordnete er an, daß der Handel mit Rohseide künftig von jüdischen Firmen in Trani zu betreiben sei. Jede Firma hatte ihr eigenes Absatzgebiet; die Preise für das Material sowie der Verdienst der Juden und der Staatskasse wurden festgesetzt. Gleichzeitig wurde das Staatsmonopol des Färbens in jüdische Hände gelegt, und zwar nicht nur in den Ländern, die direkt der Krone unterstanden, sondern auch in den Baronal-und Kirchendomänen. In den nördlichen Regionen des Königreiches sollten künftighin die Juden das Färbergewerbe in den Städten Neapel und Capua neu organisieren sowie für seine Einrichtung an weiteren geeigneten Plätzen Sorge tragen. In den Abruzzen wurden vier neue Niederlassungen gegründet unter der Leitung von vier Juden, die miteinander in Verbindung standen.
Rebellen
Eine Hauptaufgabe der Innenpolitik des Normannen-und Stauferreichs war die innere Festigung des Landes. Dieses Ziel wurde kaum erreicht, denn die Abruzzen und das Molise blieben in dieser Zeit zumeist in der Hand von unzufriedenen und andersdenkenden Aufständischen. Sie gehörten zur Adelsschicht und verwalteten ihre Territorien schlecht und recht. Die Einordnung in ein politisches System fiel diesen Herren sehr schwer, und wenn schon Partei ergriffen werden mußte, dann wählte man die, von der man sich die geringste Wirksamkeit erhoffte. So entstand in unserem Bergland eine Schaukelpolitik, bei der abwechselnd auf den deutschen Kaiser, den Kirchenstaat oder den eigentlichen normannischen Souverän gesetzt wurde. Die wenigen Feudalmächte, denen ihre politischen Schwankungen nicht zum Schaden gereichten, waren die Häuser der Celano und Pagliara.
Jordan, Fürst von Capua (gest. 1090), der im Hochland der Abruzzen weite Gebiete besaß, rebellierte gegen den Herzog von Apulien, Robert Guiscard (gest. 1085). Besondere Raufbolde scheinen die Grafen von Manoppello gewesen zu sein. Nachdem die Normannen die Außengüter von S. Clemente a Casauria 1073 angegriffen hatten, nahm 1076 Hugo Maumouzet, Graf von Manoppello (gest. 1099), den Abt Trasmundus von Casauria gefangen und verscheuchte die Mönche in alle Winde. Ein Graf Gautier von Manoppello hauste besonders schrecklich. Graf Bohemund von Tarsia, von der Regierung zur Herstellung der Ordnung 1140 in Manoppello eingesetzt, konnte sich dort nur 15 Jahre halten, dann wurde er von seinem Grafensitz vertrieben, und der Ort fiel aufs neue in die Hände der Rebellen. Nach Berichten der Chronik von Casauria schlug man sich allerorts in den Abruzzen, und das Land wurde verwüstet. Um sein Reich vor den Aufständischen zu sichern, mußte König Roger II. mit eigener Heeresmacht eingreifen. 1138 zerstörte er die Stadt Venafro, und 1139 begab er sich erneut in das Molise, wo er sich Ländereien unterwirft, die die aufsässigen Söhne des Grafen Borell am Sangro besaßen. Zu den profiliertesten Rebellen gehört das mit Robert Guiscard verwandte Grafengeschlecht der Loritello, das reiche Besitzungen in Apulien und in den Abruzzen hatte. Graf Robert Loritello verbündet sich mit Friedrich Barbarossa und sogar mit dem griechischen Kaiser gegen das sizilianische Königshaus. Um Robert scharen sich andere von König Roger II. vertriebene Aufständische. Sie nahmen eine herausfordernde Haltung ein und verbargen sich meistens in den Abruzzen, von wo aus man, begünstigt durch die landschaftlichen Gegebenheiten, am besten Widerstand leisten konnte. Etwas kleinlaut wurden die Rebellen, als es König Wilhelm I. von Sizilien 1156 gelang, die Griechen bei Brindisi entscheidend zu schlagen. Die Chronik von Casauria berichtet, noch im selben Jahr habe Wilhelm eine Expedition in die Abruzzen unternommen, um das Land von den Aufständischen zu befreien. Ein dauernder Erfolg zeichnete sich jedoch nicht ab. Immerhin wurden einige Rebellen gefangen, darunter der Bischof von Chieti, der nach Palermo abgeführt wurde. Aber noch im selben Jahr 1156 bemächtigte sich der Rebell Graf Gregor von Ceccano des Ortes Carpineto, und Roberto Loritello entkam dem Zugriff des Königs und säumte nicht, weiteren königlichen Besitz, vor allem in Penne, zu zerstören. 1157 begannen in Palermo die ersten Vorbereitungen zur Verschwörung gegen Maion, den tüchtigen Minister des Königs Wilhelm, der dann 1160 ermordet wurde. Zu den Verschwörern gehörten Graf Bohemund von Tarsia, den einst die sizilianische Führungsschicht in Manoppello eingesetzt hatte, dann Graf Philipp von Sangro, Graf Roger von Tricarico in der Provinz Matera und Graf Mario Borell. (S. 96) Auch nach der Ermordung Maions gingen die Aufstände weiter, und in den Abruzzen hören wir davon 1163. Nach dem Tode Wilhelms I. im Jahr 1166 wurde von seiner Frau Margarethe, die als Regentin fungierte, Graf Richard de Mandra mit der Verwaltung des Molise betraut. Zwei Jahre später wurde er in die Staatskerker von Taormina geworfen, konnte aber später wieder befreit werden. Als 1190 die Wahl Tankreds von Lecce zum König von Sizilien bekannt wurde, protestierten unter Führung von Roger aus Andria auch andere Grafen, die die rechtlichen Ansprüche des Staufers Heinrich VI. unterstützten. Zu ihnen gehörte Renaud, Graf der Abruzzen, Roger von Mandra, Graf des Molise und Graf Petrus von Celano (gest. 1212). Tankred konnte die Rebellen in den Abruzzen nicht völlig unterdrücken. Die Grafen von Celano und andere unterwarfen sich nicht. Markward von Anweiler, einstens bester Berater Kaiser Heinrichs VI., maßte sich nach dessen Tod 1197 an, Regent von Sizilien zu werden. Vorbereitet wurde dieser Plan im Molise.
Auch Friedrich II. hatte mit den Rebellen in seinem Südreich abzurechnen. Nach achtjährigem Aufenthalt in Deutschland kam er 1220 nach Italien zurück und mußte sich sofort um die inzwischen verwilderten Vasallen in seinem sizilianischen Reich kümmern. Zu diesem Kreis gehörte Graf Thomas von Celano. Um ein Exempel zu statuieren, wandte Friedrich in diesem Fall große Strenge an. Der auf friedliche Regelung hoffende Thomas erhielt keine Vergebung und zog deshalb einen Teil seiner Soldaten auf seine Burgen im Molise, in Boiano und Roccamandolfi, zusammen. Friedrich belagerte drei Monate lang die Stammburg Celano am Fuciner See und gewährte den Abtrünnigen schließlich Verzeihung. Thomas mußte Celano, Ovindoli und S. Potito an Friedrich II. abtreten und die Teilnahme am Kreuzzug versprechen. Dennoch vertrieb der Justitiar des Kaisers, Heinrich von Morra, die Bürger von Celano und siedelte sie nach Kalabrien, Sizilien und Malta um und zerstörte die Stadt mit Ausnahme der Kirche S. Giovanni. 1227 durften die Vertriebenen nach Celano zurückkehren und errichteten eine neue Stadt, die von der alten ungefähr ein Kilometer entfernt ist. Schon der Vater des Thomas von Celano, Graf Petrus (gest. 1212), hatte auf diefalsche Karte gesetzt. Er und sein Sohn Thomas harten ausgerechnet den Gegner Friedrichs II., den Kaiser Otto IV. von Braunschweig, auf seinem Italienzug unterstützt.
Es waren nicht nur einzelne Personen, die revoltierten. Auch die Städte lehnten sich auf. 1239/1240 ließ Friedrich die Stadt Citta S. Angelo niederreißen, weil die Einwohner der päpstlichen Partei zuneigten und die Unterdrückung durch die Kaiserlichen nicht mehr ertragen wollten. Gleich nach dem Tode Friedrichs bildete sich in Sulmona eine antistaufische Partei. Konrad IV. mußte eingreifen, und bei dieser Aktion brannte er die Kathedrale der Stadt nieder. Auch sonst erschweren antistaufische Aufstände die Politik Konrads IV. Nach Manfreds Krönung rebellieren die Einwohner der eben erst gegründeten Stadt L'Aquila gegen den Staufer. An der Spitze seines Heeres konnte der König den Aufstand im Sommer 1259 niederschlagen. Man sieht an diesen Beispielen, wie in den Abruzzen selbstbewußte Städte entstehen, die nun eigenständig Initiative ergreifen.
Adelshäuser, Staatsdiener und Gelehrte
Der abruzzesische Adel, der sich immer wieder gegen die absolutistischen Tendenzen des Normannen-und Stauferstaates in Süditalien auflehnte, bildete sicherlich keine heruntergekommene und verzweifelte Gesellschaftsschicht. Wir finden in dieser Zeit in unserer Region hochgestellte Persönlichkeiten und Adelshäuser, die zu den hervorragendsten und mächtigsten in ganz Süditalien gehörten. So war z.B. Richard, ein natürlicher Sohn Kaiser Friedrichs II., 1247 bis 1249 Graf von Chieti und weiterhin Generalvikar der Romagna sowie von Spoleto und den Marken. Noch wichtiger ist das Haus Antiochien, das später unter den Anjou in den Abruzzen die gibellinische Partei unterstützte. Friedrich von Antiochien ist ebenfalls ein uneheliches Kind von Kaiser Friedrich II. und erhielt von diesem die Burg Pertorano sul Gizio. 1246 ernannte ihn sein Vater zum Vikar der Toskana, und noch im selben Jahr wurde er Podesta von Florenz. Nach dem Tod Friedrichs II. zog er sich wahrscheinlich auf seine Güter in Alba Fucense zurück. Er starb 1256 in Foggia. Aus seiner Ehe mit Margarethe von Poli und Saracinesco ging der um 1240 geborene Konrad hervor, also ein Enkel Friedrichs II., der in den Abruzzen alle Burgen seines Vaters übernahm, Alba Fucense, Celano und Loreto Aprutino. Konradin ernannte ihn noch 1267 zum Fürsten der Abruzzen. Konrad nahm an der Schlacht von Tagliacozzo teil und wurde von Karl I. Anjou gefangengenommen. Er kam später wieder frei und zog sich auf das Kastell in Anticoli bei Saracinesco zurück; nach ihm wurde der oberhalb der Via Valeria zwischen Tivoli und Carsoli gelegene Ort Anticoli Corrado genannt. Konrad von Antiochien starb um 1301. Er war einer der letzten, der die Ansprüche der Staufer auf das Südreich unterstützte und war verwandt mit Konstanze, der Tochter König Manfreds von Sizilien, die Peter III., König von Aragon, heiratete. Die Rechtsansprüche, die sich durch diese Ehe auf den Stauferbesitz in Süditalien ergaben, sollten in der Folgezeit unserer Landschaft noch erhebliche Unruhe bringen.
Aus dem Kreis hochmögender Persönlichkeiten ist Bernard zu nennen, der 1252-1264 Bischof von Forcone war. Er ist ein Verwandter des Kardinalbischofs Rainald von Ostia, der später als Papst Alexander IV. berühmt wurde.
Die Grafen von Celano, die ihre Abstammung auf das Geschlecht der Marsergrafen zurückführten, hatten lange Zeit gegen Normannen und Staufer eine eigene Hauspolitik getrieben und bildeten eine bedeutende Dynastie, deren Mitglieder in den Abruzzen und im übrigen Südreich wichtigste Stellen in der Staats-und Kirchenverwaltung einnahmen. Den größten Einfluß hatte dieses Geschlecht genau in der Zeit, als nach dem Tod Heinrichs VI. und der Kaiserin Konstanze die Regierungsgewalt wegen der Minderjährigkeit Friedrichs II. am schwächsten war. Die Grafen von Celano (S. 97) beherrschten den Zugang in das Königreich von Norden her, wenn man nicht den aus politischen Gründen oft schwierigen Weg durch den Kirchenstaat wählte. Schlüsselfigur ist der 1212 verstorbene Petrus von Celano. Er war persönlich mit Kaiser Otto IV. von Braunschweig bekannt, der ihm hervorragende Ämter im Südreich zusicherte und ihn zum Haupt justitiar des Königreiches ernannte. Durch geschickte Hauspolitik vereinigte Petrus das Molise mit seinen ausgedehnten Ländereien in den Abruzzen, indem er seinen Sohn Thomas mit der Erbin Judith, Gräfin des Molise, verheiratete. Aus dieser Ehe stammte der 1282 verstorbene Roger von Celano. Die vielen Söhne und Töchter des Petrus spielten eine wichtige Rolle in der Hauspolitik und unterhielten bald sehr enge Beziehungen zu den höchsten Führungsschichten des Reiches. Der Sohn Richard übernahm das Stammhaus Celano, sein Bruder Berard ehelichte eine Nichte Walters von Brienne, der mit der Tochter des letzten Normannenkönigs Tankred von Lecce verheiratet war. Ein anderer Bruder, Rainald, war 1204-1208 Bischof von Salerno. Eine Tochter des Grafen Petrus heiratete in das mächtige Geschlecht der Grafen von Ceccano ein, die ihre Besitzungen im südlichen Kirchenstaat hatten, eine andere vermählte sich mit dem Sohn des Diepold von Vohburg, Graf von Acerra in der Provinz Neapel. Auch zu anderen abruzzesischen Adelsgeschlechtern hatte das Haus Celano nahe verwandtschaftliche Beziehungen. Der bedeutendste Feudalherr in der Diözese Penne war Graf Gozelin von Loreto, der mit einer Tochter des Normannenkönigs Roger II. verheiratet war. Dieser Ehe entstammte eine Tochter, die in erster Ehe den 1183 verstorbenen Grafen Robert von Caserta heiratete und in zweiter den Legaten Heinrichs VI. in Italien, Berthold von Künsberg. Eine andere Tochter des Gozelin, Maria, heiratete Berard Celano (gest. 1207), wodurch die beiden Häuser Loreto und Celano miteinander verbunden wurden. Dieser Berard, Bruder des Bischofs Otto von Penne (1194-1199), Vetter des Petrus von Celano (gest. 1212), war lange Zeit Großjustitiar von Apulien und der Terra di Lavoro. Otto und Berard erfreuten sich der Gunst der Kaiserin Konstanze, der Mutter Friedrichs H. Die verwandtschaftlichen Beziehungen des Hauses Celano reichten noch weiter. Petrus von Celano (gest. 1212) war auch mit dem Haus Pagliara (Palearia) verschwägert. Dem gehörten an die beiden Grafen Gentilis (gest. nach 1212) und Manerius (gest. vor 1208) von Manoppello sowie deren berühmter Bruder Walter. Dieser war 1189-1200 Bischof von Troia in Apulien; er folgte Heinrich VI. 1191 nach Deutschland bis zur siegreichen Rückkehr des Kaisers 1194. Im darauffolgenden Jahr wurde Walter Kanzler des Königreichs Sizilien und führte, wenn der Kaiser sich in Deutschland aufhielt, die Regierungsgeschäfte zusammen mit den beiden Deutschen Konrad von Urslingen und Bischof Konrad von Hildesheim. Später wurde Walter Bischof von Catania und Minister unter Friedrich II. Er starb in Rom zwischen 1229 und 1231. Die Stammburg Pagliara liegt südlich von Isola dei Gran Sasso am Laghetto di Pagliara. Über der Burgruine wurde später die Kirche S. Maria di Pagliara errichtet. Das Grafengeschlecht der Pagliara war in den Abruzzen weit verzweigt. Aus einer anderen Linie der Familie stammten der berühmte Abt Oderisius von S. Giovanni in Vene re (1155-1204) und die Herren von Avezzano im Marserland.
Wir können beobachten, wie unter den Staufern die Zahl der Abruzzesen -seien es Adelige, seien es Angehörige des geistlichen Standes -in der Verwaltung des Königreiches außerordentlich zugenommen hat. Wie gesagt, war unter den Normannen die Zusammenarbeit sehr viel lockerer gewesen. Da begegnen wir dem Oderisius von Palearia, der 1148-1154 als Justitiar fungiert. Im 13. Jh. ist der Magister Petrus von Venafro zu nennen. Er stammte aus Venafro und wurde 1225-1259 Bischof von Nola. Seine Karriere begann er als Notar in der kaiserlichen Verwaltung. Am Hofe genoß er hohes Ansehen. Eine andere bedeutungsvolle Persönlichkeit ist Oderisius, der 1235-1245 Bischof der Marser war und zuvor Kanoniker an S. Panfilo in Sulmona. Seine Diözese hat ihn wenig beschäftigt. Zwischen 1239 und 1245 taucht er mit Regelmäßigkeit am kaiserlichen Hof in der Lombardei, in Umbrien und Apulien auf und gehörte wahrscheinlich zu den Ratgebern des Kaisers. Einer der treuesten Staatsdiener der Staufer war Walter von Ocre, wahrscheinlich ein Verwandter der Marsergrafen. Er begann seine Laufbahn als Propst in dem nah bei Ocre gelegenen S. Eusanio Forconese. 1247-1248 war er Bischof von Valva und daneben noch Erzbischof von Capua. Seit 1236 kennen wir ihn als Hofkaplan und seit 1238 als Notar in der Kanzlei Friedrichs II. Walter verstand sich ausgezeichnet auf die Außenpolitik. Gesandtschaftsreisen führten ihn nach Deutschland, England und Frankreich, und 1245 vertrat er den Kaiser auf dem Konzil von Lyon. Er erhielt den Auftrag, die Heirat Manfreds mit Beatrix von Savoyen zu vermitteln, er war Hausdiplomat unter Konrad IV. und Manfred. Sein Tod 1263 ließ ihn den Untergang der staufischen Macht, der er so verpflichtet war, nicht miterleben. Weiterhin ist zu nennen Vinciguerra von Bellante. Er war 1238-1239 kaiserlicher Generalvikar in Ligurien für das Gebiet von Albenga bis Nizza.
Schon im 13. Jh. blühte das Geschlecht der Acquaviva, das sich in der Renaissance so vielfältigen Ruhm erwarb. Rainald Acquaviva war 1240-1266 Bischof von Agrigent. Am 11. August 1258 salbte er im Dom von Palermo Manfred zum König und las die Krönungsmesse. Er war dem Herrscher treu ergeben, der ihn und Berard Acquaviva als Justitiare in Sizilien einsetzte. Auch abruzzesische Gelehrte waren mit dem Stauferhaus verbunden. Karl von Tocco, ein Abruzzese, lehrte 1189 Bürgerliches Recht an der Universität Bologna. Ähnlich dem langobardischen Nachleben im künstlerischen Bereich im 12. und 13. Jh. finden wir in Karl von Tocco eine Parallelerscheinung auf juristischem Gebiet. Er schrieb über die Gesetze der Langobarden und versah die Anordnungen mit Erläuterungen und Anmerkungen. Diese Schrift erfuhr im Südreich noch hundert Jahre später von dem Juristen Andreas aus Isernia, der seit 1289 Professor an der Universität Neapel war, eine große Würdigung. Aus Isernia stammte der Jurist Benedetto, der im Dienste Fried (S. 98) richs II. zu großem Ansehen kam. Seine Kenntnisse erwarb er sich gleichfalls an der Bologneser Rechtsschule. 1240 setzte sich Benedetto beim Kaiser für das Marienkloster in Isernia ein, das seine früheren Privilegien wiedererhielt. Von Marinus aus Caramanico kennen wir weder das Geburtsjahr noch das Todesdatum. Er studierte vielleicht in Bologna und bekleidete öffentliche Stellen in Neapel, wo er Richter der königlichen Kurie war. Sein Hauptwerk sind die Erläuterungen zu den Konstitutionen Friedrichs II., die er zusammen mit dem Gesetzestext herausgab, eine sehr scharfsinnige und durch neue Gedanken vertiefte Arbeit. Kaiser Friedrich II. kannte aus eigenen Konsultationen den Arzt Peter aus Casoli. Auf Grund seiner großen Verdienste gab der Kaiser ihm einen Lehrstuhl an der Universität Neapel, wo Peter bis zum Jahre 1252 Medizin lehrte.
Religiöses Leben
Das Aufblühen des religiösen Lebens in den Abruzzen im 12. und 13. Jh. hat verschiedene Wurzeln. Eine der Ursachen war die vorzügliche Verwaltung der Bistümer, wodurch die erstarkende päpstliche Politik Einfluß gewinnen konnte. Auf diese Weise wurden die Reformen unter GregorVII. in unserer Landschaft außerordentlich wirksam. In der langobardischen und fränkischen Zeit ging der Hauptimpuls allen religiösen Lebens von den Klöstern aus, nun kommen die Bistümer hinzu. Für den Wandel sind die Lebensbeschreibungen der Reformbischöfe charakteristisch. Begnügte man sich früher mit stereotyp abgefaßten, erbaulichen Heiligenviten, so erfahren wir nun von der religiösen und politischen Umwelt dieser Männer, von ihren Taten in dieser Welt zum Lob der Kirche. Die Berichte werden zu hervorragenden Geschichtsquellen. Dieser neue Stil entwickelt sich in Latium und in den Abruzzen. Als Beispiel möge die Biographie des gleich noch näher zu erwähnenden hl. Berard dienen, die sein Amtskollege Johannes Bischof von Segni zwischen 1140 und 1150 geschrieben hat. Er gehörte zu den gregorianischen Reformatoren, deren Aufgabe u.a. war, dem religiös sittlichen Leben eines Bischofssitzes beispielhaften Charakter zu geben. Es ist die Zeit, in der die Kathedrale neue architektonische Funktionen erhält; sie wird zum Leitbild einer ganzen Stadt. Sodann wird der Klerus an einer Kathedrale straffer organisiert; er und insgesamt die Einwohnerschaft einer Diözese sollen moralisch ein Vorbild abgeben. Die Vorbereitung auf diese Aufgabe geschah durch Predigten und neueingerichtete Schulen. Die Bevölkerung wird zu barmherzigen Werken aufgerufen und angehalten, friedfertig zu leben. Der Bischof übernimmt Pflichten, die als Ausdruck weltlicher Macht erscheinen könnten. So vermischen sich die Funktionen, und auch der geistliche Würdenträger wird ein »pius rex et perfectus imperator«. Die Reformbischöfe sind in Klöstern erzogen und vorgebildet worden. Sie alle sind bewandert in der »scientia monastica«. Darüber hinaus haben sie Kenntnis von Rom, von der dortigen Politik, und viele abruzzesische Bischöfe sind persönliche Freunde der Päpste gewesen. Ihre monastische Ausbildung erhielten die Abruzzesen zumeist in Montecassino. Bischöfe und Äbte der gregorianischen Reform sind Aristokraten. Aus dem Groß-und Kleinadel des Landes versammelten sie sich im benediktinischen Mutterkloster. Montecassino war wohl das politischste Kloster des Mittelalters. Es versuchte, das Spiel der Kräfte der damaligen Welt im Gleichgewicht zu halten. Zu diesen Mächten gehörten das Papsttum, die deutschen Kaiser und die Kaiser von Byzanz, die Normannen und Staufer in Süditalien und der lokale Feudalismus. Cassino war einerseits eine Bastion der Päpste, andrerseits versuchte man von hier aus, Einfluß auf den Kirchenstaat zu bekommen, in dem man Bistümer und Klöster mit Mönchen aus Montecassino besetzte. Wie stark an dieser Politik die Abruzzesen Anteil hatten, wäre einer eigenen Untersuchung würdig. Zur Rekrutierung seines Nachwuchses hatte das Mutterkloster in den Abruzzen ein gesundes Hinterland; und der Abruzzese wiederum saß in Cassino, wie in keinem anderen Kloster, mit am Lenkrad des Weltgeschehens.
Der mächtigste Abt, den das Kloster je hervorbrachte, war Desiderius, Fürst von Benevent. Er kannte die Abruzzen persönlich und beschreibt seinen Aufenthalt in der Stadt Chieti. Ausdruck seiner Macht war die Weihe seiner Klosterkirche am 1. Oktober 1071 durch Papst Alexander II.; dabei waren anwesend Hildebrand, der spätere Papst Gregor VII., der hl. Petms Damianus, sechs Kardinäle und 36 Bischöfe sowie unzählige Fürsten und Barone. Dieser Abt Desiderius wurde später Papst unter dem Namen Victor III. Als Abt von Cassino war Desiderius Nachfolger von Friedrich von Lothringen, der die Reform von Cluny nach Montecassino gebracht hatte. Dieser bestieg den päpstlichen Stuhl als Stephan IX. Der als Mönch in Montecassino groß gewordene Johannes Coniolo wird im Greisenalter Papst Gelasius II. Er starb im Januar 1119 in Cluny, bekleidet mit seiner Mönchskutte und auf der nackten Erde liegend.
In der Blütezeit von Montecassino haben u.a. auch vier aus den Abruzzen gebürtige Äbte die Geschicke des Klosters bestimmt. Nachfolger des Abtes Desiderius wird von 1087 bis 1105 Odorisius I., Sohn des gleichnamigen Grafen des Marserlandes. Der Geschichtsschreiber Petms Diaconus rühmt seine Tugenden und sagt, daß er ein wunderbarer Versemacher gewesen sei. Unter Papst Nikolaus II. wurde er bereits 1059 zum Kardinal ernannt. Odorisius ist ein Bruder des Trasmundus, der Abt von S. Clemente a Casauria und Bischof von Valva war. Gleichfalls aus dem Haus der Marser ging Girardus hervor. Er leitete das Kloster von Cassino von 1111 bis 1123, und auch er erlangte die Würde eines Kardinals. Sein Nachfolger wurde 1123 Odorisius II. Er stammte aus dem Geschlecht der Grafen von Sangro und begann seine Laufbahn als Mönch in Cassino. Am Lateran in Rom bekleidete er hohe Stellen. Petrus Diaconus lobt sein wissenschaftliches Ansehen sowie seine Eloquenz und preist ihn als Verfasser von schlichten und erleuchteten Predigten für die Hauptfesttage. In Cassino wurde er zur Zeit des abruzzesischen Abtes Odorisius I. in den freien Künsten erzogen. Das vornehme Marsergeschlecht brachte einen weiteren Abt in Montecassino hervor, Rainaldus II., der unter (S. 99) Odorisius II. Mönch in Cassino wurde. Seine Sittenstrenge wird gelobt, und er soll alle seine Zeitgenossen an Ehrenhaftigkeit und Stetigkeit übertroffen haben. Er wurde unter Papst Innozenz II. Kardinal und starb 1165/1166. In Montecassino haben die abruzzesischen Äbte ihre Heimat nicht vergessen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit dürfen wir annehmen, daß der Abt Odorisius, der sich als Auftraggeber auf den Chorschranken von S. Pietro in Alba Fucense nennt, mit Odorisius II., Abt von Montecassino, gleichzusetzen ist. Ähnlich ist auch wohl Rainaldus, der inschriftlich auf den Kanzeln von Moscufo und Cugnoli vorkommt, kein anderer gewesen als der abruzzesische Abt von Montecassino.
Zur Zeit des Abtes Desiderius (1058-1086) waren in Montecassino ständig mehr als 200 Mönche. Man hatte die besten Aussichten, von dort aus in die hohen Ränge der katholischen Hierarchie aufzusteigen. Zu denen, die avancierten, gehörten viele Abruzzesen. So wurde z.B. Rosemann (Rosiman), Graf der Marser, Mönch in Cassino und 1099 Kardinal. Eine andere bedeutsame Person ist Leo Marsicanus. Er schrieb die Chronik von Montecassino, die eine der wichtigsten Geschichtsquellen für Süditalien und für die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst im 11. Jh. ist. Wie der Beiname aussagt, stammt Leo aus dem Marserland. Häufig liest man, er sei ein Sproß des berühmten Geschlechts der Marsergrafen gewesen. Das ist historisch nicht überliefert, und von Leos Familie ist nur sein Onkel Johannes bekannt, der 1073-1086 Bischof von Sora war. Mit 14 Jahren trat Leo in das Mutterkloster ein. Dort war sein Lehrer Aldemarus, ehemaliger Kanzler des Fürsten von Capua. Eine große Freundschaft verband Leo Marsicanus mit dem Abt Desiderius. Dieser ernannte ihn zum Bibliothekar des reich gefüllten Archivs von Montecassino. Leo hat die Geschichte seines Klosters und die Ereignisse, wozu auch die künstlerischen Begebenheiten im Klosterleben gehörten, nur bis zum Jahre 1057 beschrieben. Petrus Diaconus setzte die Arbeit zwischen 1130 und 1137 fort. Vergleicht man beide Autoren, so fällt der Preis dem Leo zu, was seine Mühen um Wahrheitsfindung und seinen glänzenden literarischen Stil angeht. 1105 erhielt Leo die Kardinalswürde, und nach einem arbeitsreichen Leben starb er 1115. Seine Chronik wurde zum ersten Mal 1513 in Venedig gedruckt.
Eine andere Persönlichkeit, die über Montecassino berühmt wurde, ist der bereits erwähnte hl. Berard, ein Marsergraf, 1079 im Kastell Colli bei Peseina geboren. Zwei seiner Onkel waren Bischöfe und ein dritter, Odorisius II., Abt von Montecassino. Einer seiner Verwandten aus der nachfolgenden Generation war der Zisterziensermönch Baldu in, der die Zisterzienserabtei S. Pastore bei Rieti gründete. Lehrer des Heiligen war in Monteeassino der blinde Paulus Grammaticus. 1109 wurde Berard Bischof der Marser. Er ging gegen die Simonie an und hielt sich streng an das Gebot des Zölibats. Sein Biograph, Johannes, Bischof von Segni, schildert ihn als Reformator und als gestrengen Herrn gegenüber dem ewig querulierenden Kleinadel. Berard war Freund des Papstes Paschalis II., er wurde Kardinal und bewährte sich als glänzender Experte an der Kurie; er starb 1130. Ein Namensvetter, und ebenfalls ein Heiliger, ist Berardus von Pagliara. Seine Familie gehörte dem hohen Adel an, und er wurde etwa 1050 in der Stammburg der Pagliara bei Isola del Gran Sasso geboren. Er war Mönch in Cassino, zog sich längere Zeit nach S. Giovanni in Venere zurück, wo ein Verwandter Abt war, und regierte seit 1115 die Diözese Teramo, wo er 1123 starb. Noch heute ist der Heilige der Schutzpatron der Stadt.
Ein anderer Adeliger, Otto von Celano, Bruder des 1207 verstorbenen Berard von Loreto, war 1194-1199 Bischof von Penne. Beide waren Söhne des Grafen Roger von Celano. Ottos Laufbahn begann in Montecassino. Das gleiche trifft für Walter zu, der 1217-1238 Bischof von Penne war. Er stammt aus der Familie der Burgherren von Civitaquana südlich von Penne. 1194 wird er Abt von S. Bartolomeo in Carpineto della Nora. 1219 hält er sich in Nürnberg auf, um dort den Kaiser Friedrich 11. aufzusuchen. Gemeinsam mit den Bischöfen von Valva und Guardialfiera weihte er 1223 die Marienkirche in Atri, die spätere Kathedrale der Diözese Penne. Ein anderer Mönch von Cassino, Johannes, wurde 1203 Propst von S. Liberatore alla Maiella, 1218 Abt von S. Vincenzo al Volturno und 1225-1226 steigt er noch eine Stufe höher als Bischof von Brindisi. Ober die Herkunft des Richard, der 1240-1249 Bischof von Trivento war, wissen wir nichts, außer daß er früher Mönch in Cassino war. Man brauchte aber nicht Abruzzese zu sein, um über das benediktinische Mutterkloster Bischof in unserer Region zu werden. Ein Beispiel bietet der aus Ravenna stammende Petrus, der von 1059-1080 als Bischof von Venafro und Isernia amtierte.
Wie wir sahen, hatte das Mutterkloster Montecassino' zweifellos starken Einfluß auf die Besetzung der Bistümer und Klöster in den Abruzzen und dem Molise ausgeübt. Andrerseits war die Gesellschaftsschicht in den Abruzzen so in sich gefestigt und einflußreich, daß sie Persönlichkeiten aus dem eigenen Kreis ohne den Umweg über Cassino in die Führungsstellen einschleusen konnte. Die Ernennungen von Bischöfen waren oft sogenannte Hausberufungen, indem dieselben schon vorher in der Verwaltung der Kathedralen höhere Positionen erlangt hatten. Es scheint, daß Teramo von allen abruzzesischen Diözesen diejenige ist, in welcher im 13. Jh. die Bischöfe am häufigsten direkt aus dem Umland, ohne Mitsprache von Cassino, berufen wurden. So ging z.B. Atto, 1179-1204 Bischof von Teramo, aus dem regionalen Klerus der Diözese hervor. Er war Erzpriester von S. Flaviano, dem heutigen Giulianova, und stammte wahrscheinlich aus dem ortsansässigen Kleinadel. Er ließ die Gebeine des oben erwähnten Berard in die neue Kathedrale von Teramo überführen. Atto war Anhänger der staufischen Partei. 1193 treffen wir ihn im Exil am Hofe Heinrichs VI. in Kaiserslautern an. Mit dem siegreichen Kaiser kehrte er nach Italien zurück und nahm 1195 am Reichstag in Bari teil. Der Magister Petrus Machanianus, 1221-1229 Bischof von Teramo, stammte sicherlich aus dieser Diözesanstadt, wo sein Familienname häufiger vorkommt. Ein anderer Bischof mit Namen Atto regierte 1239-1251 die Diözese (S. 100) Teramo; vorher war er Kanonikus an der dortigen Kathedrale, 1239 hielt er sich am kaiserlichen Hof in der Lombardei auf. Marthäus von Bellante war 1252-1267 Bischof von Teramo und zuvor Kanoniker an dieser Kathedrale. Er stammte aus einer angesehenen Adelsfamilie, deren Hauptlehen das Kastell Bellante nördlich von Teramo war. Gentilis, 1267-1270 Bischof von Teramo, stammte aus Sulmona, wo er 1251 als Kanoniker an der dortigen Kathedrale anzutreffen ist. Aus einer lokalen Adelsfamilie stammt Rainald de Barilibus, 1272-1278 Bischof von Teramo, vordem Kanoniker am Dom von Chieti. Auch das Bistum Chieti liefert Beispiele für kirchliche Würdenträger abruzzesischer Abstammung, die innerhalb der Region ihren Aufstieg nahmen. Dort amtierte etwa 1073/1074 Teuto als Bischof, er starb 1077. Wahrscheinlich gehörte er zum Geschlecht der Teutoneschi, einer alten Adelsfamilie aus der Gegend von Chieti. Nikolaus, 1262-1278 Bischof von Chieti, stammte aus einer Adelsfamilie in Fossa bei L'Aquila. Er war Kanoniker an der Kathedrale in Forcone. Weitere Beispiele für sogenannte Hausberufungen bietet die Kathedrale von Valva. Als erster ist zu nennen Oderisius von Raiano, Angehöriger eines Adelshauses aus Sulmona, das sich nach seinen Gütern in Raiano und Cocullo nannte. Er war Kanoniker an der Kathedrale S. Pelino in Corfinio, bevor er 1172-1193 Bischof von Valva wurde. Er ließ die wiedergefundenen Gebeine des hl. Pelinus neu beisetzen. Sein Name ziert auch die berühmte Kanzel in seiner Kathedrale. Wilhelm, 1194-1204 Bischof von Valva, war ebenfalls Kanoniker von S. Pelino und stammte wahrscheinlich wie sein Vorgänger aus dem lokalen Kleinadel. Ebenso war Berard Kanoniker von Valva und Bischof daselbst in den Jahren 1226-1227 Er kam aus Pescina am Fuciner See. Nikolaus von Celano ist ein Sohn des Marserlandes und 1254-1255 Bischof der Marser. Die Laufbahn des Bischofs Theodinus von Isernia, der dieses Amt nach 1244 bekleidete, vollzog sich allein in dieser Stadt. Vorher war er Abt von S. Vito in Isernia gewesen sowie Rektor von S. Biagio und damit Vorsteher eines Benediktinerklosters, das im Leben der Stadt eine recht bedeutende Rolle spielte.
Das Wirkungsgebiet der Abruzzesen und Molisaner beschränkte sich jedoch nicht nur auf ihr Heimatland. Noch höhere Stellen als dort boten sich ihnen in der päpstlichen Verwaltung und im Südreich der Normannen und Staufer. So wird z. B. Amicus, Mönch und Abt von S. Vincenzo al Volturno, etwa 1090 Presbyterkardinal unter Papst Urban II. Ähnlich gelang dem Marsergrafen Adinolf 1125 der Aufstieg zum Abt von Farfa und zum Kardinal, er starb ungefähr 1147. Leonas gehörte dem Adelsgeschlecht von Manoppello an. Er war Abt von S. elemente a Casauria und hatte vor allem als Bauherr Bedeutung für dieses wichtige Kloster. Er wurde Kardinal und starb 1182. Den Abruzzesen Simon Borell treffen wir 1152. als Abt von Subiaco an und 1158 als Kardinal; er starb etwa 1163. Im Jahr seines Amtsantritts in Subiaco starb die hl. Jungfrau Chelidonia. Sie stammte aus Poggio Paponesco, dem heutigen Fiamignano in der Provinz Rieti und wurde Schutzherrin von Subiaco. Aus abruzzesischem Hochadel kam Walter. Er war 1189-1200 Bischof von Troia in Apulien und war 1208-1229 Bischof von Catania. Dionysius, 1172-1174 Bischof von Teramo, wird Erzbischof von Amalfi; er stirbt 1202. Er besaß das Vertrauen des königlichen Hofes in Palermo. Oderisius, Abt von S. Giovanni in Venere, erlangte die Kardinalswürde und starb 1204. Berard von Castagna gehörte zu einer adeligen abruzzesischen Familie, die im Gefolge des Hauses Pagliara in näherer Beziehung zum Hofe in Palermo stand, ähnlich wie andere Adelsgeschlechter unserer Region, die mit Besitzungen in der Basilicata, Kalabrien und in der Terra d'Otranto belehnt wurden. Berard wurde Bischof von Bari, dann 1213-1252 Erzbischof von Palermo. Er war engster Freund und Berater Kaiser Friedrichs II. Es war Berard, der dem sterbenden Friedrich die Absolution erteilte. Eine andere Persönlichkeit war Walter, Bischof von Larino, der später Erzbischof von Amalfi wurde und 1258 starb. Der Abruzzese Rainald von Acquaviva amtierte 1240 bis 1266 als Bischof von Agrigent. Diese schon von Kaiser Heinrich VI. privilegierte Adelsfamilie diente den Staufern als Justitiare, Vikare und Podesta. Auch andere Mitglieder der Acquaviva erhielten Stellungen in Sizilien. Der Abruzzese Walter war Bischof von Catania und brachte den Sanso von Acquaviva als Diakon an die dortige Kathedrale. Wichtigster Vertreter der Familie ist jedoch der obige Rainald. Auf seine Initiative ging der Neubau der Kathedrale von Agrigent zurück. Nach dem Sturz der Staufer zog sich Rainald auf die abruzzesischen Güter seiner Familie zurück. Im Juni 1267 tritt er dort als Zeuge im Zisterzienserkloster Casanova auf. Sein späteres Schicksal ist ungewiß; er dürfte wohl in seiner Heimat gestorben sein.
Man hat die Geschichte der Abruzzen bislang zu wenig unter einem europäischen Gesichtswinkel betrachtet, vielleicht, weil die üppig blühende Lokalgeschichtsschreibung die Fakten zu stark überwucherte. Die Leistungen dieses Landes sind entweder gar nicht berücksichtigt worden, oder man behauptete, hier sei so etwas wie ein Niemandsland gewesen, allenfalls nützlich für die Viehzucht, politisch aber uninteressant. Diese Nebenrolle wurde der Landschaft schon auf Grund ihrer alpinen Beschaffenheit und Unwegi samkeit unterstellt. Daß dort geschichtlich, und wie wir später sehen werden auch kunstgeschichtlich, kein Leerraum besteht, ergibt die hier vorgelegte und wahrscheinlich mühsam zu verdauende Materialsammlung, die jedoch längst nicht erschöpfend ist. Die Folgerungen, die sich aus ihr ergeben, sind offenkundig. Es war zu beobachten, wie eng miteinander verflochten die abruzzesische Gesellschaft ist. Aus ihr gingen hochentwickelte Kräfte hervor, die dem Wohl der eigenen Region dienten wie auch Einzug hielten in die Organisationen des Staates und der Kirche, vor allem in der Zeit der Staufer. In ihrer Wirksamkeit und ihrer großartigen Teilnahme an den humanistischen Anliegen der Zeit sind die Abruzzesen bedeutungsvoller als die Bewohner des Molise. Es ist erstaunlich festzustellen, wie wenig Nichtabruzzesen hohe Positionen in unserem Bergland einnahmen.
Im Zusammenhang mit der geschichtlichen Wirksamkeit (S. 101) der Abruzzesen jenseits der Grenzen ihres Landes ist auch der Streu besitz zu betrachten, den die heimischen Klöster außerhalb der Abruzzen und des Molise unterhielten. Das Kloster S. Vincenzo al Volturno besaß schon im 10. Jh. Ländereien im Gastaldat von Acerenza an der Grenze von Apulien zu Kalabrien, anderer Besitz lag in der Nähe von Cosenza und am See von Lesina im nördlichen Apulien. Ebendort hatte auch S. Clemente a Casauria bedeutende Niederlassungen. Abt Leonas (gest. 1182) begibt sich eigens nach Apulien, um seinen dortigen Besitz zu inspizieren und sieht, daß die zu Casauria gehörige Clemenskirche wegen ihres Alters baufällig ist. Nach seiner Rückkehr nach Casauria schickte er mit Geld ausgestartete Bauleiter und Arbeiter nach Lesina. Man errichtete dort eine neue Kirche, die von Johann III., Bischof von Segni (gest. 1178), geweiht wurde. Auch die Zisterzienser gründen von den Abruzzen aus neue Klöster. Vom abruzzesischen Casanova aus erfolgt 1201 eine Tochtergründung in Ripalta, einem Ort, der heute zu Lesina gehört. 1236 lösen Zisterzienser von Casanova die Benediktiner in ihren trutzigen Bauten auf den Tremiti-Inseln in Apulien ab, und 1259 entstand in S. Maria de Stirpeto in der Diözese Trani eine Filiation von S. Maria in Arabona bei Chieti. Dieser Ausweitung nach Apulien entspricht umgekehrt auch ein Einfluß dieser Landschaft auf das Molise und die Abruzzen, wie wir an vielen Beispielen in der Architektur und Plastik aufzählen können.
Die Welt öffnete sich den Abruzzesen auch durch die Kreuzzüge. Der Plan zur Befreiung Palästinas von den Nichtchristen wurde schon von Gregor VII. gefaßt, aber erst Urban II. kam wieder darauf zurück. Der gebürtige Franzose rief auf der Synode von Clermont in der Auvergne am 27. November 1095 in flammenden Reden zum ersten Kreuzzug auf. Die Predigten zur Teilnahme wiederholte der Papst 1098 in Chieti. Viele Abruzzesen nahmen an der Kreuzzugsbewegung teil, z.B. Rinaldo VI., Graf der Marser. Wilhelm Tasso aus Bussi zog schon 1096 ins Heilige Land, um für die Untaten, die er dem Kloster S. Clemente a Casauria zugefügt hatte, um Vergebung zu bitten. An den Kreuzzügen beteiligten sich die Grafen von Forcone und von Amiternum, und noch im 13 .Jh. wissen wir von der Pilgerreise des Bischofs Gregor von Chieti ins Heilige Land. Die Kreuzzugslegenden waren natürlich in den Abruzzen bekannt, und manchmal ist die Phantasie von der Wirklichkeit schwer zu scheiden. So liegt in der Provinz Isernia der kleine Ort Vastogirardi. In dem Namen klingt die Bedeutung von »weit herumgekommen« auf, und so dichtete die Legende dem Feudalherrn des Ortes Giusto Girardi an, weit gereist zu sein. Er soll am ersten Kreuzzug teilgenommen haben, wobei er sich in Brindisi einschiffte und nach dem Sieg über die Muselmanen stolz nach Vastogirardi zurückkehrte.
In der Verwaltung ihrer Klöster blieben die Benediktiner auch noch im 12. und 13. Jh. führend in den Abruzzen und im Molise. Ihre Macht wurde jedoch dadurch eingeschränkt, daß die Normannen und Staufer den Außen besitz der Klöster nicht vermehrten. Der Benediktinerorden entfaltete sich besonders in ländlichen Gegenden, während sich in den Städten andere religiöse Bewegungen durchsetzten. Da aber die Entwicklung der Städte in den Abruzzenund dem Molise zu jener Zeit noch in den Anfängen steckte, brauchten die Benediktiner von dieser Seite aus wenig zu fürchten. Allerdings wurde ihre Bedeutung durch das Aufkommen neuer geistlicher Orden geschmälert. Im 12. Jh. trat der Zisterzienserorden seinen Siegeszug durch ganz Europa an und konnte schon um 1200 auf eine stattliche Zahl von etwa 2000 Klöstern blicken. Sodann war das 13. Jh. die große Zeit der Franziskanerbewegung. Damit tauchen in unserer Landschaft zwei neue geistige und kulturgeographische Komponenten auf. Der abruzzesische Zisterzienserorden orientiert sich an früheren Niederlassungen in Rom und in Latium, der Franziskanerorden stellt die Verbindung mit dem Norden her, vor allem mit Umbrien.
Betrachten wir zunächst den Zisterzienserorden, einen Zweig des Benediktinerordens. Er wurde 1098 in Cistercium (Citeaux) in der Auvergne gegründet. Die Ausbreitung förderte vor allem der hl. Bernhard von Clairvaux. 1138 wurde er von Papst Innozenz II. eingeladen, mit seinen Mönchen nach Rom zu kommen, wo ihm das Kloster SS. Vincenzo ed Anastasio alle Tre Fontane zur Verfügung gestellt wurde. Bernhard bestimmte seinen Schüler Bernardo Paganelli, den nachmaligen Papst Eugen III., zum ersten Abt dieses Zisterzienserklosters. Von dem römischen Mutterkloster aus erfolgten viele Tochtergründungen, von denen zwei in den Abruzzen liegen, S. Maria Casanova bei Villa Celiera und S. Maria in Arabona bei Manoppello. Das Kloster Casanova wurde 1191 mitbegründet von der Gräfin Margarethe von Loreto Aprutino, der Mutter Bernards II., Graf von Loreto und Conversano. Diese Niederlassung, von der noch beträchtliche Ruinen Zeugnis ablegen, hatte immense Bedeutung und zählte in ihrer Blüte über 500 Mönche. Sie war prädestiniert für Neugründungen, 1201 entstand das bereits genannte Ripalta in Apulien, 1218 S. Pastore bei Rieti und 1222-1248 S. Spirito d'Ocre bei L'Aquila. Der erste Abt des letztgenannten Klosters war der hl. Placidus aus Roio bei Amiternum. Er stammte von einfachen Bauern ab, suchte vergebens sich zu bilden und wurde schließlich Mönch in Casanova, 1222 Abt in Ocre und starb 1248. Placidus war ein eifriger Pilger. Er besuchte Santiago de Compostela, das Michaelsheiligtum auf dem Monte Gargano in Apulien und die Apostelgräber in Rom. Sein Grab befindet sich unter dem Hauptaltar von S. Spirito in Ocre. An den Wänden schildern Fresken das Leben des Heiligen. Von Casanova aus wurde auch das Zisterzienserkloster S. Benedetto delle Cafasse eingerichtet, heute S. Nicola bei Arischia, sowie S.Maria del Monte in 1600 m Höhe am Gran Sasso. Der letztgenannte Ort liegt in der Gegend von Paganica. Die noch sichtbaren Reste am Südrand des Campo Imperatore sind nicht Teile einer Kirche, sondern gehören zur Klosteranlage. Die Gruppierung von Klöstern um das Massiv des Gran Sasso und ihre Verbindung untereinander legen die Vermutung nahe, daß von ihnen aus die Urbarmachung und Bewirtschaftung der vorzüglichen alpinen Wiesen in diesem Hochgebirge betrieben wurden. Die (S. 102) zweite Gründung, die von SS. Vincenzo ed Anastasio in Rom ausging, war das 1208 gegründete Kloster S. Maria in Arabona, ein großartiger Bau, der nie vollendet wurde und doch eines der schönsten Beispiele der Zisterzienserbaukunst in den Abruzzen darstellt. Arabona hatte eine Tochter in dem 1259 gegründeten S. Maria de Stirpeto in der Diözese Trani. Fast unbeachtet existiert noch eine andere Zisterzienserniederlassung in den Abruzzen, SS. Vito e Salvo. Der Ort S. Salvo beherrscht die Flußebene der Trignomündung, und das dortige Kloster hatte eine andere Filiation als die vorgenannten, S. Salvo wurde 1247 als Tochter von S. Maria di Ferrara gegründet, das seinerseits 1179 von Fossanova aus eingerichtet wurde. Ferrara liegt in der Terra di Lavoro unweit der Grenze zum Molise. Der Gründer des abruzzesischen Klosters soll ein hl. Salvo gewesen sein, der die Kirche dem hl. Vito weihte. Später nahm sie die Titel der beiden an, SS. Vito e Salvo. Diese Zisterzienserabtei wurde 1553 von den Türken weitgehend zerstört. Die heutige Pfarrkirche von S. Salvo enthält Reste der alten Klosterkirche. Vom Bau des 13.jh. erkennt man noch Bruchsteinmauerwerk und die charakteristischen Eckquadern sowie einige Rundfenster, die zum Teil mit Dreipaßmuster ausgefüllt sind.
Kurzfristig hören wir auch von weiblichen Angehörigen des Zisterzienserordens. Urkunden teilen mit, daß an der Stelle der später gegründeten Stadt L'Aquila schon ein Zisterzienserinnenkloster S. Maria de Aquili, oder auch S. Maria ad Fontes, existierte, das 1256 in ein Klarissinnenkloster umgewandelt wurde.
Bei den Zisterzienserniederlassungen handelt es sich nicht immer um Neugründungen. Man erwarb öfters Benediktinerklöster, die nicht leben und nicht sterben konnten. Dieses trifft zu bei der bereits erwähnten Besitzübernahme der benediktinischen Siedlungen auf den Tremiti-Inseln durch die Zisterzienser von Casanova. Ähnlich kam das ursprünglich benediktinische Kloster S. Stefano in Rivomare bei Casalbordino in den Besitz der Zisterzienser, und der Ort Scerni bei Casalbordino gehörte zur Zisterzienserabtei Rivomare. Im antiken Iuvanum soll sich ein Zisterzienserkonvent befunden haben, erbaut mit Steinen der antiken Stadt. Auch nichtabruzzesische Zisterzienserklöster verfügten über Streu besitz in unserem Bereich. So hatte das 1152 in Latium gegründete Casamari zwischen 1224 und 1227 Besitzungen in der Diözese Larino im Molise.
Natürlich drängen die Zisterzienser, ähnlich wie die Benediktiner, in die höheren Stellungen der kirchlichen Organisation. So regiert z.B. ein nicht namentlich genannter Zisterziensermönch 1200 bis 1209 das Bistum Penne. Ein anderer Zisterzienser, johannes aus Casamari, war 1204-1205 Bischof von Forcone. Papst Innozenz III. beauftragte ihn, Verbindungen zwischen den dalmatinischen, bosnischen und bulgarischen Christen und dem Stuhl Petri in Rom herzustellen. 1204 kehrte er wohl mit positiven Ergebnissen aus Bulgarien zurück, denn der Papst belohnte ihn mit der Oberlassung des Bistums Forcone. Später wurde johannes Bischof von Perugia und gehörte dort zu den engsten Freunden des Franz von Assisi. 1236 wurde der Zisterzienser Jacobus Bischof von Valva. Er ist vielleicht mit dem gleichnamigen Prior von Casamari identisch, der aus dem Jahre 1232 bekannt ist. Ein anderer jacobus und Mönch aus Casanova war 1252-1261 Bischof von Valva. 1262 wurde der Zisterziensermönch Nikolaus von Fossa Bischof von Chieti. Ein anderer Nikolaus stammte aus Sinizzo, einem Kastell bei L'Aquila. Er wurde Zisterziensermönch in Casanova und später Abt von SS. Vincenzo ed Anastasio in Rom, dem Mutterkloster, von dem einst die Tochter Casanova ausging. Papst Clemens IV. ernannte ihn zum Bischof von Forr cone (1267-1294). Nach Verlegung dieses Bistums nach L'Aquila war Nikolaus zweiter Bischof dieser Stadt und blieb weiter ein Wohltäter seines Klosters Casanova.
125 jahre nach der Gründung der Zisterzienserkongregation entstand der Franziskanerorden als eine Schöpfung des hl. Franz von Assisi. Die 1223 vom Papst anerkannten Franziskaner, die sich auch Minoriten nannten, schwärmten mit ihren Ordensgründungen, ähnlich wie die Zisterzienser, über ganz Europa aus. Schon 1264 zählte der Orden 8000 Klöster mit etwa 200000 Mönchen. Gleichzeitig gründete die hl. Klara 1212 den weiblichen Zweig der Gemeinschaft, die Klarissinnen. Die erste Aufzählung der franziskanischen Klöster in den Abruzzen erfolgte von Paolinus aus Venedig (1324-1347); dieser Katalog wurde 1892 publiziert. Die alte Ordensregel der Franziskaner von 1221 wurde von dem Forscher Paul Sabatier im Franziskanerkonvent von Capestrano gefunden und 1901 veröffentlicht. In unserem Bergland sind die Franzlegenden zahlreich, und es ist oft recht schwierig, das Wahre von dem Erdichteten zu unterscheiden. Auf seinen Wanderungen und Reisen ist der hl. Franz öfter in den Abruzzen gewesen, und viele Orte rühmen sich, ihn gastlich aufgenommen zu haben. Zweimal soll er in Penne gewesen sein, wo sein Freund, der Bischof Anastasius amtierte. Möglicherweise hat der Heilige unweit von Penne in Isola del Gran Sasso 1215 einen Konvent gegründet, der heute den Passionisten gehört, und wo erstaunliche Pilgerströme das Grab des hl. Gabriel (1838-1862, kanonisiert 1920) aufsuchen, der wie der hl.Franz in Assisi geboren wurde. Nach 1215 ist ein Aufenthalt des hl. Franz in Pescina glaubhaft, und ob ein moderner Gedenkstein richtig aussagt, daß Franz 1216 in Gagliano Aterno geweilt habe, entzieht sich meiner Kenntnis. Ein Aufenthalt in Celano ist anzunehmen. Dort begegnete ihm der Graf Richard von Celano, und der Heilige weissagte ihm einen frühen Tod, der ihn auch tatsächlich in den Armen des Heiligen ereilte. Dieses Wunder von Celano ist in den Fresken der Franzlegende in der Oberkirche von Assisi dargestellt, mit außerordentlich dramatischem Ausdruck, der sich von links nach rechts im Bilde steigert. Auf dem Rückweg von seiner Pilgerreise zum Michaelsheiligtum auf dem Monte Gargano in Apulien reiste Franz durch das Molise und berührte die Orte Riccia und Jelsi. Frühe Franziskanerkirchen sind in den Abruzzen selten, Quellen überliefern das jahr 1227 als Weihedatum der Franziskanerkirche in Teramo, 1233 hören wir von einer anderen in Tagliacozzo, und 1256 legt Graf Roger von (S. 103) Celano den Grundstein der Franziskanerkirche in Celano, die er in Burgnähe errichtete.
An der geistigen Formung des Franziskanerordens haben die Abruzzen gewaltigen Anteil. Die Reformbewegung des Ordens im 15. Jh. ging von unserer Landschaft aus, besonders von L'Aquila, wo das Dreigestirn Bernhardin von Siena, Johannes Capestranus und Giacomo della Marca tätig wurde. Darüber wird noch zu reden sein. Aber schon das 13. Jh. konnte einen bedeutenden Beitrag leisten. Die erste Beschreibung von Franz und seinem Orden, eine historische Fundgrube ersten Ranges, stammt von einem Abruzzesen, Thomas von Celano, der vielleicht zu der schon oft genannten Adelsfamilie gehört. Thomas kam mit Franz und dem Orden schon um das Jahr 1215 in Berührung. Er trat als Mönch der Bewegung bei, und auf einer Ordenssitzung von 1221 wurde Thomas ausgewählt, den Caesarius von Speyer nach Deutschland zu begleiten. Und so sehen wir unseren Abruzzesen dort wieder; er wurde Aufseher über die Minoritenklöster im Rheinland und Kustos der Franziskanerkonvente in Worms, Mainz und Köln. Den Zeitpunkt seiner Rückkehr nach Italien wissen wir nicht, vielleicht war er im Herbst 1223, ganz sicher aber 1228 und 1230 in Assisi. Thomas scheint um 1255 in der Gegend von Tagliacozzo gestorben zu sein. 1516 fand die Translation seiner Gebeine nach S. Francesco in Tagliacozzo statt, wo sie in einer Bronzeurne unter dem Hauptaltar beigesetzt wurden. Nach der Heiligsprechung des Franz am 16. Juli 1228 erhielt Thomas vom Papst Gregor IX. den Auftrag, die Biographie des Ordensgründers zu schreiben. Dieses meisterhafte Werk wurde 1229 beendet. Um das Jahr 1246 entstammte der Feder unseres Thomas eine zweite Lebensgeschichte des Heiligen, die er auf Anordnung des Ordensgenerals Crescentius verfaßte. Als drittes Werk erschien zwischen 1250 und 1253 der Traktat des Thomas über die Wunder des hl. Franz. Umstritten ist die Frage, ob das berühmte Gedicht >,Dies irae« von Thomas von Celano herrührt. Es ist ein lateinischer Hymnus auf das Weltgericht, der mit aufrichtiger Empfindung geschrieben ist. Die Zuschreibung an Thomas erfolgte schon im 14. Jh., als der Hymnus in den kirchlichen Gebrauch einging. Aber erst im 16. Jh. tritt das Gedicht als Sequenz hinter der Epistel der Totenmesse auf. Die Verse des Thomas sind oft ins Deutsche übersetzt worden, u.a. von A. W. Schlegel.
Der Einfluß der Franziskaner in höheren Stellen der Kirchenverwaltung ist in den Abruzzen und im MoHse nicht so stark wie derjenige der Benediktiner und Zisterzienser. Zwei Beispiele gibt es in Trivento, wo 1258 Mönch Lukas und 1266 Mönch Pax zu Bischöfen ernannt werden.
Splitterbesitz anderer Orden ist in unserer Region selten. 1177 siedelte Odorisius, Bischof von Valva, die Johanniter im Gebiet der Abruzzen an, und 1203 hören wir von Kreuzherren in Campobasso. Die Hospitalbrüder vom hl. Antonius in Vienne in Frankreich unterhielten ein Haus in Larino im Molise, das zwischen 1224 und 1227 genannt wird.
Architektur
Vorbemerkung
Die Blütezeit der Kunst in den Abruzzen ist sicherlich das 12. und 13. Jahrhundert. Neben der Skulptur und der Malerei entfaltet sich eine intensive Bautätigkeit, die nur mit derjenigen der Antike in kaiserlicher Zeit zu vergleichen ist. Die Architektur der Abruzzen gehört in den künstlerischen Bereich Süditaliens. Hier entstanden die Werke unter anderen Voraussetzungen als in Ober-und Mittelitalien. Das Land unterstand mehr oder weniger nur einer Staatsführung, und das Südreich der Staufer gehörte zu den modernsten und mächtigsten Staaten ganz Europas und bildete eine politische, Einheit gegenüber der zersplitterten Stadtkultur und den unzähligen ,immer wieder wechselnden Kleindynastien des nördlichen Italiens. Dort schufen kleine politische Einheiten gleichsam im Wettstreit miteinander Kathedralen und weltliche Bauten und suchten sich gegenseitig in der künstlerischen Gestaltung zu übertreffen. Dieser Reichtum an Monumenten und die Vielfalt der Formen, die so charakteristisch sind für den Kern vieler historischer Städte, sind in Süditalien nicht in dcm Maß anzutreffen. Auch in Unteritalien entfalteten sich die Städte sehr wirkungsvoll, vor allem in Apulien. Sie waren jedoch dem König unterstellt, wodurch die treibende Kraft des Bürgertums stärker eingeschränkt war als in Oberitalien.
Die Architektur der Abruzzen nimmt innerhalb Süditaliens eine Sonderstellung ein. Die Hofkunst, die die Könige entwickelten, lag weit außerhalb unserer Region. Sie hatte ihre Schwerpunkte in Sizilien, und der Pracht des Regierungssitzes in Palermo wird nicht im entferntesten nachzueifern versucht. Der islamische Einfluß, dem wir in der Baukunst des Südreiches begegnen, oder die byzantinischen Kuppeln, die wir aus Apulien kennen, sind in den Abruzzen und im Molise nicht zu finden. Das Land bleibt lateinisch und ist der einzige Strich an der Adriaküste, der am geringsten vom Osten beeinflußt ist, im Gegensatz zu Aquileia, Venedig, Ravenna,den Marken und Apulien. Wie sooft beobachten wir in den Abruzzen eine Ablehnung fremder einflüsse sowohl aus dem Süden wie aus dem Norden. Der Siegeszug der Gotik durch ganz Europa wirkt sich in Süditalien weniger aus als in anderen Ländern, aber innerhalb des Südreichs am geringsten in unserem Bergland. Die romanischen Formen, die die Abruzzen entwickeln, leben ohne Unterbrechung durch eine gotische Zwischenperiode bis in die Renaissance des 15. und 16. Jh. weiter. Dieses konservative Verhalten, das wir etwas näher betrachten wollen, ist nicht ein Unwissen oder eine Unfähigkeit mitzumachen. Wir haben im historischen Teil verfolgt, wie eng verflochten die einflußreiche abruzzesische Gesellschaft war, und welche nahen Beziehungen sie zu staatlichen und kirchlichen Würdenträgern hatte. Man kannte also die Kultur und Formenwelt jener Zeit, die aber trotzdem in unserem Bergland keinen Einzug hielten.
Abgesehen vom Wehrbau, der an anderer Stelle behandelt werden wird, kennen wir aus der Zeit zwischen 1050 und (S. 104) 1250 eigentlich nur sakrale Bauten. Es gibt in unserer Landschaft keine weltliche Architektur wie in Oberitalien, man findet weder Residenzen noch Stadtpaläste. Es bleibt bei den traditionellen Klostergründungen. Gelegentlich baute man auf alten Fundamenten auf, in den meisten Fällen aber handelt es sich um völlig neue Unternehmen. Neben den Klöstern erfahren die Kathedralen infolge der Reform des Bischofsamtes in der zweiten Hälfte des 11. Jh. eine besondere Pflege. Von der Architektur der Bettelorden ist vor 1250 in den Abruzzen nichts erhalten. Diese Bewegung äußert sich hauptsächlich in den Städten, und die Stadtkultur war noch nicht stark genug entwickelt. Erst das Haus Anjou förderte den Franziskanerorden, und aus jener Zeit, dem Ende des 13. Jh., kennen wir die ersten Bauten, angefangen mit der Franziskanerkirche in Castelvecchio Subequo, die 1288 geweiht wurde. Jedoch muß man bedenken, daß Naturgewalten oder spätere überbauungen Franziskanerniederlassungen aus der Frühzeit zerstört haben können. Franz von Assisi war ja selbst in den Abruzzen und Thomas von Celano sein erster Biograph. Gründungen sind historisch überliefert in Penne, Montorio al Vomano und Palena. Von einigen Neubauten, die vorwiegend aus dem 15. Jh. stammen, wissen wir, daß sie über alten Gründungen errichtet wurden; dazu gehören Celano, Tagliacozzo und Guardiagrele.
Die Bautätigkeit setzt nach 1060 mit wenigen, aber markanten Beispielen ein, sie erreicht ihren Höhepunkt im 12. Jh. und nimmt in der ersten Hälfte des 13. Jh. wieder ab. Die Abruzzen überliefern weitaus mehr Monumente als das Molise. Innerhalb der Abruzzen finden wir die meisten in der Provinz L'Aquila, mit einer Häufung im Hochland, während die drei der Adria zugewandten Provinzen Teramo, Pescara und Chieti eine geringere Aktivität zeigen. Auch in diesen Küstengebieten liegen die romanischen Monumente landeinwärts. Direkt an der Küste gibt es nördlich von Pescara nur die Kirche S. Maria a Mare in Giulianova und südlich das Kloster S. Giovanni in Venere bei Fossacesia, weiterhin finden sich einige Bauten in Vasto, und schließlich ist die Kathedrale von Termoli im Molise zu nennen.
Zu einem eigentlichen abruzzesischen Stil ist es in der Baukunst nicht gekommen. Nahezu im Zentrum Italiens liegend, war das konservative Bergland immer wieder Einflüssen preisgegeben, die von Unter-und Oberitalien ausgingen; vor allem jedoch war es von den Baugewohnheiten des Benediktinerordens und insbesondere von Montecassino abhängig. Auch die Einflüsse der Zisterzienserkunst sind nicht unbedeutend. Trotz alledem entwickeln sich spezifische Formen, die mit denjenigen anderer italienischer Kunstlandschaften nicht zu verwechseln sind. Der hervorstechende Zug der romanischen Architektur der Abruzzen ist das fast archaisch Schlichte, wie es den einfachen Lebensgewohnheiten der Bewohner des Landes angemessen ist. Das übernommene wird immer auf die einfachste Form reduziert, und selten erscheint ein Bau üppig und großsprecherisch.
Der Baustein
Charakteristisch für die Bauweise des Berglandes ist zunächst die kunstvolle, ja geniale Behandlung des Bausteins. Der Umgang mit dem Stein ist dem Abruzzesen eingeboren, und seine Phantasie kreist immer wieder um diese Materie und was damit zusammenhängt. Im Innern des Landes verwendet man den lokalen apenninischen Felsstein, der im Sonnenlicht oft wie von einer goldenen Patina überzogen scheint. Dagegen ist im abruzzesischen Küstenstreifen der Ziegelbau verbreitet, der oft mit eigenwilligen Mustern arbeitet. Es gibt auch Beispiele, wo Ziegel und Felsstein nebeneinander auftreten. Die Behauung des Felssteins in Form des »opus quadratum« war schon eine in vorrömischer und römischer Zeit geübte Kunstfertigkeit, die man in den Abruzzen und im Molise hinreichend kannte. Wir haben es demnach hier im 12. und 13. Jh. mit einer übernahme antiker Steinbearbeitung zu tun. Oft lagen ja die Kirchen über antiken Tempeln, oder man holte das Material wie in S. Maria della Strada aus antiken Ruinen.
Man kann in den Abruzzen und dem Molise unzählige Beispiele für diese Materialbearbeitung entdecken. Hier soll nur auf einige charakteristischen Bauten hingewiesen werden. Zwei Monumente im Molise sind datiert. Zunächst die kleine ehemalige Klosterkirche S. Maria della Strada bei Matrice. Sie ist eine der qualitätvollsten und besterhaltenen romanischen Kirchen in dieser Landschaft. Eine erst in neuerer Zeit bekannt gewordene Urkunde aus dem Archiv in Benevent, derzufolge das Gotteshaus 1148 geweiht wurde, bestätigt die stilistische Datierung ins 12. Jahrhundert. überraschend wirkt die höchst perfektionierte Mauertechnik mit fugenlos zusammengesetzten quadratischen und rechteckigen Steinen aus den Ruinen von Faifoli (Fagifulae), einer alten samnitischen Stadt unweit von Montagono. Die eigene künstlerische Leistung der romanischen Bauleute liegt vor allem in der Art, wie die Wandflächen des Außenbaus in zartesten Abstufungen gegeneinander abgesetzt sind, was öfter im Molise anzutreffen ist. Dieses und die durchdachte Gliederung machen S. Maria della Strada zum kostbarsten Kleinod der ganzen Provinz. Am kunstvollsten durchgebildet ist die Westfassade, wohingegen die Außenseiten der drei Apsiden schmucklos sind.
Die einstmals bedeutende benediktinische Abteikirche S. Maria di Monteverde oder S. Maria di Guglieto liegt zwischen Vinchiaturo und Mirabello Sannitico. Sie wurde 1805 durch Erdbeben zerstört und erst vor einigen Jahrzehnten in ihren Resten wieder freigelegt. Der Bau ist auf einer antiken Tempelanlage errichtet. Eindrucksvoll ist der Anblick, wie in der hochgelegenen einsamen Landschaft antike und mittelalterliche Steine und Skulpturen von der wilden Kraft der Natur niedergerissen und auf der Erde verstreut wurden. Glänzend ist die Mauertechnik der Hauptapsis, deren Arbeitsweise derjenigen anderer molisaniseher Kirchen ähnelt. S. Maria di Monteverde ist für die Chronologie der Kirchen unseres Berglandes wichtig, weil wir es hier mit gesicherten Daten zu tun haben. Bei den Aufräumungsarbeiten in den (S. 105) dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts wurden zwei Inschriften entdeckt, die heute zwischen anderen Trümmersteinen an der Eingangsfassade aufgestellt sind und besagen, daß ein Magister Gualterius die Kirche 1157 begann und 1163 vollendete.
In den Abruzzen sei für die Steinbearbeitung die Eingangsfassade von S. Maria in Bominaco genannt, die ungefähr um die Mirte des 12. Jh. entstanden sein mag. Sie besteht aus gutem Mauerwerk mit rechteckig geschnittenen Steinen, das für viele größere abruzzesische Kirchen, die zum Benediktinerorden gehören, charakteristisch ist. Die Steinlagen der Fassade sind ganz regelmäßig und betonen deren Gliederung in der Horizontalen.
Das Mauerwerk des Außenbaus der Kathedrale S. Pelino in Corfinio entstand gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Die Behandlung der rechteckig geschnittenen Travertinsteine ist eine Meisterleistung romanischer Baugesinnung. Besonders an der Ostseite hat das fast fugenlose Steingefüge eine ausdrucksvolle goldene Patina angenommen. Auch der Außenbau des Querhauses von S. Clemente a Casauria, der nach 1182 entstand, macht mit dem sehr schön geschnittenen Stein aus den Brüchen des unweit gelegenen Pescosansonesco Vecchio einen unvergeßlichen Eindruck. Diese Art der Steinbehandlung ist auch in späteren Zeiten ein Charakteristikum der abruzzesischen Architektur überhaupt. Aus dem 13. Jh. nenne ich nur Beispiele, die von der Forschung bisher kaum beachtet wurden. Die ausgezeichnete Quadersteintechnik von SS. Crisanto e Daria bei Filetto kann man an der Eingangsfassade und den Langhauswänden, die nicht gegliedert sind, in ihrer ganzen Schönheit bewundern. Von Filetto aus kann man die Kirche nur zu Fuß in einer knappen Wegstunde erreichen, indem man nach Nordosten ein tiefes Tal durchquert und dann auf einem schmalen Saumpfad zur Bergkuppe hinaufsteigt, wo das unscheinbare Kirchlein liegt. In Pescocostanzo sieht man den wunderbar gefügten Stein am Campanile der Kirche S. Antonio.
Die Küstenprovinzen der Abruzzen verwendeten im Gegensatz zum Inland vielfältigeres Baumaterial. Der tonhaltige Boden machte die Herstellung von Ziegelsteinen möglich. Gebräuchlich ist ein poröser Ziegel, auch Tuff-oder Schwamm ziegel genannt, der oft zur Aufführung leichter Mauern diente. Den Travertinstein lieferten die ersten Hänge des Apennin. Daher findet man in den Provinzen Teramo, Pescara und Chieti den charakteristischen Wechsel von Mauerwerk. Es gibt auch reine Ziegelbauten wie die alte Kathedrale S. Getulio in Teramo (vor 1156), S. Maria Maggiore in Pianella aus der ersten Hälfte des 12. Jh., S. Maria a Mare in Giulianova und viele andere mehr. Der Ziegel wurde ebenfalls für Konstruktionsteile im Innern von Kirchen verwandt, für Säulen, Pfeiler, Arkaden und Gewölbe. Kunstvoll arbeitete man mit verschiedenartigen Ziegelmustern. Als Beispiel für das sogenannte »opus spicaturn« erwähnten wir schon an anderer Stelle die Kirche S. Maria a Vico sulla Vibrata. Für die Mischung des Baumaterials ist S. Giovanni in Venere bei Fossacesia, der größte Kirchenbau der Abruzzen, bezeichnend (nach 1200). Am Außenbau beobachten wir Bruchstein, Ziegelstein und Quaderstein. Sehr durchdacht operiert der Architekt am Außenbau von S. Maria di Ronzano (12. Jh.) mit dem Wechsel des Materials. Die gliedernden Elemente wie Lisenen, Rundbogen und Einfassungen der Fenster sind aus weißem Marmor, während die Füllwände aus roten Ziegelsteinen bestehen. Die Ziegeltechnik mit ihren verschiedenen Mustern konnte gelegentlich aus dem Küstengebiet in das abruzzesische Hochland eindringen. Ein Beispiel dafür ist der kunstvolle Ziegelfries am Außenbau der Apsis von S. Giustino in Paganica aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts.
Grundriß und Aufriß
Die Säulenbasilika
Zu voller Entfaltung kam der Kirchenbau in unserem Bergland erst nach der berühmten Weihe der Desideriuskirche in Montecassino im Jahr 1071. Der stärkste Antrieb zum fast unübersehbaren Baubetrieb ging von diesem Mutterkloster aus, das schon so viele Abruzzesen aufgenommen hatte. Montecassino hatte zwar kein obligates Baurezept zur Hand wie später die Zisterzienser und Franziskaner, jedoch entstanden die neuen Niederlassungen unter Anleitung und mit Hilfe des Klosters. Der Neubau von S. Liberatore alla Maiella geschah, wie die Chronik von Cassino sagt, auf ausdrückliche Anordnung des Abtes Desiderius. Sein Bau von 1071 konnte nachgeahmt werden, aber es bestand kein Zwang dazu. In Cassino handelt es sich um eine dreischiffige Säulenbasilika mit elf Jochen und einem vierungslosen Querhaus, dessen seitliche Abschlußwände mit denen der Seitenschiffe fluchten. An das Querschiff schließen sich unmittelbar drei Halbkreisapsiden an. Der Ostteil, das Presbyterium, war erhöht, und wahrscheinlich war auch eine Krypta vorhanden. Das Grundrißschema von Cassino ist in den Abruzzen durchaus geläufig, ja vielleicht vorherrschend gewesen. Das Nachleben dieses Typs läßt sich hier bis an das Ende des 13. Jh. verfolgen. Von den vielen Beispielen sei die Kirche S. Maria delle Grazie in Civitaquana genannt, die in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts restauriert wurde. Die ältesten aus dem XI. Jh. stammenden Teile zeigen eine achtjochige Säulen basilika mit einem ursprünglich offenen Dachstuhl, ohne Quertrakt und mit drei Apsiden, die der Breite der Schiffe entsprechen. Der Cassineser Grundriß blieb auch im Molise nicht unbekannt. Die 1148 geweihte Kirche S. Maria della Strada bei Matrice (21 x 10,50 m) zeigt ein verhältnismäßig breites Mittelschiff und schmale Seitenschiffe. Der Chor mit den drei Apsiden (Tf. 38) ist um vier Stufen erhöht, doch gibt es weder eine Krypta noch ein Querschiff. Die Kirche hatte zunächst einen offenen Dachstuhl, und auf attischen Basen erheben sich die kräftigen Säulen des Mittelschiffs. Die zwischen 1157 und 1163 erbaute Säulenbasilika S. Maria di Monteverde bei Vinchiaturo, die heute eine Ruine ist, bestand aus drei Schiffen, die ohne Querhaus in drei Apsiden endeten, von denen die mittlere im Grundriß einen Halbkreis und die Seitenapsiden einen Viertelkreis bildeten. Spuren des erhöhten Chores (S. 106) sind noch zu erkennen. S. Maria di Canneto (25 x 10,70 m) ist dreischiffig, hat sechs Joche, kein Querhaus und drei Apsiden. Das Mittelschiff ist ziemlich breit im Verhältnis zu den Seitenschiffen (je 2,90 m). Die verschieden weiten Langhausarkaden werden von gedrungenen antiken Säulen und modernen Pfeilern getragen. Fünf Säulen dienen als Stützen auf der rechten Seite, eine sechste ist die letzte vor der Apsis auf der linken Seite. Die uncharakteristischen Pfeiler sind das Produkt späterer Restaurierungen, vielleicht aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts. Dem Grundriß von Montecassino steht besonders S. Maria in Bominaco (Abb. 11) nah. Die Umbauten des Barock wurden 1934 entfernt, so daß die Kirche jetzt als basilikale dreischiffige Anlage mit drei gestaffelten Apsiden zu sehen ist, ein Bau, der nur auf Grund von stilistischen überlegungen nach der Mitte des 12. Jh. datiert werden kann. Die sieben Langhausarkaden ruhen auf Säulen. Das durch drei Stufen erhöhte Presbyterium wird durch die Wölbung besonders akzentuiert.
Abb. 11: Bominaco, S. Maria AssuntaAbb. 12: Alba Fucense, S. PietroEine erste Abweichung vom Cassineser Vorbild ist die dreischiffige Säulenbasilika ohne Querhaus mit nur einer Mittelapsis. Das schönste Beispiel hierfür liefert S. Pietro in Alba Fucense (ca. 1123-1126) (Abb.12). Es ist eine drei· schiffige basilikale Anlage mit einer breiten Apsis. Einzigartig für die Abruzzen ist der Eindruck des Raumes, dessen Weite an das Frühchristentum erinnert. In keiner anderen Kirche dieser Landschaft ist das Mittelalter eine so innige Verbindung mit der Antike eingegangen. Die Säulen der acht Joche sind einheitlich und einem antiken Tempel entnommen, der im 12. Jh. wahrscheinlich noch aufrecht stand. Das Presbyterium ist kaum angedeutet und eigentlich nur die Fortsetzung der Langhausschiffe. Eine Betonung erfährt es einzig durch drei transversale Bögen, die auf den unverstärkten Säulen des Mittelschiffs ansetzen.
Der Altbau der kompliziert erscheinenden Kirche S. Maria Assunta in Assergi (ca. 1150) war eine dreischiffige Säulenbasilika mit Krypta, ohne Querhaus und mit nur einer Apsis. Zum gleichen Typ gehört die schon besprochene Kirche S. Maria a Vico sulla Vibrata. Damit im Grundriß verwandt ist S. Martino in Nereto. Auch hier handelt es sich um eine dreischiffige basilikale Anlage aus dem 12. Jh. mit einer Mittelapsis. Die anschwellenden Säulen stammen aus einem antiken Bau und gehören zu den größten Monolithen, die wir in den Abruzzen antreffen.
Die Kirche S. Maria Assunta in Isernia ist in der kunstgeschichtlichen Forschung unbeachtet geblieben. Sie wurde durch Sprengung der Deutschen 1943 zerstört und ist nicht wiederaufgebaut worden. Sie gehörte zu einem Marienkloster, das in langobardischer Zeit von dem Grafen Malgerius von Isernia und seiner Frau Emma gegründet wurde. Das Kloster hatte seine Blütezeit unter dem Patronat des Rechtsgelehrten Benedetto von Isernia, der im Dienste Friedrichs 11. von Hohenstaufen zu hohem Ansehen gelangte. Die Kirche steht auf den Ruinen eines römischen Tempels, dessen Steine beim Bau der Kirche des 13. Jh. verwendet wurden. Es handelt sich um eine dreischiffige Säulenbasilika mit besonders breitem Mittelschiff und entsprechender Mittelapsis. Spuren von Seitenapsiden sind nicht zu erkennen. Die Säulen des Mittelschiffs sind antiker Herkunft. Einmalig im Molise und in den Abruzzen ist der westliche Teil der nach Osten orientierten Kirche. Das Mittelschiff wird nach Westen durch eine große dreibogige Arkaden stellung abgeschlossen, wobei der Mittelbogen etwas größer und breiter ist als die seitlichen. Ungefähr in der Mitte zwischen dieser dreifachen Bogenstellung und der westlichen Außenwand wird der Raum durch eine noch in Mannshöhe erhaltene Querwand unterteilt, die in der Mitte einen Durchgang zum Mittelschiff hat. Vor dem eigentlichen Langhaus liegen demnach zwei querrechteckige Vor (S. 107) räume wie bei einer antiken Basilika. Erhalten ist noch das eindrucksvolle schlichte Eingangsportal der Westfassade. Es besteht aus einem inneren, tiefer in der Wand liegenden Rundbogen, der auf zwei mächtigen Knospenkapitellen ruht, die von kräftigen Säulen auf attischen Basen getragen werden. In der vorderen Wandschicht schließt sich um den inneren Bogen ein zweiter Rundbogen, dessen Schlußstein das Kreuzeszeichen trägt. Dieser äußere Bogen lastet auf Pilastern, die mit der Fassade fluchten. In diese Pilaster sind antike Spolien eingesetzt, besonders schön sind die Triglyphen am linken Pfeiler. Die Kirche wurde im 18. Jh. barockisiert, wobei man die Säulen des Mittelschiffs ummantelte und ein flacher Chorabschluß hergestellt wurde.
Die Pfeilerbasilika
Abb. 13: S. Pietro ad Oratorium bei CapestranoAbb. 14: Termoli, Kathedrale, Oberkirche und UnterkircheMontecassino hat kaum einen eigenen Baustil entwickelt. Die Architekten und Arbeiter, die sich unter Desiderius einfanden, stammten ja selbst aus keiner einheitlichen Bauhütte. Die Chronik von Montecassino überliefert, wie der baufreudige Abt Werkleute aus Amalfi und der Lombardei zugezogen habe. Kunsthistorisch heißt das nichts anderes, als daß am Bau des Mutterklosters Kampanisches und Oberitalienisches zusammentrafen. Lombardische oder oberitalienische Einflüsse brauchten daher gar nicht direkt vom Norden in die Abruzzen einzudringen; sie konnten über den seit der Antike benutzten Weg des Liritales einströmen. So kommt die Pfeilerbasilika besonders oft im benediktinischen Ordensbau unseres Berglandes vor, seien es Pfeiler mit rechteckigem oder quadratischem Grundriß. Das basilikale Schema mit einer Apsis oder drei Apsiden, mit Pfeilerarkaden ohne Querhaus und ohne Krypta ist in den Abruzzen seit dem 11. Jh. bekannt. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Ableitungen vom kampanischen, latialen und umbrischen Kirchenbau. Die Variationsmöglichkeiten sind beträchtlich. Zum einen gibt es dreischiffige Kirchen mit drei Apsiden ohne Querhaus und ohne Krypta. Das früheste Beispiel stellt S. Pietro ad Oratorium (Abb. 13) dar, ein Bau (27,10 m lang) mit sieben Langhausarkaden, der laut Inschrift am Hauptportal für das Jahr 1100 gesichert ist. Dieses Grundrißschema ist auch in der molisanischen Architektur bekannt und kann mit einiger Wahrscheinlichkeit für den Dom von Termoli (Abb. 14) angenommen werden. Das Kircheninnere hat durch moderne Eingriffe viel von seinem ursprünglichen Aussehen verloren. Dennoch sind die molisanischen Baugewohnheiten in den drei Schiffen und den entsprechenden Apsiden zu beobachten. Unter dem erhöhten Chorraum befand sich ursprünglich keine Krypta, auch das Fehlen eines Querhauses ist symptomatisch. Die heutigen Pfeiler des 15. Jh. gehen in ihrer Form wohl auf ältere zurück. Rechts von den Stufen zum Hochaltar führen Trep (S. 108) pen in die moderne Krypta, die anläßlich von Restaurierungen um das Jahr 1935 angelegt wurde. Bei diesen Arbeiten entdeckte man die Fundamente einer älteren Kirche, ebenfalls eine dreischiffige Pfeilerkirche mit drei Apsiden vom Ende des 11. oder Anfang des 12. Jahrhunderts. Im Grundriß und in der Außengliederung ist die Kirche S. Nicola in Guglionesi aus der Mitte des 13. Jh. vom Dom in Termoli abhängig. Im Innern sind die barocken Zutaten z.T. entfernt worden, so daß die alten Bauformen wieder zur Geltung kommen. Es bietet sich uns eine basilikale dreischiffige Kirche dar mit vier Langhausarkaden, von denen drei spitzbogig sind. Die Stützen zeigen Halbsäulenvorlagen. Die Krypta wurde 1970 ausgegraben. Eine im Grundriß verwandte Kirche ist S. Pietro in Campovalano, die ebenfalls eine Krypta besitzt.
Abb. 15: Liberatore alla Maiella bei SerramonacescaIn den Abruzzen gibt es eine Reihe von dreischiffigen Pfeilerbasiliken mit drei Apsiden, die vom Langhaus durch ein angedeutetes Querhaus getrennt sind. Als wichtigstes Beispiel ist S. Liberatore alla Maiella bei Serramonacesca zu nennen (Abb.15), eine Kirche, die nach der Weihe von Montecassino in den 80er Jahren des 11. Jh. entstand. Der äußere und innere Aufbau sind so durchdacht und klar, daß man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, daß hier ein Exemplum, ein Musterbeispiel statuiert wurde, wie in den Missionsgebieten der Benediktiner eine Klosterkirche auszusehen habe. Das ergibt sich besonders aus der vorzüglichen Bautechnik und den strengen Proportionen, die der Gestaltung des Innenraums zu Grunde liegen. Die Maßeinheit bildet eine Jochbreite. Die Länge der Kirche beträgt acht und ihre Breite vier Joche. Das Mittelschiff ist doppelt so breit wie ein Seitenschiff unter Einbeziehung der Pfeilerdicke. Wie sich der Aufriß zu den Proportionen des Grundrisses verhält, müßte noch im einzelnen festgestellt werden. S. Liberatore ist in den Abruzzen der erste Fall einer Pfeilerbasilika. Die Verwendung der unklassischen Pfeiler anstelle von Säulen mag auf indirekte Einflüsse von jenseits der Alpen zurückgehen. Das direkte Vorbild ist aber trotz der Mitsprache des Abtes Desiderius nicht Montecassino selbst, sondern es wird von benediktinischen Kirchen im nördlichen Kampanien geliefert. Von exemplarischer Bedeutung ist die Gestaltung des Chorraums, der sich vom Langhaus absetzt. Dieser Bauteil ist geringfügig erhöht. Die Aussonderung des Querschiffs, das die Breite der Seitenschiffe nicht überschreitet, wird durch die Raumtiefe bewirkt. Die Spanne zwischen Kreuzpfeiler und Apsisvorlage ist bedeutend größer als die Breite eines Langhausjoches. Das Kreuzpfeilerpaar, das in S. Liberatore nur an dieser Stelle auftritt, hatte die Aufgabe, die transversalen Bögen aufzunehmen, die alle drei Schiffe überspannten. Die Transversalbogen des nördlichen Nebenchors und die entsprechenden Vorlagen an der Seitenschiffswand sind noch vorhanden.
Abb. 16: S.Giovanni in Venere bei FossacesiaNach benediktinischen Baugewohnheiten führte Odorisius II. seine Kirche S.Giovanni in Venere auf (Abb.16). Odorisius regierte fast ein halbes Jahrhundert, von 1155 bis 1204. Die Bauplanung mag laut Inschrift 1165 erfolgt sein. Doch wird die Durchführung des Baues im wesentlichen kaum vor dem Jahre 1200 erfolgt sein. Das hochgelegene Presbyterium der dreischiffigen Basilika (49 x 19,50 m) erreicht man über vierzehn Stufen, deren Breite dem Mittelschiff entspricht. Das Querhaus ragt nicht über die Seitenschiffswände hinaus. Drei gestaffelte Apsiden schließen an den Quertrakt an, unter dessen gesamter Ausdehnung sich die große Hallenkrypta erstreckt, zu der man von beiden Seitenschiffen aus über bequeme Treppen hinabsteigt. Das erhöhte und tiefe Querhaus ist durch drei besonders niedere Spitzbogen, deren Scheitelhöhe diejenige der Langhausarkaden kaum übersteigt, von dem Langschiff abgeriegelt. Das (S. 109) Querhaus ist entsprechend dem Langhaus dreischiffig. Weder Konsolen noch Wandvorlagen weisen darauf hin, daß in diesen Raumkompartimenten eine Wölbung geplant war. Sie erfolgte offensichtlich erst bei einer Planänderung um uoo. Das Langhaus hat sechs Joche, die in den Seitenschiffen quadratischen und im Mittelschiff querrechteckigen Grundriß aufweisen. Die letzten Arkadenpaare im Westen und Osten sind aus statischen Gründen in späterer Zeit teilweise zugemauert worden. Die Stützen sind quadratische Pfeiler, die abgekantet sind, so daß der Eindruck von Vorlagen vor einem Pfeilerkern entstehen könnte. An einigen Stellen ist jedoch diese Abschrägung nicht bis zur Pfeilerdeckplatte durchgeführt, so daß der quadratische Pfeiler wieder klar erkennbar ist. Die dreischiffige Pfeilerbasilika S. Maria di Ronzano mit Querhaus und drei anschließenden flachen Apsiden ist in so starkem Maß apulischen Einflüssen unterworfen, daß sie an anderer Stelle besprochen wird.
Abb. 17: S. Maria in Valle Porclaneta bei RoscioloEin zweiter Typ der dreischiffigen Pfeilerbasilika ist die Anlage ohne Querhaus und ohne Krypta und nur mit einer Mittelapsis. Das früheste Beispiel liefert S. Maria in Valle Porclaneta (Abb.17), ein höchst eindrucksvoller Bau, den man in einer knappen Wegstunde von Rosciolo in Richtung zum Monte Velino erreicht. Der Kern der Kirche aus dem späten 11. Jh. ist erhalten; es ist eine schlichte dreischiffige Anlage ohne Quertrakt mit einer Rundapsis, die der Breite des Mittelschiffs entspricht und zwischen 1220 und 1240 eine ältere ablöste. Der Innenraum (22,50 x 10 m) wird durch fünf Rundbogenarkaden, deren Stützen quadratische pfeiler sind, gegliedert. Ober fünf Stufen erreicht man das Presbyterium, unter dem eine kleine rechteckige Grotte liegt.
Auch die dreischiffige Pfeilerbasilika S. Tommaso in Varano bei Caramanico aus der Mitte des 13. Jh. besitzt nur eine Apsis in der Breite des Mittelschiffs. Der Fußboden des Innenraums (34,25 x 16,90 m) erhebt sich zwischen dem zweiten und dritten Pfeilerpaar um vier Stufen und vor dem letzten nochmals um drei. Die Kirche hat heute sechs Joche, ursprünglich jedoch waren es sieben, wie man aus den beiden Mauerzungen an der Westwand ersehen kann. Sie liegen in der Flucht der Langhausarkaden, und auf der rechten Seite zeichnet sich im Mauerverband die Naht einer Spitzbogenöffnung ab. Eine merkwürdige Unbestimmtheit herrscht im Stützensystem der rechten Langhausarkaden, im Gegensatz zu den einheitlich durchgebildeten Pfeilern der linken Seite. Am sonderbarsten nimmt sich die erste freistehende Stütze rechts aus, ein sich nach unten verjüngender Pfeiler, dessen Kanten durch vertikale Rillen verziert sind. Der erste Pfeiler nach den vier Stufen weist nach allen Seiten Pilastervorlagen auf, der folgende Säulenvorlagen zum Mittelschiff und zum Seitenschiff, der letzte Pfeiler hinter den folgenden drei Stufen hat nur eine Säulenvorlage zum Seitenschiff hin. Ob der Gedanke einer Wölbung dabei eine Rolle spielte, stehe dahin, denn es blieb bei einem offenen Dachstuhl. In den letzten drei Stufen des Mittelschiffs ist in der Mitte ein Eingang ausgespart, der in einen kleinen unterirdischen rechteckigen gewölbten Raum führt, in dem sich links ein Brunnen befindet. Zur Gruppe der dreischiffigen Pfeilerbasiliken nur mit einer Mittelapsis gehört ferner die Kirche S. Maria di Cartignano bei Bussi aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts.
Abb. 18: Corfinio, Basilica Valvense und Oratorium S.AlessandroEine dreischiffige Pfeilerbasilika mit Querhaus und einer Mittelapsis ist nur in der Kathedrale von Corfinio (Abb. 18) überliefert. Die Gründung wird von der Forschung allgemein auf den Bischof Walter von Valva (1104-1128) zurückgeführt. Eine nicht mehr erhaltene Inschrift soll von einer Weihe im Jahr 1124 berichtet haben. Hält man an diesem Datum fest, dann muß man jedoch auf Grund stilkritischer Erwägungen feststellen, daß sich die Ausführung mindestens bis gegen das Ende des 12. Jh. hingezogen hat. (S. 110) Bei den letzten Restaurierungen kamen zwei Inschriften zutage. Eine, die in der linken Hochwand des Mittelschiffs gefunden wurde und sich heute im Dommuseum befindet, sagt aus, daß eine Renovierung im Jahr 1248 von dem Maurer Justinus ausgeführt wurde, der in der anderen Inschrift als Justinus magister bezeichnet wird. Damit erklären sich gewisse Unstimmigkeiten in den beiden Langhauswänden; die Disposition des Grundrisses hingegen dürfte kaum Veränderungen erfahren haben. Die Kathedrale hat ein dreischiffiges Langhaus mit sieben Jochen. Wie in S. Liberatore aHa Maiella entspricht die Breite des Mittelschiffs zwei Jochen. Einmalig in den Abruzzen und auch in Süditalien ist das große breitgelagerte Querhaus (Tf. 41), das in seinen Merkmalen lombardischen Baugewohnheiten entspricht. Es springt über die Flucht der Langhauswände weit hinaus. Die große Mittelapsis hat die Breite des Mittelschiffs. An der Schmalseite des rechten Querhaustraktes schließt eine andere breite Apsis an, der vor späteren Umbauten eine ebensolche auf der entgegengesetzten Seite entsprochen haben muß. Als Vergleichsbeispiele für dieses Schema seien nur der Dom von Pisa, S. Michael in Pavia oder die Kathedrale von Parma angeführt. Die Tiefe des Querhauses entspricht zwei Jochen des Langhauses. Schon bei früheren Restaurierungen wurde auf der linken Seite des Langhauses die dritte Stütze freigelegt, die Ähnlichkeit mit denjenigen in S. Giovanni in Venere aufweist. Es handelt sich um einen quadratischen Pfeiler, dessen Ecken nicht in voller Höhe abgeschrägt sind, so daß er teilweise achteckig erscheint. Der Pfeiler hat eine Breite von 50 cm, wohingegen die angeschnittenen Flächen nur 27 cm messen. Die Basen liegen auf demselben Niveau wie der Fußboden der nahe gelegenen, früher erbauten Kapelle des hl. Alexander.
Einmalig ist der Grundriß der dreischiffigen Pfeilerbasilika S. Cristinziano in S. Martino suHa Marrucina bei Guardiagrele, ein Bau, der 1919 einstürzte, aber in literarischen Quellen und Photographien überliefert ist. Einer Inschrift zufolge entstand die Kirche 1151. Der Grundriß (14,50 m lang, 12,50 m breit) nähert sich fast einem Quadrat. Das Langhaus besteht aus nur drei Jochen von gleicher Breite. Die achteckigen Pfeiler aus Ziegelstein trugen Rundbogenarkaden. Diese Kirche besitzt keine Krypta, keinen Quertrakt und keine Apsis. Die 1227 gegründete Kirche S. Maria Maggiore in Lanciano ist eine dreischiffige Pfeilerbasilika, deren Langhaus in ein Oktogon einmündet.
Kirchen mit Säulen und Pfeilern
Seit dem 12. Jh. gibt es in den Abruzzen Kirchen, in denen Pfeiler und Säulen die Stützen bilden. Darunter sind Bauten, bei denen beide in einem gleichmäßigen Rhythmus angeordnet sind, so daß man von einem Stützenwechsel sprechen kann. Bei anderen Bauten wird die Mitte des Langhauses durch besondere Stützen betont, wieder andere lassen kaum eine Systematik in der Verwendung von Pfeiler und Säule erkennen. Der rhythmische Stützenwechsel war nördlich der Alpen und in Oberitalien heimisch. Aber die Frage, ob von hier aus direkte Einflüsse auf unsere Landschaft einwirkten, ist kaum eindeutig zu beantworten. Kein Bau in den Abruzzen gleicht in dieser Hinsicht dem andern. Aus der häufig vom Zufall regierten Vielfalt der Formmöglichkeiten läßt sich schwerlich eine direkte Beziehung zum Norden ableiten. Zum Beispiel finden wir in Latium die Verwendung von Säulen und Pfeilern in den Domen von Ferentino und Anagni.
Abb. 19: Pianella, S.Maria MaggioreZu den abruzzesischen Kirchen, die einen gewissen Rhythmus im Stützenwechsel erkennen lassen, gehört S.Maria Maggiore in Pianella (Abb.19). Sie ist eine dreischiffige Basilika ohne Querhaus und mit drei Apsiden. Auf der linken Seite zählen wir sechs Langhausarkaden, rechts hingegen nur fünf, da hier in das erste Joch des Seitenschiffs der Campanile eingebaut ist. Es wechseln Pfeiler und Säulen in der Folge ab b a b, wobei der Buchstabe a, wie auch in den folgenden Beispielen, den Pfeiler und b die Säule bezeichnet. Die Stützen bestehen aus Ziegel. Die erste Säule links wurde in späterer Zeit aus statischen Gründen polygonal ummantelt.
Abb. 20: S. Giovanni al Mavone 0 ad lnsulam bei Isola del Gran SassoAbb. 21: S.C1emente al Vomano bei Guardia Vomano (S. 111)In S. Giovanni al Mavone (Abb. 20) finden wir einen Stützenwechsel in der Abfolge a a a b b, der wohl der ersten Hälfte des 12. Jh. zuzuschreiben ist. Die dreischiffige Basilika hat keinen Quertrakt und nur eine Mittelapsis. Das Mittelschiff ist 20,55 m lang und 3,05 m breit, die Länge der Seitenschiffe beträgt 19,25 m, ihre Breite 2,40 m. Wegen des uneinheitlichen Niveaus des Fußbodens und der verschiedenartigen Langhausstützen macht das Kircheninnere einen unruhigen, wenig ausgewogenen Eindruck. Auffallend ist der um zehn Stufen erhöhte Chor, der weit vorgezogen ist und vor der dritten Arkade beginnt. Die Ursache hierfür ist ähnlich wie in SS. Giovanni e Vincenzo in Turrivalignani die große Kryptenanlage. Trotz des Niveauunterschiedes liegen die Scheitel der Langhausarkaden in gleicher Höhe.
Die Kirche S. Clemente al Vomano (Abb. 21), am Friedhof des Ortes Guardia Vomano gelegen, wurde 1926 restauriert; durch eine Inschrift am Hauptportal ist der Bau 1158 zu datieren. Bei den Wiederherstellungsarbeiten wurden die Wände entfernt, mit denen man aus statischen Gründen auf jeder Seite die beiden Arkaden vor dem erhöhten Chor geschlossen hatte; an die Stelle setzte man moderne Stützen. Die nach Süden orientierte Kirche ist ein dreischiffiger Bau mit drei gestaffelten Apsiden. Ein Querschiff fehlt, und zum Prebyterium führen fünf Stufen, die die ganze Breite des Innenraums (26,48 x 11,56 m) einnehmen. Das Stützensystem wechselt in ungleichem Rhythmus. Sofern nicht antike Spolien benutzt wurden, ist das Baumaterial Ziegelstein. Die Arkaden ruhen wie in Turrivalignani an der Eingangsseite auf Pilasten und an der Apsisseite auf Halbsäulen.
Vor der Restaurierung des Domes von Penne, die durch Schäden des Zweiten Weltkriegs nötig wurde, zeigte der Bau einen Wechsel von Säulen und achteckigen Pfeilern.
Abb. 22: Paganica, S. GiustinoEinen Stützenwechsel, der den klassischen und in den Abruzzen einmaligen Ablauf a b a b aufweist, finden wir in der am Friedhof von Paganica (Abb.22) gelegenen Kirche S. Giustino, deren älteste erhaltene Bauteile aus der zweiten Hälfte des 12. Jh. stammen. Der dreischiffige rechteckige Bau ist, einschließlich der einzigen Apsis in der Mitte, 20 m lang und 12 m breit. Rechteckige Pfeiler und Säulen bilden die Stützen der Rundbogenarkaden, die in der Apsiszone von Halbsäulen getragen werden und an der Eingangsseite an weit in den Innenraum vorgezogenen Wänden enden, von denen die rechte eine der Fundamentmauern des Glockenturmes ist. Die Säulen sind spätantik, einige monolith, andere aus mehreren glatten oder kannelierten Stücken zusammengesetzt. Wie die Spolien von S. Giusta in Bazzano stammen sie wahrscheinlich aus der unweit gelegenen Stadt Aveia und dienten bereits als Stützen eines früheren Baues. In der Mitte des Langhauses setzt der etwa 0,80 m erhöhte Chor an, den man über vier Stufen erreicht. Er deckt sich in seinen Ausmaßen mit der darunterliegenden Krypta, in die zwei Treppen von den Seitenschiffen hinunterführen.
Abb. 23: Bazzano, S. GiustaDer komplizierte Grundriß der Oberkirche von S. Giusta in Bazzano (Abb. 23) wird durch zwei vorangehende Bauten bedingt. Das linke Seitenschiff steht über einer einschiffigen Unterkirche, einem schmalen rechteckigen Raum, 17 m lang, 4,13 m breit und 4,16 m hoch. Die Entstehung dieses Bauteils ist nicht vor dem 12. Jh. anzusetzen. Aus derselben Zeit stammt der Raum, der in der Verlängerung des rechten Seitenschiffs der Oberkirche neben der heutigen Sakristei gelegen ist. Dieses Oratorium ist 5,60 m lang und 3,78 m breit. Daß es sich ursprünglich um einen isolierten Bau handelte, ergeben die im Westen und Osten an den Schmalseiten nachweisbaren Fensteröffnungen. Die Unterkirche und das Oratorium bedingten die Maße der Oberkirche, deren Erbauung man durchaus mit einer Inschrift von 1218 am Bogenansatz über dem hinteren Würfelkapitell in Verbindung bringen kann. In dieser Zeit wurden die vorher isolierten Baukörper zu einem Gesamtbau zusammengefaßt. Festgelegt war damit der westliche Abschluß der nach Westen orientierten Kirche und die Flucht der Langhausmauern. Daraus resultiert auch die ungleiche Breite der beiden Seitenschiffe. Vom alten Bau heute noch erhalten sind der erste Arkadenbogen der linken Seite, die sechs Arkaden auf der rechten Seite mit dem Stützenwechsel a b a a b a und die Stufen rechts von der Kanzel, die zum höher gelegenen Chor führten. Die Scheitel des ersten Arkadenpaares liegen höher als die übrigen. Drei Stützen auf der rechten Seite sind Spolien aus antiken Bauten und dienten vielleicht schon beim Bau der älteren Kirche.
Von den Bauten, die den Stützenwechsel nur in der Mitte des Langhauses zeigen, ist als frühes Beispiel S. Maria del Lago in Moscufo zu nennen, entstanden um die Mitte des (S. 112) 12. Jahrhunderts. Der dreischiffige Ziegelbau mit entsprechenden gestaffelten Apsiden besteht im Innern aus sechs Jochen mit fünf Stützenpaaren b b a b b. Den pfeilern sind zum Mittelschiff hin kräftige Halbsäulen vorgelegt. Ein transversaler Schwibbogen an dieser Stelle, wie wir ihn später in S. Clemente a Casauria finden, war in Moscufo noch nicht beabsichtigt. An den linken Pfeiler lehnt sich die berühmte Kanzel des 12. Jh. an. An der Eingangswand und an der Apsisseite werden die rundbogigen Arkaden von Halbsäulen aufgefangen.
Abb. 24: S. Clemente a Casauria, Oberkirche und VorhalleAbgesehen von der älteren Krypta kann man an der Klosterkirche S. Clemente a Casauria (Abb.24) drei Bauphasen feststellen, die rasch aufeinanderfolgten. Den Neubau begann Abt Leonas 1176 im Westen. Nach seinem Tod 1182 ging man an die Errichtung des Ostteils. Zuletzt errichtete man das Mittelschiff, dessen Bauzeit sich bis in das 13. Jh. hinzog. Der östliche Teil des Langhauses von der fünften Arkade an wurde wahrscheinlich beim Erdbeben von 1348 beschädigt. Der erhaltene westliche Langhausteil interessiert im Innern besonders wegen des vielfältigen Stützensystems. Der dreischiffige Bau besteht aus acht Jochen und wird in der Mitte von kräftigen halbrunden Schwibbogen unterteilt. Die aus der dritten Bauphase stammenden vier westlichen Stützenpaare zeigen unterschiedliche Behandlung. Der erste und dritte Pfeiler auf der Südseite sind rechteckig, während der zweite quadratisch ist. Der Stützenwechsel zeichnet sich hier kaum ab, wohingegen er auf der Nordseite stärker zum Ausdruck kommt. Dort entspricht nur die Form der zweiten Stütze derjenigen der gegenüberliegenden, während die erste und dritte Stütze eine kompliziertere Struktur haben. Den Kern bildet eine Säule von 86 cm Durchmesser mit runder Basis. Dieser sind an vier Seiten kräftige rechteckige Pfeilervorlagen vorgesetzt. Die Vorlagen zum Mittel-und Seitenschiff hin sind funktionslos, die beiden anderen indessen tragen die in der benediktinischen Architektur beliebten abgestuften Arkadenbogen. Das vierte mittlere Pfeilerpaar ist auf beiden Seiten gleich, unterscheidet sich jedoch von allen übrigen. Der Pfeilerkern hat vier Vorlagen, zwei Pilaster zum Mittel-und Seitenschiff, auf denen die Schwibbogen ruhen, sowie zwei Halbsäulen, die die Langhausarkaden aufnehmen. Dieses Experimentieren mit verschiedenen Stützmöglichkeiten mindert die künstlerische Qualität des westlichen Langhauses. Auch erscheinen die Pfeiler zu mächtig im Verhältnis zu den engen Spitzbogenarkaden. Diese Mängel unterscheiden die dritte Bauzeit von den früheren. An das Langhaus setzt ein ausgeschiedenes Querhaus an, dessen Arme beträchtlich über die Flucht der Langhausmauem hinausragen. Die einzige Apsis entspricht der Breite des Mittelschiffs.
In SS. Giovanni e Vincenzo in Turrivalignani, einem Bau der ersten Hälfte des 12. Jh., haben wir eine Kirche vor uns, in der Pfeiler und Säulen vorkommen. Sie sind unbeholfen in der Ausführung und lassen keinen durchdachten Rhythmus erkennen. Es handelt sich um eine dreischiffige Kirche mit fünf Jochen ohne Querschiff und ohne Turm, mit nur einer Apsis und einer Krypta. Die Rundbogenarkaden setzen an der Eingangswand auf rechteckigen Pfeilervorlagen an und an der Apsisseite auf Halbsäulen.
Einschiffige Kirchen
Die zahlreichen einschiffigen Kirchen in den Abruzzen finden sich vorzugsweise unter den Bauten der Franziskaner, und die Stadt L'Aquila machte diesen Typ gleichsam zur Hausmarke ihrer Kirchengrundrisse. Aber schon früher, im 12. Jh., begegnen wir diesem Schema, vor allem in kleinen Landkirchen weitab von größeren Siedlungen. Für den Typ der einschiffigen, querhauslosen Kirche mit einer Rundapsis bietet im 12. Jh. der Ort Valle Castellana in der Provinz Teramo gleich zwei Beispiele, nämlich die bisher nicht beachtete Kirche S. Rufina und die dem hl. Vitus geweihte. (S. 113) Dem gleichen Plan begegnen wir in S. Crisanto bei Filetto (12.-13. Jh.). Im Innern führen zwei Stufen zum erhöhten Chor hinauf. Eine Sockelbank zieht sich im Innenraum an der gesamten linken Langhauswand entlang. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich ein Seitenportal. Am Hang unter dem Kastell von Pescosansonesco liegt die nach Süden orientierte einschiffige Kirche S. Nicola mit einer Rundapsis. Der 14,65 m lange und 5,50 m breite Innenraum ist stilistisch erst nach dem Neubau von S. Clemente a Casauria zu datieren, da das Portal, das fest in den Mauerverband eingefügt ist, Formen der Vorhalle von Casauria übernimmt.
Einschiffige Kirchen ohne Quertrakt, an deren Langhaus sich ein Chorquadrat anschließt, leiten sich von der Zisterzienserarchitektur ab. Vor 1250 sehen wir diesen Typ um 1191 im Zisterzienserkloster Casanova und in der davon abhängigen Klosterkirche S. Spirito d'Ocre.
Abb. 25: S.Paolo di Peltuino bei Prata d'AnsidoniaIm 13. Jh. kommt ein neues Schema des einschiffigen Kirchenbaus hinzu. An das Langhaus schließt sich ein weit über dessen Wände hinausspringendes Querhaus ohne Apsis an. Ein etwas kompliziertes Beispiel dieser Art liefert S. Paolo di Peltuino (Abb.25), eine Kirche bei Prata d'Ansidonia im Gebiet der römischen Stadt unterhalb der antiken Stadtmauer. Zwei Bauphasen sind zu unterscheiden eine frühere aus der ersten Hälfte des 12. Jh. und eine späte:e, die wir um 1240 ansetzen können, wenn wir die Datierung der dortigen Kanzel, die heute in der Pfarrkirche von Prata d'Ansidonia aufgestellt ist, zugleich auf die Renovierung beziehen. Zum frühen Bestand gehört der größere Teil der Fassade bis auf den modernen Giebel, sowie der aus Hausteinen errichtete untere Teil der rechten Langhauswand bis zum Ansatz des Quertraktes. Diese Längsmauer ist im Innern durch fünf rechteckige Vorlagen mit einfachen Profilkapitellen gegliedert, die kräftig vorspringende Blendarkaden tragen. Fassade und rechte Langhauswand stoßen rechtwinklig aufeinander. Anders auf der linken Seite. Dort ragt die Fassadenmauer etwa 1 m über die Langhauswand hinaus. Das Hauptportal, das außen in der Mitte der Fassade sitzt, erscheint im Innern aus der Achse verschoben. Wahrscheinlich wurde die linke Langhauswand des 12. Jh. durch den starken Schub des steil ansteigenden Geländes eingedrückt, und man baute unter Verwendung alten Materials unmittelbar daneben etwas sorglos weiter nach innen versetzt eine neue Mauer auf, die auch der Gliederung der gegenüberliegenden Innenwand des 12. Jh. entbehrt. Trotz Verwendung ähnlichen Hausteins am Querhaus wie an der rechten Langhauswand kann keine gleichzeitige Entstehung angenommen werden. An der Außenwand des rechten Querschiffs kann man unschwer feststellen, daß sie mit der Langhauswand nicht im Bauverband steht, und daß die Steinlagen ungleiche Höhe haben. Ausgeprägten Formen des 13. Jh. begegnen wir am Portal, das in das rechte Querhaus führt, an dem von Büschen verdeckten Fenster in der Mitte der rückwärtigen apsidenlosen Fassade und vor allem an der Rosette, die in die Schmalseite des rechten Querschiffs eingelassen und von der Werkstatt der Kanzel von 1240 gearbeitet ist. Auch im Innern sind die Bestände des 13. Jh. gut zu erkennen. Der Chor ist um zwei Stufen erhöht. Den Choreingang bildet ein markanter Triumphbogen. Der rechte Arm des Querschiffs wird vom Chor durch zwei verhältnismäßig niedere Rundbogen, die von einem quadratischen Pfeiler getragen werden, getrennt, während ihnen auf der gegenüberliegenden Seite ein einziger großer Bogen entspricht.
Nicht so verwickelt wie in S. Paolo di Peltuino ist der Grundriß der in der Nähe gelegenen Kirche S. Pietro in Valle in Caporciano. Sie ist ein einschiffiger Bau des 13. Jh. mit weitausladendem Querhaus ohne Apsis.
Besonderheiten im Grundriß und im Aufriß
Das Grundrißschema der Kirchen unseres Berglandes ist zwar spröde, indessen gleicht kein Beispiel dem anderen. Innerhalb der Einfachheit war man doch um Variationen bemüht, wie wir es später noch besser an dem außerordentlich reichen Architekturschmuck sowie in der Bau-und Ausstattungsplastik beobachten können.
Abb. 26: Atri, KathedraleDer Dom von Atri (Abb.26) ist die einzige ursprünglich fünfschiffige Kirche unserer Region, die aus der Zeit der Normannen und Staufer überliefert ist. Statische Gründe gaben den Anlaß zur grundlegenden Restaurierung des heute dreischiffigen Baues, die jetzt zum größten Teil abgeschlossen ist. Sie ist das Werk von Guglielmo Matthiae, dem wir verdanken, daß wir den Dom nun mit völlig neuen Augen sehen. Es ist eines der aufregendsten Kapitel der abruzzesischen Kunstgeschichte, wie die Restaurierung der Bauten die Schichten freilegte, die in mehr als tausend Jahren übereinander gewachsen sind. 5011 die Beschreibung dem Ablauf der geschichtlichen Ereignisse folgen, so ist mit dem gewaltigen Wasserreservoir aus kaiserlich römischer Zeit unter dem Ostteil des heutigen Domes zu beginnen, das bereits früher behandelt wurde. Diese fünfschiffige Anlage ist aus großen Quadern und Ziegelsteinen gebaut. Pfeiler tragen Kreuzgratgewölbe. Ohne Umbauten im Innern hat man diese Zisterne im Mittelalter als Kirche benutzt. Architektonisch verändert wurde nur die Außenseite des antiken Monuments und zwar in den ersten Jahren des 12. Jahrhunderts. Im Osten wurde die mittlere Öffnung des fünfschiffigen Wasserbehälters zum Kirchenportal umgestaltet, während die übrigen vier Schiffe Fenster erhielten. Ober diesem (S. 114) Ostabschluß der Piscina errichtete man die Rückfassade der jetzigen Oberkirche. Sie besteht aus Kalksteinblöcken und ist durch Lisenen gegliedert. Der geradflächige Verlauf dieser Wand ergab sich dadurch, daß man das römische Bauwerk gleichsam als Substruktion benutzen wollte, und er ist weniger durch stilistische Einflüsse aus Apulien zu erklären. Indem man sich des Wasserreservoirs in seiner ganzen Breite als Unterbau bediente, entsteht in Atri erstmals in den Abruzzen ein Gotteshaus von auffallender Geräumigkeit.
Die Restaurierung erbrachte aber vor allem wertvolle Aufschlüsse über den Frühbau der oberen Kirche. Nach Abdeckung des Fußbodens des modernen Chors fanden sich unter dem jetzigen quadratischen Chor Reste einer Rundapsis aus Ziegelsteinen. Vor dieser, ungefähr zwischen dem heutigen achteckigen Pfeilerpaar, entdeckte man drei Stufen, die zum alten Presbyterium emporführten. Weiter kamen am Ende des linken Seitenschiffs die Fundamente zweier kleiner Apsiden zum Vorschein, die mit der alten Mittelapsis in einer Flucht liegen. Wo die Rundungen der Seitenapsiden zusammentreffen, war eine Wandzunge weit vorgezogen, deren Vorlage in Form einer Halbsäule gefunden wurde. Entsprechende Seitenapsiden im rechten Seitenschiff, die aus Gründen der Symmetrie angenommen werden müssen, sind dort nicht entdeckt worden. Möglicherweise wurden ihre Überreste zerstört, als an dieser Stelle eine Treppenanlage zur Unterkirche in der römischen Piscina gebaut wurde. Aus den Funden resultiert, daß eine fünfschiffige romanische Kirchenanlage der heutigen Kathedrale vorausging. Durch die Beseitigung des modernen Chorfußbodens in der gesamten Breite der Kirche ergaben sich auch Anhaltspunkte für das Stützensystem der alten oberen Kirche. Genau in der Mitte zwischen dem ersten und zweiten achteckigen Pfeiler von der Apsis aus gerechnet wurde auf der linken Seite des Mittelschiffs der 46 cm hohe Stumpf einer aus Ziegel gebauten Säule gefunden, die direkt auf den römischen Mosaiken steht, allerdings nicht genau in der Flucht der heutigen Stützen, sondern weiter in das Mittelschiff versetzt. Dieser Säule entsprechen Halbsäulenvorlagen auf gleichem Niveau an den Langhauswänden. Aus der Stellung dieser Stützen kann man folgern, daß die Spannweite der Arkaden des Altbaus genau die Hälfte der heutigen betrug. Die Halbsäulen an der Apsis, die die Rundbogenarkaden des Langhauses auffangen, sind dem Altbau zuzurechnen, und ihre Kapitelle stammen zweifellos aus dem 12. Jahrhundert. Ein in Teilen erhaltenes kleines romanisches Gesims mit Blendarkaden, sichtbar vom rechten Seitenschiff aus, über den Stützen vor der Apsis, läßt erkennen, daß das ältere Mittelschiff niedriger war als das heutige. Zum Altbau gehören ferner noch zwei Halbsäulen mit Würfelkapitellen neben dem Campanile in der Flucht des nördlichen Seitenschiffs.
Die Erhaltung und Sichtbarmachung der römischen und romanischen Funde, ohne die Funktion des Gotteshauses zu stören, ist eine Meisterleistung der Restaurierung. Man entfernte die Erhöhung des Chores in den Seitenschiffen, so daß dort heute die Reste der Seitenschiffapsiden sowie eine der erwähnten Halbsäulenvorlagen im nördlichen Seitenschiff zu sehen sind. Durch dicke Glasplatten auf dem Fußboden kann man die römischen Mosaiken und die romanischen Reste besichtigen. Man geht wohl nicht fehl, wenn man die »Ecclesia sancte Marie de Hatria«, die vom Jahre 1140 ab in Urkunden erscheint, mit dem romanischen Altbau gleichsetzt.
Manchmal will es scheinen, daß die Abruzzesen danach trachteten, ihre überlieferten Grundrißschemata durch gewisse perspektivische Kunstgriffe abzuwandeln, wobei sie verschiedene Möglichkeiten ausprobierten. Einen ersten Versuch dieser Art sehen wir schon um 1100 in S. Pietro ad Oratorium. Dort stoßen die Langhauswände kaum wahrnehmbar nicht im rechten Winkel auf die Eingangswand. Der Arkadenschritt beträgt durchweg 2,70 m, aber der Raum verengt sich zur Apsis hin von einer anfänglichen Breite von 12,70 m auf 12,20 m. Das letzte Pfeilerpaar zeigt Vorlagen zum Mittel-und Seitenschiff, denen Wandvorlagen an den Langhausmauern entsprechen. Für einen Triumphbogen, dem im allgemeinen solche Vorlagen dienten, fehlen jedoch alle weiteren Spuren, so daß anzunehmen ist, daß er nie ausgeführt wurde. Zum Chor führen drei Stufen, die direkt vor den genannten Pfeilerverstärkungen ansetzen.
Nicht nur durch die Verengung der Langhauswände, sondern auch durch die Veränderung der Arkadenläufe konnte man eine perspektivische Wirkung erzielen. In S. C1emente al Vomano (1158) weiten sich z.B. die Bögen zum Chor hin. Auch die Scheitelhöhe der Arkaden nimmt auf beiden Seiten zum Presbyterium hin zu. Die Erhöhung der letzten Arkadenbögen entspricht ungefähr der Höhe der Stufen, die zum Altar führen. Ein gen au umgekehrtes Prinzip erscheint in SS. Giovanni e Vincenzo in Turrivalignani (12. Jh.), wo die Stützen zum Chor hin näher aneinandergerückt sind, eine Baugewohnheit, die in den Abruzzen nicht ganz ungewöhnlich ist. Im erhöhten Chor sind die Stützen bei gleichbleibender Kapitellhöhe um ein Drittel niedriger als im Kirchenschiff.
Abb. 27: Luco dei Marsi, S. Maria delle GrazieWieder anderen Prinzipien folgt S. Maria delle Grazie in Luco dei Marsi (Abb.27) aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts. Der Innenraum zeigt fünf weitgeschwungene Rundbogenarkaden auf rechteckigen Pfeilern mit Profilkapitellen. Der zur Fassade hin abfallende Fußboden wird durch verschiedene Höhe der Stützen bei gleichbleibender Höhe der Arkadenscheitel ausgeglichen. Vor dem vierten Pfeilerpaar führen fünf Stufen, die die ganze Breite des Kirchenraumes einnehmen, in den Chor mit rechteckigem Abschluß.
Vorhallen
Seit dem 11. Jh. gehören Vorhallen zum Baubestand vieler großer Kirchen. Sie treten nördlich der Alpen an den Bauten der Cluniazenser und der Kongregation von Hirsau auf. Man trifft sie in ganz Italien an, von Oberitalien über Rom bis nach Apulien, und sie werden besonders in der Zisterzienserarchitektur gepflegt. Für die Vorhallen in den Abruzzen bietet sich demnach eine weite Skala von Vergleichs (S. 115) möglichkeiten an. In den meisten Fällen aber dürfte der Einfluß von Montecassino maßgeblich gewesen sein. Der Desideriusbau in Cassino verfügte ja über eine Vorhalle. Der Cassineser Typ ist ein gewölbter Vorbau mit drei Bogenöffnungen, die von Pfeilern getragen werden.
Die Vorhallen in den Abruzzen sind meistens nur in Ansätzen zu erkennen und vermutlich gar nicht zur Ausführung gekommen. Man übernahm zunächst ein Bauscherna, zu dem die Vorhalle gehörte, konnte aber dann die Aufgabe nicht lösen, weil die Abruzzesen kein rechtes Verhältnis zur Wölbung besaßen, wieder ein Beispiel für das vereinfachende Moment, das wir als Charakteristikum in vielen Zweigen der abruzzesischen Kunst feststellen können. So verfügten nur größere Kirchen über geeignete Baumeister, die derartige Aufträge bewältigen konnten.
Für S. Liberatore alla Maiella wird eine Vorhalle postuliert, diejenige von S. Clemente a Casauria ist gesichert und stellt ein architektonisches Kleinod dar; ferner finden wir Vorbauten an der aus dem 13. Jh. stammenden Kirche S. Maria Maggiore in Lanciano, wo ein offenkundig wölbefreudiger Architekt am Werk war, sowie in S. Bartolomeo in Carpineto della Nora.
Man nimmt an, daß in S. Liberatore alla Maiella die in Resten überlieferte Vorhalle des 16. Jh. anstelle einer früheren mittelalterlichen errichtet wurde, obwohl von dieser keine Spuren erhalten sind. Trotzdem hält die Bauforschung zäh daran fest, daß die Vorhalle des Cinquecento nur eine Restauration eines Baues aus dem 11. Jh. ist. Die Gestalt des Portikus aus dem 16. Jh. ist zweimal bildlich überliefert. Zum einen auf einem Fresko aus dieser Zeit an der rechten Wand der Mittelapsis, wo der Abt Theobald dargestellt ist und das Kirchenmodell mit einer dreibogigen Vorhalle und einer Loggia darüber in Händen trägt; zum anderen auf einem Stich von Gattola aus dem Jahre 1733. Ist die Rekonstruktion der Vorhalle des 16. Jh. an Hand dieser Bildzeugnisse und der Baureste möglich, so fehlen für diejenige des Portikus am frühmittelalterlichen Gründungsbau jegliche Anhaltspunkte.
Vor der letzten Restaurierung bot sich die alte Fassadenwand des 11. Jh. folgendermaßen dar: Auf einem vorspringenden Sockel erheben sich auf hohen Basen in Abständen vorgelegte Halbsäulen, deren Verlauf links vom Hauptportal abzulesen war. Zwei Vorlagen steigen bis zur Höhe des unteren Barockfensters in der Fassade auf und werden durch zwei kleine Blendbogen, deren mittlerer Bogenansatz auf einer Konsole ruht, verbunden. Für das entsprechende Halbsäulenpaar rechts des Mittelportals wird der gleiche Abschluß anzunehmen sein, der nur durch spätere Vorbauten verdeckt wurde. Der Abstand zwischen den äußeren Vorlagen dieser beiden Blendbogenpaare entspricht der Breite des Mittelschiffs. Auch in der Zone der Seitenschiffe finden wir vorgelegte Halbsäulen, was auf eine dem Mittelteil der Fassade gleichende Gliederung schließen läßt. Die Tatsache, daß die Halbsäulenvorlagen dort, wo sie von den Gewölbebogen der späteren Vorhalle überschnitten werden, abgeschlagen sind, beweist die frühe Entstehung dieser Bauteile. Untersucht man die noch vorhandenen Stützen des Gewölbes der Vorhalle aus dem 16. Jh., so läßt sich feststellen, daß sie mit der alten Fassade in keinem Bauverband stehen und nur vorgesetzt sind. Die Profilierung der Pilasterkapitelle und das Material der Gewölbe, die in Ansätzen noch zu (S. 116) erkennen sind, weisen ebenfalls auf eine Entstehung im 16. Jh. hin. Die Halbsäulenvorlage des 13. Jh. links außen an der Fassade, die man immer zu deren alten Bestand rechnete, hat mit dieser funktionell gar nichts zu tun. Diese Stütze gehörte mit ihrem Bogenansatz zu der Tür, die in die nördlich gelegene Klosteranlage führte. Die Vorhalle des 16. Jh. hatte drei querrechteckige Joche, die der Breite der Kirchenschiffe entsprechen. Von den westlichen Pfeilern sind noch Stümpfe vorhanden.
Die letzten Restaurierungen haben den frühmittelalterlichen Baubestand und den Portikus des Cinquecento so gründlich verdorben, daß die bauliche Situation nur aus alten Photographien und literarischen Berichten zu ermitteln ist. Auch die vorliegende Beschreibung stützt sich auf Studien vor der Restaurierung und kann nicht mehr nachgeprüft werden.
Lassen wir die supponierte frühmittelalterliche Vorhalle von S. Liberatore alla Maiella beiseite, dann sind die ältesten Beispiele für Anlagen dieser Art in den Abruzzen erst nach der Mitte des 12. Jh. zu belegen, z.B. an der Kathedrale von Corfinio. Die dortige Fassade zeigt zu beiden Seiten des Hauptportals je einen Blendbogen, welcher der Breite des Seitenschiffs entspricht. Er wird von Pilastervorlagen, die von einem Sockel aufsteigen, getragen. Die beiden Vorlagen zunächst dem Haupteingang haben Kapitelle, deren Ansatz auf gleicher Höhe mit dem Architrav des Portals liegt. Von Gewölbeansätzen sind keine Spuren vorhanden.
Vom Normannenkönig Wilhelm erhielt Bischof Guido II. die Einwilligung zum Wiederaufbau seiner Stadt Teramo. Damit begann auch der Bau der neuen Kathedrale, nachdem die alte, S. Getulio, an anderer Stelle der Stadt wenige Jahre zuvor zerstört worden war. Der Bau begann um 1158 und mußte 1174 zum großen Teil abgeschlossen sein, als die Gebeine des 1170 verstorbenen Guido zur endgültigen Beisetzung dorthin überführt wurden. Zum Bestand des Guidobaus gehört der Wandabschnitt unterhalb des Gesimses, das die Ostfassade in der Mitte teilt, auszunehmen ist das Portal des 14. Jahrhunderts. Eine breite Treppe, die, wenn auch in anderer Form, immer bestanden haben muß, führt zur Fassade hinauf, an der die Vorhalle errichtet werden sollte. Von ihr sind aus der Zeit Guidos vier in Haustein gefertigte Pfeilervorlagen vorhanden, deren Abstände der Gliederung der Kirche in ein breites Mittelschiff und in zwei Seitenschiffe entsprechen. An den Vorlagen sind noch Spuren einer Wölbung sichtbar. Aber wahrscheinlich wurde der Vorbau nicht vollendet, da die außergewöhnliche Breite des Mitteljoches ein zu großes Risiko für die Einwölbung darstellte.
Das Glanzstück abruzzesischer Vorhallen sehen wir in S. C1emente a Casauria (Tf. 44). Dieser Portikus ist nicht nur ein Annexbau der Klosterkirche, sondern ein Kunstwerk für sich. Es handelt sich um eine der frühesten Vorhallen in ganz Italien. Zum Vergleich bietet sich am ehesten der Vorbau von S. Maria della Libera in Aquino in Latium an, vielleicht auch die Zisterzienserkirche Chiaravalle in den Marken. Der Vorbau von S. Clemente hat eine Breite von drei Jochen mit quadratischem Grundriß. Er öffnet sich nach Westen in drei großen Bogen, deren mittlerer rund ist, während die beiden seitlichen leicht zugespitzt sind. Diese Bogen, denen die drei Portale der Westfassade entsprechen, ruhen auf quadratischen Pfeilern. Nach lombardischen Baugewohnheiten sind diesen jeweils vier Halbsäulen auf attischen Basen mit Ecksporen vorgelegt. Die seitlichen Vorlagen tragen die Arkadenbogen, während die rückwärtigen zusammen mit den entsprechenden Halbsäulen an der Kirchenfassade die Gurtbogen des Kreuzrippengewölbes aufnehmen. Die Säulenvorlagen an der Frontseite haben nur dekorative Funktion und sind deshalb wohl schlanker als die übrigen. Die beiden Vorlagen zu Seiten des mittleren Rundbogens ruhen auf kauernden Löwen. Alle Vorlagen haben gleiche Höhe und tragen Kapitelle. Diejenigen der Fassade wachsen darüber mit verringertem Durchmesser weiter empor und enden in kleinen Kapitellen, die sich in die Reihe der Konsolen einfügen, die zu einer Blendarkatur gehören. Diese zeigt leicht zugespitzte Bogen, in denen figürliche und vegetabile Ornamente dargestellt sind. Schmuckfriese dicht über dem Scheitel der Arkaden im Erdgeschoß sowie unmittelbar über der B1endarkatur gliedern die Westfassade nochmals in der Horizontalen. Den oberen Abschluß des Portikus bildet eine Wand mit vier Biforen. Sie stammt aus späterer Zeit als der untere Bau, der unter Abt Leonas um 1176 errichtet wurde. Diese Fensterwand gehört zur Michaelskapelle, die auch dem hl. Thomas von Canterbury und dem hl. Kreuz geweiht war. Die Kapelle öffnet sich zum Mittelschiff des Kirchenraumes mit drei Spitzbogen. Diese entstanden zur Zeit des Leonas, und ihre Kapitelle sind denjenigen der Vorhalle nahe verwandt. Zur gleichen Bauzeit gehört auch der Schachbrettfries, der an der Emporenwand unter den Bogenöffnungen vom Kirchenschiff aus sichtbar ist. In den Reliefs der Vorhalle von S. C1emente ist der Portikus zweimal dargestellt, jedoch nicht ganz entsprechend seiner heutigen Gestalt.
In den folgenden drei Kirchen erkennen wir nur die Vorstadien von Vorhallen, von denen wir nicht wissen, ob sie ausgeführt wurden. An der Fassade von S. Giustino in Paganica erhebt sich links vom Portal auf einer Sockelzone ein aus Hausteinen errichteter Pilaster mit Profilkapitell. Er ist ca. 2,50 m hoch und liegt in der Flucht der linken Langhausarkaden. Falls S. Maria di Ronzano eine Vorhalle besaß, so war sie nur dem Mittelteil der Fassade vorgebaut. Dieser zeigt einen leichten Vorsprung und wird von kräftigen Pilastern gerahmt, die bis zum Giebelansatz aufsteigen. Der untere Teil dieses vorgezogenen Wandabschnittes zeigt über der Eingangszone drei Blendbogen. Die in S. Tommaso in Varano bei Caramanico geplante Vorhalle aus der ersten Hälfte des 13. Jh. sollte die gesamte Breite der Fassade mit drei Portalen einnehmen. Erhalten sind noch vier Pfeilervorlagen aus Haustein auf einem Sockel. Die dazugehörigen Kapitelle sind z.T. sichtbar.
Erhalten ist die Vorhalle von S. Maria Maggiore in Lanciano mit dem Gründungsdatum 1227. Den drei Schiffen des Altbaus ist im Westen entsprechend eine dreiteilige gewölbte Vorhalle vorgelegt, deren Mittelteil einen quer (S. 117) rechteckigen Grundriß hat, während die beiden Seitenkompartimente quadratisch sind. Die Vorhalle fluchtet mit der Westseite des Campanile. Der obere Abschluß des Vorbaus ist reich verziert. über einer auf Konsolen ruhenden Blendarkatur verlaufen zwei Reihen von Ziegelplatten, die über Eck gestellte Quadrate bilden. Man vermauerte später die Vorhalle, schloß das noch erkennbare alte Portal im Westen und errichtete an dieser Seite im Innern eine Apsis vor dem Mittelschiff.
Abb. 28: Carpineto della Nora, S. BartolomeoVon der Vorhalle von S. Bartolomeo in Carpineto della Nora können wir uns ein besseres Bild machen als ihre heutige Erscheinung vermuten läßt (Abb.28). Denn der oft zerstörte Vorbau, der kaum vor der Mitte des 13. Jh. entstanden sein kann, hat Analogien zur Vorhalle von S. Clemente a Casauria. Hier wie dort fluchtet die Front des Portikus mit dem Campanile auf der linken Seite, was wir auch in S. Maria Maggiore in Lanciano angemerkt haben. In Carpineto sind von dem Vorbau nur zwei Joche erhalten, das mittlere und das linke, ein drittes ist zu ergänzen. Die beiden Seitenfelder sind quadratisch, während das mittlere Feld querrechteckig ist. Wie in S. Clemente a Casauria hat die Mittelöffnung einen Rundbogen, während die seitliche Arkade einen leicht zugespitzten Bogen zeigt. Die Mauermasse über den beiden erhaltenen Bogenöffnungen wirkt unproportioniert und schwer im Verhältnis zur Höhe der Arkaden. Vermutlich war die Vorhallenwand ursprünglich durch Fenster aufgelockert, von denen man mit einiger Mühe Spuren, die jedoch schwer datierbar sind, erkennen kann. Die Kirche hatte nur ein Portal.
Fassaden
Das Auffallendste im abruzzesischen Kirchenbau sind wohl bestimmte Typen von Fassaden, die nur in dieser Landschaft so zahlreich vorkommen und ein Wahrzeichen ihrer Architekrur geworden sind. Es handelt sich um große Wandflächen, oft ungegliedert, und wenn sie gegliedert sind, bemerkt man vor allem eine Vorliebe für horizontale Unterteilungen. Die Blütezeit dieser Fassadengestaltung liegt im späten 13. und im 14. Jh., mit einem Nachleben, das sich weit in das Cinquecento hinzieht. Es gibt keinen größeren Gegensatz zur Gotik mit ihrer dominierenden vertikalen Gliederung als diese geschlossenen, in sich ruhenden Wände. Mit Ausnahme gotischer Portale oder gewisser Einzelformen wird man in der Epoche, in der die Gotik ganz Europa beherrscht, im Fassadenbau der Abruzzen eher eine romanische Gesinnung beobachten können. Diese Schauwände mit der verfeinerten Mauertechnik sind ein Kunstwerk für sich; sie gehen kaum eine Verbindung mit dem anschließenden Bau ein und lassen die architektonische Organisation des Langhauses nicht erkennen. Wenn Einzelformen keine stilistischen Merkmale aufweisen, dann ist die Datierung der Fassaden oft schwierig. Hier nur einige Beispiele dafür, wie lange an dem mittelalterlichen Fassadenschema festgehalten wird. S. Maria della Valle in Scanno zeigt eine äußerst sparsam gegliederte große Schauwand, drei Portale in der Eingangszone, ein kräftiges wulstiges Gesims im oberen Drittel und drei Rundfenster, von denen eines in der Mittelachse unmittelbar über dem Gesims sitzt, während die beiden anderen direkt darunter nahe an der Außenkante der Fassade eingesetzt sind. Diese entstand um 1576, dem Weihedatum des Gotteshauses. In den Jahren 1540-1587 führte man eine ähnliche Fassade in S. Maria delle Grazie in Anversa auf. Die Horizontalgliederung der Fassade der Kathedrale von Sulmona ist die Folge einer Restaurierung im 18. Jahrhundert. Weiterhin zeigt sich das Nachleben am Dom von Atri sowie an vielen Kirchen in L'Aquila, von denen die bekannteste S. Maria di Collemaggio ist. Unzählige Beispiele ließen sich noch anführen, aber wir haben uns hier vor allem zu fragen, wann und wo die Anfänge der abruzzesischen Schauwand zu suchen sind. Die Ausprägung dieses Fassadentyps entstand nicht plötzlich, sie hat eine lange Entwicklung durchgemacht, deren Beginn im 12. Jh. liegt. Allerdings wissen wir bei vielen Fassaden nicht genau, ob sie in ihrem ursprünglichen Zustand vor uns stehen oder das Werk geschickter Restaurierungen sind.
Die ältesten Fassaden des uns interessierenden Typs lassen in ihren Umrissen noch die Gliederung des anschließenden Kirchenraumes erkennen. Ein frühes Beispiel aus der zweiten Hälfte des 12. Jh. bietet die Kathedrale von Corfinio, wo der Mitteltrakt der Fassade (Tf. 40) hoch über die Pultdächer der Seitenschiffe hinausragt.
Mit einiger Mühe kann man in S. Angelo in Pianella die ursprüngliche Form der breit gelagerten Fassade ausmachen. Der Anstieg der Seitenschiffdächer vor ihrer späteren Erhöhung wird durch Blendarkaturen markiert. Ihnen entspricht im Mitteltrakt eine ebensolche horizontal verlaufende Arkatur, die indessen nicht unmittelbar an den Enden der seitlichen, sondern etwas tiefer ansetzt, so daß die Wandfläche eine differenziert gestufte Gliederung erfährt. Auf der rechten Seite verläuft die Blendarkade im Mauerwerk des gleichzeitig mit der Fassade errichteten und mit ihr fluchtenden Campanile und zeigt die Steigung eines Pultdaches an, das überhaupt erst hinter dem Glockenturm beginnt. Ursprünglich hat sich der Mittelteil hoch über die Seitendächer erhoben. Die Fensterrose und das Hauptportal darunter stammen aus einer späteren Bauzeit.
Die Fassade von Pianella wird gleichsam reproduziert in S. Maria delle Grazie in dem unweit gelegenen Civitaquana. (S. 118) Wie in Pianella zeigt sie im Unterteil Blendarkaden, die dem Anstieg der Seitenschiff dächer entsprechen, sowie im breiten Mitteltrakt einen horizontalen Blendfries, der wiederum ein Stück unter dem letzten Bogen der seitlichen Gliederung ansetzt. Weiterhin begegnen wir hier an den Außenkanten der Fassade Lisenen, die wir auch in S. Angelo finden. Das dort nicht mehr in seiner ursprünglichen Gestalt erhaltene obere Mittelfeld ist in Civitaquana trotz grausamer Demolierungen beim Restaurieren noch erkennbar. Es ragt hoch über die Seitenschiffe hinaus und wird von Lisenen eingefaßt. Den Giebelanstieg betonen Blendarkaden.
Stilistisch entwickelter ist die Fassade von S. Maria in Bominaco, die wohl kaum vor 1150 entstanden sein kann. Der der Breite des Hauptschiffs entsprechende Mittelteil ragt wie bei den vorgenannten Beispielen über die Höhe der Seitenschiffe hinaus. Neu ist jedoch, daß nicht mehr deren Dachanstieg sichtbar wird, sondern nur noch ihre Breite durch ein kräftiges Gesims zum Ausdruck gebracht wird. Dieses ist, wie auch bei vielen anderen abruzzesischen Kirchen, um die Außenkanten herumgeführt. Unter den frühen bisher aufgefühtten Bauten zeigt S. Maria in Bominaco die einheitlichste Fassadenfront, ohne Schmuck und mit sparsamster Gliederung. Nur der wunderbar geglättete Stein wirkt in seiner nüchternen, spröden Monumentalität. Die strenge Flächigkeit spricht sich auch in der Gestaltung des Portals aus, das bündig mit der Wand abschließt, und dessen Ornamentreliefs im Architrav sowie im Bogen ebenfalls außerordentlich flächig behandelt sind.
Ein anderer Fassadentyp verzichtet auf den überhöhten rechteckigen Mittelteil. Nun verbirgt ein außergewöhnlich breitausladendes Satteldach die Disposition des Kircheninneren. Ein großartiges Beispiel dieser Art ist die Fassade von S. Giusta in Bazzano (Tf. 48), deren Kalkstein eine schöne Patina angenommen hat. Die Wandfläche ist horizontal in drei Zonen ungleicher Höhe geteilt. Die vertikale Gliederung erfolgt durch Vorlagen, unten sind es mehrfach abgekantete Pfeiler, in den beiden oberen Wand abschnitten sind es Halbsäulen. In den beiden unteren Geschossen stehen die Vorlagen in einer Achse übereinander, wohingegen sie in der obersten Zone genau in die Mitte zwischen jene versetzt sind. Mit dieser obersten Halbsäulenreihe korrespondieren wiederum die qualitätvollen figürlichen Konsolen, die an den beiden unteren Gesimsen angebracht sind. Die Fassade erhält durch diese subtile Wechselbeziehung ihrer gliedernden Elemente und durch die Auf teilung in Felder verschiedener Breite und Höhe eine eigentümliche Rhythmik. Obwohl die Kirche nur ein Mittelportal besitzt, nimmt eine dreistufige Treppe die ganze Breite der Fassade ein. Das Profil der Sockelzone verkröpft sich an den Basen der Pfeilervorlagen. Die Fassade stimmt stilistisch mit dem 1238 datierten Hauptportal überein. Dieses trägt eine Inschrift, die sich am rechten Ende des Architravs befindet, teilweise durch einen skulptierten Steinblock zwischen dem Kapitell sowie den vorspringenden Löwen am Bogenansatz verdeckt. Sie lautet: Anno Domini 1238 mese Iunii. Wie der obere Abschluß der Fassade ursprünglich aussah, ist nach den vielen Zerstörungen und Restaurierungen schwer auszumachen. Die Glockenwand gehört in ihrem heutigen Zustand sicherlich nicht dem 13. Jh. an, ersetzt aber vielleicht eine ältere. Ebenfalls neu ist der obere Teil des Dachgiebels. Einstmals dürfte die Spitze sich etwas höher erhoben haben, um eine gleichmäßige Neigung des Daches auf der rechten Seite zu erlauben. Wie üblich zeigt die Fassade Fensteröffnungen. Das Maßwerk der beiden unteren ist ungleich, das Barockfenster in der Mitte ersetzt ein altes Rundfenster. Eine ähnliche Wandgliederung wie in Bazzano kennen wir an der Fassade des Domes S. Rufino in Assisi. Verwandte Lösungen tauchen in den Abruzzen an den Außenwänden der Apsiden in S. Maria in Valle Porclaneta bei Rosciolo und in S. Pelino in Corfini auf.
Die Kirche S. Giovanni Evangelista in Celano, die nach dem, Wiederaufbau der Stadt nach 1227, wahrscheinlich mehr gegen die Mitte des Jahrhunderts, entstand, zeigt gleichsam die Schauwand von S. Giusta in Bazzano in ihren Umrissen wieder, indessen fehlt ihr die Binnengliederung. Auch die drei Schiffe von S. Maria delle Grazie in Luco dei Marsi werden durch ein gemeinsames Satteldach zusammengefaßt. Die Gesimse mit antikisierenden Ornamenten entlang dem Giebelanstieg werden um die Ecken der Fassade herum und auf den Langhauswänden weitergeführt. Die Horizontale der breitgelagerten Schauwand wird nochmals durch ein kräftiges Gesims betont, das dicht über dem Scheitel des Hauptportals verläuft und die Fassade nahezu in zwei Hälften unterteilt. Von S. Giusta in Bazzano übernimmt S. Maria delle Grazie die über die gesamte Breite der Kirche laufende Treppenanlage und die Sockelzone darüber, deren oberstes Profil sich an den Säulen und Pilastern des mittleren Portals verkröpft.
Eine dritte Gruppe von Fassaden zeigt einen durchgehenden geradlinigen oberen Abschluß, und dieser Typ wird zum eigentlich klassischen abruzzesischen Schema des späten 13. und 14. Jahrhunderts. Das erste Beispiel dieser Art ist die Fassade von S. Giovanni ad Insulam aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts. Hier ging man vom Typ des erhöhten Mitteltrakts und der Giebelschrägen ab und nahm eine Gleichschaltung der Schiffe im oberen Abschluß der Fassade vor. Auf diese Weise entstand eine große einheitliche rechteckige Wandfläche, und damit war die Verselbständigung der Schauwand eingetreten. Die kühne Neuerung von S. Giovanni ad Insulam wird durch den späteren Oberbau des Campanile ästhetisch wieder zunichte gemacht. Der obere Fassadenabschluß zeigt einen Bogenfries und ein Zahnschnittband. Das Portal schließt, wie in S. Maria in Bominaco, bündig mit der Wand ab. Anstelle von Türpfosten sind hier figürliche Reliefs eingefügt. Bemerkenswert sind die spitzbogigen Biforen zu seiten der Portalädikula. Sie sind mit einem Rücksprung in die Wand eingelassen.
Mit S. Giovanni ad Insulam verbindet sich die Disposition der Fassade von S. Eusanio in S. Eusanio Forconese aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Die rechteckige Wandfläche aus außerordentlich feingefügtem Haustein zeigt als oberen Abschluß eine Blendarkadenreihe. Zwei leicht vor (S. 119) springende Eckpilaster und zwei Lisenen, deren Abstand der Breite des Mittelschiffs entspricht, steigen ohne Unterbrechung vom Boden bis zum Bogenfries auf und betonen die Vertikale. Das in den Abruzzen seltene Motiv durchgehender Mittellisenen ist in Apulien bekannt, z.B. in S. Nicola in Bari, wo wir allerdings anstelle der Lisenen Halbsäulen finden. Weiterhin steigen am Dom von Bitonto Lisenen von den unteren Pilastern auf. Vermutlich erfuhr die Fassade von S. Eusanio 1468 Veränderungen infolge eines Erdbebens von 1461. Damals wurden zwei kleine rechteckige Frührenaissancefenster, die große, nach innen abgetreppte r Fensterrose und das in der Datierung umstrittene Portal eingefügt. An den klaffenden Fugen hinter den Türpfosten sieht man, daß dieses Portal in späterer Zeit vor die Fassade gesetzt wurde. Zum Altbau dagegen gehören der Entlastungsbogen über dem Architrav und das darüberliegende Versatzstück, eine Rankenleiste, die von zwei kräftig vorspringenden Tierleibern flankiert wird.
Man hat sich Gedanken gemacht, ob Einflüsse aus anderen Landschaften auf die Entwicklung der Schauwände in den Abruzzen einwirkten. In der Tat handelt es sich grundsätzlich nicht um eine eigenständige Leistung. Breitgelagerte Kirchenfronten kommen auch im nördlichen Italien vor, besonders hat man Fassaden von Bauten in Umbrien wie S. Rufino in Assisi, S. Felice di Narco, die Dome von Spoleto und Foligno zum Vergleich herangezogen. Die allgemeine Struktur läßt natürlich Gegenüberstellungen zu. Jedoch entwickeln die Abruzzesen eine selbständige, nicht zu verwechselnde Form, die meistens durch das vereinfachende Moment, das ihre künstlerische Gestaltung bestimmt, gekennzeichnet ist. Die umbrischen Fassaden zeigen ein sehr viel bewegteres Bild mit verschiedenen Tiefenstufungen der Wand, mit zahlreichen schmückenden Details, mit ihrer rechteckig eingefaßten Fensterrose, ihren Fensterarkaden und Zwerggalerien. Alles dieses wird in den Abruzzen möglichst unterdrückt, die unverzierte Stein fläche erhält hier eine Ausdruckskraft wie kaum in einer anderen Landschaft.
Andere Vergleichsbeispiele fand man in Ascoli Piceno in S. Vittore (12. Jh.), S. Agostino (13. Jh.) und in SS. Vincenzo e Anastasio. Bei dieser Gruppe handelt es sich jedoch wohl eher um Fassaden, die das abruzzesische System kannten, und in diesem Fall dürfte der Einfluß von unserer Landschaft ausgegangen sein und nicht umgekehrt. Ganz sicherlich trifft das bei SS. Vincenzo e Anastasio zu, wo wir einer Fassade des 14. Jh. begegnen, die sehr schematisch und vergröbert das Netzwerk von S. Giusta in Bazzano übernimmt.
Rundfenster
Der Besucher der Abruzzen wird immer wieder durch die Vielzahl der prächtig gearbeiteten Rundfenster überrascht werden, die sich zum größten Teil an den Hauptfassaden von Kirchen finden. Derartige Radfenster trifft man in ganz Italien an, vor allem hat Umbrien diesen Typ in eigenwilliger Weise ausgeprägt. Erst in jüngster Zeit hat man nachgewiesen, daß das Molise und die Abruzzen diese Fensterform als erste in Italien überliefert haben. Da also keine früheren Fensterrosen bekannt sind, kommen auch keine stilistischen Entlehnungen in Betracht; wir müssen weiter fragen, wie es zu dieser architektonischen Detailform gekommen ist, und welche inhaltliche Bedeutung ihr zukam.
Früher als in der Architektur finden wir Kreisdarstellungen von sinnbildlicher Bedeutung in der Buchmalerei, vor allem, wenn es sich um Illustrationen enzyklopädischer Werke des Mittelalters handelt. Zahlreiche Beispiele liefern die Schriften des Stammvaters mittelalterlicher Lexika, des Isidor von Sevilla (gest. 636), die immer wieder abgeschrieben und exzerpiert wurden. Seine Schriften waren bereits seit karolingischer Zeit in Italien bekannt. Sie wurden vor allem in den großen Benediktinerklöstern gesammelt, in Farfa, Montecassino und anderswo.
In Kreisform wurden z.B. die Klimazonen der Erdkugel vorgestellt, die Winde, die Jahreszeiten, Tierkreisbilder und der Kosmos. Andere Kreisbilder überlieferten die Erdkarten des Mittelalters. Dieses von der Antike entwickelte Gedankengut wurde im Mittelalter christlich umgedacht, und vor allem in Darstellungen der Schöpfungsgeschichte spielt der Kreis eine wichtige Rolle zur Versinnbildlichung der Schöpferkraft Gottvaters. Schon früh wurden die Kreisbilder aus den Miniaturen von der Freskomalerei und in Fußbodenmosaiken übernommen.
Das früheste italienische Radfenster in S. Maria della Strada bei Matrice ist zur Zeit der Weihe der Kirche im Jahr 1148 entstanden. Die Außenwände dieses Baus zeigen figürliche Reliefs mit ausgefallenen Inhalten, wie der Himmelfahrt Alexanders und Jagdszenen mit Motiven aus dem karolingischen Sagenkreis. Es tut sich hier eine geistige Welt auf, die in diesem kulturgeschichtlichen Leerraum ohne den humanistischen Hintergrund, den nur größere Benediktinerklöster vermitteln konnten, gar nicht denkbar ist. In diesen gebildeten Umkreis muß auch dieses Rundfenster gestellt werden, das in der Ausführung, wie wir sehen werden, absolut einmalig ist. Wir beobachten, wie hier auf noch unbeholfene Weise der bisher nur als Flächenform bekannte Kreis als architektonisches Motiv auftaucht. Ungefähr zur selben Zeit geschah etwas Ähnliches in Frankreich. Die französischen Radfenster sind mit S. Maria della Strada nicht formverwandt, sie können also nicht voneinander abhängig sein.
Man könnte annehmen, daß Montecassino der humanistische Nährboden für S. Maria della Strada gewesen wäre. Demgegenüber ist es aber erstaunlich, daß die eng an das Mutterkloster gebundenen Kirchen die neue Fensterform nicht zeigen, weder S. Liberatore alla Maiella noch die Kathedralen von Sulmona oder Valva, auch nicht S. Maria in Bominaco. Andrerseits gab Montecassino keine Baurezepte, und so bleibt der Bezug von S. Maria della Strada zu Montecassino doch wieder als Möglichkeit bestehen.
Mit der Zeit wurde das Motiv der Rundfenster in den Abruzzen zur Routine, ohne daß man sich jedesmal aufs neue große Gedanken über die Sinngebung machte. Dennoch finden sich vor allem in der Spätzeit des Radfensterbaus Hinweise auf eine sinnbildliche Bedeutung, wohingegen die Interpretation bei S. Maria della Strada ungewiß bleibt. (S. 120) Wir haben dort ein Rad ohne figürliche Zutaten; bei einem verhältnismäßig geringen Durchmesser zeigt es einen ungewöhnlich großen Innenring, die Nabe. Man könnte hier das Bild des Kreises im Kreise (rota in rota) sehen, wie Hrabanus Maurus interpretiert: Das Rad in der Mitte des Rades, das heißt das neue Testament, das bereits im alten Testament voran gekündigt (praesignatum) ist. Spätere Sinngebungen der Radfenster in den Abruzzen sind von umbrischen Vorstellungen beeinflußt. Ein wunderbar gearbeitetes Rundfenster ist in L'Aquila, der Stadt der Fensterrosen, an S. Giusta zu sehen. Dieses Kunstwerk entstand gleichzeitig mit der 1349 datierten Fassade. Die von der Nabe ausgehenden zwölf abgekanteten Radialpfeiler tragen auf Blattkapitellen Kielbögen, die an einen inneren Ring stoßen. Zwischen diesem und dem äußeren Reifen hocken zwölf Gestalten als Drücker oder Atlanten, ein neues Motiv im abruzzesischen Radfensterbau. Um dem Beschauer diese stemmenden Figuren in Vorderansicht und stehend zu zeigen, bediente sich der Künstler eines Kunstgriffs. Die sieben unteren tragen die Last des Innenrings, die fünf oberen stemmen sich mit den Füßen dagegen und tragen die Last des Außenreifens. Durch die Atlanten verknüpfen sich kosmologische Vorstellungen mit dem Radfenster.
Im letzten Viertel des 15. Jh. entstand an der Fassade von S. Francesco in Popoli die dekorative Fensterrose. Von der Nabe, die mit den Wappen der Cantelmi und Carafa in Hochrelief ausgefüllt ist, strahlen sechs Speichen aus, ein Unikum in den Abruzzen, zwischen denen ein Ornament in Form eines dreiarmigen Leuchters eingespannt ist. Außen am Rad setzen vier Bögen an, in denen die Evangelistensymbole im Relief dargestellt sind. Es handelt sich hier um ein Radfenster mit offenkundig christologischer Bedeutung, was umbrischem Gedankengut entspricht.
Wieder eine andere Sinngebung erhält die Darstellung eines Rundfensters an der Fassade des Hospitals der Annunziata in Sulmona (Tf. 220) aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Das Rad gehört zum Fensterwerk einer Öffnung, die von einer Rahmung mit Reliefs eingefaßt ist, und muß deshalb in diesem Kontext betrachtet werden. Dieses großartigste Schmuckfenster der Abruzzen, geschaffen von einem unbekannten abruzzesischen Meister, befindet sich an der Fassade rechts neben der Runduhr des 18. Jahrhunderts. Zu beiden Seiten der Öffnung stehen zwei auf Löwen ruhende Säulen, deren reichgearbeitete Kapitelle und Deckplatten merkwürdige pilzförmige Gebilde tragen, die von Kugeln bekrönt werden, wobei es sich vermutlich um Zutaten der Barockzeit handelt. Das hochrechteckige Fenster wird von einem Profilband eingefaßt, an das ein reich dekoriertes nach innen abgeschrägtes Fenstergewände stößt. Etwa in Höhe der Barockaufsätze der flankierenden Säulen wird das Fenster durch eine Profilleiste in der Horizontalen unterteilt. In dem unteren Abschnitt sind zwei wiederum auf Löwen ruhende Säulen, deren Schäfte ein Schuppenmuster zeigen, eingestellt, so daß drei Öffnungen entstehen, die spitzbogig abschließen. Im Fenstergewände ist links und rechts in Höhe der Spitzbogenansätze die Verkündigung dargestellt. Darunter thronen in einzelnen Bildfeldern unter Baldachinen die Tugenden, auf der linken Seite Justitia und Fortitudo, auf der rechten Seite Prudentia und Temperantia. In unserem Zusammenhang interessiert vor allem das Fensterwerk im oberen querrechteckigen Teil der Öffnung. Dieses besteht nämlich aus einem von zwei Engeln gehaltenen Rad mit zwölf Speichen, dessen Nabe das Agnus Dei zeigt. Die Haltung der Engel, die schwingende Bewegung ihrer Körper, das kräftige Zupacken ihrer Hände, erweckt nicht den Eindruck des Festhaltens, sondern des emsigen Drehens des Rades. Hier wird die Vorstellung des Glücks-oder Schicksalsrades veranschaulicht. Daß man sich derartige Kunstwerke etwas kosten ließ, berichtet stolz die Inschrift über dem Fenster: Antonuccio de Ranaldo a pagato in quistu fronte ducatu 300. Ober diesem Dokument sieht man das Wappen der Rinaldi und darüber dasjenige der Stadt Sulmona.
Der poetische Ausdruck Fensterrose ist im früheren Mittelalter unbekannt. Er taucht zum erstenmal im Jahr 1400 in den Abruzzen auf. Rechts von dem von L' Aquila beeinflußten Kreisfenster in S.Maria della Tomba in Sulmona nennt sich an der Fassade der Stifter des Kunstwerks Palma de Amabile: Rosa superior edificata est expensis Palme de Amabile anno Domini 1400 (die obige Rose wurde auf Kosten des Palma de Amabile im Jahr 1400 hergestellt).
Die eigentliche Landschaft der Rundfenster sind die Abruzzen. Das früheste Beispiel in S. Maria della Strada (Tf. 54) im Molise ist gewissermaßen ein Irrläufer. Die dortigen Formen sind so ungewöhnlich, daß sie keine Nachfolge erfahren haben. Das Rad ist aus der monolithen Steinplatte in zwei Tiefenschichten herausgearbeitet. In der vorderen Ebene liegt die Nabe, auf die zwölf Säulen stoßen, die durch Rundbogen verbunden sind. Die Kapitelle liegen also im Kreisinnern, was ein Unikum ist, während sonst die Basen der als Säulen oder Pfeiler gebildeten Speichen am inneren Ring sitzen und die Kapitelle am äußeren Reifen, wo sie mit Bogenläufen gekoppelt werden. Die tiefere Schicht des Monolithsteines bildet die Füllung der zwölf Bögen. Diese wird zum äußeren Kreisrand hin von zwölf Rundöffnungen durchbrochen, wieder ein einzigartiges Motiv in der Gestaltung der Fensterrosen. Der Meister des Radfensters hat wohl auch das halbierte Rad in der Lünette des Hauptportals verfertigt. Diese Kombination von Radfenster und Radhälfte in der Portallünette ist ebenfalls einmalig. In der Lünette verfährt der Meister umgekehrt wie im darüberliegenden Fenster. Von einem gestelzten Bogen -sozusagen die halbierte Nabe -gehen strahlenförmig Säulen aus, deren Kapitelle auf einen kunstvollen Bogen stoßen, der auf dem Portalarchitrav aufsetzt. Ein Einfluß von S. Maria della Strada auf andere Bauten des Molise ist nicht zu erkennen. Erst mehr als 150 Jahre später finden wir in dieser Landschaft wieder Radfenster, die jedoch ohne Füllungen sind; entweder waren sie niemals vorhanden, oder sie gingen verloren. Solche verwaisten Fensterräder sind noch in S. Giorgio in Campobasso aus der ersten Hälfte des 13. Jh. zu sehen und in S. Nicola in Guglionesi ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert.
(S. 121)Auch in den Abruzzen verloren sich viele Füllungen, so daß man kaum eine Chronologie aufstellen kann; z.B. ist in S. Maria a Vico das heutige Radfenster das Werk moderner Restaurierung, ebenso wie in S. Martino in Nereto. Die Rundfenster von S. Giovanni ad Insulam und von S. Maria di Ronzano sind zerstört.
Die aus der Zeit vor 1250 erhaltenen Fensterrosen zeigen keine Spuren von Verglasung. Die Fertigung eines Radfensters konnte auf zweierlei Weise erfolgen. Bei Fenstern von geringerem Durchmesser (etwa 100-120 cm) verwandte man eine einzige Steinplatte, aus der das gewünschte Muster herausgeschnitten wurde. Derartige Monolithbehandlungen kennen wir von S. Maria della Strada, von dem Fragment II in S. Clemente a Casauria, vom Dom in Penne, von S. Peltuino bei Prata d'Ansidonia und von der kleinen Kirche S. Pellegrino in Bominaco. Bei Fensterrosen größerer Ausmaße kam man mit einer Steinplatte allein nicht aus. Die konstruktiven Elemente bestanden nun aus Einzelteilen, die man zusammensetzte; man spricht in diesem Fall von einem Gliederbau. Der Durchmesser konnte nun beliebig groß werden. Für das Rundfensterfragment I in S. C1emente a Casauria hat man einen lichten Durchmesser von ca. 340 m errechnet, und das Mirtelfenster von S. Maria di Collemaggio in L'Aquila aus den Anfängen der Renaissance erreicht einen Durchmesser von 5 m. Das Material ist allemal der Kalkstein und der Ziegelstein gewesen.
Überblickt man die Entwicklung der Rundfensterform in den Abruzzen, so stellt man fest, wie sie sich vom anfänglich Einfachen zum Komplizierten steigert. Die Fenster erlangen allmählich einen größeren Umfang und bilden dadurch in der Fassade einen gewichtigeren Akzent. Vom einfachen Strebewerk kommt man mit der Zeit zu Formen, die wie Filigranwerk aussehen. Die Anzahl der Radialstreben ist recht unterschiedlich, in der Frühzeit sind es weniger als später. In den Abruzzen findet man folgende Speichenzahlen: 6, 8, 10, 12, 13, 14, 16, 18 und 24. Die meisten Rundfenster vor 1260 zeigen acht Streben, die Zwölfzahl trifft man nur in S. Maria della Strada und im Fragment I von S. Clemente a Casauria an, die Zahl 10 nur einmal in S. Tommaso in Varano bei Caramanico. Sechzehn Speichen kennt die Zisterzienserkirche S. Maria in Arabona. Nach 1260 tritt eine Veränderung ein, 12 ist nun die Standardzahl für Speichen. S. Martino in Gagliano Aterno und S. Maria delle Grazie in Cocullo begnügen sich noch mit acht Streben. Die spätere Fassade von S. Lucia in Rocca di Cambio zeigt ein Rundfenster mit acht Speichen. Dieses ist jedoch ein Versatzstück aus einem früheren Bau des 13. Jahrhunderts. Ein Unikum ist das Rundfenster im Dom von Larino mit 13 Speichen. S. Maria dei Guasto in L'Aquila und das rechte Fenster der Fassade von S. Maria di Collemaggio zeigen 14, S. Francesco in Tagliacozzo und S. Maria della Tomba in Sulmona 16 Speichen. Wieder ein Unikum ist S. Silvestro in L'Aquila mit 18 Speichen. Die Höchstzahl in unserer Landschaft erreicht das Mittelfenster von S. Maria di Collemaggio mit 24 Speichen, eine Zahl, die auch schon die Rose der 1208 geweihten Zisterzienserkirche Fossanova in Südlatium vorweisen konnte. Das einzige Fenster ohne Speichengliederung ist das rechte in der Fassade von S. Giusta in Bazzano. Dort zeigt die Nabe ein achtteiliges Blattmuster, während der Raum zwischen Innen-und Außenring von einem Rankenornament ausgefüllt ist. Im Laufe der Entwicklung wurde es üblich, daß man den äußeren Rand des Fensters ornamentierte. Das früheste Beispiel für eine dekorierte Kehlung liefert das Fragment I (um 1176) im Lapidarium von S. C1emente a Casauria; weiterhin findet man Verzierungen an der Laibung aus Ziegelsteinen in S. Angelo in Pianella, in S. Maria delle Grazie in Civitaquana mit einer noch nicht entzifferten Inschrift, in S. Giovanni ad Insulam und ferner in S. Pellegrino in Bominaco.
Die Einfassung der Rose durch einen rechteckigen Rahmen kommt erst am Ende des 13. Jh. und im 14. Jh. an bestimmten Kirchen in Lanciano vor, in S. Agostino, S. Lucia und S. Maria Maggiore. Sie alle stehen unter apulischem Einfluß, ebenso wie die Rahmungen in S. Leucio in Atessa, S. Giovanni Battista in Ortona dei Marsi und am Dom von Larino. Normalerweise liegen die abruzzesischen Rundfenster in der Fassadenmitte in einer Achse mit dem Hauptportal. Die Ausnahmen werden meistens durch Einflüsse bedingt, die von den Baugewohnheiten der Zisterzienser ausgingen. Diese wurden erst ziemlich spät wirksam und sind kaum vor dem Jahre 1200 anzunehmen. Man brachte nun Radfenster in Chorabschlüssen an, oder man verteilte sie an den Schmalseiten der Querhauswände. Das wichtigste Beispiel für dieses Verhalten liefert die Zisterzienserkirche S. Maria in Arabona, die 1209 gegründet wurde. Die Aufteilung der östlichen Chorwand wurde von dem Zisterzienserkloster Casamari in Latium übernommen: drei schmale Fenster mit Rundbogenabschluß in der Unterzone, zwei Fenster gleicher Art in der Mitte und darüber das große Radfenster. Der Glockenturm befindet sich am Westteil des nördlichen Querhauses. Von außen gesehen liegt das Rundfenster der nördlichen Querhauswand zwar in der Mitte der schmalen Wandfläche zwischen Turmvorsprung und der Nordostecke des Querhauses, im Innern jedoch, wo sich der Turmvorbau nicht abzeichnet, erscheint es aus der Mittelachse des Wandabschnitts verschoben.
Das Lapidarium von S. Clemente a Casauria verwahrt die bereits mehrfach erwähnten Reste zweier Radfenster, eines größeren und eines kleineren. Die beiden auf dem Architrav und in der Lünette des Hauptportals dargestellten Modelle der Kirche stimmen darin überein, daß sie ein Rundfenster an der Fassade der Vorhalle zeigen. Hier war der Platz des Fragmentes I, dessen unverhältnismäßig großer Durchmesser an jeder anderen Stelle der Kirche die Proportionen gesprengt hätte. Das kleinere Fragment II kann demnach nur am Chorabschluß oder an der Schmalseite eines Querhauses gesessen haben.
Zisterziensisch beeinflußt ist auch die Gliederung der Fenster an der Rückwand des Domes von Atri, wieder eine Koppelung von schmalen Rundbogenöffnungen und einem Radfenster. Zisterziensisehe Anregungen erhielt auch S. Bartolomeo in Carpineto della Nora mit seiner Fenstergliede (S. 122) rung im Chor. Die kleine zisterziensisch beeinflußte Kirche S. Pellegrino in Bominaco vom Jahre 1263 zeigt ein schlichtes Radfenster an der Fassade und ein ebensolches an der Rückfront.
In S. Giusta in Bazzano tritt 1238 in den Abruzzen zum erstenmal eine neue Verteilung der Fensterrosen auf. Die Fassade wird mit drei Radfenstern ausgestattet. Zwei liegen links und rechts in der Schauwand in Höhe des Lünettenbogens des Hauptportals, unmittelbar über dem unteren der drei Gesimse, die die Fassade unterteilen; diese beiden Fenster beziehen sich auf die Seitenschiffe, während das dritte in der Mitte der Fassade über dem mittleren Gesims lag und dem Hauptschiff Licht gab. Dieses Rundfenster war größer als die beiden anderen und wurde in der Barockzeit durch ein häßliches rechteckiges Fenster ersetzt. Der in Bazzano enrwickelte Typ ist in viel späterer Zeit in L'Aquila in S. Maria di Collemaggio sowie in S. Domenico und noch im 16. Jh. in S. Bernardino wiederholt worden. In allen drei Fällen wird, wie im benachbarten Bazzano, das oberste Fenster von den beiden tiefer sitzenden durch ein markantes Gesims getrennt, und in der Collemaggio sowie in S. Domenico liegen die kleineren unteren Fenster rechts und links vom Hauptportal in Höhe des Lünettenbogens. In S. Domenico war das obere Fenster sicherlich geplant, wurde aber nicht ausgeführt. Der Altbau reicht nur bis zum Horizontalgesims über den seitlichen Rundfenstern. Die Anordnung dreier Rundfenster, die sich zur Gestalt eines gleichschenkligen Dreiecks verbinden lassen, ist in Assisi am Dom S. Rufino vorgebildet. Die Anbringung der Rundfenster auf gleicher Höhe, wie sie die Darstellung einer Kirche von L'Aquila auf der Altartafel des hl. Johannes von Capestrano zeigt, kommt an Bauten in Spoleto vor. Ein sehr schönes Vergleichs beispiel hierfür geben auch die Rosen an der 1201 datierten Kathedrale S.Benedetto von Gualdo Tadino in Umbrien ab.
Glockentürme und Glockenwände
Weniger als bei den Schauwänden und Rundfenstern kann man eine spezifisch abruzzesische Bauweise an den Kirchtürmen und Glockenwänden erkennen. Es gab kein festes Programm für die Anordnung dieser Baukörper, und die Vielfalt ihrer Standorte ist beachtlich. Ein Turm kann rechts vor der Fassade stehen wie in S. Pietro in Campovalano, oder auch links vor der Fassade wie der Turm des Altbaus des Domes von Atri, man findet ihn links am Langhaus von S. Maria in Arabona und in S.Maria in Cellis in Carsoli. An der Rückfront erscheint der Turm bei zwei Kirchen in Campobasso, in S. Bartolomeo und in S. Giorgio; in S. Tommaso in Varano bei Caramanico war er eingeklemmt zwischen Apsis und linkem Seitenschiff. Die Restauratoren nach dem Zweiten Weltkrieg fanden diese Lage so unglaublich häßlich, daß sie, ohne durch Baufälligkeit des Turmes veranlaßt zu sein, ihn abrissen und ein neues Unikum schufen. Verändert in seinen ursprünglichen Formen hat man ihn fast freistehend hinter dem rechten Seitenschiff wiederaufgebaut. Auch in S. Maria delle Grazie in Civitaquana erhebt sich der Turm erwas unglücklich neben der linken Apsis. Es gibt andere Türme, die nicht im Bauverband mit der Kirche isoliert aufragen. Vom Kathedralbau des Bischofs Guido in Teramo sind die Fundamente des Turmes erhalten, der in seinen oberen Teilen erst 1493 vollendet wurde. Im Abstand von der Kirche erscheint er rechts von der Fassade des Guidobaues. Zwei Beispiele von isolierten Glockentürmen finden wir in der Zeit vor 1250 im Molise. Der ungegliederte massive Glockenturm rechts vor der Kirche S. Maria della Strada hat einige Restaurierungen über sich ergehen lassen müssen, die letzte, 1911, betraf den oberen Abschluß. In S. Maria di Canneto (Tf. 51) steht rechts vor der Kirche der 25 m hohe Glockenturm. Die beiden oberen Geschosse, die über einem Gesims ansetzen, sind laut einer Inschrift im Innern des Turmes 1329 von Abt Nikolaus aufgeführt worden.
Schon der früheste in den Abruzzen erhaltene Campanile in S. Liberatore alla Maiella (Tf. 35) vom Ende des 11. Jh. ist in seiner Gestaltung ein Fremdkörper. Die architektonischen Formen zeigen lombardische Züge, die vielleicht über Montecassino oder Nordkampanien vermittelt wurden. Ober quadratischem Grundriß ist der Turm durch umlaufende Gesimse in vier Stockwerke gegliedett. Die Geschosse zeigen Verstärkungen an den Ecken, zwischen denen eine Blendarkatur eingespannt ist. Die vorkragenden Gesimse sind mit Zahnschnitt, Tau und Eierstab verziert. Jedes Geschoß hat Öffnungen nach allen vier Seiten, Monoforen im ersten Stockwerk, Biforen im zweiten und Triforen im letzten. Die mehrbogigen Öffnungen werden von Säulen untergliedert, deren kleine Kapitelle wuchtige Kämpfer tragen, deren Breite der Mauerdicke des Turmes entspricht. Alte Stiche geben noch zwei weitere Geschosse über der heutigen Turmhöhe wieder.
Trotz der diffusen Situation gibt es dennoch gewisse Merkmale, die in unserer Landschaft bevorzugt zur Geltung kommen. Das zähe Bestreben der Abruzzesen ging immer wieder darum, die Eingangsfassade einer Kirche ohne Voroder Rücksprünge in voller Breite vorzuführen. Die Anbringung eines Turms an der Fassade lief einer solchen Zielsetzung eher zuwider, als daß sie ihr förderlich war. Dieses ist vielleicht der Grund, daß sich so viele Glockentürme nicht an der Fassade befinden. Man wandte verschiedene Hilfsmittel und Kunstgriffe an, um dieses Problem zu lösen. In einer Gruppe von Kirchen baute man den Campanile in das erste Seitenschiffsjoch hinter der Fassade ein. Man opferte erwas vom Innenraum und hatte dadurch vom abruzzesisehen Standpunkt aus den Vorteil, daß sich die Außenwände des Glockenturms im unteren Teil bis zur Höhe der Kirchenschiffe nicht in der Fassade abzeichneten. Ein frühes Beispiel dieser Art ist S. Maria a Vico. Dort liegt der Unterbau des Turmes im ersten Joch des linken Seitenschiffs und greift auf unschöne Weise noch ein kleines Stück in das Mittelschiff hinüber. Eine Außenwand des Turmes ist zugleich Teil der Fassade, die durch diese Position des Campanile eine in den Abruzzen öfter vorkommende Staffelung erfährt, beginnend von rechts mit dem niederen Seitenschiff, aufsteigend über das höhere Mittelschiff zum aufragenden Campanile links. (S. 123) Umgekehrt verfährt der Architekt von S. Maria Maggiore in Pianella. Dort nimmt der im Grundriß quadratische Turm das erste Joch des rechten Seitenschiffs ein. Dasselbe Prinzip wiederholt SS. Salvatore e Nicola in Canzano aus dem 12./13. Jahrhundert. Dieser Bautyp hat sich lange gehalten. In S. Maria di Propezzano bei Morro d'Oro, einer Kirche aus der ersten Hälfte des 14. Jh., liegt im ersten Joch des rechten Seitenschiffs das Fundament des Kirchturmes, dessen eine Außenwand sich durch einen minimalen Rücksprung in der Fassade abzeichnet. Die Staffelung der Fassade von links nach rechts ist noch zu erkennen. In Rosciolo können wir in S. Maria delle Grazie ein weiteres Beispiel für den Einbau des Glockenturmes im Innenraum rekonstruieren. Die nach Südwesten ausgerichtete Kirche wurde 1915 durch Erdbeben fast völlig zerstört. Erste Restaurierungen erfolgten um das Jahr 1935. Der Grundriß der Kirche ist ein unregelmäßiges Längsrechteck. Die linke Außenmauer verläuft -vermutlich älteren Straßenzügen folgend -nicht geradlinig. Der dreischiffige Bau des 15. Jh. wird im Langhaus von vier spitzbogigen Arkaden unterteilt, von denen die erste halb so weit ist wie die übrigen. Dieser Abstand entspricht der Tiefe des Glockenturmes aus dem 13. Jh., der im ersten Joch des linken Seitenschiffs eingebaut ist, und der also das Grundrnaß für den Bau des 15. Jh. abgegeben hat. Zum Turm gehört die erste freistehende Stütze links mit entsprechender Halbsäulenvorlage an der Langhauswand. Die besonders wuchtige Säule steht auf quadratischer Basis mit großen Tierköpfen an den Ecken und trägt ein mächtiges Volutenkapitell. Der Glockenturm, den diese Säule im Innenraum zu stützen hatte, besaß keine Geschosse; er war offen und das Glockenwerk war durch eingestellte Leitern zu erreichen.
Die Vereinheitlichung von Turm und Schauwand konnte man auch auf andere und einfachere Weise erreichen. Man setzte den Campanile unmittelbar neben die Fassade und in einer Flucht mit dieser, wie z.B. in Forcone, wo der Turm rechts an die Fassade anschließt. Die wohl in der zweiten Hälfte des 11. Jh. gebaute Kirche ist nach Westen orientiert. Der Campanile unterscheidet sich von anderen abruzzesisehen Türmen durch seine innere Ausgestaltung. Eine kleine Tür führt von außen hinein, und auf einer steilen Treppe, die in die Mauer des Turmes eingebaut ist, gelangt man in eine Art Kapelle. Der quadratische Turm ist aus Haustein aufgerichtet, und an ihm sind, wie sooft an abruzzesischen Kirchtürmen, Spolien eines früheren Baues eingemauert; hier stammen sie aus dem 9. oder 10. Jahrhundert. Ein anderer Fall, wo der Turm möglicherweise in der Verlängerung der Fassadenfront lag, ist die Abteikirche von S. Vincenzo al Volturno. Sie wurde am 10. Oktober 1954, dem Jahrestag des Martyriums der von den Sarazenen 881 getöteten Mönche, wieder eingeweiht. Der Aufbau der Fassade und des links anschließenden Turmes stammt von der letzten Restaurierung, allerdings auf noch nachweisbaren Fundamenten des 13. oder 14. Jahrhunderts.
Fluchtet ein Turm nicht mit der Fassade, so war man oft bedacht, ihn mit einer ihr vorgesetzten Vorhalle in einer Linie abschließen zu lassen. Dieses wäre für S. Liberatore alla Maiella zutreffend, wenn man annimmt, daß die Vorhalle des 16. Jh. einen Vorgängerbau gleicher Ausmaße ersetzt. Gesichert ist dagegen S. Clemente a Casauria, wo der Glockenturm an die linke Seite der Vorhalle anschließt. In S. Maria Maggiore in Lanciano, 1227 gegründet, gehört der Campanile in der Flucht der Vorhallenfront zur ersten Bauphase. Der untere Teil besteht aus Haustein, die oberen Geschosse, die durch Gesimse markiert sind, unter denen Blendbogen laufen, bestehen aus Ziegelwerk.
In S. Bartolomeo in Carpineto della Nora fluchtet der links stehende Campanile aus der Mitte des 13. Jh. mit der Vorhalle. Entweder wurde er zerstört oder nie vollendet, und er macht eher den Eindruck eines Wehrturms als eines Glockenturmes. Die beiden erhaltenen Geschosse werden durch ein Horizontalband unterteilt.
Die Verbindung von Glockenturm und Fassade zu einer einheitlichen Wandfläche war nur die eine Möglichkeit. Im 12. Jh. gibt es eine zweite durchaus entgegengesetzte Baugewohnheit. Man verzichtete auf die geschlossene Schauwand, indem man einen Turm vorsetzte, der nun den Hauptakzent bildet. S. Pietro in Alba Fucense (1123 -1126) zeigt dieses Schema am eindrucksvollsten. Der Kirchturm sackte beim Erdbeben von 1915 zusammen und wurde um 1957 vorzüglich restauriert. Der im Osten liegende Turm hat quadratischen Grundriß und besaß drei Eingänge, einen an der Frontseite und zwei seitliche. Den eigentlichen Zugang zur Kirche bildete ein Portal in ihrer Fassade hinter dem Durchgang des Turmes. Dieses enthielt die berühmten, heute im Museum von L'Aquila befindlichen Holztüren. Während bei der Restaurierung der mittlere Haupteingang des Turmes sein 1526 datiertes Renaissanceportal wiedererhielt, konnte man den früher verbauten Seiteneingängen ihr originales Aussehen zurückgeben. Dafür lieferten in situ vorhandene Bauelemente, die das Erdbeben verschont hatte, genügend Anhaltspunkte. Beim Nordeingang blieben der Portalbogen und die ihn stützende mächtige Spoliensäule übrig. Die ganze Struktur zeugt von einer gewissen Unbeholfenheit. Der aus Keilsteinen gebildete Bogen ruht links auf dem glatten Mauerwerk der Kirchturmwand und auf der rechten Seite auf der erwähnten Säule. Es scheint, daß diese hier ihren Platz hat, um die Spannweite des Bogens zu reduzieren, der eigentlich in die Ostfassade hätte einmünden können. Die Einstellung der Säule bewirkte wohl eine Verkürzung der Rundbogenspanne, hatte aber zur Folge, daß zwischen Säule und Kirchenfassade ein kleiner Freiraum von ca. 70 cm Breite übrigblieb. Analog verfuhr man bei dem restaurierten gegenüberliegenden Eingang.
Die Anlage des Kirchturms von S. Pietro ist letztlich eine Gepflogenheit, die wir nördlich der Alpen wiederfinden, und vor allem in Südfrankreich. Es brauchen indessen keine direkten Einflüsse in die Abruzzen eingedrungen zu sein, denn die Vermittlung dieses Schemas kann auch durch das internationale Montecassino und dessen Wirkungsbereich geschehen sein. Ganz in der Nähe von Cassino liegt die kleine Kirche S. Maria di Trocchio, von Benediktinern zur (S. 124) Zeit des Abtes Desiderius gebaut. Der Kirchturm dort ist mit dem von S. Pietro fast identisch. Ein Vergleichsbeispiel kann man auch der Buchmalerei entnehmen. In der Vatikanischen Bibliothek zeigt der Cod. Vat. lat. 1202 auf der ersten Seite eine cassinesische Miniatur, auf der Dcsiderius dem hl. Benedikt Bücher und Modelle der von ihm errichteten Benediktinerkirchen übergibt. Bei einer dieser Kirchen steht der Turm in der Mitte der Hauptfassade.
Die folgenden drei Kirchen zeigen einen Turm mit quadratischem Grundriß vor der Fassade des einschiffigen Baus. Der Eingang zum Turm ist zugleich der Zutritt zur Kirche. Diese Gotteshäuser liegen alle östlich der Apenninkette zur Adria hin. Zum ersten ist es die kleine benediktinische Landkirche S. Vito in Valle Castellana, ein Bau, der allgemein dem 12. Jh. zugeschrieben wird, dann S. Cristinziano in S. Martino aHa Marrucina, dessen Entstehung 1151 inschriftlich gesichert ist. Der Turm ist nur in Photographien und Beschreibungen überliefert. Ein Sturm machte 1919 aus der Kirche eine kümmerliche Ruine. Das dritte Beispiel in dieser Reihe ist S. Maria Maggiore in Guardiagrele, deren vorgesetzter Westturm auf Grund seiner qualitätvollen künstlerischen Gestaltung berühmt ist. Die Baugeschichte der Kirche ist ungesichert. Möglichkeiten einer genaueren Forschung am Bau blieben anläßlich der Restaurierungen nach dem Zweiten Weltkrieg ungenutzt. Die historischen Quellen sind spärlich, weil die Franzosen die Stadt am 25. Februar 1799 in Brand steckten, wobei das gesamte Archivmaterial, auch das S. Maria Maggiore betreffende, vernichtet wurde. So ist man heute auf nicht sehr verläßliche Exzerpte aus den Dokumenten angewiesen, die uns Gelehrte der Barockzeit hinterlassen haben. Sie überliefern für den Baubeginn des Kirchturms das Datum 1110 mit einer Bauzeit von über 90 Jahren. Bei stilgeschichtlicher Prüfung der Langhauswände und des Turmes kommt man nur schwerlich zu einer Datierung vor dem 13. Jahrhundert. Auch angesichts des kräftig ausgebildeten Spitzbogengewölbes, das sich im Durchgang des Turmes zur Kirche befindet, ist eine frühere Datierung kaum möglich. Das Westportal zeigt den schönsten und reifsten Bauschmuck der ganzen Kirche. Es stammt aus dem 14. Jh. und wurde erst längere Zeit nach Entstehung des Turmes in das Mauerwerk eingefügt. Es ist deutlich erkennbar, wie schlecht sich die äußeren Partien des Portals mit den horizontalen Lagen des Mauerwerks des Altbaus verzahnen.
Neben den Kirchtürmen mit quadratischem Grundriß kommen die sogenannten Glockenwände vor, dem Südländer vertraut, dem Besucher aus dem Norden fremd. Sie bestehen aus einer hochaufragenden längsrechteckigen Wand mit Öffnungen, in die die Glocken eingehängt werden, die weithin sichtbar sind. Diese Wände zeigen meist einen giebelförmigen oberen Abschluß. Dieser Typ ist im Hochland der Abruzzen gebräuchlicher als im Küstengebiet. Die Aufrichtung einer Glockenwand war weniger kostspielig als der Bau eines Kirchturms. Aber nicht allein ökonomische Gründe waren für ihre Errichtung ausschlaggebend. In den von vielen Erdbeben heimgesuchten Gebieten des Hochlandes wollte man keine Risiken eingehen, und in dieser Hinsicht richtete der Einsturz einer Glockenwand weniger Unheil an als derjenige eines Turms. Es ist kaum anzunehmen, daß diese fragilen Gebilde in luftiger Höhe nahezu 800 Jahre ohne Restaurierungen überlebt haben. Deshalb ist eine eindeutige Datierung häufig nur schwer möglich. Bei einigen Kirchen sind Glockentürme und Glockenwände gleichzeitig vorhanden, wie z.B. in S.Bartolomeo in Carpineto della Nora. Die Aufbauten zeigen meistens zwei nebeneinanderliegende Öffnungen und waren also für zwei Glocken bestimmt. Eine Ausnahme bildet das einschiffige Kirchlein S. Pellegrino in Bominaco, das sich mit nur einer Öffnung und demnach nur einer Glocke begnügte. Ein anderes Schema kann man in Giulianova an S. Maria a Mare beobachten. Don hängen in einer langgezogenen Öffnung zwei Glocken übereinander.
Wie bei den Glockentürmen ist man auch bei Glockenwänden bemüht, ihre Flächen mit der Wand der Eingangsfassade zu harmonisieren. Ein schönes Beispiel liefert die einschiffige Kirche S. Nicola in Pescosansonesco, die älteste Glockenwand in den Abruzzen vom Ende des 12. Jahrhunderts. Sie sitzt mit der Fassade in einem Verband und bildet sozusagen deren überhöhten Giebel. Dieselbe Lösung wird auf noch kunstvollere Weise in der Kirche S. Maria di Cartignano bei Bussi wiederholt. Der dortige Glockengiebel gehört zu den schönsten seiner Art in den Abruzzen. Er besteht aus einer breiten Wand, die nahezu in ihrer ganzen Höhe von einer spitzbogigen Öffnung durchbrochen ist. In diese sind zwei Rundbogenöffnungen, gestützt von einem kräftigen Pfeiler, eingezogen; ihre Scheitel liegen in Höhe des Spitzbogenansatzes.
Andere in die Fassade übergehende Glockenwände sehen wir in S. Maria a Mare in Giulianova und in S. Giusta in Bazzano. In S. Pellegrino in Bominaco fluchtet die Glockenwand mit dem flachen Chorabschluß der Kirche. Wieder eine andere Gruppe bilden Glockenwände an der Stelle, wo Langhaus und Querhaus zusammentreffen, z.B. in S. Maria di Ronzano und S. Bartolomeo in Carpineto della Nora. Ein Unikum stellt S. Giovanni Evangelista in Celano dar. Don erhebt sich die Glockenwand in ihrer Breite über der rechten Langhausmauer und erscheint mit ihrer Schmalseite an der Fassade. Das Nachleben der Glockenwände ist durch Jahrhunderte bis in die Barockzeit zu verfolgen.
Angehobene Seitendächer
Im 13. Jh. brachen die Abruzzesen mit überkommenen Baugewohnheiten. Zu einer Zeit, als sich der Machtbereich von Montecassino abschwächte, versuchte man, auch von der alten dreischiffigen basilikalen Anlage der Benediktiner mit dem hochgezogenen Mittelbau, der weit über die niederen Pultdächer der Seitenschiffe emporragte, abzukommen. Man begann, die Mauerzüge der Seitenschiffe höher zu ziehen und war bestrebt, deren Dachanstieg mit demjenigen des Hauptschiffes zu vereinheitlichen. Damit kamen neue Dachformen auf. Das Ziel dieses Bemühens war die Verbindung der Dachflächen der drei Kirchenschiffe ohne Abtrep (S. 125) pung in einer gleichmäßig ansteigenden Linie. Ist dies erreicht, spricht man von einem Satteldach. Der übergang von einem zum anderen System geschah nicht plötzlich. In S. Giorgio in Petrella Tifernina und in S. Maria in Valle Porclaneta bei Rosciolo hob man wohl die Seitenschiffe an, jedoch nicht hoch genug, um die Pultdächer nahtlos in den Giebelanstieg des Mittelschiffs zu überführen, so daß der Mitteltrakt die Seitenteile doch noch um ein weniges überragt.
Die Auswirkungen der neuen Maßnahmen waren beträchtlich. Der Innenraum der Gotteshäuser wurde höher. Gleichzeitig verloren aber die lichtspendenden Fenster im Hochgaden des Mittelschiffs ihre Funktion, da sie vom Satteldach verdeckt wurden. Wir kennen viele Fälle solcher ihres Zweckes beraubter Fensterreihen und können daraus schließen, daß der entsprechende Bau ursprünglich eine andere Dachform hatte. Derartige funktionslose Lichtgaden sind z.B. noch in S. Maria di Ronzano, S. Giovanni ad Insulam und in S. Giusta in Bazzano zu beobachten. Die Kirchen mit Satteldach zeigen alle den offenen Dachstuhl. Das bedeutet, daß in einer Zeit, in der in Europa und auch in Italien der Bauwille auf Wölbung ausging, die Abruzzesen es vorzogen, sich von diesen modemen Unternehmungen femzuhalten, wieder ein Zeichen für den ihnen eigenen Zug zur Vereinfachung.
Die Erhöhung der Seitenschiffe und die Schaffung eines Satteldaches wirkte sich natürlich auch auf die Gestaltung der Fassade aus. Diese wurde großflächiger und harmonischer im Umriß und kam der abruzzesischen Neigung zur Vereinheitlichung der Schauwand entgegen. Man betrachte in diesem Hinblick die Fassaden von S. Maria di Ronzano (Tf. 50), S. Maria Maggiore in Pianella, S. Maria delle Grazie in Civitaquana, S. Giovanni Evangelista in Celano, S. Maria in Luco dei Marsi, S. Maria in Valle Porclaneta, S. Tommaso in Varano bei Caramanico und S. Giorgio in Petrella Tifernina. In S. Giusta in Bazzano konnte man das der Fassade vorgelegte großartige architektonische Netzwerk nur deshalb konsequent durchführen, weil man die durch die Anhebung der Seitenschiffe neugewonnene Fläche zur Verfügung hatte. Nur in S. Giovanni ad Insulam nutzte man den Effekt des Satteldaches nicht und verbarg es hinter einer rechteckigen Schauwand. Gleiches fand später noch einmal bei der Kirche S. Eusanio in S. Eusanio Forconese statt.
Bei der Anhebung der Seitenschiffe mußte gewährleistet sein, daß die Statik des Baues durch diese zusätzliche Belastung nicht ins Wanken geriet. In Pianella wurden deshalb die Ecken der Seitenschiffe durch Anbringung kräftiger Lisenen verstärkt. Die zahlreichen Lisenen an den Seitenmauern von S. Maria di Ronzano entstanden ebenfalls erst, als man die Seitenschiffe erhöhte. Um die Statik der rechten erhöhten Langhausmauer von S. Tommaso in Vara no zu sichern, stützte man diese später von außen durch schräganlaufende Widerlager ab.
Man hat versucht, für das Phänomen der Erhöhung und Vereinheitlichung des Innenraums, das sich aus der verändetten Dachform ergibt, Bezeichnungen zu prägen und Erklärungen zu finden. Einmal half man sich mit entlehnten Begriffen, und man spricht von Saalkirche (chiesa a sala) oder übernimmt das deutsche Wott Hallenkirche. Dann leitete man die neue Baugewohnheit aus dem Norden ab und postulierte nordische Architekten, z.B. für den Bau von S. Eusanio in S. Eusanio Forconese. Es handelt sich hier aber nicht um Saalkirchen, und eine Hallenkirche ist fast das Gegenteil von dem, was wir in den Abruzzen sehen. Die Hallenkirche ist eine zwei-oder meistens dreischiffige Anlage mit Gewölben in gleicher Höhe. Demgegenüber sind die mit einem Satteldach versehenen Schiffe verschieden hoch, und für die Abruzzen ist gerade das Fehlen der Gewölbe charakteristisch.
Ein sehr viel schwierigeres Problem ist, wie sich die modeme Denkmalpflege zu den späteren Anhebungen verhalten soll. Scheint diese Zutat so überflüssig, daß man versuchen muß, die spätere Bauphase wieder rückgängig zu machen, um die ursprüngliche basilikale Anlage aufs neue zur Geltung zu bringen? Dieses ist in einigen Fällen geschehen, stellt jedoch einen ungerechtfertigten Purismus dar. Denn die Tatsache, daß das 13. Jh. überkommene Bauten in so erstaunlich großer Anzahl architektonisch und auch ästhetisch veränderte, zeugt doch von einem Bauwillen, der eine eminent wichtige historische und kunsthistorische Situation zum Ausdruck bringt. Solche Eingriffe der modemen Denkmalpflege sind auch insofern abzulehnen, als es sogar einem wenig geschulten Auge nicht schwerfällt, die Baunähte dort zu erkennen, wo die Erhöhung ansetzt. Man kann beides gleichzeitig wahrnehmen, die alte basilikale Anlage und die Umgestaltung des 13. Jahrhunderts. Weiterhin ist die denkmalpflegerische Reinigung der Bauten von ihren späteren Veränderungen anfechtbar, da die Anhebung der Seitenschiffe gleichzeitig von anderen baulichen Maßnahmen begleitet sein konnte, wie z.B. in Pianella, wo mit der Umgestaltung der Seitenschiffe zugleich die Anlage des Portals und der Fensterrose erfolgte. Bei den Restaurierungen in Pianella hat man einen unschönen Komprorniß geschlossen. Man reduzierte das rechte Seitenschiff auf die ursprüngliche Höhe, während man auf der gegenüberliegenden Seite die Aufstockung des 13. Jh. beibehielt. Radikaler verfuhr man in S. Maria di Ronzano. Dort wurde das mittelalterliche Satteldach entfernt, und die Seitenschiffe wurden wieder auf ihre anfängliche Höhe zurückgeführt. Damit hat die Westfassade aufs neue ihre gegliederte basilikale ,.Eleganz« erhalten, und das Mittelschiff tritt als zentraler Baukörper hervor. Ähnlich manipulierte man in S. Tommaso in Varano. Dort wurde die Anhebung des rechten Seitenschiffs entfernt, indessen hat man es nicht völlig auf seine ursprüngliche Höhe reduziert. Von der Rückfront aus kann man noch sehr schön den Anstieg des alten Pultdaches sehen, der über die noch vorhandenen Blendarkaden hinwegführte. Darüber erscheint nun ein sinnloses Stück Mauerwerk, das man bei der Restaurierung stehen ließ.
Die Aufstockung der Seitenschiffe hat in den Abruzzen topographische Schwerpunkte. Kaum ein Beispiel gibt es in (S. 126) der Provinz Chieti und nur eines im Molise, nämlich in Petrella Tifernina. Dagegen sind Beispiele häufig in den nördlichen Abruzzen, im adriatischen Küstenland in S. Maria di Ronzano, in S. Giovanni ad Insulam, in S. Bartolomeo in Carpineto della Nora, Pianella und Civitaquana. In der Provinz L'Aquila kennen wir Beispiele in Bazzano und in S. Eusanio Forconese, dann vor allem im Marserland in Celano, Luco dei Marsi und in S. Maria in Valle Porclaneta.
Gewölbe
Kirchen zu wölben war ein Anliegen des ganzen Abendlandes. Im Verhältnis zu den Ländern nördlich der Alpen stand man in Italien den Wölbungstendenzen fremder gegenüber, wobei sich die einzelnen italienischen Landschaften unterschiedlich verhielten. Am wenigsten kann man den Abruzzesen eine Freudigkeit zu wölben nachsagen. Man bevorzugte hier, wie im vorhergehenden Kapitel gesagt, den offenen Dachstuhl, und im Wölben ist man nicht sehr erfinderisch gewesen. Weil es an eigener Initiative und eigener Tradition fehlte, ist es nicht verwunderlich, wenn außerabruzzesische Einflüsse vorherrschend wurden. Sie drangen von allen Seiten ein, so aus Frankreich, entweder direkt oder vermittelt über Ober-und Mittelitalien. Das Einfallsgebiet dafür war der adriatische Küstenstreifen. Oberitalienische Einflüsse sind in der alten und neuen Kathedrale von Teramo zu beobachten, weiter in S. Maria di Ronzano und in S. Giovanni in Venere, und noch tief im Molise lassen sich in S. Giorgio in Petrella Tifernina Verbindungen zum Norden feststellen. Umgekehrt wurde die Kunst des Wölbens von Süditalien gefördert. Ein gutes Beispiel dafür liefern die Wölbungen von S. Maria Maggiore in Lanciano. Verbreitung fand die Wölbung vor allem durch den Zisterzienserorden, der vornehmlich von Süditalien aus den Abruzzesen die Kenntnis des Wölbens vermittelte. Indessen war die Wölbetechnik bereits vor Erscheinen der Zisterzienser in unserer Landschaft bekannt, wie die unzähligen Krypten, die ausnahmslos gewölbt sind, zeigen. Daß man bei den Einwölbungen der Ober kirchen so zaghaft vorging, war weniger eine Frage des Könnens als eine innere Abwehr. An vielen Bauten der Abruzzen erkennt man Ansätze zu Wölbungen in den Vorlagen der Säulen und Pfeiler, die ein Gewölbe aufzufangen hatten. Möglicherweise sind derartige Formen Architekturzeichnungen entnommen, nach denen gebaut werden sollte, von denen man jedoch in der Folge abwich. Ob dabei die Furcht vor Erdbeben eine Rolle spielte, mag dahingestellt sein, denn der Einsturz eines Gewölbes konnte größeren Schaden anrichten als das Zusammenbrechen eines leichten offenen Dachstuhls.
Ein erstes Beispiel für geplante Wölbungen im Langhaus ist in S. Giovanni in Venere bei Fossacesia zu sehen. Alle drei Schiffe haben immer einen offenen Dachstuhl gehabt, obwohl sie auf Wölbung angelegt waren. Über den Deckplatten der Langhauspfeiler steigen im Mittelschiff flache Wandvorlagen auf, die bis zur Fensterzone reichen. Vor diesen pilasterartigen Vorlagen sind Halbsäulen angebracht, die unten von Kragsteinen abgefangen werden, ein Motiv der Zisterzienserarchitektur. Die Kapitelle der Vorlagen werden durch ein einfach profiliertes Gesims verbunden, das sich auch über die Eingangswand im Westen zieht. Im lichtgaden liegen in der Achse der Langhausarkaden Rundbogenfenster. Diese werden von spitzbogigen Blendarkaden gerahmt, die auf den vorkragenden Kapitellen der Pilastervorlagen ansetzen. Das geplante Wölbungssystem des Langhauses hat in der Zisterzienserarchitektur Italiens keine unmittelbaren Vorbilder, so daß direkte französisch-zisterziensische Einflüsse nicht auszuschließen sind. Ein zweites Beispiel für eine geplante Wölbung, die indessen nie zur Ausführung kam, bietet S. Maria di Ronzano. Die Pfeiler des Langhauses haben Pilastervorlagen im Mittelschiff und in den Seitenschiffen. Auf eine mögliche Wölbung des Langhauses von S. Tommaso in Varano haben wir an anderer Stelle hingewiesen.
Eine Zwischenlösung zwischen offenem Dachstuhl und Gewölbe stellt der Schwibbogen dar, ein zwischen zwei Mauerkörpern eingespannter frei schwebender Bogen. Er war den Benediktinern bereits in romanischer Zeit bekannt, vor allem bei Querhäusern mit offenem Dachstuhl, wobei die Trennung der Querarme vom Mittelschiff durch Schwibbogen vorgenommen wurde. Ein neuer Impuls zur Anwendung von Schwibbogen ging im 13. Jh. von den Zisterziensern aus, die diese Bauform vor allem in ihren Klosteranlagen, in Refektorien und Krankenhäusern entwickelten. Schwibbogen brachten technische Vorteile mit sich, sie verklammerten die Wände fester als der offene Dachstuhl, aber darüber hinaus hatten sie auch eine ästhetische Wirkung, indem sie den Innenraum akzentuierten und rhythmisierten.
Die Blütezeit der Schwibbogen setzt in den Abruzzen erst nach 1250 ein. Die schönsten Beispiele zeigen dann der Dom von Atri sowie die Kirchenbauten der Franziskaner und Dominikaner. Doch erscheint der Schwibbogen in unserer Region bereits in der ersten Hälfte des 13. Jh., z.B. in S. Clemente a Casauria. Dort befindet er sich in der Mitte des ungewölbten Mittelschiffs. Einer ähnlichen Akzentuierung begegnen wir im Mittelschiff von S. Giovanni ad Insulam. Diese Betonung des Langhauses durch Schwibbogen ist keine abruzzesische Erfindung, sie tritt bereits früher in Oberitalien auf, z.B. in S. Zeno in Verona.
Die Mühen, die ein Architekt mit der Einwölbung zu bestehen hatte, lassen sich sehr gut an einem Beispiel im Molise, in S. Giorgio in Petrella Tifernina ablesen, einer dreischiffigen Anlage mit entsprechenden Apsiden ohne Querhaus und ohne Krypta. Offensichtlich wollte der Baumeister mit modernen Stilmitteln arbeiten, die richtig anzuwenden aber die molisanische Bauhütte nicht fähig war, so daß ein unvollkommenes Ganzes entstand. Zunächst sind die Abstände zwischen den fünf Langhausstützen auf der linken Seite anders als auf der rechten. Auch die Stützen selbst sind verschieden. Das erste Pfeilerpaar nach dem Eingang und der dritte Pfeiler links gleichen sich mit Halbsäulenvorlagen zum Mittelschiff und zum Seitenschiff. Die übrigen Stützen sind Kleeblattpfeiler, deren Form in Oberitalien vorgebildet war und über Chiaravalle della Castagnola in den Marken (S. 127) dem Süden vermittelt werden konnte. Jede der vier Halbsäulen eines solchen Pfeilers trägt ein kräftiges Kapitell mit Deckplatte. Hier setzen in den Nebenschiffen Schwibbogen auf, während im Mittelschiff in der Zone über den Kapitellen Wandvorlagen fehlen. Das bedeutet, daß man sich dort mit einem offenen Dachstuhl begnügte, wohingegen in den Seitenschiffen Möglichkeiten zur Wölbung angelegt waren. Die Schwibbogen gliedern sie in nahezu quadratische Kompartimente und setzen an den Seitenschiffwänden auf Vorlagen auf, die aus einer Halbsäule bestehen vor einer zweifach getreppten Pilastervorlage, deren rückspringender Teil den Schildbogen und deren vorderer das Kreuzgewölbe zu tragen gehabt hätten. Ansätze solcher Wölbungen sind noch im rechten Seitenschiff, wo Fassade und Langhauswand zusammentreffen, festzustellen. Ober derartige Anfänge hinaus ist die Wölbung jedoch nicht weiter durchgeführt worden. Man begnügte sich, Schwibbogen einzuziehen, das heißt, man beschränkte sich auf die Vorform der Wölbung. S. Giorgio mag am Ende des 12. oder am Anfang des 13. Jh. gebaut worden sein.
Abb. 29: Fossa, S. Maria delle Grotte o ad CryptasVollständig gewölbte Kirchen in den Abruzzen zeugen sicherlich von außerabruzzesischen Einflüssen. Das betrifft zunächst eine Gruppe von einschiffigen Kirchen, dann den in allen Teilen gewölbten dreischiffigen Bau von S. Maria Maggiore in Lanciano. Die einschiffigen tonnengewölbten Gotteshäuser haben ihren Ursprung in Südfrankreich, und dieser Typ wurde in Italien durch die Zisterzienser bekannt gemacht. Das früheste Beispiel in den Abruzzen liefert die Zisterzienserkirche in Civitella Casanova (1191), die heute eine Ruine ist. Das Gewölbe ist völlig zusammengefallen und bestand aus einer zugespitzten Tonne. Die gleiche Wölbungsart treffen wir wieder in der Zisterzienserkirche S. Spirito in acre (1222-1248) an. Diese Wölbungsform ist noch in der zweiten Hälfte des 13. Jh. weiterzuverfolgen, wo sie in S. Pellegrino in Bominaco (1263) erscheint. Dort wird der Innenraum (18 x 5,60 m) durch schmale, nur wenig vorspringende Wandvorlagen in vier Joche gegliedert. Die Gewölbeflächen stoßen spitzbogig aufeinander. Die Kapitelle der Vorlagen sind fast funktionslos, denn sie sitzen zu tief, um die Last des Gewölbeschubes aufzunehmen. Diese wird von einem höher gelegenen Konsolengesims getragen. Auch S. Maria delle Grotte oder ad Crytas in Fossa (Abb.29) repräsentiert den Typ der einschiffigen Zisterzienserkirche. Das Langhaus ist ein rechteckiger Raum (15,50 x 8 m), der durch Wandvorlagen in drei gleiche Kompartimente unterteilt wird. Diese Vorlagen sind rechteckig mit Ausnahme der hinteren an der rechten Langhauswand. Sie besteht aus einer Halbsäule mit einer schönen antiken Basis aus attischer Zeit, wohingegen das Kapitell aus der zweiten Hälfte des 13. Jh., der Bauzeit der Kirche, stammt. Die Gewölbe laufen spitz zu. Die Gurtbogen über den Vorlagen sind nur noch in Ansätzen vorhanden und entsprechend den erhaltenen Gewölben in S. Spirito d'Ocre oder S. Pellegrino in Bominaco zu ergänzen.
Abb. 30: Lanciano, S. Maria Maggiore, GründungsbauDie einzige dreischiffige Kirche, die in all ihren Bauteilen gewölbt wurde, ist S. Maria Maggiore in Lanciano (Abb. 30). Die heute fünfschiffige Kirche ist in zwei verschiedenen Bauphasen entstanden: das Mittelschiff und die beiden nördlichen Seitenschiffe gehören zu einem Erweiterungsbau ohne besonderes kunstgeschichtliches Interesse, den man im 16. Jh. an die Flanke einer älteren Kirche anbaute, von der man das Mittel-und das südliche Seitenschiff beibehielt und beide zu Seitenschiffen der neuen fünfschiffigen Anlage degradierte. Bemerkenswert bleibt jedoch, wie Maße und Gliederung der gotischen Kirche den späteren Umbau bestimmten. Hier wird nur der Altbau behandelt, der eine der eigenartigsten und wichtigsten Bauschöpfungen in den Abruzzen darstellt. Aus Schriftquellen wissen wir, daß der Grundstein zur ersten Kirche im September 1227 vom Bischof Bartholomäus von Chieti gelegt wurde. Sie entstand aus einer einheitlichen Planung, und der Bauvorgang erfuhr keine Unterbrechung. Das ehemals dreischiffige Langhaus ist in vier Joche geteilt, deren Tiefen ungleichmäßig sind. Die beiden Mittelschiffsfelder vor dem Chor im Osten haben gleichen quadratischen, die beiden anderen längsrechteckigen Grundriß, wobei das erste westliche Joch länger ist als das anschließende. Dementsprechend differieren auch die längsrechteckigen Joche der Seitenschiffe voneinander.
Das Stützensystem ist nur auf der rechten Seite des alten Mittelschiffs vollständig zu erkennen. Pfeiler mit Deckplatten tragen die Arkaden, die spitzbogig sind mit Ausnahme derjenigen im ersten westlichen Joch, die einen Rundbogen hat. Zum Mittelschiff hin weisen die Pfeiler eine dreiteilig gegliederte Vorlage auf. Sie besteht aus einem breiten Pilaster und zwei zwischen diesem und dem Pfeilerkern eingestellten Säulen. Die Kapitelle dieser dreiteiligen Vorlage liegen auf gleicher Höhe und um ein Beträchtliches über der Deckplatte des Pfeilerkerns. Zwischen den Vorlagen läuft in (S. 128) Höhe des Lichtgadens ein Gesims. Während die Pilaster die zugespitzten Gurtbogen aufnehmen, tragen die Säulen die Rippen des Gewölbes. Das Pfeilerpaar, das den Chor vom Langhaus trennt, zeigt ein Charakteristikum der Zisterzienserbaukunst; die seinen Pilastervorlagen an der Innenseite des Apsisbogens vorgesetzten Halbsäulen werden nicht bis unten durchgeführt sondern von Konsolen abgefangen. Sie bewirken die Verengung des Durchblicks zum Chor, und dadurch wird optisch eine Zäsur zwischen diesem und dem Langhaus geschaffen. Die Pfeiler haben zum Seitenschiff flache Vorsprünge zur Aufnahme von transversalen zugespitzten Schwibbogen. Das Gewölbe des Seitenschiffs hat die seltene Form der Halbtonne. Von großer Kühnheit im Sakralbau der süditalienischen Gotik und einmalig in den Abruzzen ist die Anlage des Chorhauses, dessen achteckiger Grundriß in ein großes Quadrat eingespannt ist, das unmittelbar an das Langhaus in seiner ganzen Breite anschließt. Während man im bisherigen Kirchenbau der Abruzzen nur von Mittelchor und Nebenchören sprechen konnte, hat man hier erstmals eine gemeinsame Choranlage für alle drei Schiffe zusammen. Eine Seite des regelmäßigen Achtecks entspricht der Breite des Mittelschiffs. Ursprünglich öffneten sich die Chorwände in ihrem unteren Teil in Rundbogen, die heute zugemauert sind. In die Ecken des Achtecks sind Säulenvorlagen gestellt, deren Knospenkapitelle Deckplatten tragen und zwischen denen, ähnlich wie im Langhaus, ein Gesims läuft. Die Deckplatten nehmen die Schildbogen und die acht Gewölberippen auf, die in einem Schlußstein zusammenkommen. Im Außenbau wird der Schub des Gewölbes an den Langhausseiten durch starke Widerlager und an der Ostseite durch Lisenen aufgefangen.
Weitaus am häufigsten findet man in den Abruzzen partielle Einwölbungen. Bevorzugt war der Ostabschluß eines Gotteshauses, vor allem das Querhaus und der Chor mit rechteckigem Abschluß. Die Verbindung von gewölbtem Querhaus und ungewölbtem Langhaus ist nicht auf die Abruzzen beschränkt. Als Beispiele aus anderen Landschaften seien nur S. Maria Maggiore in Ferentino oder der Dom von Cosenza angeführt. Die Wölbetechniken sind verschieden. Man kannte die Einwölbung mit Kreuzgraten, Kreuzrippen, achtteiligen Rippen und die Tonne.
Schon die frühe Klosterkirche S. Liberatore alla Maiella aus dem Ende des 11. Jh. hatte gewölbte Querarme. Heute sind noch die Ansätze der alten längsoblongen Kreuzgratwölbung erkennbar, während der breitere Mittelchor ungewölbt geblieben zu sein scheint. Kreuzgratgewölbe ohne Verbindung mit anderen Wölbetechniken sind relativ selten. Sie kommen aber eigentümlicherweise im 13. Jh. im Marserland in den von den Zisterziensern beeinflußten Chorquadraten vor, z.B. in S. Maria delle Grazie in Luco dei Marsi, wo das Gewölbe auf Eckkonsolen ansetzt.
Die gebräuchlichste Wölbungsart bestand darin, den Mitteltrakt des Querhauses mit Kreuzrippen zu versehen und die Seitenarme mit Kreuzgraten. Mit diesem Prinzip verfolgte man nicht nur eine Rhythmisierung der Raumteile, sondern auch eine Betonung des Zentrums. Denn oft stand in der Mitte des Chores der Altar, und der Oberbau sollte durch eine besondere Wölbungsform ausgezeichnet werden. Beispiele dieser Art begegnet man in S. Maria in Bominaco und in S. Maria di Ronzano. In der letzteren Kirche steigen in der Chormitte in den Zwickeln der Gurtbogen plumpe rechteckige Rippen auf. In S. Bartolomeo in Carpineto della Nora schließt an das ungewölbte Langhaus das durch drei Stufen erhöhte, komplizierte Querhaus an, dessen Querarme beträchtlich über die Flucht der Seitenschiffe hinausreichen. Das Gewölbe des Mittelfeldes liegt höher als die Gewölbe der Seitenfelder. Die Querarme zeigen Kreuzgratgewölbe, der zentrale Teil hat Kreuzrippen. Diese enden in einem Schlußstein in Gestalt einer großen Blüte, an der man das Nachleben gewisser Zierformen von S. C1emente a Casauria belegen kann.
In S. Giovanni in Venere finden wir im Mittelteil des Querhauses, Zisterziensergewohnheiten folgend, zwei querrechteckige Kreuzrippengewölbe, deren Rippen in Form eines Bandes mit untergelegtem Wulst sich in einem kleinen Schlußstein treffen. Die Gurtbogen und die Rippen setzen auf einer vorgezogenen Wandschicht auf. Diese eigentümliche Lösung läßt schließen, daß anfänglich ein offener Dachstuhl geplant war. Die Joche in den Querarmen haben einfache longitudinale und stark restaurierte Kreuzgratgewölbe.
Eine Ausnahme der Wölbungsformen im Querhaus zeigt die Kathedrale von Corfinio. Dort besitzen die längsoblongen Seiten arme Tonnengewölbe, die höher liegen als die Dächer der Seitenschiffe. Der breitere, aber ebenfalls längsrechteckige Mittelteil des Quertrakts ist in seinen Gewölben nicht mehr erhalten, da man in der Barockzeit an deren Stelle eine Kuppel errichtete, die im Außenbau als Achteck erschien. Diese wurde bei den letzten Restaurierungen 1964 wieder entfernt, und man setzte ein Kreuzgratgewölbe ein.
Eine nächste Gruppe von Bauten verwendet in der Chorpartie ausschließlich Rippengewölbe. Das früheste Beispiel dieser Art ist in der alten Kathedrale S. Getulio in Teramo zu rekonstruieren, ein Bau, der vor 1158 entstanden sein muß, als Bischof Guido an anderer Stelle der Stadt eine neue Kathedrale errichtete. In der Fortsetzung der Via Antica Cattedrale verbergen sich hinter drei zugemauerten Bögen unscheinbar und vernachlässigt wichtigste Monumente te ramanischer Architekturgeschichte. Wir sind für deren Studium heute weitgehend auf Ausgrabungsberichte von Bauschichten angewiesen, die inzwischen wieder zugeschüttet wurden. Die Grabungen fanden 1896-1898 statt und konnten auf Grund der dichten Besiedlung dieses Bezirks bisher nicht weiter verfolgt werden. Durch eine unschöne neue Holztür im mittleren zugemauerten Bogen steigt man von Osten auf einer Holztreppe zum 1,25 m tiefergelegenen Niveau einer Kirche des 12. Jh. herab, von der noch drei Raumabschnitte erhalten sind. Sie liegen in einer Flucht, parallel der oberen Via S. Anna. Architektonisch besonders betont ist das quadratische, gewölbte Mittelfeld, das breiter ist als die beiden seitlichen Raumkompartimente, an denen nur die Umfassungsmauern alt sind. Der rechte Raumteil (S. 129) besitzt einen offenen Dachstuhl, der linke ein neueres Kreuzgratgewölbe. Daß die Seitenräume ursprünglich nicht gewölbt gewesen sein können, ergibt sich aus der Struktur der Mittelstützen, die zu den Seitenräumen hin keine Vorlagen aufweisen. Kräftige, den Pfeilern vorgelegte Halbsäulen tragen die raumgliedernden Arkaden und die breiten Gurte des Kreuzrippengewölbes im Mittelfeld. Bei den Ausgrabungen wurde festgestellt, daß die nördlichen und südlichen Außenmauern der Seitenräume unter der heutigen Via S. Anna nach Osten weiterlaufen, in welcher Länge, das konnte wegen technischer Schwierigkeiten, die sich beim Graben aus der überbauung ergaben, leider nicht geklärt werden. Ebenso wurden in der Flucht der mächtigen erhaltenen Pfeiler nach Osten hin Ansätze weiterer Stützen gefunden, bei denen wahrscheinlich Säulen-und Pfeilerpaare abwechselten. Die Annahme der Ausgräber, daß die heute erhaltenen drei Raumkompartimente das Seitenschiff eines Kirchenbaus sind, zu dem ein breiteres Mittelschiff gehörte, das unter der Via S. Anna in Nordsüdrichtung verlief, läßt sich nicht halten. Orientiert man dagegen die Kirche von Osten nach Westen, so ist die richtige Lösung gefunden. Die drei noch vorhandenen Raumteile bildeten das Presbyterium einer Kirche des 12. Jahrhunderts. Die Seitenräume waren der Abschluß der ehemaligen Seitenschiffe, wohingegen der durch seine Gewölbekonstruktion hervorgehobene zentrale Teil an das einstige Mittelschiff anschloß.
Ähnlich wie in Teramo läßt sich das Gewölbesystem im Querhaus von S. Clemente a Casauria erschließen. Die Chronik von Casauria teilt mit, daß Abt Leonas nur am Westbau der Kirche beteiligt war. Nach seinem Tod 1182 folgte eine zweite Bauphase, die sich auf die Gestaltung des Querhauses und der Ostpartie beschränkte. Der obere Bestandteil des Quertrakts, insbesondere die Wölbung, ist im alten Zustand nicht mehr erhalten. Der westliche Teil des Querhauses wurde mit dem anschließenden Langhaus in viel späterer Zeit, wahrscheinlich infolge eines Erdbebens, notdürftig zusammengeflickt. Dennoch können wir an Hand der alten Reste eine ziemlich genaue Vorstellung des ursprünglichen Aussehens gewinnen. Das Querschiff lädt stark nach den Seiten aus und ist in drei längsrechteckige Felder unterteilt. Die Kirche hatte nur eine Apsis. An den Vorlagen der Ostwand ist das Wölbungssystem zu erkennen. Zu beiden Seiten des Apsisbogens, der noch in der alten Höhe aufsteigt, stehen zwei Bündelvorlagen, die aus je fünf Runddiensten mit Kapitellen bestehen. Der mittlere, weiter vorspringende Dienst ist kräftiger gebildet als die übrigen und hatte den Gurtbogen zu tragen, der am gegenüberliegenden Vierungspfeiler aufsetzte. Die äußeren Dienste trugen die Schildbogen und die beiden anderen die Gewölberippen. Dasselbe System läßt sich an den Diensten der nördlichen und südlichen Ecke der Ostwand ablesen, allerdings sind deren Kapitelle nicht mehr erhalten. Alle drei Querhausjoche hatten also Gewölbe, die in gleicher Höhe ansetzten; das Mittelschiff hingegen besaß einen offenen Dachstuhl.
Kreuzrippengewölbe treffen wir auch in einschiffigen Kirchen an. Ein Beispiel dafür bietet S. Maria delle Grotte in Rocchetta al Volturno. Die schlichte Kirche ist ein Bau aus dem 12. Jahrhundert. Im Innern führen zwei Stufen zum erhöhten Chor, der einer späteren Bauzeit angehört. Er ist im Gegensatz zum Langhaus gewölbt und zeigt Kreuzrippen mit einem Schluß stein. Die Rippenansätze werden, ähnlich wie in S. Maria Maggiore in Lanciano oder in der Seitenkapelle von S. Matteo in Rocca S. Giovanni (Prov. Chieti), durch Schildplatten verdeckt.
Die Badia von S. Vincenzo al Volturno wurde nach einer ruhmreichen Vergangenheit und vielen Zerstörungen zu einer einschiffigen Kirche degradiert. Die Zisterzienserbaukunst des 13. Jh. beeinflußte die Gestaltung des Chorraums. Er ist quadratisch, und vier in die Ecken eingestellte Säulen tragen das Gewölbe mit besonders starken Rippen. Die antiken Marmorsäulen und die korinthischen Kapitelle stammen aus einer älteren Kirche in S. Vincenzo al Volturno, wo man sie wiederum von antiken Tempeln übernommen hatte.
Abb. 31: S. Maria Arabona bei ManoppelloDie 1209 gegründete Zisterzienserkirche S. Maria Arabona (Abb.31) ist die am reichsten mit Kreuzrippengewölben ausgestattete Kirche in den Abruzzen. Sie kommen in den vielen Raumkompartimenten der Ostpartie vor, abgesehen von der Vierung mit dem achtteiligen kuppelartig ansteigenden Rippengewölbe, das nur noch einmal in den Abruzzen, nämlich im Chor von S. Maria Maggiore in Lanciano, anzutreffen ist. Die Rippen des Vierungsgewölbes in S. Maria Arabona treffen sich in einem Ring, über dem wahrscheinlich die für die Zisterzienserbauten charakteristische Turmspitze geplant war.
Ein Raum mit Kreuzrippengewölbe in S. Giorgio in Petrella Tifernina ist bisher nicht beachtet worden. Durch eine alte Tür in der linken Apsis gelangt man in einen kapellenartigen Raum, der heute als Sakristei dient. Mit Ausnahme unergiebiger Studien der Lokalforschung hat sich die Kunstgeschichte mit diesem Baukörper, der sich an die Rückfront der Kirche anlehnt und sicherlich älter ist als diese, noch nicht beschäftigt. Da auch bei Restaurierungsarbeiten die (S. 130) sem Raum keine besondere Aufmerksamkeit zugewandt wurde, sind nach dem jetzigen Stand unseres Wissens kaum Schlußfolgerungen zu ziehen. Möglicherweise hat unmittelbar neben der heutigen Kirche schon ein älteres Gotteshaus gestanden, denn bis vor kurzem wurde der kleine Platz vor dem kapellenartigen Raum noch Piazza o Largo della Chiesa Vecchia« genannt. Erst eine genauere Kenntnis des nach Westen orientierten Bauteiles könnte die Zusammenhänge klären, ob z.B. die Ausrichtung von S. Giorgio nach Süden durch eine ältere Kirche bedingt wurde, ebenso wie seine schrägverlaufende Rückfront, die mit dem Langhaus nicht im rechten Winkel zusammentrifft. Damit könnte unter Umständen auch das unregelmäßige Stützenwerk des Langhauses erklärt werden. Die erwähnte sogenannte Sakristei ist ein quadratischer Raum. Von den vier in die Ecken eingestellten Säulen steigen die breiten Gurte des Kreuzrippengewölbes auf. Unter dieser Kapelle liegen Teile der ebenfalls plump eingewölbten sogenannten Krypta, die gleichzeitig errichtet wurde. Der Eingang des unterirdischen Baus befindet sich im Westen, und eine Inschrift über dem Architrav besagt, daß der Raum dem Salvator geweiht war. Aus der Gewölbetechnik darf man schließen, daß diese Baukörper kaum vor 1130 entstanden sein können.
Gewölbe in den wenigen erhaltenen Klosteranlagen der Abruzzen sind kaum nachzuweisen. Ausnahmen kommen in doppelgeschossigen Kreuzgängen vor. Am Dom von Atri ist der älteste Kreuzgang der Abruzzen aus dem 13. Jh. erhalten. Die nahezu quadratische Anlage (26,50 x 27 m), die sich nach der Breite des antiken Wasserreservoirs richtet, ist aus Ziegelsteinen gebaut und auf drei Seiten in zwei Stockwerken erhalten. Das Untergeschoß besteht an jeder Seite aus zehn oder elf enggestellten Rundbogen auf mächtigen ungegliederten Pfeilern ohne Kapitelle, die das Kreuzgratgewölbe tragen. Als Bedachung des Kreuzgangs im Obergeschoß diente eine einfache flache Holzdecke.
Kuppelkirchen, wie sie in Apulien unter byzantinischem Einfluß entstanden, existieren in den Abruzzen nicht. Die Vierungskuppeln von S. Pelino in Corfinio, der Kathedrale von Sulmona sowie der Kirche S. Eusanio in S. Eusanio Forconese entstanden in der Barockzeit, und es lassen sich keine Spuren finden, daß sie, wie man hat feststellen wollen, auf ältere Kuppeln zurückgehen. Ähnlich verhält es sich mit dem Oktogon über der Vierung im Dom von Chieti. Es wirkt in den Ansätzen allerdings altertümlich und weist wie dasjenige des Domes von Teramo die Eigenheit auf, daß die Seiten des Achtecks verschieden lang sind. Die Kuppel von S. Maria Maggiore in Lanciano entstammt keiner byzantinischen Tradition, sondern setzt die Baugewohnheiten der Zisterzienser voraus, die im Südreich der Staufer wirksam wurden. Somit bleibt in den Abruzzen nur noch die Vierungskuppel am Dom von Teramo übrig, die von Oberitalien herzuleiten ist. Zum Bau des 12. Jh. gehört der Innenraum bis einschließlich zur Vierung, über der sich das Oktogon erhebt. Eigentümlicherweise steht dieser Baukörper weder im Bauverband mit dem Altbau unter Bischof Guido noch mit dem Erweiterungsbau des Bischofs Arcioni im 14. Jahrhundert. Die alten Kuppelfenster verschwanden bei Barockrestaurierungen 1739 und wurden durch häßliche rechteckige Öffnungen ersetzt. Bemerkenswert ist in der Mauertechnik der Wechsel von Quader-und Ziegelsteinen in horizontalen Schichten, der hier sehr früh auftritt und sich dann bald über das ganze teramanische Gebiet verbreitet.
Krypten
Anders als im Gewölbebau haben wir es bei den abruzzesischen Krypten wieder mit benediktinischen Baugewohnheiten zu tun. Die meisten unterirdischen Räume entstanden im 11. oder 12. Jh., als der Einflußbereich von Montecassino noch ungebrochen war. Die Zisterzienser hingegen, deren Architektur in unserer Region im 13. Jh. eine Rolle spielte, förderten den Kryptenbau kaum. Mit Recht spricht man daher von einer benediktinischen Krypta, die in den Abruzzen einen gewissen Lokalstil entwickelte und deshalb sehr homogen erscheint. Betrachtet man diese Baukörper einmal im Zusammenhang, was bisher noch nicht geschehen ist, so scheinen sie nach einheitlichen Grundsätzen gebaut zu sein. Sie verteilen sich fast gleichmäßig über das ganze Land, und sogar das Molise, das im Wölbungsbau fast völlig ausgefallen war, hat hier seinen gewichtigen Anteil.
Gewisse Merkmale wiederholen sich immer wieder. Zunächst bedingt der Grundriß einer Krypta meistens die Gestalt der darüberliegenden Oberkirche, sehr schön abzulesen an der Domkrypta von Sulmona. Bei Krypten mit einer oder drei Apsiden tauchen sehr oft konstruktive Probleme auf, um die Gewölbe des rechteckigen Kryptenraumes mit den Kalotten der Apsiden in Einklang zu bringen. Besaß die Krypta ein breites Mittelschiff, war die Einwölbung besonders schwierig, da sie ja zusätzlich die Last der Ober kirche zu tragen hatte. Man half sich damit, indem man in das Mittelschiff weitere freistehende Stützen einstellte, wodurch man kleinere, aber statisch sichere Gewölbefelder erhielt. Ebenso mußte man auch in die Apsis zusätzliche Gewölbeträger einstellen. Die Zahl dieser Hilfsstützen richtet sich nach der Breite des Mittelschiffs. Ist diese geringer, kommt man mit einer Stütze aus. Im anderen Fall ist die Zweizahl das Normale. Wir begegnen ihr in den Krypten im Dom von Sulmona, in S. Maria Assunta in Pescosansonesco, S. Giovanni in Venere, S. Eusanio in S. Eusanio Forconese und S. Maria Maggiore in Guglionesi. Drei in die Apsis eingestellte Stützen kommen wahrscheinlich nur in der Exkathedrale von Guardialfiera vor. Einen Sonderfall stellt S. Clemente a Casauria dar, wo den zwei Hilfsstützen im Mittelschiff vier in der Apsis entsprechen, von denen je zwei hintereinander aufgestellt sind. Die Domkrypta von Sulmona hatte so breite Schiffe, daß man gezwungen war, Stützen auch in den beiden Seitenschiffen und den entsprechenden Apsiden aufzustellen. Ebenso verfuhr man in den von Sulmona beeinflußten Krypten in S. Eusanio Forconese und im Dom von Trivento.
Es ist öfter zu beobachten, wie die in die Mittelapsis eingestellten Säulen anders behandelt werden als die übrigen (S. 131) Stützen. Da sich in der Rundung oft der Altar und der Ort der Heiligenverehrung befanden, wurden die Säulen an dieser Stelle durch kostbares Material ausgezeichnet. So stehen z. B. in S. Giovanni in Venere in der Hauptapsis antike Monolithsäulen aus schwärzlichem, weißgesprenkeltem Marmor auf Basen mit Ecksporen. Ein anderes Beispiel findet sich in S. Eusanio. In der Mittelapsis stand bis zum 12. Mai 1748 der alte Altar mit den Gebeinen des hl. Eusanius, die dann in die Oberkirche überführt wurden, wobei die Krypta einen nicht sehr qualitätvollen Barockaltar erhielt. Als Stützen hatte man in der Apsis antike Säulen und Kapitelle verwandt, wohingegen alle übrigen in der Krypta mittelalterlich sind.
Es gibt in den Abruzzen kleinere kammer ähnliche Krypten, die keiner Stützen bedurften, und bei denen das Gewölbe direkt in die Wand einmündet. Wir finden diese Art z.B. in S. Pietro in Campovalano und in S. Lucia in Rocca di Cambio. In S. Maria delle Grotte oder ad Cryptas führt vor dem Chor eine Treppe in den unterirdischen Raum (3,60 x 3 m), der der Kirche den Beinamen gegeben hat. Auf einem Säulenstumpf ruht die Altarmensa, und darüber befindet sich an der dahinterliegenden Wand ein schlecht erhaltenes Kreuzigungsfresko des J4. Jahrhunderts.
Komplizierter ist die stützenlose Krypta von SS. Giovanni e Vincenzo in Turrivalignani. Aus der Wand weit hervorragende Mauerzungen neben der Apsis und ihnen entsprechende auf der gegenüberliegenden Wand unterteilen den Raum in drei Kompartimente, deren Breite mit derjenigen der drei Schiffe der Oberkirche korrespondiert. Die drei Schiffe der Krypta zeigen Tonnengewölbe, wobei im Mittelschiff kräftige Stichkappen eingeschnitten sind. Der Raum war gut beleuchtet. Zu beiden Seiten des Apsisfensters liegen an der gerade abschließenden Ostfront zwei weitere Fenster, und nochmals je eines findet sich in der Mitte der Schmalseiten des Raumes. Zum alten Baubestand gehört der schlichte Altar. Die Mensa wird von vier Säulen ohne Kapitelle und ohne Basen getragen. Eine fünfte Säule dieser Art ist unmittelbar hinter der Mensa in der Mitte aufgestellt, um die Statue des hl. Vincenz zu tragen. Die bemalte Figur stammt aus dem 15. oder 16. Jh., sie hält in der rechten Hand einen Stift und in der linken ein Buch.
Ein Unikum unter den abruzzesischen Krypten stellt diejenige von S. Biagio in Lanciano dar, eine Kirche des 12. Jh., in der heute kein Gottesdienst mehr abgehalten wird. Die Krypta mit annähernd quadratischem Grundriß hat eine Mittelsäule und vier Gewölbefelder. Eine zweite Säule befindet sich in der Apsis des einschiffigen Raumes. Ähnlich konzipiert ist die Krypta von S. Giovanni ad Insulam. Sie gehört zum ältesten erhaltenen Teil der Kirche und besitzt einen fast quadratischen Grundriß (9,30 x 9,90 m), der sich mit demjenigen des darüberliegenden Presbyteriums und der Apsis deckt. Vier Säulen auf außergewöhnlich breit ausladenden trommelförmigen Basen stehen in der Raummitte. Sie tragen Rundbogenarkaden und die Kreuzgratgewölbe der neun Gewölbefelder. Den vier niederen Säulen entsprechen an den Wänden anstelle der üblichen Halbsäulenvorlagen abgestufte Pilaster. Das Mittelschiff ist etwas breiter als die beiden Seitenschiffe.
Wie gesagt, zeigen die meisten Krypten in unserer Region gewisse Gemeinsamkeiten. Sie sind querrechteckig angelegt und haben eine Tiefe von zwei Jochen. Unterschiedlich indessen ist die Zahl der Schiffe, die sich nach der Breite des Raumes richtet. Man kennt vornehmlich vier-und fünfschiffige Krypten. Einmalig sind die siebenschiffige Krypta in S. Bartolomeo in Carpineto della Nora, sowie in S. Clemente a Casauria die Krypta mit neun Schiffen.
Krypten mit einer Tiefe von zwei Jochen und vier Schiffen scheinen eine Spezialität des Molise gewesen zu sein. Wir finden sie in Guardialfiera, Petacciato und in S. Nicola in Guglionesi; alle drei Orte liegen in der Provinz Campobasso. Die früheste Krypta ist diejenige in der Exkathedrale von Guardialfiera. Dieser Bau ist bislang mit keinem Wort in der kunstgeschichtlichen Literatur erwähnt worden. Dabei dürften wir hier Überreste aus dem 11. Jh. vor uns haben, die von einer Kirche stammen, die ein Jahrzehnt früher entstand als der erste große Kirchenbau in den Abruzzen, S.Liberatore alla Maiella. Papst Alexander II. (1061-1073) gründete in Guardialfiera ein Bistum, dessen erster Bischof ein Petrus war, von dem wir aus Quellen wissen, daß er 1071 an der Weihe des Neubaus von Montecassino teilnahm und 1075 die Provinzialsynode von Benevent besuchte. In der ersten linken Seitenkapelle des im 19. Jh. umgestalteten häßlichen Innenraums ist eine unpublizierte und unbeachtete Originalinschrift in die Wand eingelassen; in ihr werden der Bischof Petrus und Papst Alexander II. genannt, und sie enthält die Jahreszahl 1075.
Zum Baubestand der alten Kirche gehört die in ansehnlichen Teilen erhaltene Krypta, die man heute durch eine etwa 1,50 m über dem Straßenniveau gelegene barocke Tür an der Rückfront der Kathedrale erreicht. Um in sie zu gelangen, sind gegenwärtig ein Stuhl oder eine Leiter nötig. Die Krypta hat einen querrechteckigen Grundriß, an dessen eine Breitseite das weite Apsisrund anschließt. Das nicht mehr ursprüngliche Gewölbe wird von sechs freistehenden Säulen gestützt. Drei davon stehen in der Apsis und drei ihnen gegenüber in der Querachse des Raumes. Diesen entsprechen drei Halbsäulenvorlagen an der rückwärtigen geraden Abschlußwand der Krypta. Weitere Säulenvorlagen wurden in der Mitte der rechten Seitenwand sowie in der Apsiswand in der Flucht der freistehenden Stützen festgestellt. Die Säulen entbehren der Basen und tragen kubische Kapitelle mit abgeflachten Ecken. Die rechte Säule in der Apsiszone ist nicht mehr sichtbar, da sich an ihrer Stelle eine Substruktion für den Oberbau erhebt. In der Apsisrundung sind noch zwei Fenster zu erkennen, das dritte lag sicherlich an der Stelle, wo man einen Eingang in den Scheitel der Apsis hineingebrochen hat. Laut Inschrift wurde die Krypta 1791 in eine Sakramentskapelle umgewandelt. Der unterirdische Raum wird heute als Magazin benutzt und ist mit Brettern und Gerümpel so vollgestopft, daß eine genaue Vermessung bislang unmöglich war. Die Lage der Krypta im Verhältnis zu der dazugehörigen alten Oberkirche ist aus (S. 132) dem überschau baren Befund nicht mehr auszumachen. Im 15. Jh. entstand in völlig neuen Größenverhältnissen und ohne Rücksicht auf die Ausmaße der Krypta der Neubau der Kathedrale. Die Rückfront der Kirche wurde vorgezogen. Daher erklärt sich der mehrere Meter lange Gang, den man von der Barocktür bis zur alten Apsisrundung durchschreiten muß. Wahrscheinlich ist die heutige Kirche auch breiter als die alte. Für die Erweiterung in der zweiten Hälfte des 15. Jh. zeugen zwei Inschriftenplatten, die sich in und über dem Spitzbogen am rechten Seitenportal befinden. Die obere nennt das Jahr 1460 und den Bischof Jakobus, die untere in der Lünette lautet: Hoc opus factum fuit pro anima quondam ... Dominici Lippi temporibus domini episcopi Petri A.D. 1477.
Die zweite vierschiffige Krypta mit einer Tiefe von zwei Jochen liegt in Petacciato unweit von Guglionesi. Der Ort ist eines benachbarten Waldes wegen und durch das Brigantentum in dieser Gegend bekannt. Die Kunstgeschichte aber hat sich um Petacciato überhaupt noch nicht gekümmert. Außer einem einst ansehnlichen Adelspalast und einem romanischen Campanile ist vor allem die unbeachtete Krypta der Pfarrkirche S. Rocco zu erwähnen, die heute als Schuppen dient und völlig verwahrlost ist. Sie hat drei Apsiden. Der Raum wird durch drei Säulen mit schlichten Basen und kubischen Kapitellen mit abgeflachten Ecken in vier Schiffe mit einer Tiefe von zwei Jochen gegliedert. Eine vierte freistehende Stütze ist in der Mitte der Hauptapsis zu sehen. Das einfache Kreuzgratgewölbe aus Ziegelstein wird von den Säulen und entsprechenden Wandvorlagen an den Schmalseiten des Raumes sowie an den Wandabschnitten zwischen den Apsiden getragen. Das Licht dringt durch die Apsisfenster ein, die sich in den Nebenapsiden in der Mitte und in der Hauptapsis auf beiden Seiten öffnen. Sicherlich handelt es sich in Petacciato um eine der frühen Krypten im Molise, die, wenn nicht in das 11. Jh., so doch in die ersten Jahrzehnte des 12. Jh. zu datieren sein dürfte.
Die Krypta von S. Nicola in Guglionesi wurde erst 1971/1972 freigelegt. Sie ist nur bis zu einer gewissen Höhe erhalten, da man den Oberteil für die Fundamente der darüberliegenden Kirche des 13. Jh. verwandte. Der unterirdische Raum zeigt drei Apsiden und drei freistehende Pfeiler, von denen nur die Grundplatten erhalten sind. An den Wänden sind die den Stützen entsprechenden Vorlagen mit Halbsäulen und Kapitellen erhalten, auf denen noch Wölbungsansätze sichtbar sind. Die Kapitelle sind mit grob gearbeiteten Palmetten verziert. Die Halbsäulen stehen vor einfachen Wandvorlagen mit Ausnahme zweier an der der Apsis gegenüberliegenden Wand. Diese sind abgetreppt und der rückspringende Teil hatte vermutlich den Wandbogen zu tragen.
Unmittelbar vor der Westfassade von S. Giovanni in Venere wurde 1912 unter der Terrasse ein unterirdischer Raum (11 x 8,80 m) entdeckt, den man nur von der im Norden gelegenen Klosteranlage aus erreichen kann. Der Zweck dieses Raumes ist schwerlich auszumachen. Statisch gab er sicherlich für die Kirchenfassade, vor der das Gelände jäh abfällt, ein starkes Fundament ab. An eine Krypta ist hier wohl kaum zu denken, denn unter dem Querhaus wurde ja gleichzeitig mit dem Bau der Kirche, etwa nach 1200, die berühmte Hallenkrypta errichtet. Altäre sind im westlichen unterirdischen Raum nicht gefunden worden, natürlich fehlen auch die sonst üblichen Apsiden. Wir finden drei Stützen in der Querachse, so daß acht Gewölbefelder entstehen. Zwei Träger sind Monolithsäulen mit profilierten Kapitellen, wohingegen der mittlere aus einem Pfeilerkern mit Säulenvorlagen nach allen vier Seiten gebildet ist. Zwischen breiten Gurten spannen sich einfache Kreuzrippengewölbe. Wie in der Hallenkrypta kommen Rund-und Spitzbogen nebeneinander vor, und zwar sind von den vier Transversalbogen die beiden südlichen rund und die beiden nördlichen spitz. Den drei Stützen entsprechen an der Westwand und an den beiden Schmalseiten im Norden und Süden Pfeilervorlagen. An der Ostseite, d.h. zur Kirche hin, übernehmen Konsolen deren Funktion. Der Raum erhält Licht durch vier Fenster an der Westwand, die frei liegt, da hier das Gelände steil abfällt.
Die nächste zu besprechende Gruppe von Krypten hat bei einem querrechteckigen Grundriß und einer Tiefe von ebenfalls zwei Jochen fünf Schiffe. Der älteste erhaltene Bau dieses Typs ist in S. Maria Assunta in Pescosansonesco zu sehen (12. Jh.). Die zehn Gewölbefelder sind quadratisch. Zwei Säulen stehen in der Öffnung der einzigen Apsis. Alle Stützen und ihre Kapitelle sind Spolien. Das Licht dringt aus einem Fenster im Scheitel der Apsis sowie aus zwei weiteren Fenstern ein, die sich in der der Apsis gegenüberliegenden Wand öffnen.
Die Hallenkrypta in S. Giovanni in Venere hat die gleichen Ausmaße wie das darüberliegende Querhaus. Sie besitzt drei Apsiden und wird durch sechs freistehende Stützen gegliedert. Zwei davon stehen in der Mittelapsis und vier unterteilen den Raum nicht genau in der Mitte, so daß der Abstand zur Apsisseite im Osten größer ist als zur rückwärtigen Westwand. Die Kapitelle wirken altertümlich, und manche erwecken den Eindruck, als fehle ihnen die letzte Ausarbeitung. Den Stützen in der Querachse entsprechen Wandvorlagen in Form von Halbsäulen vor abgestuften Pilastern, deren vorderer Teil den Gewölbegrat und deren rückspringender den Wandbogen aufzunehmen hat. Einfache Kreuzgratgewölbe sind zwischen Gurtbogen eingespannt, die in der Nord-Südrichtung rund und in der Ost-Westrichtung spitzbogig sind. Licht fällt durch drei Fenster in der Hauptapsis und je ein Fenster in den Nebenapsiden ein. Ein niedriger Sockel zieht sich an den Wänden der Krypta entlang. Das Fresko in der Mittelapsis, die thronende Madonna zwischen dem hl. Nikolaus von Bari und dem Erzengel Michael, hatte man mit einer Überlieferung in Verbindung gebracht, derzufolge das Bild von dem Meister Luca di Pallustro aus Lanciano um 1190 gemalt wurde. Von der neueren Forschung wird das Fresko mit Recht wesentlich später in das 14. Jh. datiert. Die in der Krypta verwendeten Spitzbogen lassen eine Datierung in das 12. Jh. nicht zu. Vielleicht war die Anlage bereits früher geplant, die Aus (S. 133) führung kann jedoch nur zusammen mit dem darüberliegenden Langhaus nach 1200 erfolgt sein.
Die ältesten Teile von S. Maria Maggiore in Guglionesi befinden sich im Westen, es sind die drei großen Apsiden sowie Partien des Chors und der darunterliegenden Krypta des 13. Jh., die 1948 wiederhergestellt wurde. 1746 kam es zu einem völligen Neubau der ursprünglich nach Westen orientierten Kirche, die man zu jener Zeit nach Süden ausrichtete. Da das Niveau des Neubaus höher liegt als das der alten Kirche, könnte deren Grundriß vermutlich durch Grabungen festzustellen sein. Die Krypta wird durch vier freistehende Monolithsäulen auf Basen übersichtlich gegliedert. Zwei weitere Säulen stehen in der Mittelapsis. Alle Stützen haben Schaftringe und tragen verschieden geformte Kapitelle. Die Wandvorlagen sind an der Ostwand und an den Schmalseiten des Raumes dreifach gegliedert. Der vordere Teil trägt die Gewölbegurte, der mittlere fängt das Kreuzgratgewölbe auf, und der hintere dient als Auflage für die Wandbogen. Alle Vorlagen setzen über einer Sockelbank an. Jede der drei Apsiden hat in der Mitte ihrer Rundung ein Fenster. Es sind noch Reste von Malereien des 16. Jh. in den Gewölben sichtbar, u.a. die Darstellung des Turmbaus von Babel.
Die einzige siebenschiffige Krypta mit einer Tiefe von zwei Jochen befindet sich in S. Bartolomeo in Carpineto della Nora. Die Breite dieses unterirdischen Raumes des 11. Jh. entspricht derjenigen der Oberkirche. Die Gewölbe setzen unmittelbar auf den sechs freistehenden Pfeilern ohne Kapitelle an. Die drei Apsiden im Osten verjüngen sich konisch und haben platte Abschlußwände, die von schmalen Fensteröffnungen durchbrochen sind. Im Westteil der Krypta stehen die Substruktionen für die mächtigen freistehenden Chorpfeiler der Oberkirche aus dem 13. Jahrhundert.
Die zweijochige und neunschiffige Krypta in S. C1emente a Casauria hatten wir bereits an anderer Stelle erwähnt. Sie dürfte nicht später als in das 11. Jh. datiert werden und deckte sich ehemals in ihrer Breite und ihrem Ostabschluß mit dem alten Grundriß der Oberkirche. Als im 13. Jh. anläßlich des Neubaus der Chorpartie der Oberkirche deren Ostfront um drei Meter vorgezogen wurde, plante man gleichfalls eine Verlängerung der Krypta nach Osten. Man nahm jedoch von dem Vorhaben wieder Abstand und beließ es bei den ursprünglichen Maßen. Indessen zeugen fünf spitzbogige Blendarkaden auf Konsolen, die vor nicht langer Zeit auf der Innenwand der heutigen Ummantelung der Apsiszone der Krypta festgestellt wurden, von dem Plan, sie bis zu dieser Stelle zu verlängern. Nachdem man die Absicht aufgegeben hatte, entstand indessen ein Problem für die Lichtführung. Man half sich, indem man in dem neuerrichteten vorgezogenen Ostabschluß der Kirche Öffnungen anbrachte, die mit den Fenstern der Krypta, eines im Scheitel der Apsisrundung und je zwei links und rechts in der geraden Abschlußwand, korrespondieren. Als man aus statischen Gründen den Hohlraum zwischen Kryptenabschluß und Ummantelung mit Mauerwerk ausfüllte, trug man Sorge, die Lichtschächte nicht zu verschütten und legte regelrechte Lichtkanäle an, die heute noch gut zu sehen sind.
Die Umbauten des Domes von Chieti im 14. Jh. haben das Aussehen der alten Krypta so verändert, daß es fast unmöglich ist, präzisere Angaben über diesen Baukörper zu machen, der vielleicht noch aus der zweiten Hälfte des 11. Jh. stammt. Ganz bestimmt war die alte Krypta zweijochig und nahm die ganze Breite des darüberliegenden Querhauses ein. Sie muß demnach vielschiffig gewesen sein, aber die Zahl der ehemaligen freistehenden Stützen und Gewölbefelder ist nicht mehr auszumachen.
Das konservative Verhalten der Abruzzesen, am Bau von zweijochigen Krypten festzuhalten, wird nur selten unterbrochen. Zu den Ausnahmen gehört eine Gruppe, zu der die Gestaltung der Domkrypta von Sulmona mit drei Jochen in der Tiefe das Vorbild abgab, wie in S. Eusanio Forconese und im Dom von Trivento. Mehr als zwei Joche in der Tiefe zeigen schließlich noch die Krypten von S. Maria Assunta in Assergi und S. Maria in Platea in Campli.
Der älteste erhaltene Teil der Kathedrale von Sulmona ist die Krypta. Unter Berufung auf die historische Nachricht, daß Bischof Trasmundus den Wiederaufbau seiner Kirche um das Jahr 1075 vollzog, wird sie von der Forschung allgemein in das 11. Jh. datiert. Diese frühe Datierung scheint jedoch auf Grund stilistischer Indizien unmöglich. Wenn man die Entstehung der Krypta mit historisch überlieferten Fakten in Verbindung bringen will, kommt frühestens das Datum 1119 in Betracht. In diesem Jahr brachte Bischof Walter (1104-1128) Bauarbeiten an der Kathedrale zum Abschluß. Auch die Überlegung, daß die von Sulmona abhängigen Krypten in S. Eusanio Forconese und in Triventonach allgemeiner Auffassung -frühestens am Ende des 12. Jh. entstanden sind, spricht für die spätere Datierung der Krypta in Sulmona. Denn bei so vielen Gemeinsamkeiten ist ein zeitlicher Abstand von 125 Jahren zwischen den Bauten schwer vorstellbar.
Im Zuge einer Modernisierung der Kathedrale in Sulmona wurde auch die Krypta 1807 erneuert. Dabei wurden die Kapitelle angeschlagen, damit Mörtel und Stuck besser haften sollten. Erst 1910 wurde der alte Zustand, soweit es die Eingriffe von 1807 zuließen, wiederhergestellt.
Die große siebenschiffige Krypta entspricht der Breite der später entstandenen Oberkirche und besaß ursprünglich 16 freistehende Monolithsäulen, zwei Reihen von je sechs Säulen in der Querrichtung des Raumes und vier Stützen in der Apsiszone, d.h. zwei in der Hauptapsis und je eine in den beiden Nebenapsiden. Die beiden mittleren Säulen der hinteren Reihe wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jh. entfernt, als man an dieser Stelle eine dem hl. Pamphilus geweihte Kapelle aus Marmor errichtete, die man noch heute vom Mittelschiff der Kathedrale aus über eine breite geschwungene Treppe von 17 Stufen erreicht. Da die Stützen in der Tiefenachse des Raumes niemals in einer Flucht angeordnet sind, entstehen unregelmäßige Gewölbefelder. Diese zeigen Kreuzgrate zwischen rundbogigen Gurten. In den Kalotten der drei Apsiden findet man eine Art Kreuzgratgewölbe. (S. 134) Den freistehenden Stützen entsprechen Wandvorlagen, bestehend aus Halbsäulen vor schmalen Pilastern, erstere haben die Gurt-und letztere die Wandbogen zu tragen. An den Ecken finden wir abgetreppte Vorsprünge, die die Wandbogen und Gewölbegrate aufzunehmen haben, was wir in Trivento wiederfinden. Die Ausführung der Kapitelle ist uneinheitlich und mittelmäßig. Die meisten zeigen vegetabile Formen, seltener sind figürliche, wie ein Orans mit weit ausgespannten Armen und übertrieben großen Händen oder ein Löwe. Auch geometrische Formen sind verwendet, und zwar mit Vorliebe das Dreieck. An anderen Kapitellen finden sich ähnlich wie in S. Liberatore aHa Maiella und in S. Alessandro in Corfinio der antikisierende Zahnschnitt und ein geriefelter Wulst. Um die gesamte Krypta läuft eine steinerne Sockelbank. Die Mitte der Hauptapsis nimmt der Bischofssitz ein, der in das 13. Jh. zu datieren ist. Licht spenden drei Fenster in der Mittelapsis und je zwei in den Nebenapsiden. Weitere Fenster an den Schmalseiten des Raumes sind heute durch Anbauten verdeckt, zwei ehemalige Öffnungen sind noch an der Innenwand links erkennbar.
Abb. 32: Sant'Eusanio Forconese, S. Eusanio, KryptaDen beachtlichsten Teil der Kirche S.Eusanio in S. Eusanio Forconese (Abb. 32) bildet die gut erhaltene Krypta, die, entsprechend der Oberkirche, 15 m breit und 10 m lang ist, nicht eingerechnet die Tiefe der drei Apsiden. Die siebenschiffige Anlage ist vierjochig. Drei Schiffe entsprechen der Breite der Hauptapsis und je zwei Schiffe der Breite der Nebenapsiden. Im Gegensatz zu anderen abruzzesischen Krypten fällt hier die Schlankheit der Stützen auf, deren Durchmesser zwischen 25 und 30 cm schwankt. Sie bestehen aus Monolithsäulen und Pfeilern. Die letzteren sind an den Seiten abgekantet, so daß der Eindruck achteckiger Pfeiler entsteht, die ebenso grazil wie die Säulen wirken. Die Kapitelle zeigen einen großen Fortnenreichtum. An manchen Stellen schiebt sich zwischen sie und den Gewölbeansatz eine Art Kämpfer, dessen Grundform in einigen Fällen eine auf den Kopf gestellte abgeflachte Pyramide ist. Andere sind vom Würfelkapitell abzuleiten, wieder andere dieser Kämpfer gehen auf antike Formen zurück. Die Behandlung der Kapitelle zeigt in S. Eusanio durchweg einen sehr persönlichen und eigenwilligen Stil. Die beiden Mittelstützen der Krypta, die gleichzeitig das Stützenpaar an der entsprechenden Stelle der Oberkirche zu tragen hatten, sind auf Grund ihrer vielfältigen Funktion anders und sehr viel kräftiger gebildet als die übrigen, mit deren Zartheit sie kontrastieren. Die ursprüngliche ästhetische Wirkung der variierten Stützen wird allerdings heutzutage durch barocke Verstärkungen, die wegen der Anlage der Kuppel nötig wurden, beeinträchtigt. Besondere Sorgfalt verwandte der Architekt auf die pilasterähnlichen Mauervorlagen, die den freistehenden Stützen entsprechen. Sie sind dreifach abgetreppt und tragen die Wand-und die Gurtbogen sowie die Gewölbegrate. Letztere Funktion wird in der sonst vergleichbaren Domkrypta von Sulmona von Wandkapitellen übernommen, so daß dort ein zweifach gestufter Pilaster genügte.
In der linken Nebenapsis der Oberkirche zeigen zwei zur Krypta gehörige Rundbogenfenster sehr altertümliche Dekorationen. In der linken Öffnung rahmen den Bogen ein Fries kleiner Blendarkaden und darüber ein Ornamentband in Form eines gedrehten Taus. Den oberen rechteckigen Abschluß des Bogenfeldes bildet ein Flechtband zwischen zwei Kreisornamenten. Dieses erinnert an vorromanische Schmuckformen, während das Palmetten motiv des rechten Kryptafensters von S. Liberatore alla Maiella abgeleitet werden kann. Da diese frühen Schmuckformen stilistisch nicht mit der im übrigen späten und einheitlichen Apsiszone in Verbindung zu bringen sind und auch nicht sehr geschickt im Mauerverband sitzen, ist die Frage berechtigt, ob wir es hier nicht mit Spolien eines älteren Baus zu tun haben, wie wir sie verstreut auch an der Westfassade ausfindig machen können. Ebenfalls interessant ist die Form des Kryptafensters. Von einer breiten Bogenöffnung verengt sich die Fensterlaibung zu einem schmalen Lichtschlitz, ähnlich wie bei den Kryptenfenstern von Sulmona.
Die Wiederentdeckung der Krypta in der Kathedrale von Trivento verdanken wir Bischof Attilio Adinolfi, der 1928 die Unterkirche von Schutt und menschlichen Gebeinen befreite. Die dem hl. Castus, erster Bischof von Trivento im 4. Jh., geweihte nach Westen ausgerichtete Krypta ist durch zwei Zugänge mit der Oberkirche verbunden und hat eine Tiefe von vier Jochen sowie sieben Schiffe. Die Ausgestaltung ist unbeholfen, verschiedene Bauteile wurden von Vorgängerbauten übernommen, und die einzelnen Konstruktionselemente verbinden sich nicht zu einer künstlerischen Einheit. Die Stützen sind Monolithsäulen und schlanke, aus mehreren Teilen zusammengesetzte Pfeiler. Sie tragen die verschiedenartigsten Kapitelle, umgestülpte Basen, unter einer Deckplatte den auf den Kopf gestellten Pyramidenstumpf mit skulptierten vegetabilen Mustern, quadratische Blöcke mit abgeschrägten Ecken und nachlässige Imitationen von ionischen Kapitellen und Kompositkapitellen. An (S. 135) den Wänden entsprechen den freistehenden Stützen Halbsäulen und in den Ecken Vorlagen, die die Kreuzgratgewölbe auffangen und die vorgelegten Wandbogen tragen. Der Raumeindruck der Krypta wird durch die neue re Substruktion für die Oberkirche gestört. Die Krypta besitzt drei Apsiden, wobei in der Breite der Hauptapsis eine Mauer eingezogen wurde, um den neu errichteten Hauptaltar der oberen Kirche zu stützen. Am besten erhalten ist die linke Nebenapsis, die, wie überhaupt die gesamte Krypta, starke Analogien zur Domkrypta von Sulmona zeigt, so z.B. auch in der Zweiteilung der Kalotte durch einen Gurtbogen. Zwei Fenster geben der Krypta Licht. An der linken Schmalseite des Raumes finden wir in den oberen Wandpartien »opus reticulatum«. Im rechten Teil der Krypta erscheinen an den Pfeilern Spuren byzantinischer Malereien.
In der Kirche S. Maria Assunta in Assergi führt eine Treppe auf der rechten Seite des Mittelschiffs in die geräumige, in den Felsen gehauene Krypta aus der Mitte des 12. Jh., die die Breite und genau die halbe Länge des Mittelschiffs der Oberkirche einnimmt. Die Krypta ist dreischiffig und hat eine Tiefe von fünf Jochen. In ihr wurden die Gebeine des hl. Franeo verehrt, der um 1156 in Roio, einer kleinen Siedlung in der Nähe von L'Aquila, geboren wurde, an den Hängen des Gran Sasso ein Eremitenleben führte und 1226 starb. Die Ausarbeitung der Einzelteile der Krypta ist roh, ihre Gestaltung erreicht bei weitem nicht die Feinheit der Krypta von S. Eusanio Forconese, mit deren Anlage sie verwandt ist. Die Monolithstützen der Krypta von S. Maria Assunta bestehen aus Pfeilern mit abgeflachten Ecken und Säulen, die sich ohne Basen auf dem Felsboden erheben. Die Auflagefläche der Kapitelle ist auffallend breiter als der Durchmesser der Stützen, abgesehen von den Würfelkapitellen eines Stützenpaares. Andere Kapitelle sind unbearbeitet, wieder andere zeigen die unbeholfene Nachahmung antiken Zahnschnittes. Über zwei Seiten eines Kapitells zieht sich in großen ungelenken Buchstaben eine Inschrift »Aldo pr(esbyter) et mona(c)h(us)«. Der sonst unbekannte Aldo ist vermutlich der Erbauer der Krypta. Das Kreuzgratgewölbe ist zwischen Gurtbogen eingespannt. Der Gurt ist dreiteilig mit einem kräftig vorgezogenen Mittelstück. Die Gurtbogen gehen fast unmerklich in die Kapitelle über. Auf der linken Seite der Krypta führt im vorletzten Joch ein Eingang in einen gleichzeitig entstandenen Seitenraum, der durch eine Mittelstütze in vier Kompartimente gegliedert wird. Diese Sakristei, die später als Totenkammer diente, hat die Breite des darüberliegenden Seitenschiffs der Oberkirche und mißt ein Viertel von deren Länge, bzw. die Hälfte der Kryptentiefe.
Wegen späterer eingreifender Umgestaltung der Krypta von S. Maria in Platea in Campli sind exakte Anhaltspunkte für das Aussehen des ersten Zustandes nur schwer zu finden. Wenn nicht alles täuscht, ist der Grundriß fast identisch mit demjenigen in S. Maria Assunta in Assergi. Die Krypta von Campli hat ebenfalls eine Tiefe von fünf Jochen, ist aber nur dreischiffig. Anstelle der erforderlichen acht Stützen gibt es nur sechs. Die beiden fehlenden werden durch lange hohe Mauerzungen ersetzt, die die Stufen der von der Oberkirche ins Mittelschiff der Krypta führenden Treppe flankieren. An den Enden der Zungen setzten die Gewölbe des ersten Joches an. Weitere Aussagen über den ursprünglichen Raum können nur Hypothesen sein.
Es gibt in den Abruzzen noch eine Reihe von Krypten, die so weitgehend zerstört sind, daß ihr Grundriß nicht mehr erkennbar ist, und die demzufolge aus unserer Systematik ausgeklammert werden müssen. Möglicherweise wären durch Ausgrabungen neue Erkenntnisse für die Krypta von S. Clemente al Vomano zu gewinnen. Das 1158 datierte Portal der Oberkirche läßt auch für die Krypta eine Entstehung im 12. Jh. vermuten. Der unterirdische Raum wurde im 17. Jh. zur Begräbnisstätte umgewandelt und ist heute nicht mehr zugänglich.
In den Ruinen der Exkathedrale von Forcone sind noch Wölbungsansätze der alten großen Krypta zu sehen. Sie liegt unter dem Presbyterium. Die Krypta von S. Pietro in Alba Fucense (1123-1126) wurde durch Erdbeben 1915 zerstört. Die Apsis entsprach derjenigen der Oberkirche. Zwei ihrer Fensteröffnungen, durch deren schmale Schlitze Licht in die Krypta fiel, sind erhalten. Die eine liegt im Scheitel der Apsis, die andere an der Südseite, ist aber verbaut durch den Sockel an der Außenwand der oberen Apsis. Aus Gründen der Symmetrie ist ein drittes Fenster für die Apsis der Krypta zu erschließen, das man jedoch nicht gefunden hat.
Der Architekt Gavini machte 1927/1928 die Reste einer von ihm entdeckten Krypta der Klosterruine S. Maria di Cinquemiglia bei Castel di Sangro bekannt. Die früher von S. Vincenzo al Volturno abhängige Kirche steht auf einem antiken Tempel. Spuren der alten Krypta sind unter dem Presbyterium des alten Gotteshauses auszumachen.
Baudekoration
Portale
Am Ende des 11. Jh. kamen die wichtigsten künstlerischen Einflüsse über die von Süden nach Norden entlang des Liriflusses führende Straße in die Abruzzen. In dieser Hinsicht spielte sie damals eine bedeutendere Rolle als die Valeria mit ihren Verbindungsstraßen zur Salaria oder die Straßen am adriatischen Küstenstreifen. Das Lirital verbindet die Abruzzen, vor allem das Marsergebiet, mit Montecassino und Kampanien. Beispiele für die Fäden, die hier hin und her liefen, konnten wir schon bei der Grundrißgestaltung des Kirchenbaus feststellen, wir werden sie später bei der Besprechung der Plastik wiederfinden und sie sehr genau in der Baudekoration vieler Portale belegen können.
Unter dem Einfluß von Montecassino bildet sich in Kampanien und Südlatium eine Portalform heraus, die in den Abruzzen aufgegriffen wird. Kurz nach der Weihe von Montecassino im Jahr 1071 entstanden in Kampanien S. Angelo in Formis bei Capua (1073), die Kathedralen in Aversa (1071-1098) und in Salerno (1076-1085). Die Portale dieser Bauten entwickeln den Typ der Desideriuszeit, der für unsere Landschaft vorbildlich wird. Die Proportionen betonen die Vertikale, zwei bündig mit der Fassade abschließende (S. 136) Pilaster bilden das Gewände, und der Rundbogen über dem Türsturz ist gestelzt. Diese Grundform wird künstlerisch verschieden ausgestaltet. Das Portal von Montecassino, das von einem Stich des Gattola aus dem 18. Jh. bekannt ist, zeigte in allen seinen Bauteilen ornamentale Reliefs, während das Portal von S. Angelo in Formis völlig unverziert und nur von einigen Profilleisten gegliedert ist. Die von Cassino verwendeten Ornamentformen sind aus der Antike übernommen, wie Zahnschnirt, Eierstab und Rauten mit Blütenfüllung. Dem Typ des Portals von Montecassino begegnen wir in S. Pietro ad Oratorium bei Capestrano (1100), in S. Maria in Cellis in Carsoli (1132) oder in S. Clemente al Vomano (1158).
Portale mit Reliefschmuck im Gewände, im Architrav und der Archivolte erhalten eine Betonung in der Fassade, die schwerlich mit der Vorliebe der Abruzzesen für eine einheitlich gestaltete Wandfläche in Einklang zu bringen ist. So kam sehr bald ein anderer, sparsamer dekorierter Portaltyp auf, für den die Desideriuszeit Modelle in den Portalen der Kathedrale von Aversa und vor allem in S. Angelo in Formis lieferte. Von diesen kann man das Portal an der Südseite des Domes von Sulmona oder das an der Nordseite von S. Pelino in Corfinio ableiten.
Mit Ausnahme der ornamentierten Kapitelle ist das Portal von S. Nicola in Pescosansonesco völlig schmucklos und flach in die Wand eingelassen, ebenso wie die Portale von S. Giovanni Evangelista in Celano und S. Maria in Luco dei Marsi, wie das Südportal von S. Giovanni in Venere und noch 1263 das von S. Pellegrino in Bominaco.
Andere Beispiele wiederum zeigen glatte Türpfosten, aber Ornamente im Architrav und in der Archivolte wie S. Maria in Bominaco und noch im 13. Jh. S. Maria di Canneto. Umgekehrt verfuhr man in S. Giusta in Bazzano, wo das Gewände ornamentiert ist, Architrav und Archivolte jedoch unverziert geblieben sind. Der Verzicht auf Schmuck wird auf mancherlei Weise variiert. In S. Giustino in Paganica sind alle Elemente glatt bis auf den Architrav.
An benediktinischen Portalen tragen die Architrave häufig Inschriften, die über Entstehungszeit, Titelheilige oder Bauherrn Auskunft geben. Derartige historische Nachrichten überliefert zunächst der Architrav von S. Angelo in Formis, und diese Gepflogenheit erscheint dann früh in den Abruzzen, z.B. in S. Pietro ad Oratorium und am Südportal des Domes von Sulmona. Ein spätes Beispiel des 13. Jh. ist am linken Portal von S. Tommaso in Varano zu sehen.
Mit der schlichten benediktinischen Portallösung hat man sich in den Abruzzen über viele Jahrzehnte begnügt. Erst im letzten Viertel des 12. Jh. wurde die traditionelle Form im wörtlichen Sinn erweitert. Man hielt nicht mehr ganz so streng wie früher an der geschlossenen Schauwand fest und verlieh dem Portal einen gewichtigeren Akzent. Das bündig mit der Fassade abschließende Gewände wurde reicher ausgestaltet, entweder wurde es nach innen abgetreppt oder es erhielt Vorlagen oder aber bei des zusammen. Die Rahmung erfolgte durch Pilaster und Säulen, und jedes dieser Elemente wurde Stütze einer Bogenrundung. So konnte die einfache benediktinische Archivolte vielfältiger gegliedert werden und ein aufwendiges konzentrisches Bogengewölbe entstehen. Daneben wurden der Prototyp von Montecassino und seine vereinfachte Variation in S. Angelo in Formis aber beibehalten. Ebenso hielt man in den Ornamenten zäh an den traditionellen Ranken-und Palmettenmustern fest. Darüber hinaus bemühte man sich jedoch, auch figürliche Szenen in den Reliefs zu zeigen, wie an den Portalen von S. Maria in Cellis in Carsoli und S. Angelo in Pianella oder am Hauptportal von S. Tommaso in Varano.
Das Hauptportal von S. Clemente a Casauria ist das qualitätvollste seiner Art in unserer Landschaft. Seine einmalig reiche Ausgestaltung ist auf außerabruzzesische, aus dem Norden kommende Einflüsse zurückzuführen. In S. Clemente verbindet das Hauptportal die Vorhalle mit dem Kircheninnern, und um zu erreichen, daß es mit der Fassade fluchtet und nicht in den Vorbau hineinragt, konnte der Architekt diesen Bauteil nicht vorsetzen, sondern mußte ihn in die Westwand der Kirche einlassen, so daß er die Last des aufgehenden Mauerwerks zu tragen hat. In das abgetreppte Gewände sind zu beiden Seiten drei Säulen eingestellt, von denen jede einen Bogen der gestelzten Archivolte trägt. Pilaster bilden den äußeren und inneren Abschluß des Gewändes; die beiden vorderen sind schmucklos, während die beiden hinteren, die die Portalöffnung flankieren, figürlichen Schmuck zeigen, zwei Propheten übereinander, jeder unter einem Baldachin. Ihre monumentale Behandlung verleiht dem Eingang eine völlig neue Bedeutung. Der Architrav aus einem Monolithstein erzählt in seinen Reliefs die Gründungsgeschichte von S. Clemente. In der Lünette ist der hl. Clemens dargestellt mit den hll. Phoebus und Cornelius links, sowie rechts dem Bauherrn Leonas, der das Architekturmodell der von ihm erbauten Kirche trägt. An den Kapitellen der Säulen und Pilaster treiben menschliche Figuren und phantastische Tiere ihr Spiel. Mit Ausnahme von S. Giovanni in Venere ist ein so reicher figürlicher Schmuck an abruzzesischen Portalen nicht mehr zu finden.
Im allgemeinen verfuhr man bei der Portal gestaltung sehr viel einfacher. Es gibt eine Reihe von Portalen, die bündig mit der Fassade abschließen, und deren Gewände nach inen abgetreppt ist, wie z.B. in S. Nicola in Pescosansonesco, wie das Nordportal von S. Giovanni in Venere oder das linke Portal in der Fassade von S. Tommaso in Varano, von dem eine Inschrift sagt, daß es 1202 vom Magister Berardus ausgeführt wurde. Das dortige Hauptportal variiert die eben beschriebene Form, indem in die Abstufung eine Säule eingestellt ist, was in diesem Fall eine unbefriedigende Lösung darstellt, denn die Säulen dienen nur als Schmuck und haben keine architektonische Funktion, d.h. sie tragen keinen Bogen.
Eine andere Gruppe von Portalen, die sich von S. Giusta in Bazzano ableitet, findet sich im Marserland. Für diese ist charakteristisch, daß das bündig mit der Fassade abschließende Portalgewände links und rechts von einer Vorlage flankiert wird. In Bazzano entspricht ihre Form den anderen Vorlagen des Untergeschosses, d.h. sie sind kanneliert und (S. 137) zeigen im Querschnitt die Hälfte eines Achtecks, allerdings sind sie reicher ausgestaltet als die übrigen Vorlagen. In ihren Kannelüren erscheinen versetzt im unteren Teil vegetabile Formen und im oberen Abschnitt kleine Würfel. Die Kapitelle der Portalvorlagen tragen Reliefs mit Atlanten, worauf ein vorkragender Löwe ruht, auf dem der äußere Rundbogen der Archivolte ansetzt. Das System von S. Giusta wird wörtlich vorn Portal in S. Maria delle Grazie in Luco dei Marsi übernommen.
Die Portalfassung, die heute an der rechten Seite der Carminekirche in Celano angebracht ist, stand ursprünglich in S. Salvatore in Paterno. Dieses Gebäude wurde im vorigen Jahrhundert zerstört, weil man ausgerechnet an dieser Stelle die Eisenbahntrasse von Avezzano nach Sulmona verlegte. Ein kunstverständiger Heimatforscher brachte 1887 das Portal in das unweit gelegene Celano, verlor jedoch beim Transport wichtige Teile, die nie wieder gefunden wurden. Auf beiden Seiten fehlen die Verbindungsstücke des äußeren Rundbogens der Archivolte zum Kapitell über den kannelierten Pilastern. Es wäre wohl denkbar, daß die Fehlstellen nach Art von S. Giusta in Bazzano oder S. Maria delle Grazie in Luco dei Marsi eine Löwenfigur enthielten.
Zur Gruppe von Bazzano gehören noch die Portale von S. Nicola in Avezzano und das Frauenportal in S. Cesidio in Trasacco. Das dortige Männerportal (Tf. 60) nimmt eine Sonderstellung ein. Wir haben hier eine Restaurierung des 16. Jh. vor uns. Damals wurde das Portal verbreitert. Die inneren Pilaster des Gewändes, der monolithe Architrav und der innere Lünettenbogen sind dem Frauenportal der Kirche verwandt und gehören zum alten Bestand. Alle übrigen Elemente sind Zutaten aus dem 16. Jahrhundert. Dieses Portal ist eines der seltenen Beispiele in den Abruzzen, wo eine spätere Zeit bei einer baulichen Veränderung versuchte, sich den Schmuckformen des 13. Jh. getreu anzupassen. Frühere Portalrestaurierungen kennen wir aus dem 15. Jahrhundert. Wahrscheinlich infolge von Erdbebenzerstörungen wurde 1494 der Architrav des Portals von S. Pietro in Alba Fucense wiederhergestellt. Man bemühte sich meisterhaft um die Replik des ornamentierten Originals aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Das Datum der Restaurierung ist durch eine datierte Inschrift gesichert und ergibt sich aus der stilistischen Behandlung der Attribute des Petrus, die gekreuzten Schlüssel und die Tiara, die in der Mitte des Architravs dargestellt sind.
Nach S. Clemente a Casauria zeigt das Hauptportal von S. Giovanni in Venere (Tf. 55) den reichsten Schmuck in den Abruzzen. Das Gewände besteht aus bündig mit der Fassade abschließenden und nach innen abgetreppten Pilastern, die von Säulenvorlagen gerahmt werden. Diese Elemente tragen die konzentrischen Bogen der Archivolte. Links und rechts der Säulenvorlagen schließen breite Pilaster an, die bis zur Kapitellhöhe reichen und die berühmten Reliefs zeigen. Darüber erhebt sich auf dem Gesims, das über die ganze Breite der Fassade läuft, eine Blendarchitektur, die die verschiedenen Teile des Portals im oberen Wandabschnitt in einem gemeinsamen Rahmen zusammenfaßt. Die beiden reliefierten Pilasterbänder werden von schmalen Rechteckfeldern, die in Spitzgiebeln enden, bekrönt. Zwischen diese spannt sich als Bekrönung der Archivolte ein Kleeblattbogen. Dieser rahmende überbau steht in seiner Qualität weit hinter dem plastischen Schmuck des Portals zurück und ist flau gearbeitet, stellt jedoch ein Unikum in der Portalgestaltung der Abruzzen dar. Laut Inschrift wurde das Portal im Auftrag des Rainaldus errichtet, der 1225-1230 Abt von S. Giovanni in Venere war.
Einen anderen Sonderfall liefert die Portalanlage von S. Paolo di Peltuino bei Prata d'Ansidonia. Die Fassadenfront ist hier keine einheitliche Fläche, sondern so gegliedert, daß ihr Mittelteil bis zur Höhe des Giebels risalitartig vorgezogen ist. Ein Radfenster und das dem benediktinischen Prototyp folgende Portal akzentuieren den Wandvorsprung, der zugleich zur Erweiterung der Portalanlage benutzt wird; und zwar in der Weise, daß die Kapitelle des bündig mit der Wand abschließenden Gewändes über die ganze, 88 cm betragende Breite der zu beiden Seiten des Portals vorspringenden Wandschicht geführt werden. Damit übernehmen sie eine Doppelfunktion, tragen den Architrav und das aufgehende Mauerwerk des risalitartigen Fassadenteiles. Diese aus dem letzten Viertel des 12. Jh. stammende Fassadenund Portalgestaltung in S. Paolo di Peltuino kann man häufig in der Toskana nachweisen. Neben dem benediktinischen Portal und seinen beschriebenen Variationen gibt es in den Abruzzen und vor allem im Molise einen Typ, der eine Einfassung durch eine mehr oder minder vorspringende Ädikula aufweist. Beeinflußt von antiken Ädikulaportalen taucht dieses Motiv im 12. und 13. Jh. in den verschiedensten Gegenden des Abendlandes auf, z.B. im Kirchenbau der antikenfreudigen Auvergne und natürlich in Italien, in Fossanova in Südlatium und an vielen Kirchen in Apulien, z.B. in S. Nicola in Bari oder in S. Maria Maggiore in Monte S. Angelo, um nur wenige Beispiele zu nennen. Da die meisten Portalädikulen im Süden unserer Gebirgslandschaft liegen, dürfte Apulien die Anregung zu dieser Bauidee gegeben haben. Das früheste Beispiel einer Ädikula liefert im Molise das Hauptportal von S. Maria della Strada, wo auch verblüffend früh, 1148, das erste Radfenster in Italien anzutreffen ist. Erst ein halbes Jahrhundert später begegnen wir der nächsten Ädikula.
Die Portalanlage in S. Maria della Strada zeigt im Kern die schlichte benediktinische Form. Diese wird von einer Ädikula gerahmt, bestehend aus zwei schlanken, wenig vorspringenden Pilastern, die ein spitzes Giebeldach tragen, das in der Scheitelhöhe der Archivolte ansetzt. Hier wie in den folgenden Beispielen besteht ein Widerspruch zwischen der benediktinischen Schlichtheit des eigentlichen Portals und der Rahmung, die zum aesthetischen Selbstzweck wird und die Ausgewogenheit des Ganzen stört.
In S. Giorgio in Petrella Tifernina (Tf. 49) führen Stufen zu dem etwas zu groß ausgefallenen Portal werk, das sich in der Mitte der Fassade befindet. Der innere, wieder nach benediktinischem Muster gebildete Teil wird von einer Ädikula umgeben, deren breite, vorgezogene Pilaster auf dem (S. 138) Sockel ansetzen, der sich über die gesamte Breite der Fassade zieht. Die Kapitelle der Pilaster liegen in Höhe des Architravs, und die Deckplatten darüber haben eine doppelte Funktion. Einmal tragen sie einen reich ornamentierten Rundbogen, der die Verbindung zwischen dem tiefer in der Wand liegenden konzentrischen Lünettenbogen und der vorgesetzten Ädikula herstellt, und zum anderen tragen sie das aufgehende Mauerwerk des Giebelfeldes. Der Giebelanstieg setzt niedriger an als in S. Maria della Strada, nämlich etwas unter der Scheitelhöhe der Archivolte, so daß ein stumpferes Dreieck und insgesamt der Eindruck von Gedrungenheit entsteht.
Bemerkenswert an der Kirche S. Bartolomeo in Campobasso ist vor allem die Eingangsfassade. Hier ist eine Bauhütte um die Mitte des 13. Jh. nachzuweisen, die ihr Gliederungssystem aus Apulien und der Capitanata in das Molise brachte. Das Portal wird zu beiden Seiten von einem Blendbogen flankiert, der auf vorgelegten Pilastern ohne Basis ansetzt. Der hochrechteckige Portaleingang zeigt wie üblich bündig mit der Wand abschließende Pilaster, einen unverzierten Architrav und eine Lünette mit einer skulptierten Bogenrundung. Charakteristisch ist hier wieder die Portalrahmung durch eine Ädikula mit zwei kräftigen vorgesetzten Säulen, die einen Giebel tragen, dessen Schrägen schwach profiliert sind. Die nächste stilistische Beziehung zu dieser Anlage zeigt das 1198 datierte Portal von S. Maria Maggiore in Monte S. Angelo auf dem Monte Gargano, dessen Vorbild das Portal von S. Nicola in Bari ist.
Das Seitenportal von S. Maria Maggiore in Lanciano (Tf. 61) ist ein schönes Beispiel für die Rezeption und Abwandlung der antiken Ädikula in der Hohenstaufenzeit. Es befindet sich am südlichen Seitenschiff im Vico Garibaldi, einer ansteigenden Gasse, deren Niveauunterschied auch in der Gestaltung der Sockelzone der Seitenschiffswand zum Ausdruck kommt. Im unteren Teil der Mauer ist die Behandlung der Steine rustikaler als im oberen Wandabschnitt, wo sie glatt geschnitten und fein gefügt sind. Beide Mauertechniken werden getrennt durch einen mächtigen Wulst in Verbindung mit einer Hohlkehle, der sich an der gesamten Längswand hinzieht und in gewissen Abständen, entsprechend der Steigung der Gasse, abgetreppt ist. Kunsthistorisch bedeutsam ist das Seitenportal in Höhe des zweiten Seitenschiffsjochs, das die beschriebene Sockel zone unterbricht. Das innere Portalgefüge mit glatten Pfosten, glattem Architrav und spitzbogiger Lünette wird durch eine Archivolte mit mehreren zugespitzten Bogenläufen eingefaßt, von denen der mit einem Pflanzenmuster dekorierte äußere auf schlanken Säulen mit Knospenkapitellen aufsetzt. Die nur wenig aus der Wand herausragende Ädikula erhebt sich auf zwei kannelierten Pilastern, deren Kapitelle ungefähr in der Scheitelhöhe des äußeren Bogenlaufs der Archivolte liegen. Deckplatten tragen den schweren Giebelaufsatz, der aus einem kräftigen Konsolengesims zwischen schmalen Profilleisten gebildet ist. Die Giebelschrägen fallen nicht geradlinig ab, sondern knicken über den Deckplatten in die Horizontale um. Gleiche Strukturelemente finden wir in Castel del Monte am Portal der Burg Friedrichsll. (1240) und an der Adlernische an der Nordfront des Kastells Ursino in Catania (1239-1250).
Das einzige Beispiel einer Portalädikula in den nördlichen Abruzzen begegnet uns in S. Giovanni ad Insulam (um 1200). Die Formen lassen sich hier kaum von Apulien ableiten, eher aus den Marken. Im Unterschied zu den vorigen Portalen weist die Ädikula in S. Giovanni ad Insulam keine Pilaster auf. Man brachte neben dem Architrav Konsolen an, auf denen die Giebelwand ruht. Die gleichmäßig abfallenden Giebelschrägen enden in der Scheitelhöhe des äußeren Bogens der Archivolte. Der Gegensatz zwischen der kräftig profilierten Ädikula und den flachgearbeiteten figürlichen Reliefs des Portal gewändes ist keine künstlerische Ungeschicklichkeit, sondern ein bewußtes Stilmittel, das in Oberitalien vorkommt und in den Marken aufgegriffen wird. Das Portal der Pfarrkirche von Montefiore dell'Aso in der Provinz Ascoli Piceno steht dem von S. Giovanni ad Insulam am nächsten. Die antikisierende kassettenartige Rahmung der Reliefs kann in diesem Fall tatsächlich aus Oberitalien abgeleitet werden. Im allgemeinen jedoch begegnen wir ihr an Orten, wo die Antike direkte Spuren hinterlassen hat, wie z.B. am Portal von S. Vittoria in Carsoli, das sich früher in S. Maria in Cellis bei Carsoli befand, und dessen kassettierte Figurenreliefs antike Vorbilder finden konnten, die noch heute als Spolien am Campanile von S. Maria in Cellis erscheinen.
Wir begegnen der Ädikula nicht nur in der monumentalen Architektur sondern auch in architektonischen Kleinformen. Als Beispiel sei eine seltene, eigenwillige Anlage angeführt, nämlich das Grabmal des 1204 verstorbenen Abtes und Kardinals Odorisius II., das links neben dem Hauptportal von S. Giovanni in Venere in die Außenwand der Kirche eingelassen ist (Tf. 62). Daß hier kein Kenotaph vorliegt, der nur zum Gedächtnis des verdienten Abtes errichtet wurde, geht aus den etwas holprigen Hexametern der Inschrift hervor, wonach dieser »tumulus« den Toten in sich barg. Ein Johannes Ciconia war der Auftraggeber des Grabmals, wie der Text sagt, der in zwei Rundbogenfelder eingeritzt ist, die das Zentrum dieses eigentümlich gestalteten Monumentes bilden. So sehr die Rahmung der Verse an die Form der Gesetzestafeln des Moses erinnern mag, haben wir es hier doch wohl mit dem Abbild eines architektonischen Elementes zu tun. Und zwar sind die Hexameter auf den beiden Flügeln einer geschlossenen Tür an der Vorderfront eines stilisierten Grabgebäudes eingeritzt. Über der Inschrift auf der rechten Seite erkennt man deutlich den Ansatz eines Giebelfeldes, das von einem Pilaster getragen wird. Der heute fehlende linke Teil kann entsprechend leicht ergänzt werden. Diese Grundform wird von einer Ädikula umschlossen, die den Umriß des Grabhauses in fünffacher Abtreppung wiederholt, so daß die architektonische Grundvorstellung dekorativ überspielt wird, was typisch abruzzesisch ist. Die Abtreppungen der Ädikula waren jeweils durch bunte, mosaizierte Bänder voneinander abgesetzt.
Ausnahmen von den bisher beschriebenen Portalsystemen (S. 139) sind in den Abruzzen selten. Von lombardischen Einflüssen scheint der Eingang zur Domkrypta von Atri zu zeugen. Das Portal hat keinen Architrav. Das Gewände ist vierfach abgetreppt, und die vier Bogen der Archivolte setzen ohne Kapitell auf den Pilastern des Gewändes an. Hier tritt in den Abruzzen sehr früh eine Portalgestaltung auf, die im späteren Mittelalter ein reiches Nachleben gefunden hat.
Andere Portallösungen wurden gefunden, indem man sich auf das antike römische Portal besann, ein einfaches Hochrechteck ohne Tympanon über dem Architrav. Ein derartiges Beispiel ist in dem sehr fein ornamentierten Portal von S. Bartolomeo in Carpineto della Nora zu sehen. Zweifelhaft ist, ob man auch in S. Maria delle Grazie in Civitaquana ein Portal dieses Typs annehmen darf. Das Portal der alten Kirche wurde anläßlich von Restaurierungen in die Flanke des später erbauten Seitenschiffs eingelassen, und es ist nicht sicher, ob das Lünettenfeld über dem rechteckigen Portal nie bestand oder aber verloren gegangen ist.
Fenster
Mit dem Licht, das dem Kirchenraum zugeführt wurde, verfuhr man sehr sparsam. Die unverglasten Lichtöffnungen verengen sich in den Mauerwänden meistens von außen nach innen. Im Gegensatz zur Außenseite erfährt die Innenseite keine künstlerische Behandlung. Wenn es sich nur um schlitzartige Öffnungen handelte, verzichtete man häufig auf die Verjüngung der Fensterlaibung.
Die Verengung des Fenstergewändes konnte auf verschiedene Weise erfolgen. Am südlichen Seitenschiff der Kathedrale von Corfinio z.B. zeigt das Rundbogenfenster keine abgeschrägte Laibung, sondern im Innern ist ein Steinrahmen mit einer schmalen Rundbogenöffnung eingestellt, um den Lichteinfall zu reduzieren.
Wieder eine andere Behandlung besteht darin, daß sich die Laibung bis zur Hälfte der Mauerdicke verengt und danach wieder weitet, so daß also die schmalste Stelle der Öffnung in der Mitte des Fenstergewändes liegt. Beispiele hierfür bilden die Kryptenfenster des Doms von Sulmona und die Fenster in S. Eusanio in S. Eusanio Forconese. Die Regel in den Abruzzen und im Molise ist jedoch die sich gleichmäßig von außen nach innen verengende Laibung.
Die dekorative Behandlung der Außenseiten der Lichtöffnungen ist eng mit dem Portalschmuck verwandt. Wir werden daher auch hier auf benediktinische Gewohnheiten stoßen. In S. Maria in Bominaco umranden kunstvolle Schmuckbänder die Seiten und die Lünette der Fenster, am südlichen Seitenschiff von S. Pelino in Corfinio begleiten sie nur die Bogenrundung. Das Formenrepertoire ist das übliche benediktinische mit Ranken, Palmetten und Blüten. Es wird immer wieder benutzt, wie an den Kryptenfenstern des Domes von Atri oder am Fenster der Mittelapsis von S. Maria Maggiore in Pianella.
Wie im Portalbau gab man sich auf die Dauer nicht mit der einfachen flächigen benediktinischen Gestaltung zufrieden. Man bemühte sich, das Fenstergewände stärker zu akzentuieren. Hierbei bediente man sich -häufiger als bei den Portalen -der Säule. An den Fenstern der Mittclapsis von S. Pelino in Corfinio und in S. Clemente a Casauria haben die schlanken Säulen mit Basen und Kapitellen eine Doppelfunktion. Sie bilden einmal die Rahmung des Fensters und zum anderen stützen ihre Kapitelle ein Gesims. Meistens aber dienen die Säulen allein der Ausgestaltung der Fensteranlage und tragen vorspringende Bogen. Ein Beispiel dafür findet sich an der Ostfront von S. Maria di Ronzano (Tf. 64). Wie in S. Maria in Bominaco wird die Öffnung von Rankenblättern begleitet. Seitlich anschließend in Höhe der Sohlbank tragen weitvorkragende Konsolen zwei Säulen mit Kapitellen und Deckplatten, die den vorgezogenen ornamentierten Fensterbogen stützen. Komplizierter und einmalig in den Abruzzen ist das Fenster über dem rechten Eingang der Fassade von S. Tommaso in Varano bei Caramanico. Das Gewände schließt bündig mit der Fassadenwand ab und ist zweifach nach innen abgestuft mit je zwei eingestellten Säulen mit Basen und Kapitellen, die die beiden unbearbeiteten Bogen der Archivolte tragen. Die rechteckige Öffnung ist tief in die Wand eingelassen und wird zu beiden Seiten sowie oben von Schmuckbändern mit Palmettenmustern gerahmt. Das Vorkommen eines verzierten Fensterarchitravs in dieser Zeit ist selten und steht hier in engem Zusammenhang mit entsprechenden Portallösungen.
Für die steinernen Fenstertransennen konnten wir schon vor dem Jahre 1050 verschiedene Beispiele anführen. Die Tradition hält sich in unserer Landschaft bis in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts. Die künstlerische Qualität der Transennen ist von einer Reife, die wir sonst in Italien kaum wiederfinden. Die früheren Steinfenster, die vor allem in der Provinz Teramo zu belegen waren, kannten nur die Füllungen mit geometrischen Mustern. Diese Tradition nimmt noch einmal S. Maria di Ronzano auf. Dort zeigt die Öffnung des mittleren Apsisfensters im Osten ein kunstvolles steinernes Netz, gebildet aus kleinen ausgesägten, übereck stehenden Quadraten, ein Muster, das auch das kleinere rechte Fenster der Apsis wiederholt.
Die ausgezeichnete Erhaltung der beiden Transennenfenster an der Ostapsis der Kathedrale von Corfinio verdanken wir dem Umstand, daß diese zerbrechlichen Gebilde bis zum Sommer 1917 vermauert waren und erst anläßlich von Restaurierungen wieder freigelegt wurden. Erhalten sind nur die beiden ungleich behandelten Seitenfenster der Apsis (Tf. 65). Die Höhe der Lichtöffnung war für eine einzige ausgesägte Steinplatte zu groß, und man mußte sie daher in der Horizontalen durch einen Steg unterteilen und erhielt auf diese Weise zwei -bei jedem Fenster verschieden hohehochrechteckige Felder für die Transennen; aus einer dritten Platte bestehen die Lünetten. Als Ornamente finden wir herzförmige Palmetten, die aus der benediktinischen Reliefkunst übernommen wurden.
Wahrscheinlich wurde die rechte Fensterrose an der Fassade von S. Giusta in Bazzano von Transennenfenstern des Marserlandes im 13. Jh. beeinflußt. Beispiele für diese Formverwandtschaft liefern das kleine Steinfenster von S. Pietro in Alba Fucense, das früher in der dortigen Ikonostasis ein (S. 140) gemauert war, und em Fenster in S. Maria in Luco dei Marsi.
Die künstlerische Behandlung der Fenster war für die Abruzzesen nicht nur eine formale Angelegenheit. Man versuchte, in ihren Schmuck auch figürliche Darstellungen und damit eine inhaltliche Bedeutung einzuführen. So wird z.B. das große Apsisfenster von S. Clemente a Casauria mit figürlicher Plastik versehen. Das mehrfach abgetreppte Gewände mit der tief in der Wand liegenden rechteckigen Öffnung wurde ursprünglich von zwei Säulen eingefaßt, deren noch erhaltene Basen auf den Rücken vorspringender Löwen ansetzen. Diese Tiere ruhen auf rechteckigen Platten, die von Adlern gestützt werden.
Einzigartig in Form und Inhalt ist das Fenster in der Mittelapsis von S. Tommaso in Varano (Tf. 66). Der Meister arbeitet hier kunstvoll mit verschiedenen Tiefenschichten und schafft eine ungewöhnliche Rahmung. Das Gewände des Rundbogenfensters schließt wieder bündig mit der Fassade ab, ist mehrfach gestuft und überdies zu beiden Seiten nischenförrnig ausgeweitet, so daß Raum entsteht, um zwei Skulpturen auf Sockelplatten aufzustellen. Die linke Figur ist vollständig erhalten und zeigt einen Engel, die rechte ist nur im unteren Teil bis zu den Knien sichtbar und wurde ebenfalls als Engel interpretiert. Die Behandlung des Unterkörpers entspricht jedoch nicht der linken Figur. Die Schrägstellung der Beine läßt eher auf eine Sitzfigur schließen, und wir hätten es dann mit der Darstellung einer Verkündigungsmadonna zu tun.
Wieder neue Lösungen zeigen die Apsisfenster von S. Maria in Bominaco. Die linke Nebenapsis verdankt ihren Architekturschmuck und das Fenster moderner Restaurierung in Analogie zur rechten Apsis. Die Hauptapsis ist durch drei Fenster betont (Tf. 63), von denen das mittlere höher ist als die beiden seitlichen; die beiden Nebenapsiden besitzen nur je eine Öffnung. Das Formenrepertoire der Dekoration ist das in den Abruzzen übliche, aus Löwenschwänzen, Akanthusblättern usw. entwickeln sich immer wieder anders geartete vegetabile Formen. Einmalig in den Abruzzen dagegen ist der Umstand, daß die Epigraphik in die Fensterdekoration einbezogen wird. Und da es sich offenbar um liturgische Texte handelt, die dem wissenden Betrachter vermittelt werden sollten, erhält die Apsis eine neue und einzigartige, gleichsam theologische Funktion. An der Hauptapsis ist zu beobachten, wie die Ornamentbänder von Inschriften auf besonders zugeschnittenen Steinen gerahmt werden. Ihre Entzifferung ist erschwert, da die Buchstaben gleichmäßig aneinandergereiht sind, so daß die Wortanfänge nicht deutlich werden. Im übrigen scheinen die Texte auch nicht vollständig erhalten zu sein. Das linke Fenster der Hauptapsis hat über der Rundung folgende Inschrift: Et fac nos ad celestia regna Virginis alme Marie. Der vertikale rechte Streifen bietet ein von oben nach unten zu lesendes Bruchstück: ... na subire leo fortis. Immerhin kann man aus dem Text schließen, daß der darunterstehende Löwe eine sinnbildliche und nicht nur dekorative Bedeutung hat, und so könnte man verallgemeinern, daß die in den Abruzzen beliebte Formenwelt mit gewissen religiösen Sinngehalten in Verbindung zu bringen ist. Die Verse am Mittelfenster ergeben die Anfänge eines Wechselgesangs, der in der Osterzeit gesungen wurde, und der von unten nach oben gelesen werden muß: Regina celi letare. Alleluia. Quia qm. Alleluia. Oramus [!] sieut dixit. Alleluia. Ore Xp nobis [!] meruisti portare. Alleluia. Resurrexit. Das rechte Apsisfenster trägt die Inschrift: Regem eeli genuisti regina perenne ...
Kapitelle
Die Erforschung mittelalterlicher Kapitelle in Italien ist so unzureichend, daß sich heute kaum feststellen läßt, ob in den Abruzzen und dem Molise Kapitellgattungen vorkommen, die sich von denen der übrigen italienischen Kunstlandschaften wesentlich unterscheiden. Sehr viele auf antikem Boden errichtete Kirchen übernahmen römische Kapitelle des betreffenden Ortes oder des Umlandes als Spolien. Das beste Beispiel dafür liefert S. Pietro in Alba Fucense, wo die antiken Kapitelle auf 18 klassischen kannelierten Säulen ansetzen. Ansonsten bemühte sich das abruzzesische Mittelalter mehr oder minder hilflos um die Nachbildung von Beispielen des Altertums. Ein besonders reiches Nachleben haben ionische und korinthische Kapitelle sowie das Kompositkapitell. Für die Verzierungen bediente man sich gern des Repertoires, das die benediktinischen Baugewohnheiten entwickelt hatten. Immer wieder begegnet man vegetabilen Formen wie Weinranken und Palmetten.
Eine andere Gattung von Kapitellen, wie z.B. die in S. Liberatore alla Maiella, zeigt eine Vorliebe für geometrische bzw. abstrakte Formen (Tf. 67a, 67b). Die dortigen Kapitelle sind sehr niedrig und bauen sich aus schmalen Zierbändern auf, deren Muster der Antike entlehnt sind. Es erscheint zuunterst der Zahnschnitt, dann das Taumuster, darüber eine Art Perlstab und nochmals das Taumuster, jeweils durch eine glatte Leiste voneinander getrennt. Der Abakus als Mittler zwischen Kapitell und Rundbogen ist meistens unbearbeitet, an einigen Stellen jedoch kommt das traditionelle Flechtband vor. Die aus der Antike übernommenen Zierelemente in S. Liberatore tauchen dort auch am Apsisbogen und an den Gurtgesimsen des Campanile auf.
Mit ihrem Hang zur Vereinfachung begnügten sich die Abruzzesen oft mit schlichteren Grundformen. Verbreitet ist der auf den Kopf gestellte Pyramidenstumpf. Wir treffen ihn in den Krypten des Domes von Trivento und von S. Giovanni in Venere an. Einiges Interesse erwecken die Kapitelle in S. Maria in Valle Porclaneta bei Rosciolo, die alle verschieden ausgebildete Details zeigen (Tf. 68a, 68b). Die Grundform ist indessen meist wieder ein auf dem Kopf stehender Pyramidenstumpf. Dessen auf dem Pfeiler ruhende Fläche ist ebenso groß wie dieser, so daß der Übergang zum Kapitell nicht akzentuiert ist und etwas plump ausfällt. Am zweiten linken und fünften rechten Kapitell, die im Gegensatz zu den übrigen Deckplatten aufweisen, erkennen wir den antikisierenden Formenapparat mit Eierstab, Zahnschnitt, Taumuster usw., den wir am frühesten in S. Liberatore alla Maiella und dann in vielen anderen Kirchen antref (S. 141) fen, d.h. in denjenigen, die unmittelbar Montecassino unterstanden. Andere Kapitelle in S. Maria in Valle Porclaneta weisen figürliche Darstellungen auf, deren Ausführung rückständig wirkt, wieder andere zeigen eine gemeinsame Vorlage, aber eine ganz unterschiedliche, mehr oder minder geschickte Fertigung. So beobachtet man z.B. ein zweifaches Wellenband mit Blüten in den Schlingen, die einmal ganz schematisch wie runde Scheiben oder Ellipsen gebildet sein können und ein andermal sehr anschaulich das Sichverschlingen der Wellenlinien zeigen. Auch die Kapitelle von SS. Giovanni e Vincenzo in Turrivalignani erfahren eine unterschiedliche Ausarbeitung bei ungefähr gleicher Grundform eines auf dem Kopf stehenden Pyramidenstumpfes. Einige sind nicht verziert, die meisten aber zeigen Pflanzenformen. Bemerkenswert ist das Kapitell am letzten Pfeiler auf der linken Seite des Langhauses. In etwas roher Behandlung begegnen wir dort dem antikisierenden Formenapparat von S. Liberatore alla Maiella. Im Kreuzgang des Domes von Atri (13. Jh.) sind die Kapitelle und Kämpfer rustikal gearbeitet, aber reich an Formen. Man findet auch hier den Pyramidenstumpf, dessen Ecken ausgekehlt sind, andere Kapitelle sind nachlässige Weiterbildungen des korinthischen Schemas.
Außer dem Pyramidenstumpf gibt es eine andere einfache stereometrische Grundform, das Würfelkapitell. Das früheste Beispiel dieser Art ist vermutlich in der Domkrypta von Penne zu finden, das wir an anderer Stelle erwähnten. Das Würfelkapitell, das anfänglich nördlich der Alpen und in der Lombardei beheimatet war, gelangte über Montecassino in die Abruzzen. Es taucht am Ende des 11. Jh. in dem von Cassino abhängigen S. Liberatore alla Maiella auf. Die Halbsäulenvorlagen, die dort im Osten und im Westen den Bogen der letzten Arkade auffangen, zeigen an der westlichen Innenfassade das Würfelkapitell, im Osten hingegen abgewandelte korinthische Formen.
Im 12. Jh. erscheinen im Altbau des Domes von Atri kubische Kapitelle an zwei Halbsäulen neben dem Campanile im Seitenschiff. In der Krypta von S. Maria Assunta in Assergi krönen sie das erste Stützenpaar nach Nordwesten. Die Kapitelle in S. Maria del Lago in Moscufo (12. Jh.) zeigen vegetabilen Schmuck bei stereometrischen Grundformen, unter denen das oben abgeflachte Würfelkapitell auffällt. Alle werden durch einen kräftigen Wulstring vom Säulenschaft abgesetzt. In S. Clemente al Vomano (1158) sind die Würfelkapitelle der Halbsäulenvorlagen vor den Apsiden von geringerer Qualität. In S. Maria Maggiore in Pianella (ca. zweite Hälfte des 12. Jh.) haben die Kapitelle der linken Stützenreihe sowie die beiden letzten auf der rechten Seite vor dem Chor altertümliche Formen, die sich aus dem Würfel entwickeln. Ihr Schmuck besteht auf allen vier Seiten aus einem gleichschenkligen Dreieck mit der Spitze nach unten, das in zartem Relief aus dem Würfel skulptiert ist, so daß es wie eine hauchdünne Auflage auf diesem erscheint.
Das 13. Jh. setzt die Tradition des Würfels fort. In der Oberkirche von S. Giusta in Bazzano (ca. 1218) stehen zwei mächtige Würfelkapitelle auf römischen kannelierten Säulen. Für die Kapitellforschung liefert die Krypta von S. Eusanio in S. Eusanio Forconese reichliches Material. Zwischen Gewölbeansatz und Kapitelle schiebt sich an manchen Stellen eine Art Kämpfer, dessen Grundform der umgekehrte Pyramidenstumpf ist. Andere Formen leiten sich aus dem Würfel ab, andere wieder aus der Welt der Antike. Durchgängig prägt sich in S. Eusanio in der Behandlung der Kapitelle ein sehr persönliches und eigenwilliges Verhalten aus. Ein Unikum bietet S. Tommaso in Varano bei Caramanico in der Fensterrose des 13. Jahrhunderts. Dort zeigen die Speichen an beiden Enden eine Art von Würfelkapitell. In S. Maria di Canneto im Molise sind die Kapitelle grob gearbeitet und alle verschieden. Einige weisen die kubische Grundform auf, andere ahmen in rustikaler Weise mißverstandene antike Vorbilder nach.
Die Form des Würfels kann man noch bis in die Mitte des 14. Jh. weiterverfolgen. In S. Maria di Propezzano bei Morro d'Oro tragen den Langhauspfeilern vorgelegte Halbsäulen mit attischen Basen und Würfelkapitellen die Arkadenbogen. Den größten Reichtum an qualitätvollen kubischen Kapitellen zeigt S. Maria in Colleromano, eine Kirche, die etwa 1 km südöstlich der Stadt Penne auf einem bewaldeten Hügel liegt. Das Langhaus hat eine Tiefe von acht Jochen mit Spitzbogen arkaden. Bei gleichbleibenden Basen und Würfelkapitellen wechseln Säulen und Pfeiler in rhythmischer Folge ab. Als Baumaterial benutzte man Ziegel, deren Lagen geschickt zu einer einheitlichen Fläche zusammengefügt sind.
Auffallend wenig vertreten sind Kapitelle mit figürlichen Darstellungen, wobei sie im 12. Jh. zahlreicher sind als im darauffolgenden Säkulum. In der Krypta der Kathedrale von Sulmona kommen künstlerisch nicht sehr bedeutsame Kapitelle vor, wovon eines eine Oransfigur mit übergroßen ausgebreiteten Händen, ein anderes einen Löwen und ein geflügeltes Tier zeigt. In S. Pietro ad Oratorium findet man in den Schlingen einer Weinranke (Tf. 69b) einen Vierfüßler und eine vielfach in sich verschlungene Hydra. Ein Kapitell an der rechten Langhauswand von S. Clemente al Vomano läßt den vorderen Teil eines liegenden Tieres erkennen, ein anderes in S. Giovanni ad Insulam Tauben mit ausgebreiteten Flügeln und ein Ungeheuer, das in die Pfoten eines Vierfüßlers beißt. Diese sterilen Formen, die sich immer wiederholen, erfahren, aus französischen Anregungen gespeist, eine Neubelebung in S. Clemente a Casauria (ca. 1176). Dort sind die Kapitelle im mittleren Bogen der Vorhalle mit den Reliefs der Apostel geschmückt, deren Häupter von kleinen Rundbogen eingerahmt werden.
Gesimse
Bedacht auf die Schlichtheit des Kirchenbaus, ließ man in den Abruzzen die Wände des Mittelschiffs im Innern zumeist glatt und ohne Baudekoration. Die horizontale Gliederung einer Mauerfläche durch Gesimse über dem Scheitel der Arkadenbogen, unter dem Gewölbeansatz oder den Lichtgadenfenstern ist keine abruzzesische Gewohnheit und verdankt ihr Erscheinen in unserer Landschaft Zisterzienser (S. 142) einflüssen, ganz gleich, ob es sich um Profil bänder oder der Antike entlehnte Konsolengesimse handelt. Die letzteren waren in vielen Gegenden Frankreichs bekannt und wurden durch die Zisterzienser in Unteritalien vor allem in Apulien verbreitet, z.B. finden wir sie an den Domen von Bari, Bitonto und Ruvo sowie im südlichen Latium in den Zisterzienserklöstern Fossanova und Casamari. Bei S. Maria Maggiore in Lanciano, wo das Profilgesims über den Arkaden unter dem Lichtgaden liegt und bei S. Giovanni in Venere, wo an ähnlicher Stelle ein Fries an der Langhauswand verläuft, der sich in gleicher Höhe auf der Westwand fortsetzt, mögen allgemeine Zisterziensereinflüsse vorliegen, während bei anderen Kirchen ein direkter Einfluß der abruzzesischen Zisterzienserkirche S. Maria in Arabona zu postulieren ist. Dort wird der mittlere Abschnitt der Querhauswände durch zwei Profilgesimse akzentuiert, von denen eines über den Scheiteln der Arkaden verläuft und das andere unter den Sohlbänken der Lichtgadenfenster in Höhe der Deckplatten der Wandvorlagen. Das untere Gesims setzt sich im Chorraum in gleicher Höhe als antikisierendes Konsolengesims fort, während das obere sich nur auf der nördlichen und südlichen Wand des Presbyteriums hinzieht. Von S. Maria in Arabona beeinflußt ist das von Konsolen gestützte Gesims im Langhaus von S. Clemente a Casauria. Es liegt in Höhe des Schwibbogen ansatzes über den Arkadenscheiteln und endet an der Westwand unmittelbar oberhalb des Schachbrettfrieses, dcn Abt Leonas unter den drei Öffnungen der Michaelskapelle anbringen ließ. Der geringfügige Höhenunterschied mag aus den zwei verschiedenen Bauphasen zu erklären sein. Ein von Arabona abzuleitendes Konsolengesims in S. Pellegrino in Bominaco (1263) markiert den Ansatz des spitzbogigen Tonnengewölbes in der aufsteigenden Wand.
Ganz anders als bei der Dekoration der Wände im Innern verhielt sich der abruzzesische Kirchenbau an den Außenmauern der Gotteshäuser. Mit Hingabe wurden hier Leistungen vollbracht, die von einem qualitätvollen Lokalstil zeugen, der sich auf verhaltene Weise äußert und längst nicht so bombastisch, ja manchmal aufdringlich erscheint, wie der, den unzählige ober-und mittelitalienische Monumente zeigen. Mehrere Beispiele in den Abruzzen konnten wir schon in dem Kapitel über die Fassadengestaltung anführen. Darüber hinaus dekorierte man die Langhauswände, die Rückfront und am reichsten die Apsiden. Die Schmuckfreudigkeit tat sich hier schon ein Jahrhundert früher kund als an den Innenwänden. Als Grundelement der Baudekoration dient der Rundbogenfries, der in Oberitalien bereits länger bekannt war und über Montecassino im südlichen Latium, im nördlichen Kampanien und in den Abruzzen Einzug hielt. Diesen importierten Schmuckfries variieren die Bewohner des Berglandes mit immer wieder neuen Einfällen. Häufig begnügte man sich mit der einfachen Blendarkatur. Daneben begann man, in die kleinen Bogenfelder vegetabile und figürliche Gebilde einzufügen, sowie die zierlichen Bogenansätze mit Klötzchen oder Kapitellen abzufangen. Weiterhin brachte man über der Bogenreihung Zierbänder mit geometrischen Mustern an und stützte die Bogenansätze in bestimmten Intervallen durch Vorlagen und gelangte damit zu einer Gliederung des gesamten aufsteigenden Mauerwerks. Diese Variationen lassen sich kaum in eine chronologische Ordnung bringen, vielmehr finden wir die verschiedensten Formmöglichkeiten gleichzeitig nebeneinander.
Zu einer ersten Gruppe lassen sich die Blendbogenfriese zusammenfassen, die als einzige Gliederung einer Wand auftreten und zugleich den oberen Abschluß eines Baukörpers, das Kranzgesims, bilden. Das früheste Beispiel bietet -wie schon mehrfach -S. Liberatore alla Maiella, wo sich auf den Außenmauern der drei Apsiden (Tf. 36) unmittelbar unter dem Ansatz der Dächer eine schmucklose Bogenreihung hinzieht. In S. Benedetto in Pescina zeigt die rechte Seite der dreischiffigen Kirche (Ende des 11. Jh.) in Höhe des alten Seitenschiffes, das erst in moderner Zeit erhöht wurde, eine durchlaufende Blendarkatur und darüber ein Gesims, das aus Zierleisten mit verschiedenen Mustern besteht, zuunterst der Zahnschnitt, darüber das Taumuster, dann der Eierstab und endlich eine ungeschmückte Leiste, alles Formen, die von den Kapitellen in S. Liberatore alla Maiella oder der Domkrypta von Sulmona abgeleitet werden können. Dem einfachen Bogenfries begegnen wir in Corfinio am Oratorium des hl. Alexander an der der Apsis gegenüberliegenden langgestreckten Abschlußwand des Baukörpers, sowie an der Kathedrale, wo er den oberen Abschluß der südlichen Querhauswand bildet. Dort steht jeder Bogenansatz auf einer Konsole, und in jeder Rundung ist in Reliefform eine Blüte angebracht. In S. Maria Maggiore in Pianella zeigt die Rückfront des hoch herausragenden Mittelschiffs eine einfache, den Giebelanstieg begleitende Blendarkatur aus Ziegelstein.
Der obere Wandabschluß der Apsisrundung von S. Pietro in Alba Fucense (Tf. 46) besteht aus einem Rundbogenfries mit Figurenkonsolen und Ornamenten in den Bogen. Die letzten Restaurierungen haben ergeben, daß wir es hier mit zwei Bauphasen aus romanischer Zeit zu tun haben. Von links aus gerechnet stammen die Bogen 1-7 und die Konsolen 2-15 aus der Zeit von 1123-1126. Die Bogen 8-16 zeigen eine größere Spannweite und in ihrer Umrandung das Palmettenmuster sowie in den Bogenfeldern Rosetten, Motive, die auf der linken Seite fehlen.
Sehr eigenwillig ist die Blendarkatur an der Apsiswand von S. Maria di Cartignano bei Bussi aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ober den Rundbogen läuft ein Gesims in Diamantschnittmuster. Die abgetreppten Bogenrundungen zeigen in der vorderen Wandschicht den Zahnschnitt, die Bogenfelder sind unbearbeitet und die Konsolen der Bogen unterschiedlich geformt mit Kehlungen oder glatten Profilen und dem traditionellen Taumuster.
Eine zweite Gruppe zeigt am oberen Abschluß einer Außenwand Blendarkaden, deren Bogenansätze in bestimmten Abständen von Wandvorlagen gestützt werden. Mit diesem System wird die Gliederung der gesamten Mauerfläche erreicht.
An der Ostfront von S. Liberatore alla Maiella erscheint (S. 143) gleichzeitig neben dem beschriebenen einfachen Blendbogenfries der Apsis ein Blendbogenfries in Verbindung mit Lisenen, der den Giebelanstieg des hochaufragenden Mittelschiffs begleitet. über beiden Blendbogenfriesen läuft eine Leiste mit antikisierendem Zahnschnitt.
Sehr durchdacht ist die Gliederung der Langhauswände der Kathedrale von Corfinio. Auf der linken Seite ist sie nur an der Seitenschiffswand erhalten, auf der rechten ebenfalls am Seitenschiff und in der Lichtgadenzone des Mittelschiffs. Die die Bogenansätze stützenden Pilaster gliedern die Wände in einzelne Abschnitte. Der Reichtum der Ornamente wird in Richtung auf das Presbyterium immer größer.
Ein anderes Beispiel für die Verbindung von Blendarkaden und Lisenen bietet S. Maria a Mare in Giulianova mit der Gliederung ihrer Langhauswände, die zum Altbau des 12. Jh. gehören.
Abb. 33: Guardiagrele, S. Maria MaggioreDie Gliederung der südlichen Längswand von S. Maria Maggiore in Guardiagrele (Abb.33) ergibt Anhaltspunkte für den Bau des 13. Jahrhunderts. Heute besteht der Komplex aus drei Bauten verschiedener Zeiten; er enthält Teile aus dem 13. Jh., dann im Osten die Kirche S.Maria di Riparo, deren Baudatum von 1426 bekannt ist, sowie im oberen Geschoß eine 44 m lange Saalkirche mit einer Ausstattung vom Jahre 1706. Ebenerdig wird die Kirche S. Maria di Riparo von dem westlich liegenden Bau von S. Maria Maggiore durch eine tonnengewölbte Durchfahrtstraße getrennt, so daß beide Kirchen im Innern nicht verbunden sind. über der Durchfahrtstraße haben sie ein gemeinsames Obergeschoß, das die Saalkirche einnimmt, die durch Treppen von S. Maria Maggiore aus zu erreichen ist.
An dem Kapitell an der Südwestecke von S. Maria Maggiore setzt zum einen ein doppeltes Stufengesims an, das an der Westfront verläuft, und zum anderen eine Blendarkatur, die sich an der Südwand unter dem Dach des heutigen Portikus hinzieht und an der Straßendurchfahrt endet. An dieser Stelle tritt zugleich eine Veränderung in der Gestaltung der Wandzone über der Durchfahrt ein. Von dort an bildet deren oberer Abschluß eine Blendarkatur, die in Abständen von Pilastern getragen wird. Sie liegt etwa fünf bis sechs Meter höher als der an der Südwestecke ansetzende Bogenfries. Der dritte Pilaster, der kanneliert ist und ein Motiv wiederholt, das in Castel dei Monte und in S. Maria Maggiore in Lanciano festzustellen ist, erreicht nicht die Höhe der übrigen und endet etwa 1,50 m unter der Blendarkatur. In der Höhe seines Kapitells setzt ein Gesims an, das nach Osten verläuft und teilweise durch die Anbringung eines Fensters aus der Restaurierungszeit von 1706 unterbrochen wurde. Aus dem Gliederungssystem der südlichen Längswand ist zu schließen, daß schon der Kirchenbau des 13. Jh. über die wahrscheinlich antike Straße hinweggeführt wurde. Der Kirchenraum des größten Gotteshauses der Stadt, der von der Westwand bis zur Durchfahrt reichte, erwies sich wahrscheinlich als zu klein. Man erweiterte die Kirche nach Osten, soweit es das äußere Gliederungssystem des 13. Jh. erkennen läßt und überbrückte die Durchfahrt sowie die durch sie bedingte überhöhung des angebauten Teils im Innern durch Stufen.
Besondere Sorgfalt verwandten die Abruzzesen auf die Gestaltung und Ausschmückung des Außenbaus der Apsiden. Die den oberen Wandabschluß bildende Blendarkatur wird häufig in bestimmten Abständen von Vorlagen getragen. Ein Beispiel dafür bietet die weite Apsis des Alexanderoratoriums in Corfinio. Der dortige Rundbogenfries wird von Konsolen gestützt, die überall da, wo Pilaster aufsteigen, durch weit vorkragende Kapitelle ersetzt sind. über den Blendbogen läuft ein dreiteiliges Gesims, das unten den Zahnschnitt, in der Mitte den Eierstab und zuoberst ein Rankenband zeigt.
Wie schon bei den Fenstern von S. Tommaso in Varano bei Caramanico mit ihrer äußerst komplizierten Auf teilung, liefert der Baumeister dieser Kirche auch in der Gestaltung der Apsisdekoration ein Unikum. Dort gliedern vom Erdboden aufsteigende Lisenen mit vorgelegten Halbsäulen die Apsis in drei Felder, deren oberer Abschluß ein Blendbogenfries ist. Die Halbsäulen enden jedoch nicht an der B1endarkatur, sondern ein wenig höher an einer über dem Bogenfries verlaufenden Wulstleiste.
Die meisten Vorlagen setzen nicht direkt auf dem Erdboden an, sondern auf einem eigenen Sockelgesims in einer gewissen Höhe der Apsiswand. Von den drei Apsiden in (S. 144) S. Maria in Bominaco wird nur die Mittelapsis durch eine vertikale Wandgliederung betont. Auf einer hohen Sockelzone, die drei Steinlagen unter dem Apsisfenster endet, erheben sich zwei Ecklisenen und zwei Vorlagen, die die Rundung in drei Felder teilen. Die Vorlagen beginnen als Halbsäulen und gehen im oberen Drittel in Pilaster über. Sie werden durch Kapitelle in Form eines Adlers links und eines Akanthusblattes rechts mit dem Bogenfries verbunden. Ähnlich wie in Bominaco wird die Mittelapsis von S. Clemente al Vomano durch Vorlagen ausgezeichnet. Sie steigen von einem hoch in der Wand verlaufenden Gesims auf, das alle drei Apsiden umfaßt und enden in einem Blendbogenfries. Dieser bildet jedoch nicht, wie sonst in den Abruzzen üblich, den oberen Abschluß der Wand, sondern jene setzt sich darüber noch ein Stück fort.
Sehr schlicht ist die Außenwand der Apsis von S. Giustino in Paganica gestaltet. Von einer Sockelzone aufsteigende Lisenen verbinden sich mit einem völlig unverzietten Rundbogenfries. über diesem verläuft ein Zickzackband aus Ziegelstein, wohingegen der übrige Bau aus Kalkstein ist.
Die Apsis von S. Clemente a Casauria ist die qualitätvollste in dieser Gruppe und zeigt eine reichere Gliederung durch Säulenvorlagen als die bisher besprochenen Beispiele. Ein profiliettes Gesims, das zwei Steinlagen unter dem Apsisfenster liegt, zieht sich über die gesamte Ostfront. Auf diesem erheben sich Säulen auf attischen Basen, die in Höhe der Blendbogenarkatur, die den oberen Wandabschluß bildet, in Kapitellen enden. Die Apsis wird an den Seiten von Säulen eingerahmt, die kräftiger gebildet sind als die Säulenvorlagen im Binnenteil der Wand.
Die Vertikalgliederung durch Vorlagen, die ohne Unterbrechung vom Erdboden bis zur Blendarkatur am Dachansatz aufsteigen, war nicht beliebt. In den letztgenannten Beispielen erreichte man eine Verkürzung der Vorlagen, indem man sie auf einem hohen Sockelgesims ansetzen ließ. Eine andere Lösung besteht darin, daß man die eintönige Länge der Vertikalstreifen durch eine zweite Blendarkatur unterbricht. Das schönste Beispiel dafür liefert die Ostansicht der Kathedrale von Sulmona, eine der eindrucksvollsten Apsidengestaltungen in den Abruzzen. Die Gliederung der Anlage ist so streng, daß ihr eine einheitliche Konzeption zugrunde liegen muß. Die zweifache horizontale Teilung der Apsisfront bot sich gewissermaßen von selbst durch die Krypta an. An deren oberem Abschluß zieht sich über alle drei Apsiden in gleichbleibender Höhe ein Blendbogenfries, dessen Konsolen figurativ ausgestaltet sind, z. B. als Rosetten oder als Menschenköpfe. Ein zweiter Blendbogenfries bildet den Abschluß der drei Apsiden, von denen die mittlere höher ist als die beiden seitlichen. Zwischen diesen beiden Blendarkaturen sind die im Unter-wie im Obergeschoß in einer Achse stehenden Lisenen eingespannt; weiterhin weisen alle drei Baukörper Ecklisenen auf.
In S. Maria Maggiore in Pianella konnte der Baumeister bei der zweifachen Horizontalgliederung der Apsis anders und freier verfahren als in Sulmona, da hier die Krypta fehlt. Der Hauptteil der rückwättigen Front mit den drei gestaffelten Apsiden stammt aus der ersten Hälfte des 12..Jahrhunderts. Die Mittelapsis ist wie üblich reicher ausgestaltet als die Nebenrundungen. Eine Blendarkatur bildet ihren oberen Abschluß, eine zweite verläuft über ihrem Fenster und teilt die Wand in einen höheren unteren und niedrigeren oberen Abschnitt ein. Das Mauerwerk besteht aus Ziegelstein, der über beiden Blendarkaturen so gefügt ist, daß ein doppeltes Zackenband entsteht. Die zwei Säulenvorlagen, die in beiden Geschossen in einer Achse liegen, bestehen im unteren Teil abwechselnd aus Kalkstein und Ziegelstein, während sie in der oberen Zone nur aus Kalkstein sind mit gerillten Schäften in der Art eines Schraubengewindes.
Gewisse Gliederungssysteme mit Gesimsen lassen sich nicht in die überkommenen Schemata der Abruzzen einordnen. Gerade sie sind künstlerisch von hervorragender Qualität und an den bedeutendsten Kirchen festzustellen. In der Behandlung der Langhauswände ist vor allem S. Clemente a Casauria (Tf. 43) zu erwähnen, dessen Formenapparat in nachlässiger Weise in S. Giovanni in Venere wiederholt wird. Die prachtvoll gestalteten Außenmauern des Mittelschiffs von S. Clemente gehören zur dritten Bauphase aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts. Bei gleicher Grunddisposition ist die linke Langhauswand in den Einzelformen monotoner als die rechte Seite. Die Hochwand wird ungefähr in der Mitte, in Höhe des Rundbogenansatzes der Fensterlaibungen, von einem Profilband unterteilt. Dieses folgt in seinem Verlauf dem Rundbogenabschluß der Fenster und erscheint als deren Blendrahmen, ein Eindruck, den die auf dem Gesims aufsteigenden Halbsäulen, die jeweils links und rechts die Blendbogen flankieren, nochmals verstärken. Die Knospenkapitelle dieser Halbsäulen stehen in Verbindung mit der Blendarkatur, die den oberen Abschluß der Hochwand bildet. Auf der rechten Langhausseite finden wir ein reiches Repertoire von Bogenbildungen an diesem Fries. Es begegnet der Rundbogen, der Spitzbogen, der Zweipaß-und Dreipaßbogen. Die Bogenfelder sind fast alle mit Hochreliefs ausgefüllt. Es werden die Rosetten der Kanzel von S. Clemente wiederholt, wir finden Kreuze, Blüten und Tierköpfe. über der Arkatur bildet ein Zahnschnittgesims den Abschluß der Wand.
Einmalige Lösungen begegnen uns vor allem in der Gliederung von Apsiden. Den Höhepunkt bildet die Kathedrale von Corfinio mit der schönsten Hauptapsis der Abruzzen (Tf. 39). Trotz verschiedener Stilelernente, die sich aus der Antike, der Lombardei und Apulien ableiten lassen, stellt sie sich als eine künstlerisch einheitliche und originelle Gestaltung dar. Die Apsis ist ein Polygonalbau mit neun Brechungen und vier Geschossen. über einem niedrigen Sockel, dessen oberer abschließender Wulst sich über die ganze Rückfront der Kirche hinzieht, erhebt sich eine erste undekorierte Zone, die nach oben von einem einfachen Gesims abgeschlossen wird. Das zweite Geschoß zeigt schlanke Säulen an den Brechungen des Polygons. Zwischen dem zweiten und dritten Wandabschnitt sind neun Schmuckplatten ein (S. 145) gefügt, von denen jede einer Seite des Vielecks entspricht. Sie zeigen Rosetten, die von Rhomben eingeschlossen sind, die ihrerseits wieder in einer querrechteckigen Rahmung sitzen, ein Motiv, das schon in der byzantinischen Zierkunst des 5. und 6. Jh. vorkommt. Die weiten Blendbogen der dritten Zone sind lombardischen Kunstgewohnheiten entlehnt; dort bilden sie einen Laufgang, hier haben sie jedoch -was typisch für die Abruzzen ist -nur dekorative Bedeutung. In einigen der oberen Bogenfelder sind figürliche Reliefs erhalten. Meistens sind es Tiere, die sich spiegelbildlich gegenüberstehen und zuweilen nur einen gemeinsamen Kopf aufweisen. Hier ist derselbe Meister am Werk, der ähnliche Figuren in den Arkaden des rechten Seitenschiffs vor der Querhausapsis schuf. Die Blendbogen werden von Säulen mit Kapitellen getragen, und ihre Basen bilden weit vorkragende Tiere, ein in Apulien geläufiges Motiv. Die oberste Apsiszone ist wieder relativ einfach gehalten und wird allein von einer kleinen abschließenden Blendarkatur geschmückt, deren Bogen auf Konsolen ruhen.
Eine ungewöhnliche Gestaltung einer Apsis bietet S. Maria in Valle Porclaneta bei Rosciolo (Tf. 47). Die qualitätvollste Leistung der Umbauten des 13. Jh.liegt in der Neugestaltung der Außenwand der Apsis.
Das Gliederungssystem hat entfernt Ähnlichkeit mit demjenigen der Fassade von S. Giusta in Bazzano, wobei es freilich dessen Raffinement und Subtilität entbehrt. Die Apsisrundung wird durch zwei Horizontalgesimse in drei Geschosse unterteilt. In diesen stehen in einer Achse übereinander jeweils sechs Pfeiler-oder Säulenvorlagen, so daß in jeder Zone fünf hochrechteckige Wandflächen entstehen. Trotz des klar durchdachten regelmäßigen Aufbaus findet der Künstler Möglichkeiten der Differenzierung. So sind die Schäfte der Pfeilervorlagen in der untersten Zone etwas länger als die der Säulenvorlagen in der darüberliegenden Zone. Die Gliederungselemente am übergang von der ersten in die zweite Zone zeugen von besonderer Schmuckfreudigkeit. Die Kapitelle der Pfeilervorlagen sind hier lebendiger gebildet als die Knospenkapitelle der darüberfolgenden Säulenvorlagen, die von S. Maria in Arabona beeinflußt sind. Das untere Horizontalgesims zeigt ein Blattmuster, das obere ist ein einfaches Profil band. Die Säulenschäfte der mittleren Zone erheben sich auf den Rücken stehender Löwen, in der darauffolgenden Zone sind gewöhnliche Basen verwendet. Mit Ausnahme des Bogenfrieses an der Langhausmauer von S. Clemente a Casauria besteht in den Abruzzen üblicherweise die Blendarkatur am oberen Wandabschluß aus gleichförmigen Bogen, hier jedoch zeigt jedes Feld abwechselnd zwei Rundbogen und zwei Dreipaßbogen. Ein schmales spitzbogiges Fenster befindet sich in der Mirte der zweiten Apsiszone.
Auch die Gliederung der Ostfront von S. Giovanni in Venere (Tf. 42) ist ein Unikum. Die Einheitlichkeit des Gefüges läßt erkennen, daß die Apsisrundungen der Krypta und des darüberliegenden Chorhauses aus einer einheitlichen Bauplanung stammen, wenn auch die Ausführung in zwei verschiedenen Phasen erfolgte. Anders als bei den übrigen Außenwänden der Kirche legte man bei der Gestaltung der Rückwand besonderen Wert auf das Baumaterial und den Bauschmuck. Die untere Zone besteht aus Bruchstein, die obere aus Haustein, und die Fenster sind durch eine besondere Steinfassung betont. Das Mauerwerk der Ostseite zeigt einen bräunlichen Farbton und erhält im Sonnenlicht einen goldenen Schimmer. Alle drei Apsiden werden durch einen breiten Streifen aus weißlichen, zu einem Rautenmuster zusammengefügten Steinen in zwei Zonen geteilt. Die untere ist durch schmale, am Erdboden ansetzende Lisenen gekennzeichnet, die Bogen tragen. Wie im Langhaus, in der Krypta und am Unterbau der Westfassade begegnen wir auch hier dem Wechsel der Bogenform, wir sehen Rundbogen an der nördlichen und an der mittleren Apsis, Spitzbogen an der südlichen Apsis. Nur bei den Rundbogenblenden sind in die Zwickel kunstvoll Scheiben aus weißem Stein eingelegt, die von einer leicht vorspringenden Ziegelschicht eingefaßt werden, ein Verfahren, wie es ähnlich in der normannisch-sizilianischen Baukunst zu finden ist. Die Fenster erscheinen in den Nebenapsiden als einfache Schlitzöffnungen, kunstvoller dagegen sind sie in der mittleren Zone von Krypta und Chor. Die Wandflächen der oberen Apsiszone sind glatt und durch keine Lisenen gegliedert. Den oberen Abschluß der Mittelapsis bildet der übliche Bogenfries.
Fremdeinflüsse
Die Abruzzen und das Molise haben nicht wie andere europäische Landschaften einen eigenen Baustil entwickelt. Im Zentrum Italiens gelegen waren sie mancherlei Einflüssen ausgesetzt, die sie aber sehr konsequent verwandelt und ihrer eigenen Ausdrucksweise angepaßt haben. Die Bautätigkeit, die in einem nie dagewesenen Ausmaß in der zweiten Hälfte des II.Jh. beginnt, wurde zunächst von Montecassino sowie dem südlichen Latium und dem nördlichen Kampanien gesteuert. Diese Einflüsse konnten wir an unzähligen Stellen belegen, in der Gestaltung der Grundrisse, in den Portalwerken, in den Gesimsen usw. Kampanien konnte vor allem die klassisch antikisierende Formenwelt vermitteln, wenn man von Anregungen absieht, die antike Monumente in den Abruzzen selbst geben konnten. Gleichzeitig mit der Kunsttätigkeit in und um Montecassino dringen in unsere Landschaft oberitalienische Einflüsse ein. Der Architekturhistoriker Gavini postuliert in seiner Geschichte der abruzzesischen Architektur immer wieder die Anwesenheit oberitalienischer Bauhütten in den Abruzzen, sobald ein Motiv aus diesen nördlichen Gegenden auftaucht. Derartige übernahmen sind indessen sehr stereotyp und beschränken sich meistens auf die Gestaltung der Blendbogenfriese und auf die Gliederung der Wandvorlagen, die das Gewölbe zu stützen harten. Sicherlich handelt es sich dabei um Bauformen, die in Oberitalien entwickelt worden sind und längst in Gebrauch waren, bevor sie in den Abruzzen auftraten. Doch hatten sie sich bald nach ihrem Aufkommen in ganz Süditalien verbreitet, von wo aus sie in unser Bergland eindringen konnten. Am besten bezeugt S. Liberatore aHa MaieHa, wie z. B. die Würfelkapitelle oder die Blendarkaturen über Mon (S. 146) tecassino in die Abruzzen gelangen. Die Anordnung des Kirchturms vor der Fassadenmitte konnten wir trotz der nördlichen Herkunft dieses Baugedankens aus Montecassino und dem dazugehörigen Umland ableiten. An der Hauptapsis von S. Pelino in Corfinio finden wir ein Konglomerat nördlicher und südlicher Einflüsse, die in einen unverwechselbar abruzzesischen Lokalstil umgeschmolzen sind. Direkte Einflüsse aus dem nördlichen Italien bleiben Einzelerscheinungen und haben abruzzesische Baugewohnheiten nicht tiefgreifend abgewandelt, wie z. B. das toskanische Motiv des vorgezogenen Mittelrisalits an der Fassade von S. Paolo di Peltuino zeigt.
Lehnen wir in der Architektur in den meisten Fällen eine direkte lombardische Einwirkung auf die Abruzzen ab, so verschiebt sich das bisherige Geschichtsbild beträchtlich. Weniger der Norden als die Metropole Montecassino und die von ihr abhängigen Bauten üben Einfluß auf unsere Region aus. Eine Stütze für diese These konnten wir auch aus der historischen Situation der Abruzzen gewinnen. Besonders der dortige Adel war mit dem Mutterkloster Cassino vielfältig verzahnt, und häufig leiteten Abruzzesen die Geschicke dieser Benediktinerstadt.
Die benediktinische Hegemonie dauerte fast ein ganzes Jahrhundert, bis neue fremde Kräfte in den Abruzzen wirksam wurden. Der Anteil einer französischen Bauhütte an der Gestaltung von S. C1emente a Casauria unter Abt Leonas ist anzunehmen, vor allem in der Ausgestaltung der Vorhalle und des Mittelportals. Der französische Einfluß bleibt aber mit Casauria ein Einzelfall, wohingegen von hier aus beträchtliche künstlerische Anregungen auf viele andere abruzzesische Bauten ausgegangen sind.
Am Ende des 12. und in der ersten Hälfte des 13. Jh. hatte sich das Südreich der Normannen und Staufer politisch so stark konsolidiert, daß auch deren imposante Baukunst einen gewissen Einfluß auf den abruzzesischen Kirchen-und Wehrbau gewinnen konnte. Diese Einwirkungen sind letzten Endes selbstverständlich, da die Abruzzen und das Molise Teil des Südstaates waren, der seine Grenzen hier nach dem feindlichen Norden abzusichern hatte. Unter den süditalienischen Kunstlandschaften wurde vor allem Apulien beispielgebend für unsere Region, weniger Kalabrien und Lukanien. Die sizilianische Architektur, die für die Apsisdekoration von S. Giovanni in Venere vorauszusetzen ist, hat kaum weiteren Einfluß ausgeübt.
Der apulische Einfluß setzt in dem Moment ein, als der benediktinische Staat seine Glanzzeit hinter sich gebracht hatte. Ein neuer Orden wurde in Süditalien wirksam, die Zisterzienser. Sie hatten eigene Bauhütten, die sie auch für ordensfremde Bauaufgaben zur Verfügung stellten. Auf diese Weise erfolgte der Einstrom künstlerischer Ideen, die von Apulien und von den Zisterziensern ausgingen, gleichzeitig.
Von geringfügigen Ausnahmen abgesehen, werden apulisehe Einflüsse im Gebiet entlang der adriatischen Küste und vor allem im Grenzbereich des Molise wirksam. Manche Forscher haben für diese Gegend, für S. Maria della Strada, S. Giorgio in Petrella Tifernina, S. Giorgio und S. Bartolomeo in Campobasso sowie für S. Maria di Canneto, lombardische und speziell pisanische Einflüsse geltend gemacht. Indessen trifft auch für dieses Problem der Gesichtspunkt zu, der weiter oben für nördliche Formen geltend gemacht wurde, daß sie nämlich über den Umweg von Montecassino und nicht direkt in unsere Region getragen wurden. Ähnlich diesem Vorgang waren hier oberitalienische Stilmerkmale zunächst in Süditalien eingedrungen und gelangten von dort aus in das Molise und in die Abruzzen. Das betrifft vor allem die Gliederung der Fassaden und der anderen Außenwände durch sehr hoch aufsteigende Blendbogen, die wohl eine im nördlichen Italien beheimatete Gestaltungsform sind, die jedoch sehr bald nach ihrem Auftreten in Apulien bekannt geworden war.
Einen Sonderfall können wir an der Kathedrale von Corfinio beobachten. Dort ist am linken Seitenschiff über dem Portal links ein kleines quadratisches übereck gestelltes Fenster mit abgetreppter Laibung erhalten. Dieses Motiv ist im Kirchenbau der Stadt Lucca in der Toskana nicht ungewöhnlich, es kommt aber auch öfter in Apulien vor, z. B. in S. Maria di Siponto. Es ist darum eher anzunehmen, daß die eigentümliche Fensterform von Apulien aus in die Abruzzen gelangte, als daß eine Verbindung von Lucca nach Corfinio bestanden hat.
Apulien beeinflußte in der ersten Hälfte des 13. Jh. wesentlich drei Kirchen in unserer Landschaft, die Chorgestaltung von S. Maria di Ronzano, den gesamten Gebäudekomplex von S. Maria Maggiore in Lanciano und den Dom von Termoli.
Abb. 34: S. Mafia di Ronzano bei Castel CastagnaDer Grundriß von S. Maria di Ronzano (Abb.34) entspricht weitgehend dem Schema benediktinischer Baugewohnheiten. Er zeigt drei Schiffe mit drei Apsiden und einem Querschiff, das kaum einen Meter über die Langhauswände hinausgreift. Die Breite der drei Schiffe beträgt 18 m, ihre Länge bis zu den Apsiden 22,40 m. Die Besonderheit des Baues liegt darin, daß der Architekt die Chorwand ummantelte, so daß die Ostfront der Kirche eine geradflächige blockhafte Schauseite erhielt und die Raumgestaltung des Innem außen nicht zum Ausdruck kommt. Zwischen der Ostfassade der Kirche und ihrem inneren Abschluß mit den (S. 147) drei Apsiden entstand ein kompliziertes mehrgeschossiges Raumgefüge, das u. a. zur Unterbringung der Sakristei diente. Eine Anlage dieser Art ist in den Abruzzen ungewöhnlich und kann nur aus Apulien abgeleitet werden, wo wir in Bari an der Kathedrale und an S. Nicola sowie am Duomo Vecchio in Molfetta ähnliche Lösungen feststellen können. Interessant ist auch im Innern von S. Maria di Ronzano die Gestaltung der Ostwand. Da man hier links und rechts außen Türen anlegte, die in den ummantelten Raum führen, war man gezwungen, die Nischen der Seitenapsiden möglichst nahe an die Hauptapsis heranzurücken, so daß diese Nebenapsiden nicht ganz in der Achse der Seitenschiffe liegen. Darüber hinaus ergibt sich eine eigentümliche Gestaltung der Wand über den Seitentüren und den Nebenapsiden, indem sie von einern Spitzbogen zusammengefaßt werden. In der rechten Apsis ist im oberen Teil der Rückwand unter der Bemalung ein bisher unbeachtetes schmales Fenster mit Rundbogen zu erkennen, dessen Scheitel unter dem Kinn der thronenden Figur liegt. Die Verfärbung des roten Mantels dieser Gestalt läßt erkennen, daß dieses Fenster ungefähr einen Meter weiter nach unten reichte. Da diese Öffnung wegen der Ummantelung des Chores kein Licht spenden konnte, erhebt sich die Frage, ob sie nicht zu einer früheren Planung gehört, die vorsah, den Chorabschluß mit drei Apsiden auch an der Außenfassade in Erscheinung treten zu lassen.
S. Maria Maggiore in Lanciano gehört zu den wenigen Sakralbauten in den Abruzzen, die wir in direkte Beziehung zur Architektur der Hohenstaufen aus der Zeit Friedrichs II. setzen können. Die hier feststellbaren französischen Einflüsse lassen sich aus der Zisterzienserbaukunst Süditaliens und vor allem aus den Baugewohnheiten der Hohenstaufen herleiten. Direkte Übernahmen französischer Vorbilder oder französische Mitarbeiter am Bau sind auszuschließen. Das System der Wandvorlagen, bestehend nach französischem Vorbild aus einem Pilaster zwischen zwei Säulen, erscheint zuerst am Zisterzienserbau von Casamari in Latium und verbreitet sich dann in Apulien und Kampanien. Zwischen Gewölberippen und Deckplatten sieht man in Lanciano kleine Schildplatten, ein charakteristisches Motiv der Zisterzienserarchitektur in Frankreich. Im Sakralbau tauchen diese Schilde im Chor von Ripalta in Apulien auf und spielen später in der Burgenarchitektur Friedrichs II. eine gewisse Rolle. Beziehungen zur Zisterzienserarchitektur sind ebenfalls für die Halbtonnen im Seitenschiff von S. Maria Maggiore in Lanciano festzustellen.
Das Problem der Koppelung eines Langhauses mit einem anschließenden Zentralraum ist in Lanciano glänzend gelöst worden und zwar in erstaunlich früher Zeit. Das europäische Abendland bemühte sich in der späteren Gotik, in der Renaissance und im Barock in Bauten, die zu hervorragenden Beispielen der Architekturgeschichte gehören, um die Verbindung zweier ihrer Natur nach heterogener Baukörper. In Lanciano könnte man in bezug auf diese architektonische Vorstellung an die Geburtskirche in Bethlehem aus konstantinischer Zeit denken, wo der gleiche Sachverhalt gegeben ist, daß ein dreischiffiges Langhaus in ein Oktogon gleicher Breite einmündet, selbstverständlich ohne dabei eine direkte Abhängigkeit anzunehmen. Das Oktogon und zwar in Verbindung mit einern quadratischen Baukörper beschäftigte auch die Burgenarchitekten Friedrichs II., z.B. in Lucera, Castel Ursino in Catania und in Castel del Monte.
Von hervorragender Bedeutung ist der Außenbau des Doms von Termoli (Tf. 45), der nach Westen ausgerichtet ist. Er ist ein Vorposten apulischer Architektur, die sich den südlichen Küstenstreifen des Molise erobern konnte, weil die eigenständige Kunst der Abruzzen und des Molise in den Gebieten am Meer weniger wirksam wurde als im Innern des Berglandes, wo ihre besten Erzeugnisse zu finden sind. Kunsthistorisch interessant ist vor allem die Gliederung des unteren Teils der Fassade in Termoli. Über dem breiten durchlaufenden Sockel erhebt sich in der Mitte das Portalwerk, das zu beiden Seiten von drei hoch aufsteigenden Blendbogen flankiert wird. Das gleiche Gliederungssystem erscheint an der Kathedrale von Troia im nördlichen Apulien wieder bis in alle Einzelheiten, so der hohe Anstieg der sieben Wandbogen und die Fortsetzung des rechten äußeren Pilasters auf der Langhauswand. Am auffälligsten ist die Übereinstimmung in der Gestaltung des Portales. Es wird von einem großen Blendbogen bekrönt, dessen Scheitel die zu beiden Seiten anschließenden Blendarkaden überragt. Der Portalbogen setzt auf Pilastern auf, die wie Rippen wirken. Portalarchitrav und Lünettenbogen stimmen in Troia und Termoli überein. Anders als in Troia sind jedoch die seitlichen Blendarkaden, die dreifach nach innen abgetreppte Blendfenster zeigen. Diesem Motiv begegnen wir in Apulien an der Fassade der Kathedrale von Foggia, die ihrerseits wieder mannigfaltige Beziehungen zur Kathedrale von Troia aufweist. Erst auf Grund der stilistischen Abhängigkeit von der Fassade von Foggia, die durch eine heute verlorene, aber gut beglaubigte Inschrift in das Jahr I 179 zu datieren ist, erhalten wir einen einigermaßen sicheren Anhalt für die zeitliche Bestimmung der Fassade von Termoli, nämlich nach I 179. Die rhythmische Gliederung der nördlichen Langhauswand durch zwölf Blendbogen, die von Pilastern mit Kapitellen getragen werden, weist wiederum auf Apulien hin, sie kommt u. a. in Foggia und schon viel früher an der Kathedrale von Troia vor. An der Nordseite befindet sich im fünften Bogenfeld von Osten aus gerechnet eine heute zugemauerte Tür mit schlichtem Architrav und abgetrepptem Lünettenbogen. Von den ursprünglich drei Apsiden sind heute nur die Hauptapsis und die nördliche Nebenapsis übriggeblieben. Während die größere Apsis bis auf die Einfassung der Fenster ohne Schmuck ist, steigen an der kleineren Halbsäulen bis ungefähr zur halben Höhe auf. Die rhythmische Gliederung der Außenwände nimmt am Bau nach Osten hin zu, woraus der Schluß gezogen werden kann, daß der Dorn von Westen nach Osten gebaut wurde.
Wie sooft in der Architekturgeschichte, bietet sich besonders die Baudekoration zum Export von künstlerischem Gedankengut an. Gibt es nur wenige Beispiele in den Abruzzen für die wesensfremde Gestaltung eines gesamten Baukör (S. 148) pers, so häufen sich die fremden Einflüsse im Detail. überall dort, wo wir es mit Bauelementen zu tun haben, die stark aus der Wandfläche hervortreten, können wir apulische Einwirkungen vermuten. Das ließ sich sehr gut an den molisanischen Portalädikulen beobachten, die gleichsam einen selbständigen Bauteil vor der Fassade darstellen. Vorsichtiger muß man bei der Beurteilung von Antikenrezeptionen verfahren. Die an Stauferburgen häufig vorkommenden kannelierten Pfeiler sind sicherlich an den Kirchen von S. Maria Maggiore in Lanciano und in S. Maria Maggiore in Guardiagrele wiederholt worden und stehen dort im Kontext mit anderen apulischen Einflüssen; andere Kannelierungen dagegen sind übernahmen aus der eigenen antiken Tradition, wie es sehr schön S. Giusta in Bazzano zeigt. Vom Süden dringen eigentümliche Zierformen ein, wie Knickungen von Wülsten und Profilen oder aber Brechungen von Stäben oder Säulenvorlagen. Abwinkelnde Profilgesimse sieht man an den Langhauswänden von S. Clemente a Casauria und S. Giovanni in Venere. Der neben dem etwas vorspringenden Kirchturm liegende rechte Teil der Westfassade von S. Maria Maggiore in Guardiagrele gibt mit seinem doppelten abgetreppten Gesims einen Hinweis auf Zierformen, die in der Stauferarchitektur Süditaliens zu finden sind. Ähnliche Gebilde sieht man am Seitenportal des Domes von Altamura oder am Eingang von S. Francesco in Andria. Wahrscheinlich hatte dieses charakteristische Gesims in Guardiagrele eine Entsprechung auf der Seite links vom Kirchturm. Der dortige schmale Wandstreifen wurde in späterer Zeit verändert. Der gebrochene Stab in Form des Zickzackmusters kommt aus Frankreich und wurde von der normannischen Kunst in Süditalien übernommen. In S. C1emente a Casauria tritt es als direkte oder indirekte übernahme aus dem Französischen in der rechten Spitzbogenöffnung der Vorhalle auf. Von hier aus wandert das Motiv weiter nach S. Bartolomeo in Carpineto della Nora. Dort legt sich ein leicht vortretender Zierbogen mit dem Muster des gebrochenen Stabes um die Rundung des Triumphbogens. Das Zickzackmuster wird an zwei Stellen durch heute beschädigte Rosetten unterbrochen, die gleichfalls eine auffallende Verwandtschaft zu C1emente a Casauria zeigen, besonders zur dortigen Kanzel. Die Brechung vertikaler Bauelemente sieht man am Hauptfenster der Mittelapsis von S. Giovanni in Venere. Die das Fenster einrahmenden Stützen, die auf einem Postament stehen und ein Kapitell tragen, bestehen aus gebündelten Stäben, die mehrfach gebrochen sind.
Die Zisterzienser errichteten im Reich der Hohenstaufen nicht nur ihre eigenen Kirchen, sie wurden auch zur Erstellung von Wohnbauten und Kastellen zugezogen. Es ist deshalb nicht immer leicht zu unterscheiden, ob die Einflüsse an diesen Bauten direkt von den Ordensbrüdern ausgingen, oder ob sie indirekt über die weltliche Architektur Apuliens vermittelt wurden. Jedenfalls waren die Zisterzienser unmittelbar am abruzzesischen Ordensbau beteiligt. Die einschiffigen Gotteshäuser wurden schon an anderer Stelle behandelt.
Die einzige dreischiffige Zisterzienseranlage S. Maria in Arabona blieb in unserer Landschaft ein Fremdkörper. Als Gesamtsystem hat sie hier keine Nachfolgebauten gefunden. S. Maria in Arabona gehört stilistisch in die Reihe der bedeutenden mittelitalienischen Zisterzienserklöster wie Fossanova und Casamari in Latium, hat aber mit ihren größeren Ausmaßen nicht mehr die Spannung und Kraft der architektonischen Gliederung wie jene. Historisch ist dieses abruzzesische Zisterzienserkloster niemals zu größerer Bedeutung gekommen. Die Kirche erhebt sich an der Stelle eines antiken Tempels, der der Göttin Bona geweiht war. Die Kirchengründung erfolgte 1208, doch schon im 14. Jh. war die Blütezeit des Klosters vorüber. Die neuesten Restaurierungen begannen im Sommer 1948 und wurden im September 1952. beendet. Die Klosterkirche ist Privatbesitz der Familie Zambra aus Chieti.
Der Bau ist niemals vollendet worden. Man begann im Osten mit der Chorpartie und dem Querhaus. Vom Langhaus wurde nur ein Joch errichtet, so daß die unfertige Kirche die irrige Vorstellung einer zentralen Anlage erwecken könnte. Der Grundriß folgt dem Schema der französischen Zisterzienserbauten, der Aufriß vor allem der Struktur von Fossanova, so daß die Annahme direkter Einwirkung burgundiseher Zisterzienserarchitektur auf Arabona keineswegs zwingend ist. Der rechteckige Chor besteht aus zwei queroblongen Jochen. Ihm schließen sich zu beiden Seiten je zwei rechteckige Kapellen an, deren gerade Abschlüsse in der Höhe der letzten Jochteilung des Chores liegen. Die Kapellen öffnen sich in gestuften Spitzbogen zum Querhaus. Dieses und der Chor sind dreigeschossig. Zwischen die Arkaden und die Hochgadenfenster schiebt sich eine Mittelzone mit rundbogigen Triforen. Das Langhaus unterscheidet sich, obwohl es sich um dieselbe Bauzeit handelt, im Aufriß grundsätzlich vom Querhaus und vom Chor. Die Dreigeschossigkeit ist aufgegeben, denn die Triforenzone fehlt, und an Stelle der engen Spitzbogenarkaden erscheinen weite Rundbogen. Man entfernt sich in der Gestaltung dieses Bauteils vom Vorbild Fossanova und steht besonders in den Proportionen altertümlicheren, burgundischen Gewohnheiten näher, wie sie etwa die Zisterzienserkirche in Pontigny (Yonne) zeigt. Die ungewöhnliche Breite des Mittelschiffs bedingte eine andere Proportionierung des Raumes als es in Fossanova und Casamari möglich war. Frühere Forschungen haben bereits festgestellt, daß das Verhältnis von Höhe zu Breite des Mittelschiffs in Casamari 2.: I beträgt, in Arabona aber nur 1,5: I. Die Arkaden, die in Fossanova etwa 2 1/2 mal so hoch wie breit sind, haben in Arabona annähernd gleiche Höhe und Breite. Die Proportionen im Querhaus und in der Chorpartie sind dagegen ähnlich wie die der erwähnten Zisterzienserklöster in Latium, wenn auch mit anderen Maßen. Die verschiedenartige Raumgestaltung innerhalb eines einheitlichen Bauvorgangs legt den Schluß nahe, daß die Kirche nicht vollendet werden konnte, weil die Bauhütte sich in ihren künstlerischen Absichten nicht mehr einig war. Mit dem ersten Langhausjoch wurde die Unternehmung abgebrochen und der Bau mit einer glatten Abschlußwand versehen. Die westlichen Wandvorlagen der (S. 149) Pfeiler machen deutlich, daß zumindest der Plan bestand, das Langhaus nach Westen fortzuführen. Man hat bisher nie näher untersucht, ob die vielen Bauelemente, die heute noch im Garten des Eigentümers Zambra herumliegen, vorgearbeitete Stücke für das geplante Langhaus sein könnten. Das Dach des Mittelschiffs wurde nach einem Einsturz wahrscheinlich im 18. Jh. mit einfachen Kreuzgratgewölben erneuert. Die Kapitelle zeigen meist den in der italienischen Zisterzienserarchitektur gebräuchlichen Formenapparat.
Von der Klosteranlage ist der besonders schöne Kapitelsaal hervorzuheben, der heute privaten Zwecken des Eigentümers dient und daher nicht immer zugänglich ist. Er ist wie die Kirche aus Travertin gebaut und gehört zu dem zweischiffigen Typ. Ein achtteiliger Bündelpfeiler mit Knospenkapitellen und reich profilierter Deckplatte in der Mitte des Raumes nimmt die Gewölberippen auf, die an den Wänden auf mächtigen Knospenkapitellen aufsetzen.
Der charakteristische platte Chorabschluß der Zisterzienserkirchen wird auch an Gotteshäusern, die nicht dem Orden angehörten, wiederholt. In S. Bartolomeo in Carpineto della Nora (13. Jh.) zeigen z.B. die Seitenräume des Querhauses nach Osten einen geraden Abschluß, ebenso der Mittelraum, der aber um eine knappe Jochtiefe weiter nach Osten ausgreift. Im 13. Jh. tritt im Marserland die dreischiffige Pfeilerbasilika mit quadratischem Chor in S. Maria in Luco dei Marsi und in S. Cesidio in Trasacco auf.
Die Einflüsse der Zisterzienser erstrecken sich vor allem auf Detailformen der Baudekoration. Die Gliederung der Innenräume mit Profil-und Konsolengesimsen verdanken wir in den Abruzzen dem Einfluß der Zisterzienser. Ein Hausmotiv des Ordens bildet die in einer gewissen Höhe ansetzende Vorlagesäule, die nach unten von einer abgefasten Konsole aufgefangen wird. Wir konnten diese Eigenheit in S. Giovanni in Venere und am Triumphbogen von S. Maria Maggiore in Lanciano beobachten. Skulptierte Schlußsteine im Scheitel eines Bogens oder eines Gewölbes sind durch die Zisterzienser verbreitet worden. Derartige Zierformen begegnen in Arabona, im Chor von S. Maria Maggiore in Lanciano, in den beiden mittleren Gewölbefeldern des Querhauses von S. Giovanni in Venere und in S. Bartolomeo in Carpineto della Nora. Die von den Zisterziensern verwandten Knospenkapitelle wurden bald zum europäischen Gemeingut. Sie sind gebräuchlich in Apulien und Dutzendware in den Abruzzen.
Skulptur
Vorbemerkung
Ungewöhnliche Ausdruckskraft entwickelten die Abruzzesen im 12. Jh. und in der ersten Hälfte des 13. Jh. in der Reliefkunst. Trotz gewisser Entlehnungen entstanden hier sehr persönliche und in manchen Fällen einzigartige Leistungen, die sich durchaus mit den künstlerischen Hervorbringungen anderer italienischer Landschaften messen können. Es entwickelt sich ein qualitätvoller Lokalstil, der sich in seinen Formen niemals wiederholt und nie in Routinearbeit ausartet. Die Kunsttätigkeit vollzieht sich unbeeinflußt von den großen europäischen Innovationen dieser Zeit. Wir beobachten ein Sichverschließen, das wir schon sooft als Charakteristikum der Abruzzen feststellen konnten. Beispielsweise bleibt die Freiplastik, die in Frankreich sowie in anderen Ländern und Kunstlandschaften schon früh Bedeutung erlangt hatte, in unserer Region bis zur Mitte des J3. Jh. unbekannt. Die Reliefplastik ist meistens mit der Architektur verbunden und erscheint an Portalen, Fenstern sowie an den Außenwänden. Diese wichtige Rolle hatten wir schon bei der Baudekoration erwähnt. Darüber hinaus entstehen dekorative Ausstattungsstücke des Kirchenraums, wobei die Kanzeln, Ziborien und Chorschranken die Hauptrolle spielen.
Das gebräuchlichste Material in der Reliefkunst ist der heimische Kalkstein, meistens von weißer Grundfarbe, die öfter in eine leicht bräunliche Tönung übergehen kann. Nicht selten finden wir Beispiele für die Bemalung des Steins. Eine ganz eigene Technik entwickelte die Ziborienund Kanzelwerkstatt der Meister Robertus und Nikodemus, die um die Mitte des Il..Jh. tätig war. Sie benutzte einen sehr harten Stuck, der wahrscheinlich mit Marmorpulver vermischt wurde. Arbeiten in reinem Marmor bleiben Ausnahmen. Als Kostbarkeit kommt er an der Kanzel von Carsoli (1132) bei der Darstellung des Johannesadlers vor. Die Strukturierung des weißen Marmors mit einer bläulichen Aderung wurde vom Künstler reizvoll in der Oberflächenbehandlung zur Geltung gebracht und gleichzeitig geschickt für die anatomische Gestaltung des Tieres und für die Darstellung des gerundeten Körpers und des Gefieders genutzt.
Bei Kanzeln, Lettnern und anderen Ausstattungsstücken bediente man sich gelegentlich der Mosaiksteine. Auf dem Kanzelvorsprung von SS. Rufino e Cesidio in Trasacco schlingen sich zwischen den Figuren mehrere in Voluten endende Zierbänder mit eingelegten Steinen, die zum großen Teil herausgebrochen sind, so daß der ursprüngliche farbige Eindruck nicht mehr voll zur Geltung kommt. Das Omamentband besteht aus zwei Streifen, in denen jeweils ein schwarzer mit einem glasierten weißen Stein wechselt. Die Mosaikkunst der römischen Cosmaten fand im 13. Jh. in den westlichen, Rom zugewandten Gegenden der Abruzzen ihren Niederschlag. Bunte glasierte Steine tauchen z. B. an der Kanzel und am Lettner von S. Pietro in Alba Fucense auf, an den Kanzeln von Rocca di Botte und S. Nicola in Corcumello.
Eine interessante Technik zeigt der Bischofsstuhl in der Mittelapsis der Krypta im Dom VOn Sulmona. Die steinernen Stuhlwangen werden von großen Rosetten in einer abgestuften Kassettierung geschmückt. Einflüsse einer Technik, die wir aus Apulien kennen, sind an der Stirnseite dieser Wangen zu beobachten, die mit einem Sternenmuster überzogen sind. Auf den ersten Blick möchte man glauben, daß die vertieften Formen des Ornaments ursprünglich, wie bei den Cosmatenarbeiten, mit bunten Steinen ausgelegt waren. An einigen Stellen jedoch erkennt man, daß die Einlagen aus (S. 150) einer schwarzgefärbten Harzmasse bestehen. Dieses Verfahren begegnet z. B. an den Bischofsstühlen in S. Angelo auf dem Monte Gargano und im Dom von Canosa in Apulien.
Das Hauptportal von S. Clemente a Casauria enthält die einzige in den Abruzzen vorhandene Bronzetür. Sie wurde von dem Nachfolger des Abtes Leonas in Auftrag gegeben, von dem feinsinnigen Joel, dessen Amtszeit in den Jahren 1189 und 1191 zu belegen ist. Dieses Monument befindet sich in einem bejammernswerten Zustand. Die meisten Platten sind im Lauf der Zeit, vielleicht durch Diebstahl, verschwunden, viele wurden durch Imitationen in Holz ersetzt, nur wenige Originale sind übrig geblieben. Die zweiflügelige Tür ist 3,88 m hoch und 2,01 m breit und zeigt in 12 Reihen übereinander je sechs quadratische Felder, deren jedes von Zierleisten eingerahmt ist. In der obersten Reihe sind in den vier inneren Feldern Figuren im Relief dargestellt, von denen eine die Inschrift» Johel abbas« trägt. Alle äußeren Felder zeigen mit Ausnahme der obersten und der untersten Reihe gleich gestaltete dreitürmige Kastelle mit den Namen von zwanzig Orten, die von Casauria abhängig waren. Eine derartige Aufzählung des Besitzes kannte schon Montecassino in der 1066 in Konstantinopel gearbeiteten Tür. Noch in späterer Zeit wurde der Klosterbesitz von Subiaco in den Fresken im Kreuzgang des unteren Klosters ähnlich kundgetan. Die übrigen Felder der Tür von Casauria zeigen ornamentalen Schmuck, wobei das häufigste Muster die Verschlingung von Kreisen sowie Halb-und Viertelkreisen ist. Als Türzieher dient der übliche Löwenkopf mit Ring. Die Arbeiten in Metall gehören in dieser Zeit zu den größten Seltenheiten in den Abruzzen. Ausnahmsweise bediente man sich in S. Pietro in Alba Fucense des Bleis. Dort wurden die Pupillen der in der ersten Hälfte des 12. Jh. entstandenen Menschen-und Tierköpfe, die als Konsolfiguren des Bogenfrieses an der Apsis vorkommen, mit Blei ausgegossen. Diese Technik war seit Jahrhunderten vergessen, aber in der römischen Kaiserzeit gebräuchlich. Es handelt sich also hier um einen Rückgriff auf die Antike. Um Vorbilder brauchte man sich nicht lange zu bemühen. Beispiele aus der antiken Plastik lieferte das römische Alba Fucense selbst.
Wegen des Wald reichtums des Berglandes ist es ganz selbstverständlich, daß die Abruzzesen hervorragende Meister in der Holzskulptur wurden. Die frühesten erhaltenen Objekte stammen aus dem 12. Jahrhundert. Von dann ab begegnet man qualitätvollen Werken in allen Jahrhunderten bis in die moderne Zeit.
An vielen und guten Beispielen können wir in den Abruzzen beobachten, daß eine Steinmetzwerkstatt auf mannigfache Weise am Bau oder an der Ausgestaltung des Kirchenraumes mitwirkte. Neuere Forschungen haben glaubhaft gemacht, daß der Künstler Gualterius mit seinem Gehilfen Morontus und ein gewisser Petrus zwischen 1123 und 1126 in S. Pietro in Alba Fucense tätig waren und nicht erst im 13. Jh., wie man öfter lesen kann. Inschriftlich sind diese Meister als Urheber der alten Ikonostasis genannt, deren figürliche Kapitelle sich mit anderen verbinden lassen, die Teile eines nicht mehr vorhandenen Ziboriums sind. Diese Werkstatt war ferner an der Herstellung der Konsolen des Bogenfrieses an der Außenwand der Apsis beteiligt.
Der Meister der Portalrahmung von S. Maria in Cellis in Carsoli ist auch an anderen Werken, die zur Kirche gehören, nachzuweisen. Zunächst schuf er die 1132 datierte Kanzel; ferner arbeitete er die Portale, die heute die Nebeneingänge der Westseite von S. Maria della Vittoria in Carsoli bilden. Es ist anzuzweifeln, daß sie ursprünglich zu dieser Kirche gehört haben, da sie erst nach dem Abbruch von S. Maria in Cellis 1676 eingebaut wurden, was auf ihre Herkunft aus diesem Gotteshaus hinweist. Schließlich ist derselben Werkstatt der Osterleuchter zuzuschreiben, der, in verschiedene Teile zerlegt, unbeachtet in S. Maria in Cellis liegt.
Die Bildhauerwerkstatt des Robertus und des Nikodemus und ihrer Mitarbeiter, die zwischen II 50 und 1166 tätig war, schuf in den Abruzzen großartige Kanzeln und Ziborien. Außerdem war sie auch an der Herstellung anderer Teile des Kirchenraumes beteiligt. In S. Clemente al Vomano (Tf. 88) schuf sie neben dem Ziborium auch ein Langhauskapitell mit einem Tier, für dessen Gestaltung sich verwandte Formen am Altarbaldachin finden. Die von eben dieser Werkstatt stammenden Darstellungen der Jonasgeschichte an der Kanzel von Moscufo erfahren eine höchst eigenwillige Betonung durch die Wiederaufnahme des Themas an einem Säulenkapitell des Mittelschiffs (Tf. 87), das der Kanzel unmittelbar benachbart ist. Dadurch entstehen inhaltliche Beziehungen zwischen der Kanzel und Architekturteilen des Kirchenraumes. Am Kapitell ist die Rettung des Jonas dargestellt, der aus dem Maul des Wales ausgespien wird. Es kann hier nicht das Verschlingen durch den Wal gemeint sein, weil bei diesem Vorgang der unglückliche Jonas immer kopfüber im Schlund des Untieres verschwindet. Zweifellos stammt das Kapitell aus unserer Kanzelwerkstatt, mit der es sich durch den Hang zum Spielerisch-Ornamentalen und gleichzeitig Expressiven verbindet. Der Jonas wird mit schrecholl geöffneten Augen aus dem Maul des Fisches geschleudert. Seinen senkrechten Sturz in die Freiheit versucht er mit weitausgebreiteten, den Säulenschaft umklammernden Armen aufzufangen. Diese legen sich wie ein zweiter, kräftigerer Wulst um das Kapitell. Die 1158 datierte Kanzel ermöglicht den Rückschluß auf die gleichzeitige Entstehung der ganzen Kirche, da Kanzel und Kapitell stilistisch und thematisch zusammengehören.
Zierformen von der Kanzel in S. Clemente a Casauria werden in der Vorhalle und an den Kapitellen des Langhauses übernommen. Die nächste Verwandtschaft besteht zum Kapitell der Halbsäule, die dem von Westen aus gerechnet vierten Pfeiler der linken Stützenreihe vorgelagert ist. Die Formenwelt der Kanzel kehrt auch in manchen Fragmenten wieder, die vom Rundfenster der Kirche stammen und heute im Lapidarium von Casauria aufbewahrt werden. Wichtiger ist indessen die Tatsache, daß die Reliefs in der Lünette des Hauptportals vom Kanzelmeister stammen. Am überzeugendsten zeigt sich die Übereinstimmung in den Ornamenten.
Durch gewisse Zierformen ist die Kanzel in S. Giusta in (S. 151) Bazzano in direkte Verbindung mit dem 1238 datierten Portal zu bringen. An der westlichen Schauwand der Kanzel zeigt die äußerste linke Rahmenleiste zwei Kannelüren. Wie beim Portal sind in die Vertiefungen vegetabile Formen eingelegt, auf die wir schon an anderer Stelle hingewiesen haben.
Das Hochland der Abruzzen hat die größte Bedeutung für die romanische Plastik. Im adriatischen Küstenstreifen ist aus dem 1 I. Jh. kaum ein Beispiel überliefert. Im 12. und 13. Jh. ist die Kunsttätigkeit dort uneinheitlich. Die meisten Objekte sind, falls der heutige vielleicht mehr oder minder zufällig erhaltene Bestand überhaupt eine Aussage zuläßt, in der Provinz Pescara zu finden; nicht so viele Werke überliefert die Provinz Teramo und erstaunlich wenige, erst seit dem Ende des 12. Jh., die Provinz Chieti.
Innerhalb der Geschichte der abruzzesischen Plastik ist im Verlauf der Jahrhunderte ein zahlenmäßiger Anstieg der Werke festzustellen. Allerdings haben neuere Forschungen geltend gemacht, daß viele Objekte des 12. Jh. durch ein starkes Erdbeben, dessen Epizentrum im Gebiet der Paeligner anzunehmen ist, verlorengegangen sein müssen. Bei einer Reihe von Bauten in dieser Gegend kennen wir histo-. risch überlieferte Gründungsdaten aus dem letzten Viertel des 11. und dem Anfang des 12. Jh.; es sind jedoch keine Spuren von Monumenten aus dieser Zeit erhalten. Im letzten Viertel des 12. Jh. setzt überall eine neue fieberhafte Bautätigkeit ein. Zur Bekräftigung der Hypothese einer Naturkatastrophe, die durch keine geschichtlichen Quellen zu belegen ist, kann man viele Beispiele anführen. Nach der Chronik von Casauria wurde der Dom von Sulmona 1075 renoviert und 1119 geweiht. Aus dieser Zeit ist die Krypta erhalten und die Seitentür am linken Langhaus. 1196 hören wir von einer neuen Weihe. Dieser zweiten Zeit ist die Errichtung der Apsismauern zuzuschreiben. Ähnliches geht in Corfinio vor. Die heutige Kathedrale wurde 1075 begonnen und 1124 beendet. Aus dieser Zeit sind die ornamentierten Portale übriggeblieben, während die Stützen im Innern, die Apsis und das Querhaus zu einer Bauphase um 1 I 80 gehören. In Bominaco wiederholt sich dieselbe Situation. Auch dort sind noch die Portale aus der Frühzeit des 11. Jh. vorhanden, aber die Apsiden, Langhausarkaden und Kapitelle verdanken ihre Entstehung einer Bautätigkeit um I I 80. Die gleiche zeitliche Diskrepanz kann man auch in S. Clemente a Casauria beobachten. Nach der Zerstörung der Kirche durch die Normannen 1078 erfolgte der Wiederaufbau unter Abt Grimoald zwischen 1091 und 1101, mit einer Weihe im Jahr 1105. Abgesehen von der Krypta ist aus dieser Zeit kein Baubestand erhalten. 1176 begann der völlige Neubau unter Abt Leonas. Seismische Einwirkungen können wir auch für S. Pietro ad Oratorium postulieren, besonders gut zu beobachten am Hauptportal der Westfassade, wo wir zwei verschiedene Stile feststellen können. Zwei ornamentierte Türpfosten mit nur wenig vorkragenden Kapitellen tragen den Architrav mit der Inschrift aus dem Jahre IIOO. Darüber erhebt sich ein doppelter Entlastungsbogen, der die Lünette umschließt. Zur Bauphase von 1100 gehören der Architrav und die Archivolte, deren äußerer Bogen keine vertikale Stütze aufweist. Die im Flachrelief ausgeführten Ornamente der Portale von S. Liberatore alla Maiella finden hier eine direkte Nachfolge. Andere Ornamente unter dem Architrav und vor allem die Kapitelle sind in den Einzelformen viel plastischer ausgebildet als die oberen Teile und hängen aufs engste mit Schmuckformen der Kanzel von S. Clemente a Casauria zusammen. Sie müssen demnach in das Ende des 12. Jh. datiert werden.
Die Hypothese eines Erdbebens ungefähr vor 1176 kann häufig falsche Datierungen korrigieren. Vielfach hat man aus dem letzten Viertel des 12. Jh. stammende Bauteile von Kirchen mit den historisch gesicherten Daten ihrer früheren Gründung in Verbindung gebracht. Da die Plastik dieser Zeit vornehmlich mit der Architektur verbunden war, ist der Schluß zulässig, daß wir auch in dieser Kunstgattung einen großen Verlust an Monumenten, die vor 1176 entstanden, annehmen müssen.
Außerabruzzesische Einflüsse
Wie die Architektur wird auch die Plastik der Abruzzen und des Molise seit dem letzten Viertel des I I.Jh. bis zum Neubau von S. Clemente a Casauria vornehmlich von südlichen Einflüssen geprägt, deren Hauptimpulse von der benediktinischen Kultur mit dem Zentrum Montecassino ausgingen. Dieses Kerngebiet verhielt sich sehr eklektisch und war selbst verschiedensten künstlerischen Einströmungen ausgesetzt. Eine erste Phase zeigt eine altertümliche, flache Reliefbehandlung, die die Formen kaum aus dem Grund herausarbeitet. Diese Tradition wird vor allem in den Ornamenten der abruzzesischen Portale des II. und frühen 12. Jh. übernommen. Beispiele liefern die Kircheneingänge von S. Liberatore alla Maiella, S. Pietro ad Oratorium, S. Pelino in Corfinio, S. Maria in Bominaco und das Seitenportal des Domes von Sulmona. Bald aber entstanden in benediktinischen Landen neue Bauten, deren Bauschmuck und Skulpturen anderen Gestaltungsweisen unterworfen sind, die wiederum auf die Abruzzen einwirkten, wie z. B. die Kirchen von Aversa, Caserta Vecchia, Sessa Aurunca, Calvi und Monumente in dem traditionsreichen Cimitile, alle in der ersten Hälfte des 12. Jh. entstanden. In diesen Kirchen zeigen die bildhauerischen Arbeiten sicherlich auf Grund oberitalienischer Einwirkungen eine größere Plastizität. Verschiedene Fragmente (Tf. 70) aus S. Pietro in Alba Fucense, die um 1123-1126 in der Werkstatt des Gualterius und seiner Gehilfen gearbeitet wurden, machen anschaulich, wie dort noch die erste und zweite benediktinische Phase ineinandergreifen; stilistisch früher sind die prachtvollen Reliefplatten der alten Ikonostasis. Die eine stellt in einfacher Rahmung einen Löwen dar (Tf. 114), der ein junges Mädchen verschlingen will. Der Körper des Tieres ist mit Ausnahme des Kopfes, der Mähne und der Tatzen nur schwach aus dem Grund herausgeholt und ohne weitere Behandlung der Binnenformen geblieben. Derselbe Künstler schuf auch die Zierplatte mit dem Fragment einer Sirene (Tf. 115) sowie ein anderes Relief mit dem eindrucksvollen Kopf eines Wales. (S. 152) Ein zweiter Meister derselben Werkstatt arbeitet mit neuen und viel erzählerischeren Mitteln, wobei sich die Formen runden und der Vollplastik nähern. Dazu gehört das Kapitell, das dem Pilaster mit der Künstlerinschrift des Gualterius aufgesetzt ist (Tf. 71). Es zeigt in der Mitte eine Figur mit einem überdimensional großen Kopf. Sie hat mit ausgestreckten Armen die hinteren Pranken zweier Löwen gepackt, die sich über ihre Opfer werfen. Zur selben Gruppe gehören zwei weitere plastisch gebildete Kapitelle dieser alten Chorschranken; sie stellen einen Adler mit ausgebreiteten Flügeln dar und haben an den Ecken voluminöse Theatermasken. Zur fortschrittlichen Phase gehören ferner alle figürlichen Darstellungen an den Konsolen des Bogenfrieses an der Außenwand der Apsis; davon auszunehmen ist die erste linke. Alle übrigen Skulpturenfragmente in S. Pietro schwanken stilistisch zwischen diesen beiden Polen.
Stilelernente aus den Stammlanden der Benediktiner mochten noch so verschieden sein, in der Antikenrezeption jedoch bekunden sie eine erstaunliche Gemeinsamkeit. Schon Abt Desiderius von Montecassino ließ antikes Material, Säulen, Basen und Marmorfragmente aus Rom beschaffen, um damit seine 1071 geweihte Kirche zu schmücken, für deren Bau er Alt-St.Peter in Rom zum Vorbild nahm. Die Desideriuszeit holte sich Anregungen aus der Antike auch aus Buchvorlagen, wie z. B. das Palmettenmuster und den antikisierenden stereotypen Formenapparat, wie Zahnschnitt, Eierstab usw., den wir in den Abruzzen bei der Behandlung der Baudekoration an vielen Beispielen feststellen konnten. Im Lauf der Zeit wird der Geschmack für römisches Formengut selbstverständlicher, vertiefter und unabhängiger von einern gelehrten Klosterhumanismus. Die vorgeschrittene benediktinische Phase bringt neue Motive, wie z. B. den römischen kaiserzeitlichen Adler und Maskenkapitelle. Mehr noch als das benediktinische Stammland entwickelte Kampanien eine besondere Vorliebe für antike Formen und Inhalte, die tradiert wurden. Mit der Kanzel-und Ziboriumswerkstatt der Meister Robertus, Nikodemus und ihrer Mitarbeiter (1150-1166) wurde in den Abruzzen eine von Montecassino unabhängige Antikenrezeption bekannt, die aus kampanischen Handelsstädten, vielleicht noch weiter aus dem Süden, in unser Bergland eindrang. Kampanien war überhaupt anfällig für fremde Einflüsse, mitbedingt durch die Handelswege, die sich von Amalfi, Ravello und Neapel zum ganzen Mittelmeer hin öffneten. Orientalische und besonders islamische Einströmungen sind in diesem Gebiet keine Seltenheit und wurden teilweise durch die Kanzelwerkstatt des Robertus in die Abruzzen getragen. Da nur wenige karnpanische Monumente die Zeiten überdauert haben, bieten sich oft die Abruzzen und das Molise als Bewahrer und Träger einer Tradition an, die im Ursprungsland nur lückenhaft greifbar ist.
Abt Leonas von S. Clemente a Casauria entschloß sich zum Neubau seiner Klosterkirche, deren Grundstein 1176 gelegt wurde. Was bereits 100 Jahre vorher Leo Marsicanus von Abt Desiderius erzählt, wie nämlich dieser seinen Bautrupp für Montecassino zusammenstellte, so beschreibt es auch die Chronik von Casauria in ganz ähnlicher Weise für Abt Leonas. Er holte zur Errichtung seines Gotteshauses scharenweise Bauführer (magistri) und Steinmetzen (caementarii) herbei. Die meisten von ihnen mögen Abruzzesen gewesen sein, denn in S. Clemente entstand kein architektonischer Fremdkörper wie später in S. Maria in Arabona. Dennoch lernen wir hier, nach der langen Vorherrschaft südlicher Einflüsse, zum erstenmal neue Lehrmeister kennen, die direkt vom Norden kommende Formen in unsere Landschaft einführten. Man glaubte, daß über Casauria eine französische Werkstatt ihren Weg in die Abruzzen gefunden habe, doch ist eher anzunehmen, daß französisches Formengut, das vor allem an der Vorhalle und den Portalen von S. Clemente auftaucht, durch lombardische Künstler vermittelt wurde. Der Bautrupp von S. Clemente war über Jahrzehnte am selben Ort beschäftigt, er konnte aber auch ausgeliehen werden. Aus der Chronik von Casauria hören wir, daß er z.B. nach Apulien geschickt wurde, um dort an den Filiationen von S. Clemente tätig zu sein. Innerhalb der Abruzzen ist der Einfluß, der von S. Clemente a Casauria auf Architektur und Plastik ausging, beträchtlich gewesen, z. B. wirkt er sich aus auf die Ausgestaltung von S. Pietro ad Oratorium (Tf. 69a), auf die Kanzel von S. Pelino in Corfinio, auf S. Nicola in Pescosansonesco, auf Pianella und Civitaquana, auf S. Pietro in Campovalano und auf S. Giovanni in Venere. In einigen dieser Kirchen bemerken wir oberitalienische Einflüsse. Ähnlich wie bei der Einschleusung oberitalienischer Motive über Montecassino ist hier bei dieser zweiten Welle nördlicher Einflüsse wieder die Frage zu stellen, ob jeweils die Präsenz einer fremden Werkstatt vorauszusetzen ist, oder ob sie durch Vermittlung von S. Clemente a Casauria wirksam wurden. Oberitalienische Formen, z.B. in Pianella und in S. Giovanni in Venere, sind die gleichen, die wir auch aus Casauria kennen.
Eine Mischung von Einflüssen aus Casauria und solchen, die direkt aus Oberitalien kommen, läßt sich an der Kanzel von S. Angelo in Pianella belegen (Tf. 104). Der Bezug zu S. Clemente und zu der von dort abhängigen Kanzel von S. Pelino in Corfinio ist besonders im ornamentalen Bereich nachzuweisen. Neu dagegen sind die Evangelistensymbole, anstelle der ornamentalen Formen in den Schmuckplatten. Der Kanzelvorsprung, eines der wichtigsten Merkmale im Aufbau abruzzesischer Kanzeln, ist fortgefallen. Das bedingte natürlich eine andere Auf teilung der Kanzelwandung. Die Schmuckfelder sind breiter geworden, wodurch die Eleganz der schmalen Hochrechtecke von Casauria und Corfinio verlorenging. Ferner fehlt den Zierfeldern von Pianella die untere dekorierte Leiste. Die Abweichungen erklären sich aus dem Einfluß der Comasken, den wir hier zum erstenmal im abruzzesischen Kanzelbau aufzeigen können. Die Beziehung ergibt sich nicht nur durch das Fehlen des Kanzelbauchs, sondern auch durch stilistische Zusammenhänge im Figürlichen. Wie eng diese sind, mag ein Vergleich des Lukasstiers von Pianella mit dem an der Kanzel von Bellagio (Prov. Corno) deutlich machen. Beide Tiere erscheinen nicht in der Mitte der Zierplatte sondern in ihrer oberen (S. 153) Hälfte. Das Evangelienbuch bzw. die Schrifttafel unterhalb des Kopfes überschneidet in beiden Fällen sehr ähnlich das rechte Bein des Stieres. Die plastische Bearbeitung der Tierkörper ist hier und dort von der gleichen Sparsamkeit der Mittel. Der Rumpf und die Hinterbeine zeigen keinerlei Gestaltung der Binnenformen. Dagegen sind in beiden Fällen die Nackenfalten durch kräftige parallele Rillen betont. Das Gesicht des Tieres zeigt wieder nur sparsame Einschnitte zur Markierung von Augen und Nüstern. Vor allem übereinstimmend ist die Art, wie sich in beiden Fällen die Hufe von den Beinen absetzen und gleich schweren Klumpen an diesen hängen. Der Matthäusengel weicht stilistisch von den Comaskenarbeiten ab und ordnet sich in eine Gruppe abruzzesischer Madonnen ein, zu der die Gottesmutter über dem rechten Eingang von S. C1emente a Casauria und die von S. Panfilo in der Krypta von Sulmona gehören. Auch die Kanzelkapitelle von Pianella sind von Casauria abzuleiten.
Aus dem Stil der Kanzel von Pianella können wir entnehmen, daß ihr Meister Acutus, der sich auf der Kanzelinschrift nennt, zu der Schar von Meistern gehört hat, von der die Chronik von Casauria sagt, Abt Leonas habe sie von überallher berufen. Es präsentiert sich uns in ihm eine mittelalterliche Künstlerpersönlichkeit, die sicherlich mit den Formgewohnheiten der abruzzesischen Plastik vertraut war, und die zugleich mit den Comasken in Verbindung stand. Vielleicht war er einer der vielen, die ihren Weg vom nördlichen Italien nach dem Süden nahmen, dort heimisch wurden und sich in eine neue Welt einlebten.
In S. Maria della Strada im Molise sind im linken Seitenschiff zwei Plastiken aufgestellt, die als zu einer ehemaligen Kanzel gehörig zu erachten sind. Die eine stellt den drachentötenden Michael dar, die andere einen prächtigen Adler mit ausgebreiteten Flügeln, der seine Krallen auf einem aufgeschlagenen Buch hält, auf dessen Seiten die Inschrift zu lesen ist »More volans aquilae verbo petit astra Johannes«. Das Vorkommen derselben Verse aus dem Carmen Pasch ale des frühchristlichen Dichters Coelius Sedulius an der Kanzel von Pianella und stilistische Merkmale berechtigen zu der Annahme, daß auch hier Meister Acutus am Werk war.
Ein weiteres Beispiel für das Zusammentreffen ober-und mittelitalienischer Einflüsse mit abruzzesischen Stilelementen aus S. Clemente a Casauria bietet die Kanzel von S. Giusta in Bazzano. Schwieriger ist die Beurteilung des Figurenstils der Reliefplatten am Hauptportal von S. Giovanni in Venere (1225-1230), die ohne Vergleichsbeispiele in den Abruzzen sind. Man hat immer darauf hingewiesen, daß hier burgundische Meister am Werk gewesen sein müßten. Ikonographisch und formal mögen Spuren nach Frankreich weisen, obwohl die Qualität burgundischer Plastik bei weitem nicht erreicht wird. Sicherlich handelt es sich um eine Wanderwerkstatt, von der man bisher glaubte, daß sie aus Apulien kam und unter französischem Einfluß stand. Wir konnten schon früher bei der Behandlung der Baudekoration bemerken, daß die Gliederung des Langhauses von S. Clemente a Casauria, die der dritten Bauphase am Anfang des 13. Jh. angehört, in roheren Formen in S. Giovanni in Venere wiederholt wurde. Dieser Bezug zwischen den beiden Bauten läßt auch die Vermutung zu, daß ein Teil der Werkstatt von Casauria, die, wie gesagt, mit französischoberitalienischen Kunstübungen vertraut war, nach S. Giovanni in Venere ging.
Genau in der Zeit, als zum ersten Mal abruzzesische Kunstvorstellungen von S. Clemente a Casauria nach Apulien getragen wurden, setzte nach I I 80 von dort ein Einstrom künstlerischer Ideen in unsere Region ein. Der Adria entlang drang Apulisches bis nach S. Maria di Ronzano in der Provinz Teramo vor und gelegentlich auch in das Hochland der Abruzzen. Das Lieblingsmotiv des Südens, weit aus dem Mauerwerk vorkragende Tierkörper, wird auch in unserer Landschaft gebräuchlich, die Technik, vertiefte Formen im Relief mit Harzrnasse auszufüllen, beobachteten wir am Bischofsstuhl in der Krypta des Domes von Sulmona, gewisse Zierformen von SS. Nicolo e Cataldo in Lecce begegneten an der Apsisdekoration von S. Pelino in Corfinio, die Form des gebrochenen Stabes, die die Normannen in Unteritalien verwandten, erscheint z. B. in S. Clemente a Casauria und am Apsisfenster von S. Tommaso in Varano. Handelt es sich dabei meistens nur um Detailübernahmen, so ist in der Fassade des Domes von Termoli an der Grenze zu Apulien ein Monument überliefert, das in der plastischen Ausgestaltung völlig der südlichen Kunstübung untersteht. In kümmerlichen Relikten bietet sich hier eines der schönsten unter apulischem Einfluß entstandenen Werke dar. Es gibt in unserer Landschaft kaum einen Bau, dem durch Fahrlässigkeit so übel mitgespielt wurde, wie der Fassade von Termoli. Ihre Plastiken verschwanden zum größten Teil durch Diebstahl, und Restaurierungen haben zuviel geglättet und dabei ältere noch vorhanden gewesene Spuren verwischt, und die neuere Kunstwissenschaft hat kaum versucht, sich mit diesen Restbeständen abzugeben. Von höchstem Nutzen sind in diesem Fall ältere Photographien und Beschreibungen der Fassade, da ohne sie der künstlerische Bestand kaum noch zu rekonstruieren ist.
Nur der untere Teil der nach Osten orientierten, 18 m breiten Fassade gehört zum Altbau. Das Gliederungssystem beginnt über einer 1,65 m hohen Sockelzone, den Haupteingang erreicht man über elf Stufen. Eigentümlicherweise spielt bei der Zählung einzelner Bau-und Schmuckelemente die Zahl 24 oder deren Teilung eine Rolle. In den Zwickeln der hohen Blendbogen sind acht Rosetten angebracht. Die sechs Blendfenster haben eine doppelte Abtreppung mit je zwei eingestellten Säulen, die die Archivolte tragen. Von den insgesamt 24 die Fenster rahmenden Säulen waren acht rund, acht apulisch kanneliert und die übrigen acht in der Art eines Schraubengewindes geriefelt. Fast die Hälfte der Säulen ist heute verschwunden. Ursprünglich waren die Blendfenster unten von weit vorkragenden Löwen flankiert, denen am oberen Abschluß Greifen entsprachen. Die Fassade wurde durch die Anbringung bunter Steine belebt. Sie zierten die Profile der Archivolten. Im Anfang dieses Jahrhunderts waren sie noch in gelb-blau-grünen Dreiecksmustern zu sehen.
(S. 154)In diese bewegte und bunte Gliederung gehörte auch eine Anzahl von Figuren, von denen wir heute kaum noch etwas sehen. Immerhin gibt es einige Anhaltspunkte zur Rekonstruktion. Mit Reliefs versehen sind die breiten Kapitelle der Ecklisenen der Fassade, die trotz der starken Verwitterung auf der linken Seite noch einigermaßen kenntlich sind. Zwischen einem aus Blüten und Ranken gebildeten flachen Ornament stehen nackte Gestalten. Auch die Formen der Blendfenster sind schlecht erhalten, jedoch läßt sich eine einheitliche Ausführung vermuten. Wie noch teilweise ersichtlich, wurden sie oben von einem Zweipaßbogen abgeschlossen. Am besten überliefert ist das Fenster auf der linken Seite. Unter den Bogen des Zweipasses stehen die Figuren der Verkündigung, der Erzengel Gabriellinks und Maria rechts. Die Anbringung der Verkündigung an Fenster ist eine ikonographische Besonderheit unserer Region. Die qualitätvolle Darstellung am Fenster der Apsis von S. Tommaso in Varano ist, wenn nicht direkt aus Termoli, so doch aus dem südlichen adriatischen Gebiet abzuleiten. Die Anbringung einer Figurengruppe vor einem Fenster ist an der Fassade von Termoli nur an dieser Stelle zu finden. Ob an den anderen Blendfenstern Darstellungen dieser Art waren, ist ungewiß. Allerdings hat man vor den letzten Restaurierungen auf den Sohlbänken Vertiefungen festgestellt, die der Aufstellung von Figuren dienen konnten. Man hat daraus aber keine weiteren Schlüsse gezogen.
Bevorzugte Behandlung erfuhr die Ausschmückung des Hauptportals. Die äußeren Stützen wurden von Löwen getragen, die noch um die Jahrhundertwende zu sehen waren. Zu Seiten des Portalarchitravs standen ehemals auf runden aus der Wand vorspringenden Platten je zwei Statuen, die ersten Freifiguren in unserer Landschaft. Dargestellt waren Heilige, die beiden äußeren in Frontalansicht, die beiden anderen im Profil dem Portaleingang zugewandt. Die beiden Frontalfiguren sind durch Inschriften benannt. Links steht der hl. Bassus und rechts der hl. Sebastian, beide Schutzpatrone der Stadt Termoli. Von dieser Versammlung ist nur noch der hl. Bassus erhalten. Sebastian, auf alten Photographien noch zu sehen, wurde inzwischen gestohlen und nimmermehr gesehen. Die inneren Figuren sind nur in den unteren Ansätzen nachzuweisen.
Mit Relikten haben wir es auch in dem Tympanonrelief des Hauptportals zu tun, von dem keine Figur vollständig erhalten ist. Dank der Beischriften können wir den Inhalt der Darstellung rekonstruieren. Es handelt sich um die Darbringung des Jesusknaben im Tempel. Die Erläuterungen sind entweder auf Scheiben in Form eines Heiligenscheins oder direkt in den Reliefgrund eingeritzt. Die äußersten Figuren links und rechts zeigen keine Beischriften. Die zweite Figur von links stellte den Simeon dar. Neben ihm zur Mitte hin liest man auf der Grundfläche in sechs Zeilen die Dankesworte, die Simeon nach Lukas 11, 29 an Gott richtet: Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren (Nunc dimittis, Domine, servum tuum in pace). Im Zentrum des Tympanons erkennt man zuoberst ein Kreisrund mit eingearbeitetem Kreuz und darunter einen Altar. Weiter rechts kommen andere Inschriften auf Scheiben vor, in griechischen Lettern der Name Mariens und in lateinischen der des Joseph.
Die Fassade von Termoli gibt noch weitere Rätsel auf. Sie ist übersät mit kaum noch zu entziffernden eingeritzten Inschriften, aus denen aber hervorgeht, daß das Bürgertum dieser wichtigen Handels-und Hafenstadt einen gebührenden Anteil an der Errichtung der Fassade hatte. Um die Aufzeichnungen von vornherein vor Witterungsschäden und vor allem der bedrohlichen Salzluft des Meeres zu sichern, füllte man die Ritzungen mit Blei aus. über dem Zweipaßbogen des äußersten rechten Fensters ist eine Inschrift angebracht, in der sich ein Raimundus Anastasius, Sohn des Johannes Grimaldus, nennt, vermutlich ein Stifter und kein Künstler. Die beiden Statuen in Frontalansicht am Haupteingang sind auch von Erläuterungen umgeben, die den hl. Bassus begleitende Inschrift ist kaum eindeutig zu entziffern. Aufschlußreicher ist die entsprechende rechte am hl. Sebastian, die von Kennern so gelesen wurde: »Iudex Grimaldus Ravellensis hanc imaginem fieri fecit«. Schon seit dem 1 I. Jh. besitzen wir Zeugnisse, die in Termoli von einer Kolonie von Kaufleuten aus Ravello berichten, unter denen die Familie Grimaldi zu hohem Ansehen gelangte. Am unteren Rand des Portaltympanons hat man aus einem Inschriftenfragment, auf dem die Buchstabenabfolge a 1f vorkommen soll, den berühmten Alfanus von Termoli herauslesen wollen und den ganzen Dombau auf Alfanus bezogen. Ein Künstler Alfanus ist inschriftlich am Kapitell des Ziboriums der Kathedrale von Bari gesichert, wo es heißt: »Alfanus civis me sculpsit Termolitanus«. Laut urkundlicher Nachrichten wurde diese Arbeit vermutlich 1 2 3 3 vollendet. Ein Alfanus aus Termoli ist auch der Erbauer der Kanzel von S. Giovanni de! Toro in Ravello. Wie weit es sich dabei um denselben Alfanus handelt, können nur stilistische Vergleiche ergeben. Ähnlich wie wir die über Generationen wirksame Cosmatenwerkstatt in Rom kennen, wäre es auch hier möglich, daß eine Alfanuswerkstatt vom Vater auf den Sohn überging. Wie dem auch sei, den obengenannten Alfanus als den Urheber der Fassade von Termoli anzusehen, scheint nach dem heutigen Stand der Forschung nicht zwingend zu sein.
Seit dem 13. Jh. ist in den Abruzzen ein gewisser Einfluß festzustellen, der von stadtrömischen Mosaizisten ausging. Da es sich hier mehr um eine neue Technik als um einen neuen bildnerischen Stil handelt, erfährt die plastische Gestaltung unserer Region dadurch keine durchgreifende Umwandlung. Der neuen Technik begegnen wir an Ausstattungsstücken des Kirchenraums, an Kanzeln, Ziborien und Chorschranken.
Holzschnitzerei
Die Holzreliefs des 12. Jh. sind in den Abruzzen nach Inhalt und Form mit der Kunstwelt Montecassinos und Kampaniens verbunden. Die Qualität ist einzigartig, so daß von den Abruzzen aus Rückschlüsse auf die kampanisehe Plastik erlaubt sind, die in manchen Fällen nichts direkt Vergleichba (S. 155) res aufzuweisen hat. Dem Mutterkloster Cassino unterstanden im 12. Jh. S. Maria in Cellis in Carsoli und S. Pietro in Alba Fucense. Beide Kirchen waren mit reich geschnitzten Holztüren ausgestattet, von denen die in Carsoli 1132 datiert ist, während die in S. Pietro etwas später aus der gleichen Werkstatt hervorgegangen sein dürfte. Beide Türen sind heute im Nationalmuseum von L' Aquila ausgestellt, ein glückliches Nebeneinander, das die Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten leichter erkennen läßt. Die Tür von S. Maria in Cellis wurde lange Zeit im Rathaus von Carsoli aufbewahrt. Der Erhaltungszustand ist schlecht, besonders im unteren Teil. Die beiden Türflügel werden von einem Weinrankenmuster gerahmt, dessen Geäst sich kreisförmig verschlingt. Jeder Flügel ist vertikal in fünf Bildzonen unterteilt, die aber auf beiden Seiten ungleiche Höhe und Breite haben. Jedes Bild wird von Ornamentstreifen eingefaßt, bei denen häufig das Motiv des gedrehten Taues auftritt. Die inhaltliche Abfolge der Darstellungen verläuft über beide Flügel von links nach rechts und von oben nach unten. Abgebildet werden in der ersten Reihe die Verkündigung und die Heimsuchung (Tf. 74). Darunter folgt die Geburt und die Verkündigung an die Hirten, die dritte Reihe zeigt die Anbetung der drei Könige und den Bethlehemitischen Kindermord, die vierte die Taufe Christi und die Darstellung des Jesusknaben im Tempel. Der Inhalt der beiden letzten Szenen ist nicht mehr zu erkennen. Die einzelnen Bilder tragen Beschriftungen, die kaum noch zu entziffern sind. In Majuskeln von unregelmäßiger Größe liest man unter der Verkündigung »Angelo dicto fit pregnans integra virgo«. Auf dem rechten Türflügel ist zwischen den beiden oberen Bildern das Datum 1132 zu lesen.
Fortschrittlicher in der Ausführung ist die Holztür aus S.Pietro (Tf. 75, 76, 77). Die Formen sind klarer, kräftiger und bestimmter in den Konturen. Auch hier ist der Erhaltungszustand der einst mehrfarbig bemalten Tür äußerst schlecht, die unteren Partien haben durch Feuchtigkeit gelitten. Nach dem Erdbeben von 1915 wurden die gefährdeten Reliefs auf einen neuen Holzboden aufgezogen. Wie in Carsoli werden die beiden Flügel von einer Rahmung aus Rankenwerk eingefaßt. Die Aufteilung ist regelmäßig und zeigt auf jeder Seite sieben Reihen mit je zwei Feldern. Die nahezu quadratischen kassettierten Reliefs werden durch breite Ornamentstreifen voneinander getrennt, die in der Vertikalen von Rosetten unterbrochen sind. Die Bilder erzählen nicht, wie in Carsoli, den Ablauf eines Geschehens sondern zeigen nur Einzelszenen, die mehr oder minder beziehungslos nebeneinanderstehen. In der obersten Reihe finden wir die vier Evangelistensymbole, in der darauffolgenden begegnen wir u. a. einer nackten reitenden Gestalt sowie auf dem rechten Flügel einem thronenden Bischof mit Stab unter einer Art Baldachin und zwei Figuren mit erhobenem rechtem Arm, von denen jede in einem Rundbogen steht. Die dritte Zone zeigt auf der linken Seite Stiere und auf der rechten zwei Reiter, die vierte enthält Monstren und einen Zentaur. Die übrigen Felder sind so stark beschädigt, daß der Inhalt nicht mehr erkennbar ist. Obwohl die Tür von Alba Fucense in ihren Maßen und in der Größe der Bildfelder von derjenigen in Carsoli abweicht, und obwohl die dortige Künstlerhand fortschrittlicher ist als die in Carsoli, möchte man dennoch glauben, daß die Arbeiten in einer Werkstatt, allerdings von zwei verschiedenen Meistern, geschaffen wurden. An beiden Holztüren ist stilistisch und inhaltlich der Eklektizismus abzulesen, von dem auch Montecassino und das benachbarte Kampanien beherrscht wurden. Manche Zierstreifen wiederholen genau die antikisierenden Motive, die wir zur Genüge in der Baudekoration belegen konnten, das Rankenmuster, das gedrehte Tau usw. Hellenistisches Gedankengut wurde durch die Byzantiner tradiert und freudigst in Kampanien aufgenommen. Von dort aus wandern die nackten Reiter, Eroten und Zentauren nach S. Pietro ein. Der Engel als Evangelistensymbol des Matthäus in der oberen Reihe in Alba Fucense ist durchaus byzantinischen Vorlagen nachgebildet. Auch die Auswahl der christologischen Szenen in Carsoli geht auf byzantinische Tradition zurück, und vielleicht dienten Miniaturen als Vorbilder. Vermutlich gibt es aber noch direktere Vorlagen. Alfanus H., Erzbischof von Salerno, verfaßte im Auftrag seines Jugendfreundes, des Abtes Desiderius von Montecassino, ein Gedicht, das die Malereien im Atrium des Mutterklosters verherrlicht. Die Verse stellen Sinnsprüche oder Titel zu den einzelnen Szenen dar. Die in Cassino dargestellten Ereignisse sind sehr zahlreich. Dort bilden den Anfang zwei Szenen aus dem Alten Testament, der Sündenfall und die Kainsgeschichte. Darauf folgen genau wie später in Carsoli, die Verkündigung an Maria, Heimsuchung, Geburt Christi, Verkündigung an die Hirten, Anbetung der drei Könige. Dann kommt ein Wechsel im Ablauf. Alfanus beschreibt als Szenenfolge die Beschneidung, Flucht nach Ägypten, Kindermord in Bethlehem, der zwölf jährige Jesus im Tempel, Taufe Christi, Versuchung Christi und der hl. Benedikt in den Dornen von Subiaco, während der Meister von Carsoli den Kindermord, die Taufe Christi und die Beschneidung aneinanderreihte. Sollten die Szenen von Carsoli das Programm der Atriumsfresken von Montecassino übernommen haben, so kämen für die verlorenen Felder auf der unteren Seite der Tür vier Themen in Frage, und zwar die Flucht nach Ägypten, der zwölf jährige Jesus im Tempel, die Versuchung Christi oder der hl. Benedikt in den Dornen von Subiaco.
Eine andere Komponente in der Gestaltung der beiden Holztüren bilden islamische Einflüsse, die in Kampanien wirksam wurden. Nur so sind die Formen gewisser verzwickter, dicht verschlungener Ornamentbänder zu erklären, die noch einige Jahrzehnte später die Kanzel-und Ziboriumswerkstatt des Robertus und Nikodemus in den Abruzzen verwendet. Die Verquickung entlehnter Formen und Inhalte, in denen sich verschiedene Traditionen spiegeln, ist charakteristisch für die süd italienische Welt und macht sie in gewissem Sinne unfrei. Aus dieser Gebundenheit konnte keine Innovation entstehen. Eine künstlerische Erneuerung trat da auf, wo man von derartigen Belastungen unabhängiger war, das heißt in Oberitalien.
Neben den Türen von Carsoli und S. Pietro in Alba Fu (S. 156) cense gehört der obere Abschluß der Chorschranken im nahe gelegenen S. Maria in Valle Porclaneta bei Rosciolo (Tf. 73) zu den großartigsten Arbeiten aus Holz, die uns das 12. Jh. in Italien überliefert hat. Als ich die hölzernen Teile des Aufsatzes zum erstenmal Ende der dreißiger Jahre sah, lagen sie zwischen Schutthaufen verstreut auf dem Erdboden im Kirchenraum. Das hatte den Vorteil, das ungewöhnliche Werk aus nächster Nähe betrachten zu können. Inzwischen hat man die Bedeutung der Anlage erkannt, sie restauriert und wieder an dem angestammten Platz über den vier Säulen der Chorschranken aufgestellt. Die Ikonostasis ist das Produkt verschiedener Bauzeiten. Sie besteht aus einer geschlossenen Sockelzone, die nur in der Mitte einen Durchgang vom Laienraum zum Chor freiläßt. In diesem Wandstück sitzen verschiedene Reliefplatten, die stilistisch kurz nach der Mitte des 12. Jh. anzusetzen sind, aber es ist fraglich, ob ihre jetzige Anordnung dem alten Zustand entspricht. In der ersten Hälfte des 13. Jh. erfolgte, aus welchen Gründen auch immer, eine Restaurierung. Die vier Säulen, die sich auf einer Brüstung über der Sockelzone erheben, sind eine typische Leistung des Marsergebietes aus dem 13. Jahrhundert. Diese tragen den hölzernen Aufsatz, der die ganze Breite des Mittelschiffs einnimmt. Den Formen nach haben wir es mit einem Werk zu tun, dessen Entstehung in die Zeit der Errichtung der Sockelzone fällt. Es baut sich auf aus einer unteren, durch Ornamente horizontal gegliederten Zone und einer oberen, die Architekturformen aufnimmt. Und zwar folgendermaßen. Auf den vier Säulen der Ikonostasis liegt ein niedriger unverzierter Balken, über dem ein Rankenmuster läuft, das sich in regelmäßigen Abständen verschlingt, so daß elf kreisförmige Felder entstehen. Den Abschluß dieser Zone bildet ein schmales gerahmtes Band mit einem Rankengewinde. Darauf setzt der architektonisch gegliederte Teil des Schnitzwerks an. Er besteht aus einem überhöhten Mittclfeld, das in Art einer Palastfassade gebildet ist, und dessen Breite etwa der Öffnung der Chorschranken entspricht. Die anschließenden niedrigeren Seitenpartien zeigen je fünfzehn Arkaden, über denen ein Ornamentband läuft, das dem unteren schmalen Rankengewinde ähnelt. Darauf folgt ein verzierter Streifen, an dem in regelmäßigen Abständen ehemals die zwölf Apostel als Halbfiguren in Relief erschienen, von denen zwei heute fehlen; mit ihren abgeflachten Köpfen erscheinen sie gleichsam als Drücker, die die oberste restaurierte Abschlußleiste dieser Seitenteile tragen. Am interessantesten und aufschlußreichsten für die inhaltliche Deutung des Ganzen ist die palastartig gestaltete Mittelpartie. Sie zeigt drei große Bogenöffnungen, von denen die mittlere höher und breiter ist als die beiden seitlichen; in den Bogenzwickeln sitzen Rosetten. über einem schmalen Ornamentstreifen folgt der obere Abschluß dieser geschnitzten Fassade in Form von neun Arkaden, die von Säulen mit Kapitellen gestützt werden. Diese Reihe von Rundbogen wird an beiden Enden von je zwei nahe aneinandergerückten Pilastern gerahmt, die eine gemeinsame Deckplatte und ein gemeinsames Kapitell tragen. Diesen breiten Kapitellen sind verschiedene Aufgaben zugedacht. An ihren Außenseiten nehmen sie die Rundbogen auf, in denen zwei prachtvolle sechsflügelige Seraphim (Tf. 72) erscheinen. Es blieb bisher unbeachtet, daß die Auflagefläche der breiten Kapitelle nach innen noch die Ansätze eines Bogens zeigen, der sich über die neunbogige Arkatur spannte.
In kaum einer anderen Kirche der Abruzzen ist das Inventar des 12.. und 13. Jh. so reich erhalten wie in S. Maria in Valle Porclaneta. Die einzelnen dort tätigen Werkstätten arbeiteten ziemlich selbständig, und es ist eigenartig, daß stilistisch zwischen der Kanzel und dem Ziborium, die von Robertus und Nikodemus um 11 50 geschaffen wurden, und der ungefähr gleichzeitig entstandenen Ikonostasis keine Berührungen festzustellen sind, obwohl alle beteiligten Künstler von süditalienischem Formengut beeinflußt waren. In den Rankenmustern und in der Bearbeitung der Rosetten bleibt der Meister des Holzarchitravs der Tradition verhaftet. Jedoch zeigt er in manchen Formen gewisse Eigenheiten, bei denen man an ein Nachleben langobardischer Flechtbandmuster und mehr noch an islamische Einflüsse, die in Kampanien eingedrungen waren, denken könnte. Ein reines Flechtbandmuster sieht man in den Rundbogen über den Seraphim. Diese Liebhabereien unseres Meisters sind keine eigenen Erfindungen, sondern wurden sicherlich der Buchmalerei entlehnt. Dieser Ausgangspunkt macht auch verständlich, daß noch am Anfang des 14. Jh. dieselben Zierformen unabhängig von S. Maria in Valle Porclaneta an den Seitentüren des Domes von Atri erscheinen.
Der hölzerne Architrav über den Säulen der Chorschranken in S. Maria in Valle Porclaneta ist ein Unikum. Glücklicherweise schildert der Marser Leo in der Chronik von Montecassino die florierende Holzschnitzerei im Mutterkloster zur Zeit des Abtes Desiderius. Wir können die Monumente von Cassino und Rosciolo in direkten Zusammenhang bringen, da S. Maria in Valle Porclaneta seit ungefähr 1080 direkt dem Mutterkloster unterstand. Desiderius ließ in Cassino das hölzerne Chorgestühl errichten, das gleichzeitig Skulpturen und Malereien zeigte. Für die Zone außerhalb des Chores ließ er ein hölzernes Lesepult und eine hölzerne Kanzel verfertigen. Letztere war farbig bemalt und vergoldet. Die in unserem Zusammenhang wichtigste Stelle im Bericht Leos betrifft die Erstellung der Chorschranken von Montecassino. Sie waren wie in Rosciolo dreigeteilt, mit der Sockelzone und den vier Säulen darüber, die einen hölzernen Aufsatz trugen. Auch dieser war mit Schnitzereien versehen. Die Mitteilung, Desiderius habe das Chorgestühl und die Chorschranken mit Skulpturen und mit Malereien schmücken lassen, können wir auf unsere Ikonostasis in Rosciolo übertragen. Dort sind an figürlichen Schnitzereien nur die Apostelreihe und die beiden Seraphim erhalten. Welche Funktion hatten die drei Bogen des palastartigen Mittelteils, die anschließenden dreißig Arkaden sowie im unteren Teil die elf Kreisfelder? Wahrscheinlich waren sie in Analogie zu Montecassino bemalt, denn irgendwelche Spuren zur Befestigung anderer Teile aus Holz sind nicht auszumachen. Für den Rekonstruktionsversuch können nur allgemeine ikonographische überlegungen dienen. Die Apostelreihe und die (S. 157) Seraphim in einer höheren Bildzone legen den Schluß nahe,daß hier die himmlische Hierarchie abgebildet werden sollte, ein Thema, das schon in frühen Zeiten den Pseudo-Dionysius Areopagita beschäftigte und eine griechische Lehre behandelt, die im Auftrag Kaiser Karls des Kahlen von Johannes Erigena ins Lateinische übersetzt wurde und seither dem europäischen Mittelalter vertraut war. Zur obersten Hierarchie gehören die Apostel und die Seraphim. Sie waren mit der Vorstellung des Jüngsten Gerichts verbunden, mit dem thronenden Christus und den unter ihm knienden Maria und Johannes dem Täufer, die Fürbitte für die Auferstehenden taten. Diese Gruppe könnte in dem fehlenden obersten Teil des Aufsatzes dargestellt gewesen sein. Zur Hierarchie des Areopagiten würde auch die Neunzahl passen, denn neun Engelschöre gehören zur himmlischen Versammlung. Die neun Bogen, in denen gemalte Engel abgebildet sein konnten, liegen in Rosciolo' direkt unter der hypothetisch angenommenen Deesis. Nach der allgemeinen Ikonographie der Ikonostasen könnten in den dreißig Arkaden die Diener der himmlischen Hierarchie zu Wort gekommen sein, die Heiligen der örtlichen Kirche und andere; in den Rundscheiben darunter waren vielleicht die Feste der Kirche dargestellt. Die Chorschranken von Montecassino sind nicht mehr erhalten, vermutlich wurden sie schon 1143 bei dem überfall der Normannen zerstört. Eine Rekonstruktion dieses Denkmals ist aus den Schriftquellen möglich und aus dem wohl schlichteren und weniger kostbaren Nachbild von Rosciolo.
Über das Ikonographische hinaus kann man fragen, wie eine himmlische Hierarchie architektonisch vorgestellt wurde. In Rosciolo wird, wie gesagt, in der oberen Zone ein Palast abgebildet, dessen Mittelpartie drei große Bogenöffnungen zeigt. Zum Vergleich eines Palastes mit hocherhobenem Mittelteil und Bogenöffnungen an den Seitengebäuden denke man an den Palast von Theoderich d. Gr., der im Mosaik in S. Apollinare Nuovo in Ravenna dargestellt ist. Der dortige Kaiserpalast ist in Rosciolo zu einer Arx Dei geworden. Die Deutung als himmlische Burg wird noch durch den Ott der Aufstellung unterstrichen. Sie liegt hoch herausragend an der Grenze des Innenraums, über die der Laie seinen Fuß nicht setzen durfte. Hinter der Abriegelung lag der heilige Bezirk, gleichsam der geistige Bereich der Himmelsburg selbst.
In Montecassino wird in der Biblioteca Paolina eine groß artige geschnitzte Holztafel (ca. 70 cm hoch, ca. 50 cm breit) verwahrt. Sie stammt aus S. Vincenzo al Volturno und dürfte dort in der zweiten Hälfte des 12. Jh. entstanden sein. Wozu sie diente, ist ungewiß, vielleicht war sie Teil eines Chorgestühls oder gehörte zu einer Holztür. In der rechteckigen Rahmung, die jeweils in der Mitte einer Seite eine Ausbuchtung in Form eines stumpfen Dreiecks zeigt, er scheint ein groß angelegtes geschnitztes Rankenwerk. In den Schlingen sieht man Vierfüßler, vielleicht Hunde, und die Bildmitte beherrscht ein Adler in Frontalansicht mit ausgebreiteten Flügeln. Der Meister von S. Vincenzo arbeitet nach Vorlagen, die er von der Miniaturmalerei ausborgte. Besonders in Initialornamenten, die wir aus dieser Zeit in Montecassino kennen, finden sich viele Vergleichsmöglichkeiten. Daß ein Künstler sich in mehreren Kunstübungen auskannte, z. B. im Miniieren und Skulptieren, ist nicht ungewöhnlich. Ein illuminierter Kalender mit Totenbuch aus dem Kloster S. Maria di Gualdo in der Diözese Benevent, der heute im Vatikan als Ms. Vat. lat. 5949 verwahrt wird, nennt als Illuminator einen Sipontinus, von dem gesagt wird, er sei auch Bildhauer gewesen und Goldschmied und zugleich erfahren in getriebener Arbeit.
Reliefs in Stein
Portalreliefs
Die Abruzzesen haben, sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt steigernd, im ornamentalen Bereich hervorragende und außer gewöhnliche Leistungen vollbracht. Noch um die Mitte des 13. Jh. entstand in S. Bartolomeo in Carpineto della Nora ein Meisterwerk. Das dortige Portal (Tf. 57) wird durch breite Ornamentbänder auf den Pfosten und dem Architrav eingefaßt. Sie zeigen das Lieblingsmotiv der Ranke, in deren Schlingen Tiere auftauchen. Trotz gewisser Vorbilder ist hier ein durchaus eigenständiger Künstler am Werk, der sich in der Gestaltung der Tierkörper, die stilistisch auf Kampanien hinweisen, als einer der größten Meister im abruzzesischen Portalbau dieser Zeit erweist.
Ganz anders sieht es in den Abruzzen aus, wenn es um rein figürliche Darstellungen geht. Das Kernland der Benediktiner hatte dafür keine Vorbilder zur Hand, die in der Portalplastik unseres Berglandes wirksam werden konnten. Das Abbilden der menschlichen Figur ist hier als etwas Fremdes empfunden worden. Themen dieser Art sind selten und treten zuerst in dem von Montecassino künstlerisch unabhängigen S. Clemente a Casauria auf, gespeist von französischem und oberitalienischem Gedankengut. Figürliche Szenen im Architrav, wie in Casauria, kommen nur noch zweimal vor, in S. Maria Maggiore in Pianella und in S. Tommaso in Varano bei Caramanico, beides keine Meisterwerke und ohne das Vorbild von S. C1emente a Casauria unvorstellbar. Bei den Architravfiguren von Pianella zeigen sich eine gewisse Unsicherheit und rohe Behandlung des Steines. Entsprechend ihrer Beischriften stellen sie von links nach rechts folgende Personen dar: Paulus, Petrus, Johannes Baptista, Maria, Johannes Evangelista, dann kommt eine nicht zu deutende Figur und darauf folgen der hl. Nikolaus von Bari und der König David.
Der Architrav des Mittelportals von S. Tommaso in Varano (Tf. 58, 59) zeigt dreizehn etwas monotone Figuren, Christus in der Mitte mit einer Schriftrolle in der linken Hand mit der Aufschrift »Diligite iustixiam[!]«. Zu beiden Seiten stehen die zwölf Apostel, einer von ihnen ist als der hl. Paulus gekennzeichnet
Ähnlich wie bei den Architraven scheute man sich im Pottaltympanon figürliche Darstellungen anzubringen. Auch hier macht S. Clemente a Casauria den Anfang, und S. Giovanni in Venere ist wie sooft ein getreuer Nachfolger. (S. 158) Die Mehrzahl der Tympana mit Figuren finden wir im Molise. Ein frühes Beispiel ist bereits um 1148 in S. Maria della Strada nachweisbar, während weitere dann erst wieder im 13. Jh. in Petrella Tifernina, Campobasso, Guglionesi und in S. Maria di Canneto folgen. Das sonst so tonangebende Hochland der Abruzzen spielt diesmal keine Rolle.
Dem 1204 datierten Nordportal von S.Giovanni in Venere entspricht zeitlich das gegenüberliegende Südportal. Die Figuren in der Lünette, ein stehender Engel in Frontalansicht, eine sitzende Madonna ohne Kopf und das Jesuskind, sind schlecht erhalten.
Die Portallünetten von S. Giorgio in Petrella Tifernina sind in traditioneller Weise mit Tieren ausgefüllt. Im Tympanon des Haupteingangs der Fassade ist das Agnus Dei in die untere rechte Ecke gerutscht, während ungefähr die Mitte des Bogenfeldes eine Darstellung einnimmt, die durch eine Beischrift als Jonasszene kenntlich gemacht ist. Dieses Relief ist auf dem unteren Rand 1211 datiert, und ein Magister Elpidius bezeichnet sich als Künstler. Die Portale an den Langhauswänden der Kirche entstanden gleichzeitig. Beide enthalten in den Lünetten interessante Reliefs, die mit Tieren übersät sind, wobei die dekorative Gestaltung der Flächen und nicht der Inhalt im Vordergrund steht. Im Tympanon des rechten Portals sieht man Fische, springende Hasen, und ein Tier rechts mit Heiligenschein und Kreuz läßt sich wieder als Agnus Dei deuten. Gleichzeitig war ein etwas primitiverer Meister an der Lünette der linken Langhauswand am Werk. Bei den dargestellten Tiermonstren fallen die aufgerissenen Mäuler mit übertrieben starken Zungen sowie die Betonung der Extremitäten auf.
Erwähnenswert sind Reliefs des vorgeschrittenen 13. Jh. in der Lünette des Hauptportals von S. Bartolomeo in Campobasso. In einer von zwei Engeln gehaltenen Mandorla thront der bärtige segnende Erlöser, der mit der linken Hand ein Buch umfaßt. Die anschließende Archivolte zeigt acht Darstellungen, u. a. die vier Evangelistensymbole. In S. Giorgio in Campobasso erhebt sich über dem schmucklosen Portalarchitrav eine gestelzte Lünette. Um das Relief mit dem Gotteslamm in der Mitte legt sich in einer weiter vortretenden Wandschicht ein Pflanzenornament.
In S. Nicola in Guglionesi zeigt die Hauptfassade über einer Sockelzone ein einfaches Portal mit schwerem Architrav. In der Lünette darüber sind in einem flach gearbeiteten Relief Löwen und Greifen dargestellt. Ein letztes Beispiel bietet S. Maria di Canneto, wiederum mit einer altertümlich schwachen Modellierung, wie sie für das Molise typisch ist. In der Lünette über der Haupttür steht das Kreuzeslamm und ihm gegenüber sitzt ein geflügeltes Phantasietier. Das Tympanon wird von einem Zierstreifen mit Rankenmuster und eingestreuten Pflanzenformen gerahmt. Der Architrav über den Pilasterkapitellen trägt eine Inschrift, die mit »ab· bas« und einem darauffolgenden Eigennamen (Rainaldus ?) beginnt. Eine bisher nicht versuchte Entzifferung könnte vielleicht die Datierung des Reliefs ermöglichen.
Kanzeln und Ziborien
Die Herstellung von Kanzeln und Altarbaldachinen war ein besonderes Anliegen der Abruzzesen. Kaum eine andere Landschaft Italiens hat im 12..Jh. und in der ersten Hälfte des 13. Jh. eine größere Aktivität in diesem Bereich aufzuweisen, und in keiner anderen Region werden die Kanzeln unseres Berglandes an Schönheit und Eigenheit übertroffen. Auffallend ist der Reichtum an Inschriften, die es ermöglichen, eine genaue Chronologie der Monumente festzulegen. Abgesehen von den früher behandelten Kanzelfragmenten in Citta S. Angelo und in Vittorito, die kaum abruzzesisehe Stilelernente erkennen ließen, setzen die eigentlich abruzzesischen Arbeiten mit der Kanzel von S. Maria in Cellis in Carsoli 1132 ein und enden mit der in Corcumello 1267. Innerhalb dieser Zeitspanne können wir den Kanzelund Ziboriumsbau von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verfolgen. Der künstlerische Höhepunkt wird kurz vor der Hälfte dieses Zeitraums um 1180 erreicht mit den Ambonen von S. Clemente a Casauria, Corfinio und Bominaco.
Verglichen mit anderen Kunstlandschaften Italiens beginnt der Kanzelbau in den Abruzzen erstaunlich früh. In der Toskana liegt der Höhepunkt erst im 14. Jh. in den Werkstätten der Pisani. Mit Ausnahme der Kanzel von Ravello, die noch sehr stark an stadtrömische Vorbilder gebunden ist, sind typisch kampanisehe Kanzeln erst ab 11 75 erhalten mit der kleinen Kanzel im Dom von Salerno und mit der im Dom von Amalfi. Da in jener Gegend nur wenige Beispiele zwischen 1132 und 1175 überliefert sind, können wir in dieser Zeit von den Abruzzen Rückschlüsse auf Kampanien ziehen, da dieser Landstrich maßgeblich die Kunst unseres Berglandes beeinflußt hat. Auf Grund der Impulse, die von Montecassino und Kampanien ausgingen, ist der Anfang des abruzzesischen Kanzelbaus leichter zu verstehen als das plötzliche Ende, das keine rechte Erklärung findet. Die Werke, die in unserer Region vornehmlich auf dem Lande in abgeschiedenen Klöstern zur Aufstellung kamen, waren im Grunde für eine größere Bevölkerung von städtischer Kultur berechnet. Die Kathedralen der blühenden kampanisehen Städte erstellten ihre Kanzeln gleichsam im Wettstreit, und ganz ähnlich verhielt sich Apulien in den Domen von Bari, Bitonto, Barletta usw., ähnlich auch die Toskana in Siena, Pistoia, Lucca und anderswo. Eine Blüte der Städte hat zur Zeit der Normannen und Staufer in unseren Gegenden nie stattgefunden. Zur Zeit der Anjou änderten sich dann die Verhältnisse entscheidend. Tendenzen der internationalen Gotik überzogen Süditalien, und der selbständige abruzzesische Stil konnte sich nicht mehr mit voller Kraft durchsetzen. Bei einer übersicht der geographischen f Lage der Kanzeln in den Abruzzen kann man beobachten, daß sie keineswegs gleichmäßig verteilt waren. Drei Zentren heben sich deutlich heraus: Das Marserland, bzw. das Gebiet um den ehemaligen Fuciner See, dann die Landschaften im Umkreis zweier Flüsse, einmal um die Peseara, an der in nächster Nähe zwischen Popoli und Chieti blühende Klöster liegen, zum anderen um den Aterno mit den mehr oder we (S. 159) niger weit von seinem linken Ufer entfernt gelegenen Orten S. Vittorino, Bazzano, Prata d'Ansidonia und Bominaco. Die Adriaküste und die nördlichen Abruzzen haben im Kanzelbau keine oder nur eine untergeordnete Rolle gespielt.
Die eigenständigsten und qualitätvollsten Leistungen zeigen die Abruzzesen in der Gestaltung ihrer Ornamente, gut zu beobachten an den Schmuckplatten der Kanzel von S. Libeiatore alla Maiella, die heute in der Pfarrkirche Assunta in Serramonacesca aufbewahrt werden (Tf. 93, 94). Die figürliche Plastik an den Ambonen ist oft zweitrangig, und wo sie auftritt, meistens von fremden Einflüssen geprägt. Die künstlerisch einmaligen Leistungen im dekorativen Formbereich beruhen indessen weniger auf schöpferischen Ideen als auf der phantasievollen Gestaltung der Schmuckelernente. Die sogenannten langobardischen Flechtbänder haben noch um die Mitte des 12. Jh. ein Nachleben in der Werkstatt des Roger und erscheinen nochmals an der Kanzel von Bazzano vom Jahre 1238. J)ie meisten Ornamente sind Antikenrezeptionen, die besonders Montecassino und Kampanien vermittelten; ebenso lieferte der eigene abruzzesische Boden . Vorbilder. Was sich wandelt, ist die Funktion des Ornaments, das in der Antike und auch im Mittelalter oft nur dekoratives Beiwerk war. In den Abruzzen aber wird ein Schmuckteil formal und inhaltlich zum Hauptmotiv einer Kanzel erhoben, besonders an den klassischen Ambonen von S. Clemente a Casauria, Corfinio und Bominaco.
Das Ornament an der zwischen 1176 und 1182 entstandenen Kanzel von Casauria (Tf. 95, 96) ist sehr anspruchsvoll. Es tritt an der Stelle auf, wo in anderen Fällen die Evangelistensymbole und Szenen aus dem Leben Christi das Wort Gottes repräsentieren. Anstelle alldessen ist nun das Ornament als alleinige Bildsprache getreten. In einet:. Zeit, wo der Norden den theologischen Inhalt durch die menschliche Figur vermittelt, bewegt sich der Künstler von Casauria in entgegengesetzter R{chtung. Es sind dieselben Jahre, in denen in Frankreich die .Figuren von Chartres und von S. Denis geschaffen wurden.
Obwohl die Ornamentbehandlung in Casauria auf den ersten Blick einheitlich erscheint, läßt sich doch in der Ausführung der Details eine Reihe von bewußt angeordneten Variationen feststellen. Die mittlere Rosette der Westseite ist >z. B. größer als die beiden anderen. Bei gleicher Grundform sind die Einzelelemente der Rosetten jeweils verschieden gebildet. Darüber hinaus besitzen sie ein Höchstmaß an Plastizität. Nie wieder wurde eine Schmuckform in den Abruzzen zu solcher Körperhaftigkeit gesteigert.
Die Kanzel von Corfinio (1168-1188) ist in Einzelheiten von Casauria abhängig, aber verhaltener in ihrem ornamentalen Pathos (Tf. 103). Die Rosetten sind weniger plastisch gebildet und die Ornamentierung ist sehr viel sparsamer. Die beiden Schmuckplatten links und rechts vom Kanzelbauch werden von Ornamentbändern gerahmt und zeigen auf einem glatten unverzierten Grund nur die beiden Rosetten. Ebenso blieb der Raum zwischen den drei Blendarkaden am Kanzelvorsprung ohne Dekoration. Die leere Fläche, das Nicht-Ornament, wird hier zu einem ästhetischen-Faktor.
Corfinio bietet das einzige abruzzesische Beispiel von Kapitellen auf den Ecken der Kanzelbrüstung. Derartige Aufsätze zeigen schon die Kanzel und der Bischofsstuhl im Dom von Canosa und der Ambo im Dom von Salerno. Sie sind im Mittelalter sicherlich häufig gewesen und haben sich nur, da sie leicht zu beseitigen waren, nicht erhalten. Es handelt sich dabei wohl nicht um eine bloße Zierform. In Corfinio ist in der Mitte des Aufsatzes ein eiserner Stift eingefügt, der zur Befestigung einer Kerze diente.
Die 1180 entstandene Kanzel von S. Maria in Bominaco (Tf. 100) ist im Gesamtaufbau den Kanzeln von Casauria und Corfinio verwandt, aber unabhängig in der Durchführung der Einzelteile (Tf. 99). Das Ornament, schon in Corfinio längst nicht mehr so üppig wie in Casauria, wird hier noch sparsamer verwandt, wo es aber auftritt, ist es von größterWirksamkeit. Der Sinn für das Tektonische ist hier. greifbarer geworden. Das drückt sich vor allem darin aus, daß die vertikale Gliederung der Kanzelwandung nicht mehr durch Ornamentbänder geschieht wie bei den vorangehenden Beispielen, sondern daß das hier von einfachen Pilastern und Eckpfeilern auf hohen Basen besorgt wird. Für das Tektonische sprechen auch die die Kanzel tragenden, kräftiger gewordenen Säulen und Kapitelle. Eine wesentliche Neuerung beobachten wir am Architrav. In allen früheren Fällen war an den Ecken über einem Kapitell das Zusammentreffen zweier Architravteile sichtbar. Hier dagegen wird der Architrav um die Ecke herumgeführt, wie wir es von spätantiken Sarkophagen kennen. Neu an diesem Teil ist auch die antikisierende Girlande (Tf. 101, 102), die mit den Kanzeln von Casauria und Corfinio kaum Berührungspunkte zeigt. Das Ornament verläuft in einer wundervoll geschwungenen Wellenlinie. In jeder Schlinge befindet sich eine figürliche oder pflanzliche Darstellung. Das Ganze ist ein unerhört freies Spielen mit Formen. Zur Freiheit erwacht sind auch die Figuren, die sich in den Rankenwindungen anderer abruzzesischer Kanzeln allzu sehr verstrickten und dort keinerlei Eigenleben erlangten. Der Vergleich mit den kaum dreißig Jahre früher entstandenen, im Schlingenwerk zappelnden Figuren des Nikodemuskreises kann die Entwicklung verdeutlichen, die die abruzzesische Plastik in dieser kurzen Zeitspanne durchlaufen hat.
Ein altes Motiv, das in Bominaco zum erstenmal monumentale Form annimmt, ist die geschleuderte Rosette. Bislang zeigte die Rosette (Tf. 98) eine in sich ruhende Form, während sie hier unruhvoll bewegt als einzige Zierde einer Kanzelplatte auftritt und die umgebende Fläche durch ihr Rotieren in Schwingung zu versetzen 'Scheint. An den Kanzelkapitellen bemerken wir eine Fülie antikisierender Formen, die wir sogar in dem von antiken Reminiszenzen durchsetzten Kampanien nur selten wiederfinden.
Die Kanzeln von S. Clemente a Casauria, Corfinio und Bominaco bilden den Höhepunkt abruzzesischer Ornamentkunst. Aber ähnliche Charakteristika wie dort finden wir auch an den übrigen Ambonen unserer Landschaft, so die Scheu vor der Wiederholung einzelner Ornamente, die Vorliebe für eine gewisse Asymmetrie in ihrer Anordnung und (S. 160) die Erhöhung einer Schmuckform zu einem Bild mit eigener künstlerischer Expressionskraft.
An der 1240 datierten Kanzel von Prata d'Ansidonia (Tf. 111) bewundern wir die letzte Steigerung des Rosettenmotivs. Die Selbständigkeit und der ganz persönliche Ausdruck in der Gestaltung werden besonders deutlich, wenn man bedenkt, wie stark gerade dieses Motiv in der Tradition verankert war. Die abruzzesische Eigenheit, Zierelemente zu individualisieren, prägt sich hier wieder in der Verschiedenheit der Schmuckplatten zum Mittelschiff (Tf. 109) aus, deren Formgebung in den Abruzzen einmalig ist. Wie in Casauria vergißt der Künstler die botanischen Vorbilder seines Ornaments. Die Phantasie ist am Werk und schafft neue Gebilde, die in der Natur nicht vorkommen. Stilistische Beziehungen weisen nach Apulien. Ähnlich a'Uigelockerten Blüten begegnen wir am linken Kassettenfries des um das Jahr 1230 entstandenen Portals von S. Agostino in Andria. Das wie Filigranarbeit erscheinende Blattwerk der Kanzel von Prata d' Ansidonia, das wir auch an der Kanzel von Bitonto antreffen, hat seine Vorstufen in der islamischen Kunst und findet sich z. B. schon an einem Palast in Kairo aus der Zeit der Mamelucken. Bei derartigen Vergleichen erkennen wir die Leistung unseres Kanzelbauers, der es versteht, ein ornamentales Detail zur monumentalen Form zu erheben. Denn was dort nur Teil in einem größeren Zusammenhang ist, wird hier verselbständigt und mit Eigenleben erfüllt. Es ist derselbe Prozeß, den wir schon an vielen abruzzesischen Kanzeln bemerkten, an der gewaltigen Blüte von S. Clemente a Casauria oder der wirkungsvollen geschleuderten Rosette von Bominaco.
Dem Verlangen nach expressiver Steigerung des Ornaments entspricht auch die Vorliebe für seine asymmetrische Anordnung, indem man möglichst die Bildmitte einer Zierplatte vermeidet. So liegen z. B. die Rosetten der Kanzelschauwand von Bominaco im oberen Teil der hochrechteckigen Fläche, so daß eine unregelmäßige Feldaufteilung entsteht. Das eindringlichste Zeugnis dieser Art stellen die Schauseiten der Kanzel von Pianella dar. In einem sehr bewußten Spiel mit der Flächengestaltung zeigt jede Platte eine andere Variation in der Anordnung der Evangelistensymbole und Rosetten.
An besonders hervorragenden Kanzeln greift das Ornament den Ausdruck einer figürlichen Darstellung auf und wiederholt ihn in abstrakter Form. Derartiges beobachten wir am Kanzelvorsprung von SS. Rufino e Cesidio in Trasacco (Tf. 105, 107). Die Mitte bildet eine Säule, die in halber Höhe von dem Kreuzeslamm überschnitten wird. Links und rechts davon erscheinen jeweils zwei Evangelistensymbole übereinander. Zwischen diesen schlingen sich mosaiziette Bänder, die die Bewegtheit der figürlichen Teile unterstreichen, besonders eindrucksvoll am Symbol des Matthäus, dem Engel, zu beobachten. Ein sonderbar erregter Körperzustand spiegelt sich in dessen kleingefälteltem Gewand. Es erscheint als eigentümlich abstraktes Formgebilde in der Art, wie die parallelen Falten in Schwüngen und Schlingen geführt sind. Zu diesem komplizierten und komplexen Gefüge gibt das mosaizierte Band die ornamentale Begleitmelodie. Derartige Schöpfungen sind Meisterleistungen abruzzesischer Plastik in romanischer Zeit. Die zwei Pole, die die Entwicklung des abruzzesischen Ornaments umspannt, mögen durch die Kanzel von Carsoli (1132) bezeichnet werden, wo es getreu antike Vorlagen wiederholt, und durch die Kanzel von Trasacco, wo es eine spirituelle Ausdruckskraft erhält. Zwischen beiden Extremen liegen kaum zwei Generationen. Erstaunlich ist, in welch kurzer Zeit überkommene Formvorstellungen umgedacht werden. Trasacco ist kein Einzelbeispiel. Einem anderen Fall -freilich in umgekehrter Weise, wo eine figürliche Form sinnbildlich abstrakt stilisiert wird -begegnen wir am Kanzelbauch des Doms von Atri. Der Adler (Tf. 106), der schon an so vielen abruzzesischen Ambonen auftrat, ist bisher nirgendwo und auch später nicht so vollendet gebildet worden wie hier im IJ.Jahrhundert. Er besitzt eine eindringliche Präsenz voll hierarchischer Würde und hält den wunderbar verschlungenen Schlangenkörper sieghaft in seinen Krallen, als stolzer überwinder der Macht des Bösen. Der Adlerleib zeigt eine Prallheit, die besonders vor den nur wenig aus dem Reliefgrund herausgearbeiteten Flügeln zur Wirkung kommt. Der kunstvoll eingerollte Schlangenkörper, der an sich übernatürlich lang ist, erscheint als reines Ornament. Zu beiden Seiten des Adlers zeigt sich das Geschlinge, das bezeichnenderweise für die abruzzesische Vorliebe für Asymmetrie links etwas höher liegt als rechts, so daß der Schlangenkörper als Standfläche für den Adler eine schiefe Ebene abgibt. Dieser formale Tatbestand läßt sich jedoch auch inhaltlich interpretieren. Die Diagonale versinnbildlicht die Macht des Bösen in der Schlange, die der Adler überwindet. Also auch hier wird ein Bedeutungsgehalt mit abstrakt ornamentalen Mitteln zum Ausdruck gebracht.
Einen andersartigen Impuls erhielt die abruzzesische Plastik durch das Auftreten einer Steinmetzwerkstatt, die -unabhängig von Montecassino, jedoch sehr stark von Kampanien inspiriert -in unser Bergland bisher unbekannte Ornamente und eine bis dahin nicht beobachtete Lust, mit figürlichen Szenen zu fabulieren, einführte. Es sind die Ziborienund Kanzelmeister Robertus und Nikodemus mit ihren Mitarbeitern, die zwischen 1150 und 1166 ihre Werke in den Abruzzen verbreiten, eine höchst persönliche und erfindungsreiche Gesellschaft, die nur hier bekannt wurde und keine Nachfolge gefunden hat. Die Künstler waren meistens bemüht, ihre Erzeugnisse durch Namensnennung und Datierung zu kennzeichnen. 1150 arbeiten laut Inschrift Robertus und Nikodemus die Kanzel von S. Maria in Valle Porclaneta bei Rosciolo. Schon ein Jahr später fertigt Nikodemus die Kanzel in der Kirche S. Martino sulla Marrucina bei Guardiagrele an. Das dortige Monument ist nicht mehr vorhanden. Nur die Inschriftenplatte wurde von dem verdienstvollen in Guardigrele lebenden Heimatforscher, dem Kanonikus F. Ferrari, entdeckt, ist jedoch nach dem Zusammenbruch der Kirche im Jahre 1919 einige Zeit verschollen geblieben. über wer weiß welche Irrwege gelangte die Inschrift 1936 in das Diözesanmuseum von Chieti und ist neuerdings (S. 161) an der Aufgangswand zum ersten Stock der Provinzialbibliothek A.C. De Meis in Chieti angebracht worden.
Die nächste Inschrift stammt vom Ziborium in S. Clemente al Vomano. Dort nennt sich der schon aus Rosciolo bekannte Robert mit seinem Vater Roger. Das Ziborium selbst ist nicht datiert. Da die Ziboriumsmeister jedoch auch an der Herstellung der Kapitelle des Mittelschiffs beteiligt waren, und da eine Inschrift an der Kirche deren Erbauung 1158 überliefert, kann für die Entstehung des Ziboriums auch dieses Datum postuliert werden. Im selben Jahr wird die Kanzel in S. Maria del Lago in Moscufo errichtet, an der sich als Künstler wieder unser Nikodemus vorstellt. 1166 ist die Kanzel von Cugnoli datiert. Obwohl dort Meister Nikodemus nicht genannt wird, muß er an dieser Arbeit beteiligt gewesen sein, wie ein Vergleich mit der Kanzel von Moscufo ergibt. Weitere Erzeugnisse dieser Werkstatt können wir ebenfalls nur stilistisch erschließen. Das Ziborium von S. Maria in Valle Porclaneta besitzt zwar keine Inschriften, ist aber eine fast wörtliche Vorwegnahme des 1158 entstandenen Ziboriums von S. Clemente al Vomano, an dem sich Robert und sein Vater Roger nennen. Für Rosciolo ist das Datum 1150 zu sichern, da im selben Jahr dort die Werkstatt die Kanzel erstellte. Die Zu schreibung von kleinen Fragmenten im Lapidarium von S. C1emente a Casauria, von denen wir nicht wissen, ob sie zu einem Ziborium oder einer Kanzel gehörten, ist stilistisch, aber ohne Datierung, möglich. Gesichert ist also folgender Tatbestand. Der Vater Roger arbeitet 1158 am Ziborium von S. C1emente al Vomano, sein Sohn Robert 1150 an der Kanzel von Rosciolo und 1158 am Ziborium von S. Clemente al Vomano. Der Mitarbeiter Nikodemus beschäftigt sich nur mit dem Kanzelbau, 1150 in Rosciolo, 1151 in S. Martino sulla Marrucina, 1158 in Moscufo.
Die Arbeiten dieser Werkstart sind in den Abruzzen stilistisch und inhaltlich ein Fremdkörper und lassen sich nur aus Vergleichen mit der süditalienischen Kunst erklären. Es darf nicht verwundern, daß künstlerische Einflüsse aus dem Süden in unser Bergland eindringen, denn schließlich ist es ein Teil des erstarkenden Normannenreiches. Schon die Künstlernamen Roger und Robert verweisen nach dem Süden. Sie sind germanischen Ursprungs, waren aber zur Zeit der Langobarden in den Herzogtümern Spoleto und Benevent nicht gebräuchlich. Indessen sind die Namen Roger und Robert im Normannenreich häufig.
Das Ziborium von S.Maria in Valle Porclaneta ist das älteste in den Abruzzen erhaltene. Im Unterschied zu demjenigen in S. Clemente al Vomano (Tf. 78), wo die Säulen und Kapitelle des Baldachins Doppelbogen tragen, finden wir in Rosciolo unregelmäßige Dreipaßbogen. Sonst ist der Aufbau beider Ziborien derselbe, nur die Behandlung der Details variiert. Ober den Bogenstellungen liegt ein Architrav, auf dem sich die Bedachung erhebt. Sie besteht zuunterst aus einem Achteck mit einem Arkadenfries, worauf über einem kurzen schräg ansteigenden Verbindungsstück ein zweites kleineres Achteck folgt, das mit einem Blendbogenfries verziert ist. Dieses ist aus der Achse des größeren verschoben, so daß seine Kanten in der Mitte einer unteren Oktogonseite liegen. Darauf steigt ein Kegeldach an, dessen Spitze eine Bekrönung schmückt. In den Einzelheiten nun unterscheiden sich die beiden Meister, wobei der in Rosciolo wie ein Architekt baut, während derjenige von S. C1emente al Vomano ornamentaler und verspielter ist. Dort zeigt das untere Achteck einen Kreuzbogenfries, ein Motiv, das in der Bauornamentik Siziliens geläufig ist; er wird ohne Unterbrechung, sozusagen wie ein Ornament um alle Seiten des Oktogons herumgeführt. In Rosciolo sitzt an dieser Stelle ein Fries mit Hufeisenbogen, die abwechselnd auf spiralenförmigen und kannelierten Säulen ruhen. Hier wird das Ornament tektonisch behandelt, indem es an jeder Ecke durch eine eingestellte Säule eine Zäsur erfährt. Die Verschiedenheit der Auffassungen äußert sich auch in der Dachbekrönung. In S. Clemente sind es zwei Tierkörper, die einen gemeinsamen Kopf haben. Ein solch widernatürliches Spiel erlaubt sich der Meister von Rosciolo nicht. Auf einer Kugel erhebt sich hier sachlich die Figur des Lammes.
Die wichtigsten und eigenartigsten Monumente, die unsere Bildhauerhütte hinterlassen hat, sind die drei Kanzeln in Rosciolo, Moscufo und Cugnoli. In Rosciolo (Tf. 80) und Moscufo (Tf. 83) stehen sie noch an ursprünglicher Stelle, was innerhalb des gesamten italienischen Kanzelbaus eine Seltenheit ist. Diesem Umstand ist es zu verdanken, daß sie als einzige in den Abruzzen ihre alten mit Reliefs geschmückten Aufgänge bewahrt haben. In Rosciolo steht der Ambo im Laienraum vor den Chorschranken. Die daran angelehnte Treppe macht in einer bestimmten Höhe eine rechtwinklige Biegung nach Westen in Richtung des Laienraums und führt zur Kanzelbühne hinauf. Bei allen drei Monumenten ist die Gliederung im großen und ganzen dieselbe. Besonders Rosciolo und Moscufo stehen sich sehr nahe. Als Träger der Kanzel dienen vier Säulen oder achteckige Pfeiler. Stütze und Kapitell sind durch einen Wulst verbunden. Der unregelmäßige Dreipaßbogen, den wir schon am Ziborium von Rosciolo fanden, kehrt auch an der dortigen Kanzel und ebenso in Moscufo wieder, und zwar immer an der dem Mittelschiff zugewandten Seite. Die Kanzel von Cugnoli verwendet nur den Rundbogen. Auf diesem Unterbau liegt der fast quadratische, stets ein wenig vorkragende Kanzelkasten. Um diesen zieht sich in Bodenhöhe ein breites Ornamentband, worüber, außer in Rosciolo, ein zweites schmaleres folgt, das den übergang zur Kanzelwandung herstellt. Die Grundstruktur dieser Wandungen ist in allen drei Fällen die gleiche. An zwei Seiten -und zwar an der dem Mittelschiff zugewandten sowie an der westlichenspringt in der Mitte ein fast halbrunder Kanzelbauch vor, dem sich seitlich hochrechteckige Schmuckfelder anschließen, die manchmal unterteilt sind. Der Vorsprung trägt das Lesepult, das· von Evangelistensymbolen gestützt wird. Links und rechts von diesen Stützen zeigt die Rundung hochrechteckige Felder, die im oberen Teil plastischen Figurenschmuck aufweisen, im unteren hingegen vertieft eingearbeitete Ornamente. Die Kanten des Kanzelkastens (Tf. 88) sind zum Mittelschiff hin durch eine vorgelegte Säule oder (S. 162) auch durch einen Pfeiler dekorativ betont. Den oberen Abschluß der Kanzelwandung bilden in allen Fällen zwei Ornamentzonen, von denen die untere aus einer Arkadenreihe mit Hufeisenbogen besteht. Der durch ein Gesims abgesetzte obere Abschluß der Kanzel kragt vor. Die Treppenmündung liegt stets an der Ostseite. Da der Aufgang nicht der gesamten Breite der Wandung entspricht, verbleibt noch Platz für ein weiteres, längsoblonges Schmuckfeld. Die Kanzel von Moscufo ist vollständig erhalten, so daß wir die fehlenden Teile der anderen beiden mühelos in Analogie dazu ergänzen können.
Unterschiede zeigen die drei Ambonen in der Anbringung der Lesepulte. Während Rosciolo nur zwei besitzt, sehen wir in Moscufo und Cugnoli drei. Dieses dritte Pult ist in Moscufo direkt neben dem Kanzelaufgang angebracht und nach Osten ausgerichtet, wohingegen es in Cugnoli übereck gesteilt ist und nach Südosten weist.
Diese drei Ambonen bedeuten nicht nur für den abruzzesischen Kanzelbau sondern für die Plastik dieses Landes überhaupt einen Umbruch. Bisher stand in der Skulptur das Ornament im Vordergrund, jetzt rückt auf einmal, fast ohne Vorbereitung, die Figur und mit ihr die Erzählung in den Mittelpunkt. Allen drei Kanzeln gemeinsam sind die Evangelistensymbole unter den Lesepulten. Vollständig erhalten sind sie nur in Moscufo. In Cugnoli kann man den Adler, dessen Krallen noch deutlich zu sehen sind, leicht ergänzen. Rosciolo zeigt nur ein Fragment des Markuslöwen. Die übrigen Symbole müssen wir uns denen in Moscufo und Cugnoli ähnlich vorstellen. Von außergewöhnlicher Qualität und beispiellos in der italienischen Plastik des 12. Jh. sind die Matthäusengel, die mit hoch erhobenen Armen die lesepulte abstützen. Die stilistisch schwer einzuordnenden Figuren sind vermutlich aus der byzantinischen Plastik abzuleiten, von der wir bislang nur unzureichende Vorstellungen haben. Nicht als direktes Vorbild, aber als Prototyp könnte man eine byzantinische Madonna anführen, die heute im Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin verwahrt wird. Wir kennen die Provenienz, sie stammt aus dem Peribleptos-Sulu Monastir in Konstantinopel. Diese Madonna und der Matthäusengel in Cugnoli (Tf. 90) haben manche Gemeinsamkeiten. Zunächst einmal die absolute Frontalität. Weiterhin zeigen sie beide typisch byzantinische Proportionen mit einem kurzen Oberkörper und im Verhältnis dazu einem viel zu großen Kopf und einem zu langen Unterkörper. Die Ähnlichkeiten gehen noch weiter. Die Brustpartie beider Figuren ist reich geschmückt. Ihre überlangen Beine, die sich deutlich unter dem enganliegenden Gewand abzeichnen, erscheinen wie Halbsäulen. Charakteristisch an ihnen ist auch, wie sich die vertikalen Faltenzüge zu beiden Seiten der Füße am Gewandsaum fächerförmig ausbreiten. Die Beziehung zu Byzanz ist sicherlich nicht direkt, sondern dabei spielte Süditalien und besonders Kampanien eine Vermittlerrolle. Die anderen Evangelistensymbole unserer Kanzeln weisen ebenfalls in diese Richtung. Die Markuslöwen in Moscufo und Cugnoli und der Lukasstier in Moscufo sind als Halbfiguren in Vorderansicht dargestellt und ragen weit aus der Kanzelwandung hervor. Sie bilden die Stützen der beiden anderen Evangelistensymbole. Ihre zerfurchten, aufgedunsenen Gesichter sowie die schlaff und müde herabhängenden Tatzen sind Merkmale, denen man in Süditalien häufiger begegnet. Ein anderes Detail führt ebenfalls wieder nach Kampanien. Und zwar hat das Ornamentband am Flügelansatz des Lukasstieres und des Markuslöwen Ähnlichkeit mit Verzierungen, denen wir an Skulpturen des II.Jh. begegnen, die sich heute im Museum von Capua befinden. Dieses Motiv wurde in Kampanien durch byzantinische und sassanidische Stoffe bekannt.
Die Figuren zu beiden Seiten der Evangelistensymbole stehen mit diesen in engstem Zusammenhang. Das durch die Evangelisten überlieferte Wort Gottes bedarf zu seiner Mitteilung der Kirche, die ihre Heilswahrheit durch die Messe verkündet. Vorgänge der Messe sind in den Kanzelreliefs dargestellt, die Lesung, das Schwenken des Weihrauchfasses (Tf. 85), das Zeigen des Kelches. Nur diese drei Handlungen werden wiedergegeben, was ein Problem aufwirft, da ja je zwei Seiten zweier Kanzelvorsprünge zu füllen waren. In Cugnoli wurde am konsequentesten verfahren, indem im vierten Feld keine Figur sondern nur eine Ornamentplarte angebracht ist, während in Moscufo an dieser Stelle der hl. Onophrius erscheint. Darstellungen von liturgischen Vorgängen sind im italienischen Kanzelbau eine große Seltenheit. Die Frage nach dem Ursprung führt uns wieder in das südliche Italien, vor allem nach Kampanien, wo viele Exultetrollen beheimatet sind. Es ist kein Zufall, daß eine andere Szene liturgischen Inhalts an der noch zu behandelnden Kanzel von S.Maria di Canneto (1223) in dem Kampanien benachbarten Molise vorkommt.
Das Studium der Exultetrollen ist für die Erkenntnis des italienischen Kanzelbaus von eminenter Wichtigkeit, weil sie des öfteren Ambonen abbilden. Desgleichen enthalten die Rotuli Bilder von Meßhandlungen. Es ist allerdings keine direkte Beziehung zu unseren Kanzelszenen festzustellen, immerhin sei darauf hingewiesen, daß diese Thematik in den südlichen Nachbarlandschaften der Abruzzen zu Hause war.
Alle drei Kanzeln zeigen Szenen aus dem Leben Davids. Dreimal wird sein Kampf gegen den Bären vorgeführt. Darüber erscheint in Moscufo und in Cugnoli eine biblische Parallelfigur, nämlich Samson im Kampf mit dem Löwen. .I Diese Darstellung ersetzt in Rosciolo eine Szene, die möglicherweise den Tanz der Salome vor Herodes abbildet.
Die die Aufgänge der Kanzeln in Rosciolo und Moscufo I schmückenden Jonasszenen greifen ein Thema auf, das bel sonders in den ersten christlichen Jahrhunderten gepflegt wurde. In der Katakomben-und Sarkophagkunst gehörte die Geschichte dieses Propheten zu den beliebtesten Darstellungen. Im frühen Mittelalter ließ die künstlerische Beschäftigung mit den Jonasgeschichten nach, nur in Miniaturen lebte sie eine Weile nach. Kampanien erweckte die beinahe vergessenen Erzählungen wieder zu neuem Leben. Die bekanntesten Beispiele an den Kanzeln von Ravello, Positano, Gaeta, Minturno und Sessa Aurunca stammen aus einer (S. 163) späteren Zeit als unsere Monumente. Auf der Suche nach Vorbildern kommen wir wieder auf die Exultetrollen zurück. Rosciolo und Moscufo können den kleinen Ruhm für sich in Anspruch nehmen, die ersten sicher datierten Jonasszenen des Mittelalters zu besitzen. Die Geschichte wird in den Abruzzen z. T. anders als in Kampanien behandelt, wo lapidar und stereotyp meist nur Jonas im Maul des Fisches erscheint, wohingegen sich in unseren Darstellungen die Liebe zur Erzählung ausprägt. In Rosciolo und Moscufo (Tf. 81, 82) sehen wir auf zwei Schmuckplatten drei aufeinanderfolgende Szenen. Die der Kanzelbühne benachbarte linke Platte des Aufgangs schildert den Augenblick, als Jonas von den Schiffern ins Wasser geworfen wird. Die rechte Platte zeigt die Ausspeiung aus dem Fischmaul und das Ruhen des Propheten unter dem Kürbisbaum.
Gerade die Szene mit dem ins Meer geschleuderten Jonas veranschaulicht, wie bei aller Ähnlichkeit der Komposition die Gestaltung auf beiden Kanzeln unterschiedlich ist. Ganz allgemein ist der Vorgang in Moscufo übersichtlicher und detaillierter wiedergegeben als in Rosciolo, wo er unbeholfener, aber auch eindringlicher geschildert wird. Moscufo ist eklektischer, wie aus einem Detail hervorgeht, nämlich der Scheibe, die auf dem den Jonas verschlingenden Fisch erscheint. Es ist eine mißverstandene Form, die in der Darstellung in Rosciolo in einem Kreis die Hand Gottes zeigt, die in das Geschick unseres Propheten tätig eingreift.
Das Eindringen antikisierender Motive können wir an mehr oder weniger bedeutenden Einzelheiten verfolgen. Da, wo sich in der eben beschriebenen Szene in Rosciolo in der rechten oberen Ecke ein Fisch zeigt, erscheint in Moscufo ein eigentümliches Wesen, dessen menschlich gebildeter Kopf eine Art phrygische Mütze trägt. Sein Unterkörper ist als Vogelleib gebildet. Der Sinn dieses hybriden Geschöpfes ist eindeutig. Es ist eine Personifizierung des Sturmes, der ja der Anlaß des Jonasschicksales ist. Unsere Figur stellt eine Harpyie dar, von der schon Hyginus sagt, daß sie Vogelund Menschengestalt zugleich besitzt. Es ist bekannt, daß diese Wesen Naturgewalten versinnbildlichen. Sie verkörpern Sturmwolken, denen sich die Winde vermählen.
Die größte überraschung in bezug auf die an unseren Kanzeln auftauchende antike Formenwelt bietet der Dornauszieher, der in Moscufo (Tf. 86) und Cugnoli erscheint, natürlich nicht als Kopie in unserem modernen Sinn. Es handelt sich um die größte bekannte Nachbildung des 12. Jh., die nahezu als Freiplastik vor einem Eckpfeiler der Kanzeln auftritt, wohingegen andere Nachbildungen des Dornausziehers nur auf eine Ansicht berechnet sind. Durch diese Tatsache steht die abruzzesische Rezeption dem antiken Vorbild nicht nur äußerlich in der Haltung sondern, was wichtiger ist, durch die innere gestalterische Auffassung nahe.
An den Kanzelwänden unserer Werkstatt treffen wir noch zwei Ganzfiguren an, den hl. Onophrius in Moscufo und Cugnoli und den hl. Georg in Moscufo. Der östliche Königssohn und Einsiedler Onophrius ist nackt dargestellt, allerdings völlig verhüllt von seinem Haupthaar. Diese Nacktheit ist in Moscufo anschaulicher als in Cugnoli. Zwischen den herabfallenden Haarsträhnen scheint die Blöße des leibes hervor, und die X-beinige Stellung des Heiligen erweckt den Eindruck von Zaghaftigkeit und Scham. Die Darstellung in Cugnoli ist schematischer. Der Körper des Onophrius ist wie von einem überwurf durch seine Haare völlig bedeckt.
Die Darstellung der Georgsszene in Moscufo (Tf. 84) zeigt zwei Bildschichten. In der vorderen liegt das Ungeheuer und darüber etwas mehr im Hintergrund erhebt sich die Figur des Reiters. Eigentümlich ist das bewußt Zwiespältige des Reliefs. Realistisch sind der Behang des Pferdes oder der Kettenpanzer des Ritters gegeben, die in jedem kostümgeschichtlichen Handbuch als Paradigmata abgebildet werden könnten. Unrealistisch dagegen ist die ganze Aktion geschildert. Es erscheint nicht der Augenblick des Kampfes, sondern das in die Zeitlosigkeit entrückte Bild des Georg, der den Drachen bezwungen hat. Kopf und Vorderbeine des Pferdes drücken noch eine Bewegung aus, wohingegen die Hinterbeine still stehen wie bei einer Parade. Der erhobene Arm des Heiligen hat keine Stoßkraft, er hält lediglich die in den Rachen des Untiers gerammte Lanze. Der Reiter kümmert sich auch nicht um seinen Gegner, dem er sich nicht zuwendet; er schaut vielmehr gleichsam in eine andere Welt. Fast wirkt er nur als Medium, durch das eine höhere Kraft agiert. Das Ungeheuer selbst hat alles andere als eine Kampfstellung eingenommen, es erscheint gar nicht gefährlich. Der Künstler behandelt es fast wie ein Ornament. Schwanzflossen und Vorderpfoten fallen schlaff über den unteren Reliefrand herab. Es ist dies ein Lieblingsmotiv unserer Werkstatt.
In der Werkstatt des Robertus und Nikodemus werden alle Szenen und Einzelfiguren in kassettenartigen Relieffeldern dargestellt. Diese Form der Rahmung weist wieder nach Kampanien. Sie kommt an süditalienischen Bronzetüren vor und später an den Marmortafeln in der Cappella S. Restituta am Dom von Neapel. Dort finden wir auch die Samsonsszenen wieder sowie den hl. Georg.
Mit Ausnahme der immer wieder auftretenden Evangelistensymbole gibt es Kanzeln in den Abruzzen, deren Figurenrepertoire einzigartig ist. Dazu gehört die Schmuckplatte aus S. Pietro in Campovalano (Tf. 92). Wieder stehen wir einem traurigen Tatbestand gegenüber. Noch 1909 wurden glaubhaft zwei Kanzeln in dieser Kirche nachgewiesen, die eine auf der Epistel-, die andere auf der Evangelienseite. Diese Ambonen sind, man weiß nicht wie, spurlos verschwunden. Vielleicht wurden sie abgebrochen und zerstückelt in den Kunsthandel gebracht. Wie dem auch sei, es fehlt bislang jeglicher Anhaltspunkt für den Verbleib. In die Außenmauern eines an die Kirche anstoßenden Hauses wurde eine Zierplatte eingelassen, das einzige, was noch von diesen beiden Denkmalen an Ort und Stelle übriggeblieben ist bzw. war. Denn nach den letzten Restaurierungen von S. Pietro wanderte das Relikt ins Nationalmuseum von L'Aquila. Dargestellt ist Christus in der Mandorla zwischen zwei Engeln. Der Erhaltungszustand ist schlecht. An der querrecht (S. 164) eckigen Platte fehlt links unten ein beträchtliches Stück, ein Sprung zieht sich durch den linken Zierstreifen der Rahmung, ein anderer verläuft am linken Rand der Mandorla. Das die Platte einfassende Ornament erinnert noch an S. Clemente a Casauria, ist aber vergröbert und eher den von Casauria abgeleiteten Formen in Bazzano und Assergi zu vergleichen. Der Figurenstil hat keine greifbaren Beziehungen zu Casauria. Der Salvator erscheint in sitzender Haltung, wobei aber der eigentliche Sitz, ein Thron oder Regenbogen, unsichtbar bleibt. Die Gestalt Christi ist übermäßig groß und scheint vor der Mandorla zu thronen. Auch die segnende Hand greift über die Mandorla hinaus. Die Linke umfaßt eine Schriftrolle.
Verschiedene Fragmente in S.Maria delle Grazie in Luco dei Marsi (Tf. 108) gehören sicherlich zu einer Kanzel, von deren überresten der reich skulptierte und leider sehr zerstörte Kanzelvorsprung am bemerkenswertesten ist. Die Darstellung ist für die Abruzzen ungewöhnlich. Die gekrümmte Bildfläche ist in der Horizontalen in drei Zonen gegliedert. Ganz oben erkennt man in der Mitte, wohl sitzend, die Gestalt Christi. Seine Füße ruhen auf einem Postament. Zu beiden Seiten des Heilands erscheint ein Engel. In den Ecken stehen Cherubim mit gekreuzten Flügeln. Das Zentrum der mittleren Zone nimmt das Gotteslamm ein und die 24 Ältesten, die hier natürlich nicht alle vorgestellt werden konnten. Zuunterst erscheinen die vier Evangelistensymbole. Es handelt sich um eine Darstellung aus der Apokalypse, wo alle unsere Gestalten in der Vision des 4. und 5. Buches der Offenbarung vorkommen. Der Fremdartigkeit dieses Themas im abruzzesischen Kanzelbau entspricht auch die Eigenheit der Gestaltung. Die Körper sind auffallend bewegt, was in den parallelen Faltenzügen der Gewänder zum Ausdruck gebracht wird. Dieses Fragment ist dem 13. Jh. zuzuschreiben.
Die Kanzel von S.Maria di Canneto (Tf. 112) im Molise wurde 1931/1932. von ihrem ursprünglichen Standort an der letzten linken Arkade im Mittelschiff entfernt und auf der selben Seite ungefähr in der Mitte der Kirche wieder aufgestellt. Die heutige Zusammensetzung ihrer Teile entspricht sicherlich nicht der ursprünglichen, da man, besonders auf der westlichen Schmalseite, beobachten kann, wie Zierplatten und Ornamentstreifen zusammenhanglos aneinandergereiht sind. Der Ambo, der in unserer Region stets quadratischen Grundriß zeigt, besitzt hier ganz ungewöhnlicherweise eine ausgeprägte längsrechteckige Kastenform ohne die sonst charakteristischen Vorsprünge. Vier Säulen mit Rundbogen tragen die Kanzelbühne. In einer Inschrift über dem rechten höheren Bogen erscheint das Datum 1223. Die Gliederung der Schauseite mit sieben Blendarkaden und eingestellten Figuren weist auf die Toskana hin. Im Ornament jedoch erkennt man abruzzesische Gewohnheiten wieder. Die lanzettförmigen Blätter sind getreue Nachbildungen von Formen, die schon S. Clemente a Casauria kannte. Ungelöst ist die Frage nach der inhaltlichen Deutung der in den Blendnischen dargestellten Personen. Unter dem Lesepult im Mittelfeld ist der Adler zu ergänzen, dessen fein gearbeitete Krallen erhalten sind. Die in Vorderansicht dargestellte Mittelfigur der Gruppe links vom Lesepult ist ein Bischof oder Abt. Zu seinen Seiten stehen ein Diakon mit aufgeschlagenem Meßbuch und der aus der Kanzelwerkstatt des Nikodemus bekannte Ministrant, der das Weihrauchfaß schwenkt. Der Würdenträger mit dem Abts-oder Bischofsstab erscheint ein zweitesmal im letzten Feld auf der rechten Seite (Tf. 113); neben ihm steht ein betender Mönch und auf diesen folgt ein zweiter in Profilansicht und vorgestreckten Armen. Am Strick, mit dem er seine Kutte gegürtet hat, hängt ein Gegenstand, den man als Beutel oder Trinkflasche deuten könnte. Farbspuren lassen erkennen, daß der Ambo bemalt war.
Seit dem letzten Drittel des 12. Jh. ging man in den Abruzzen dazu über, die Titelheiligen einer Kirche an den Kanzeln zur Schau zu stellen. S. Michele in S. Vittorino bei L'Aquila überliefert den einzigen Fall, in dem die Lebensgeschichte und das Martyrium des Ortsheiligen szenisch geschildert werden (Tf. 91). Allerdings wird hier das Leben zweier Ortsheiliger dargestellt, die heide den Namen Viktorinus tragen. Eine Bestätigung für die Verehrung zweier Heiliger gleichen Namens findet sich in der Weihinschrift von 1170 an einer Wand des Innenraums. Bei der Aufzählung der Reliquien liest man in der siebten Zeile von unten die Angabe »de reliquiis ... et Victorini et Victorini«. Die Begebenheiten werden an den Schmuckplatten des Kanzelaufgangs erzählt, die heute als Fragmente im Innern der Kirche in die Wand eingelassen sind. Die kostbaren Reliefs mögen zur Zeit der Weihe 1170 entstanden sein.
Die 1240 datierte Kanzel von S. Paolo di Peltuino in Prata d'Ansidonia zeigt an der Schmalseite drei Figuren. Der Apostel Paulus als Titelheiliger der Kirche von Peltuino bildet die Mitte der Komposition. Links und rechts von ihm stehen zwei Heilige, die auch im Leben an seiner Seite standen, Apollo und Titus. Letzterer war Bischof der Kreter und dem Apostel Paulus als Schüler und Mitarbeiter verbunden. Ebenso wie Titus wird Apollo in den Briefen und Akten des Paulus erwähnt. Die Reliefs mit den Ganzfiguren gehören, neben denen an der Fassade von S. Giovanni in Venere, zu den qualitätvollsten abruzzesischen Arbeiten aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts.
Noch die späteste ahruzzesische Kanzel in Corcumello, 1267 datiert, zeigt die Titelheiligen der Kirche. Das Monument stand ursprünglich in der Abteikirche S. Pietro in Corcumello, die urkundlich schon 1188 genannt wird. Die Kanzel wurde später in die Pfarrkirche S. Nicola in Corcumello gebracht. Die der Chorseite zugewandte Schmuckplatte bildet die Titelheiligen ab, links den Petrus und rechts den Apostel Paulus.
An zwei Kanzeln, in Corcumello und Prata d' Ansidonia, kommen Frauenfiguren vor, die man bisher ungenügend gedeutet hat. Wohl ist in einem Bericht des Denkmalamtes in L'Aquila vom 11. Juni 1928, dessen Abschrift der Pfarrer von Corcumello verwahrt, die Auffassung vertreten, daß es sich bei der weiblichen Figur um eine Darstellung Mariens handelt. Näherliegend ist aber die Annahme, in dieser Ge (S. 165) stalt die Ecclesia ex circumcisione, die Synagoge, zu sehen. In der linken Hand trägt sie einen nicht mehr vollständig erhaltenen Stab, an dessen oberem Ende noch einigermaßen deutlich ein Knick zu erkennen ist. Dieser Gegenstand ist nichts anderes als die gebrochene Lanze, das Symbol der von der Ecclesia besiegten älteren Kirche. Das byzantinisierende Gewand mit dem Manteltuch über dem Kopf trägt schon die Synagoge auf dem berühmten Mosaik in S. Sabina in Rom, und dem gleichen Motiv begegnen wir mehrfach in der mittelalterlichen Kunst. Auch die entblößte Brust der Frauengestalt ist für die Synagoge nicht ungewöhnlich. Die rechte Hand greift in den Gewandsaum, womit das Zerreißen der Kleidung zum Ausdruck gebracht werden soll. Weiterhin tritt sie mit einem Fuß auf ein Schwein, das bekanntlich gern mit dem Judentum und speziell mit der Synagoge in Zusammenhang gebracht wurde. Es ist nicht anzunehmen, daß in Corcumello die Synagoge allein dargestellt war. Wahrscheinlich befand sich rechts neben der heute nur zur Hälfte erhaltenen Rosette die Figur der Ecclesia. Die Stellung der Synagoge zur Rechten der Ecclesia ist durchaus üblich, wie schon das Mosaik in S. Sabina zeigt.
Erschließen wir für die Frauengestalt an der Kanzel in Corcumello einen theologischen Inhalt, so müssen wir weiterfragen, ob die weibliche Figur an der Kanzel von Prata d'Ansidonia (1240) nicht ebenfalls eine christliche Vorstellung versinnbildlicht (Tf. 110). In der kunsthistorischen Lokalliteratur wurde diese Gestalt stets als ein schönes Mädchen aus dem Volk gedeutet, deren Haltung dem Alltag abgelauscht sei. Mit der linken Hand berührt sie eine auf ihrem Kopf ruhende Schrifttafcl, in die die Anfangsverse des Johannesevangeliums eingeritzt sind. Möglicherweise ist das Mädchen als Sibylle zu deuten. Augustin und Lactantius beschreiben sie als eine pagane Prophetin, die den kommenden Messias voraussieht. So erscheint sie in den Miniaturen zur Enzyklopädie, die Hrabanus Maurus in Montecassino verfaßte. In den berühmten Fresken von S. Angelo in Formis bei Capua wird diese nichtbiblische Gestalt zwanglos in die lange Reihe der Propheten eingefügt. In Sessa Aurunca kommt sie zusammen mit den Propheten an der Kanzel vor. Später erscheint sie in der Toskana an den Kanzeln der Pisani. Figuren mit einer ähnlichen Haltung wie das Mädchen von der Kanzel in Prata d'Ansidonia haben in den Abruzzen lange Zeit weitergelebt. Die reifste Darstellung dieser Art findet sich in der Frauengestalt unter dem Weihwasserbecken im Dom von Atri. Auch hier wäre zu fragen, ob nicht eine theologische Deutung der Figur in Betracht käme.
Im 13. Jh. taucht eine letzte Gruppe von Kanzelbauern auf, in der sich römische und kampanisehe Gewohnheiten mischen. Die Kunst des Mosaiks, die in diesen beiden Landschaften auf eine lange Tradition zurückblicken konnte, drang von dort in die Abruzzen ein. Die Ausstrahlung der Kunst der römischen Cosmaten findet in den Abruzzen den frühesten Niederschlag in der Kanzel, dem Ziborium und der neueren Chorschranke von S. Pietro in Alba Fucense. Der Ambo dort ist stilistisch die am wenigsten bodenständige Kanzel in den Abruzzen. Aus dem Erdbeben von 1915 ging sie unversehrt hervor. Sie trägt eine undatierte Inschrift, in der sich als Künstler ein Johannes nennt, der sich als römischer Bürger und als »doctissimus« vorstellt; er war also in seiner Kunst kein Neuling. Schon lange hat man den Johannes mit jenem Giovanni di Guittone Romano identifiziert, der 1209 die Kanzel in S. Maria di Castello in Tarquinia baute. Doch auch ohne Inschrift würde man die Beziehungen zur römischen Mosaikkunst und vor allem zum römischen Kanzelbau erkennen. Charakteristisch für diesen ist das Fehlen freistehender Stützen. Der Kanzelkasten ruht auf einem Steinsockel, der zuweilen, wie in S. Lorenzo fuori le mura in Rom, in S. Maria di Castello und in Alba Fucense, horizontal durch mehrere Profile gegliedert wird, von denen eines bankförmig vorgezogen ist. Ober die architektonische Form hinaus gleicht die Kanzel von S. Pietro den römischen Ambonen auch in den Ornamentformen. Eines der beliebtesten Schmuckmotive der römischen Mosaikkunst ist die große Porphyrscheibe, die von einem Quadrat eingefaßt wird. Für das Muster der beiden äußeren Platten auf der Rückseite der Kanzel gibt es Parallelen in Kampanien. Ein rechteckiges Feld zeigt in der Mitte einen großen Kreis und an den vier Ecken jeweils einen kleineren, deren musivische Einfassung so gebildet ist, als verschlinge sich das Band des größeren Rundes zu kleinen Nebenkreisen. Dasselbe System sehen wir an den beiden Kanzeln im Dom von Salerno, ebenso in Amalfi, Cava dei Tirreni und in S. Giovanni in Ravello. Abgesehen von den musivischen Verzierungen bestehen noch andere Beziehungen zum römischen Kanzelbau. S. Maria in Aracoeli in Rom und Alba Fucense verwenden das gleiche rautenförmige Ornament am unteren Rand des Kanzelvorsprungs. Verwandt sind auch die gewundenen Säulen und die auf ihnen ruhenden antikisierenden Kapitelle mit ungezahntem Akanthus und einem doppelten Blattkranz. In beiden Fällen schmiegen sich die Blätter eng an den Kapitellkern und ihre Spitzen lösen sich nur wenig von ihm ab. Die Kanzel von S. Pierro ist nach 1209 zu datieren, dem Entstehungsjahr der Kanzel unseres Meisters Giovanni in Tarquinia. Neben den Gemeinsamkeiten mit Kanzeln stadtrömischer Kirchen darf man indessen die Verschiedenheiten nicht übersehen. Die Formen des Ambo von S. Pietro sind bunter und bewegter, sie zeigen einen größeren Reichtum im Ornament als z. B. die im übrigen sehr verwandte Kanzel von S. Lorenzo fuori le mura.
Die Muster der musivischen Verzierungen an der Kanzel von Rocca di Botte sind unrömisch. Die beiden Schmuckplatten auf der Stirnseite zeigen eingelegte Porphyrelernente, die abwechselnd von glatten Steinbändern und mosaizierten Partien eingefaßt werden. Dasselbe System findet sich an einer Schmuckplatte an der Kanzel im Dom von Minturno. Ähnliche Muster kommen am Ambo in S. Andrea in Orvieto vor, der ja dem kampanisehen Kunstkreis näher steht als dem römischen. Auch der architektonische Aufbau der Kanzel von Rocca di Botte zeigt vorwiegend kampanischen Einfluß. Die beiden Stützen zum Mittelschiff stehen auf den Rücken von Löwen, das hintere Säulenpaar dagegen auf hohen Basen. Das für den kampanischen Kanzelbau charak (S. 166) teristische Variieren der Stützen tritt hier im Wechsel kannelierter und glatter Schäfte zutage. Auch am Kanzelvorsprung sind die Säulen ungleich, der Schaft der mittleren zeigt als Ornament den gebrochenen Stab, während die beiden seitlichen spiralförtnig gemustert sind. Ein ähnliches System zeigen die Kanzelstützen im Dom von Benevent. Unabruzzesisch ist auch das starke Abweichen des Kanzelkastens von der quadratischen Form, das sich in Kampanien häufig, z.B. in den Domen von Caserta Vecchia und Benevent, nachweisen läßt. Der Zusammenhang mit Rom, der am Ambo von Alba Fucense festgestellt werden konnte, zeigt sich hier nur in der Betonung des Kanzelvorsprungs durch Säulen. Kampanien kennt diese freistehenden Säulen vor der Rundung des Lesepultes nicht. Die Kapitelle von Rocca di Botte haben ihre nächsten Verwandten in den Abruzzen selbst, vor allem im Marserland.
In solchem Umfang wie in Alba Fucense und Rocca di Botte haben sich die Mosaizisten nicht wieder am abruzzesisehen Kanzelbau betätigt. Ihre Mitwirkung an der Kanzel von Corcumello ist auf ein geringes Maß beschränkt, und die Rückkehr in abruzzesische Traditionen ist offensichtlich. Aber diese Besinnung auf bodenständige überlieferung hatte keinen künstlerischen Fortschritt zur Folge. Die Qualität geht vielmehr stark zurück.
Im Gegensatz zum Kanzelbau brachten es die Abruzzesen in der Errichtung von Altarbaldachinen zu keinen hervorragenden Leistungen. Nach den Ziborien des Robert und seines Vaters Roger in Rosciolo (II 50) und S. Clemente al Vomano (1158) ist während der Blütezeit der abruzzesischen Kanzeln kein Monument überliefert, und erst im 13. Jh. treten weitere Werke dieser Art auf, die von Kampanien und stadtrömischen Denkmalen abhängen oder retrospektives Formengut verwenden. Das Molise ist im Bau von Ziborien in dieser Zeit nicht aktiv geworden.
Die meisten Fragen wirft das Ziborium von S. Pietro ad Oratorium bei Capestrano auf. Die Datierung der Anlage vor der Mittelschiffsapsis schwankt in der Lokalliteratur zwischen dem 11. und 18. Jahrhundert. Wenn auch nicht unmittelbar, so ist das Vorbild doch bei stadtrömischen Ziborien zu suchen. über einem quadratischen Grundriß erheben sich auf attischen Basen vier glatte Säulen mit gleichem Durchmesser. Auf den Kapitellen ruht ein Architrav, auf dem der achteckige überbau aufsteigt. Dieser besteht zunächst aus 16 Stucksäulchen, die Kreuzbogen tragen, ein Motiv, das aus der normannischen Bauornamentik und aus Kampanien hinreichend bekannt ist. In den Bogenzwickeln sitzen Keramikplatten mit figürlichen Darstellungen. über den Bogen läuft ein achteckiges Gesims. Darauf steigt die oktogonale Bedachung schräg an, deren oberer Abschluß wieder ein Gesims bildet. Die Bekrönung endlich ist eine achteckige Laterne, bestehend aus acht Säulchen mit einer pyramidalen Bedachung. Wenn auch die Konzeption des Ganzen einheitlich erscheint, so müssen wir doch zwei Phasen der Ausführung unterscheiden. Der Architrav an der Schauseite ist, wenn auch nicht von gleicher Qualität, so doch formal mit den Reliefs des Hauptportals verwandt, die sich dort unterhalb des Architravs befinden. Hier wie da begegnen wir dem regelmäßig geschlungenen Rankenwerk, das aus dem Maul eines Drachen wächst, wohingegen die beiden Kapitelle an der Schauseite Ähnlichkeit mit denen in S. Clemente a Casauria und in Corfinio aufweisen. Damit gewinnen wir für diese Teile einen zeitlichen Anhaltspunkt, sie mögen um 1200 entstanden sein. Die übrigen Architravseiten sind schmucklos, die anderen Kapitelle aber, auch diejenigen auf den Säulchen des Oberbaus, zeigen reich entwickelte Knospenbildungen, die dem späteren 13. oder gar dem 14. Jh. zuzuschreiben sind. Auf Grund dieser aus dem Norden stammenden Formen braucht jedoch keine direkte Mitarbeit französischer Künstler in S. Pietro vermutet werden. Es handelt sich dabei vielmehr um langlebiges Formengut, das bereits früh in den Zisterzienserbauten Mittel-und Süditaliens bekannt war. Für eine späte Datierung des zweiten Teils des Ziboriums spricht auch die Anbringung von Keramikplatten in den Zwickeln der Kreuzbogen. Sie enthalten auf weißem Grund meist vierfarbige geometrische Fortnen oder Tiere wie einen Adler, ein Agnus Dei und einen Löwen mit erhobenen' Tatzen. Die Verwendung von Platten dieser Art treffen wir im kampanischen Kunstkreis an, wo man z.B. an der Kanzel von S. Giovanni del Toro in Ravello islamische oder sizilianische Keramiken benutzte. Von derartigen fremden Einflüssen kann in S. Pietro keine Rede sein. Wir haben es hier mit Keramikplatten abruzzesischer Herkunft zu tun, sehr frühe Beispiele dieser Technik, die in späteren Jahrhunderten in unserer Landschaft zur größten künstlerischen Blüte gelangt.
Auch die Mosaizisten erhielten Aufträge, sich am abruzzesischen Ziboriumsbau zu beteiligen. Die römische Werkstatt des Johannes und Andreas, die in Alba Fucense um 1209 die Kanzel und die Chorschranken herstellte, errichtete am selben Ort auch ein Ziborium. Bei den letzten Restaurierungen wurden Fragmente von gewundenen Säulen und Leisten mit eingelegten Mosaiksteinen gefunden, die nur bei einem Altarbaldachin verwandt worden sein I konnten.
Auch das Ziborium von Rocca di Botte ist im Aufbau ) nicht ohne römische oder latiale Vorbilder vorstellbar, die in S. Lorenzo fuori le mura in Rom, den Ziborien in Ferentino, S. Andrea in Flumine bei Ponzano Romano und dem nahe bei Rocca di Botte gelegenen Rioffreddo zu suchen sind. über quadratischem Grundriß tragen vier Säulen mit Kapitellen einen schmalen Architrav, auf dem sich auf allen vier Seiten sechs Säulen erheben, die einen zweiten Architrav stützen; darauf folgen Säulchen von gleicher Höhe wie die unteren, die zu einem Oktogon angeordnet sind. Diese wiederum tragen einen achteckigen Architrav, auf dem die schrägansteigende Bedachung sitzt, deren oberer Abschluß eine achteckige Laterne bildet. Die zweifache Säulenordnung entspricht ganz besonders römisch-latialen Modellen. Die Architrave sind mit mosaizietten Bändern verziert. Der Aufbau ist im ganzen etwas schwerfällig, besonders sind die Kapitelle, die sich mit der Kunst des Marserlandes in Verbindung bringen lassen, zu voluminös geraten.
(S. 167)Das Ziborium in S. Martino sulla Marrucina aus dem 13. Jh. wurde durch einen Orkan 1919 zerstört. Es stand nicht frei sondern an der Chorwand der Kirche. Einfache Kapitelle auf achteckigen Pfeilern tragen den Architrav. Die Bedachung bildet eine Halbtonne, der zum Kirchenschiff hin ein Dreipaßbogen vorgelegt ist. Der Architrav an der Schauseite wurde in neuerer Zeit zerstört, um den Blick auf die 1567 gearbeiteten Malereien auf der Innenfläche der Halbtonne freizugeben. Diesen Architrav und das Feld um den Dreipaßbogen schmückte ein Diamantschnittmuster. Der tektonische Aufbau des Ziboriums von S. Martino wird von dem in S. Clemente a Casauria aus dem 14. oder 15. Jh. variiert.
Chorschranken
Der Eifer und die Qualität, die die Abruzzesen im Kanzelbau entwickelten, sind bei der übrigen Ausstattung des Kirchenraumes nicht wieder erreicht worden. Den nächsten Rang beanspruchen die Ikonostasen oder Chorschranken, die den Chor vom Laienraum trennen.
Das früheste Beispiel von Chorschranken aus dem 12. Jh. ist aus S. Pietro in Alba Fucense bekannt. Sie sind nur noch in Fragmenten erhalten. Laut einer Inschrift beauftragte Abt Odorisius die Meister Gualterius, Morontus und Petrus mit ihrer Herstellung. Da die Kirche S. Pietro im I 2..Jh. nur Präpositur war, konnte sie über keinen eigenen Abt verfügen. Sie unterstand direkt Montecassino, und wir müssen annehmen, daß der genannte Odorisius Abt von Montecassino war. Bei einer Datierung der Fragmente in die erste Hälfte des 12. Jh. kommt als Auftraggeber nur Odorisius II. (1123 bis 1126) in Frage, ein Abruzzese aus dem Geschlecht der Grafen von Sangro. Zu diesen Chorschranken gehören der die Inschrift tragende Pfeiler mit seinem Kapitell, ein weiteres Kapitell mit einem Adler, zwei Maskenkapitelle und Chorschrankenplatten. Diese Ikonostasis bestand nur kurze Zeit. Der römische Mosaizist Andreas, von dem wir aus einer Inschrift wissen, daß er an der Errichtung der Kanzel beteiligt war, nennt sich auch auf der rechten Seite der heutigen Chorschranken, die wie die Kanzel um 1209 oder kurz danach zu datieren sind. Diese neue Ikonostasis nahm die Breite des Mittelschiffs ein und ließ in der Mitte den Durchgang zum Chor frei. Der musivische Schmuck ist der stadtrömischen Formenwelt entnommen. Für die Unterteilung der Schrankenwand in kassettenartige Quadratfelder liefern die römischen Kirchen S. Lorenzo fuori le mura, S. Saba, SS. Nereo ed Achilleo und S. Cesario in Palatio gute Vergleichsbeispiele. Die mosaizierte Bogenreihe am unteren Abschluß der Wand findet man auch an der Kanzel in S. Maria in Aracoeli in Rom. Auf der Brüstung der Ikonostasis in Alba Fucense erheben sich an den äußeren Ecken Pilaster, zwischen denen gewundene Cosmatensäulen stehen. Als oberer Abschluß dient ein Architrav mit mosaiziertem Ornamentband. Aufmerksamkeit verdienen die Säulenbasen; zwei sind schmucklos, während die beiden links und rechts des Durchgangs zum Laienraum hin fein gearbeitete kleine Marmorfiguren zeigen. Sie sitzen und erscheinen als winzige Atlanten, die sich gegen den oberen Wulst der gekehlten Base stemmen; die linke Figur preßt die Hände fest auf die Knie, und die Arme werden teilweise von dem unteren Basenwulst überdeckt. Bei der Ausführung der Chorschranken muß Meister Andreas auch abruzzesische Künstler hinzugezogen haben. Die Sockelzone der Ikonostasis wird an der linken Außenkante von einem Pilaster begrenzt, der ein kraftvoll skulptiertes Rankenwerk zeigt. Die Machart entspricht durchaus abruzzesischen Gewohnheiten und ist mit Kanzelfragmenten in Luco dei Marsi sowie mit der Portaldekoration von S. Giusta in Bazzano zu vergleichen. über dem Rankenornament ist im selben Steinverband eine figürliche Szene sichtbar, die den Abstieg Christi in die Vorhölle darstellt (TE. 117), ein einmaliges Motiv in der Reliefkunst der Abruzzen, das aber etwa gleichzeitig unter den Darstellungen an den Chorschranken der Cappella S. Restituta in Neapel vorkommt. In S. Pietro hält der Christus mit Kreuznimbus in seiner linken Hand den Kreuzesstab und hebt mit seiner Rechten den Adam empor, dessen Füße deutlich erkennbar über dem Boden schweben. Die Frauengestalt hinter dem Adam ist vielleicht als Eva zu deuten.
Die Aufbewahrung und Aufstellung der vielen Skulpturenfragmente in S. Pietro ist zu allen Zeiten ein Problem gewesen. Vor dem Erdbeben von 1915 hatte man die Ikonostasis der Cosmaten nach den Seitenschiffen hin verlängert und damit Platz gewonnen, eine Art Lapidarium einzurichten, indem man wahllos verschiedene Fragmente in die Sokkelwände einmauerte. Andere ließ man verstreut auf dem Fußboden der Kirche liegen. Um die Ikonostasis des Andreas wieder allein zur Geltung zu bringen, entfernte man bei der Restaurierung von 1957 die Verbreiterung der Chorschranken und beließ die Fragmente im Kirchenraum. Ein ungeheuerlicher Eingriff erfolgte in den letzten Jahren. Die Cosmatenschranken des Mittelschiffs wurden wieder bis in beide Seitenschiffe verlängett. Die dortige Sockelzone bildet nun eine schaurige Zementwand, auf die man Cosmatensäulen stellte, die mit der Ikonostasis nichts zu tun haben. Diese Teile stammen von einem Ziborium, das ebenfalls von der Andreaswerkstatt gearbeitet wurde, und von dem überreste nach dem Erdbeben von 1915 gefunden wurden. Es handelt sich um drei Säulenfragmente mit größerem Durchmesser als derjenige der Stützen der Chorschranken; zwei davon stellte man ohne Basis im linken Seitenschiff auf den Zementsockel und eines im rechten Seitenschiff. Damit zerstörte man die ausgewogene Proportionierung der Cosmatenschranken des Mittelschiffs. Aber nicht allein das. Eines Tages fuhren Lastwagen vor, und alle Fragmente aus frühchristlicher Zeit, dem 12.. und 13. Jh. sowie der Renaissance wurden aufgeladen und in das Nationalmuseum im Kastell von L'Aquila verfrachtet. Mit dieser Purifizierung ist der Bau von S. Pietro kalt und die kunsthistorische Beschäftigung mit ihm beinahe unmöglich geworden.
Fast in Sichtweite von S. Pietro in Alba Fucense entstanden um die Mitte des 12..Jh. die Chorschranken von S.Maria in Valle Porclaneta bei Rosciolo. Das Schicksal dieses Monuments ähnelt demjenigen in Alba Fucense. Kurz nach (S. 168) der Erstellung wurde es zerstört und im 13. Jh. wiederaufgebaut. Wahrscheinlich war in beiden Fällen ein Erdbeben die Ursache des Unglücks. Zum Altbestand der ]konostasis gehören die Platten der Sockelzone und der obere Holzarchitrav, den wir ausführlich an früherer Stelle besprachen. Die Säulen verdanken wir der Restaurierung des 13. Jahrhunderts. Beim Wiederaufbau stellte man die alten Fragmente ziemlich zusammenhanglos nebeneinander. An der linken Seite begegnet man unten ganz anderem Formengut als an der rechten. Links sind um Blendarkaden die üblichen Rankenmuster gelegt, rechts erscheinen vier verschiedengroße Platten mit Tierdarstellungen. Sie stammen sicherlich aus einer heimischen Werkstatt des Marserlandes. Sie erinnern an ähnliche Gebilde auf der alten Ikonostasis von S. Pietro in Alba Fucense. Die beiden unteren zeigen einen Löwen und einen Greifen (Tf. 119), die rechte obere einen Drachen. Ein Unikum in der Ikonographie der mit Figurenschmuck ausgestatteten Ikonostasen in den Abruzzen ist das obere linke Relief (Tf. 118), auf dem vier geflügelte Tiere dargestellt sind, ein Phantasieren mit Formen, wie es nur in unserem Bergland möglich ist. Oben rechts ist auf dieser Platte in Vorderansicht ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln zu erblicken, der seinen Kopf zur Außenkante des Reliefs dreht. Unter ihm erscheint im Profil ein kleinerer Adler ebenfalls mit geöffneten Schwingen. Die linke Bildhälfte zeigt übereinander zwei geflügelte Tiere, deren Hälse sich ineinander verschlingen, so daß man nicht mehr weiß, welcher Kopf zu welchem Vogel gehört. Diese Verschlingung bildet den seitlichen Abschluß des Reliefs und gibt ihm einen starken vertikalen Akzent. Über der Sockelzone, die den üblichen Durchgang in der Mitte zeigt, stehen vier schlanke Säulen des 13. Jh. auf hohen Basen. Ähnlich wie in S. Pietro in Alba Fucense werden die Säulen links und rechts von der Öffnung betont. Diese sind im Gegensatz zu den beiden anderen mit glatten Schäften sehr kunstvoll behandelt und erweisen sich als echte Produkte des Marserlandes, wie es sich aus Vergleichen mit ähnlichen Formen in Luco dei Marsi und in Trasacco ergibt. Diese Stützen setzen sich aus zwei übereinanderstehenden Säulen zusammen. Die unteren Schäfte zeigen Kannelüren, in deren Vertiefungen vegetabile Ornamente erscheinen, gleichsam die Hausmarke der Baudekoration des 13. Jh. im Gebiet der Marser. Über Pflanzenkapitellen steigen darüber Säulen gleichen Durchmessers auf, deren Kannelierungen sich spiralförmig um den Schaft legen und gleichfalls ornamentiert sind. Die oberen Kapitelle mit doppeltem Halsring sind von feiner Ausführung und tragen den skulptierten Architrav aus Eichenholz.
Die komplizierte Baugeschichte des Domes in Penne wird kaum zu lösen sein. Umbauten erfolgten im Barock, eine unglückliche Restaurierung fand 1905 statt, die Zerstörung durch Bomben geschah im Januar 1944 und eine radikale Wiederherstellung erfolgte 1955. ]n neuerer Zeit sind in der Kathedrale drei qualitätvolle Schmucktafeln aufgetaucht, von denen man wohl mit Recht behauptet, daß sie Fragmente von Chorschranken sind. Stilistisch sind sie in die zweite Hälfte des 12. Jh. einzuordnen. Der großartige Drache und der Adler stammen sicherlich vom selben Meister. Er arbeitet mit naturalistischen Formen. Das Drachengesicht (Tf. 120) zeigt, daß wir ein wahres Ungeheuer vor uns haben mit steif aufgerichteten Ohren, dem weit aufgerissenen Maul, in dem die beiden kräftigen Zahnreihen, zwischen denen eine gewaltige Zunge hetvorkommt, Furcht erregen. Unterhalb des Flügelansatzes begegnen wir dem gleichen Ornament wie an den Evangelistensymbolen der Kanzeln von Moscufo und Cugnoli, wo wir es aus Kampanien ableiteten. Ob die Zierplatte mit dem Adler ursprünglich zu Chorschranken gehörte oder nicht richtiger einer Kanzel zuzuordnen ist, mag dahingestellt bleiben. Am Heiligenschein des Adlers erkennt man ihn als Symbol des Evangelisten Johannes, und der Künstler ist sehr schulmeisterlich, indem er zusätzlich den Namen .S. Johannes« in Abkürzung einmeißelt. Das Tier umklammert mit überstarken Krallen, die 1-,. den Klauen des Drachen ähneln, das Evangelienbuch. In den Formen weicher und weniger dramatisch ist die dritte Schmuckplatte, die gleichzeitig aber auch wohl von einer anderen Hand gefertigt wurde. Ein Hirsch, dessen Geweih die Leiste der kassettenartigen Rahmung überschneidet, beißt etwas müde in den Kopf einer vielfach verknäulten Schlange. Der Hirsch seinerseits wird von einem undefinierbaren Vierfüßler in den Rücken gebissen, eine kampanische Reminiszenz, die wir auch am Architrav an der Ostseite der Kanzel von S. Maria in Bominaco belegen können.
Drei Fundorte von Chorschranken sind nur wenige Kilometer voneinander getrennt. Zu Alba Fucense und Rosciolo gesellt sich die unweit gelegene Kirche S. Lucia in Magliano de'Marsi. Dieses Gotteshaus wurde zweimal zerstört, einmal durch die Restaurierung 1820, dann durch das Erdbeben von 1915. Die Neuweihe fand am 24. Dezember 1937 statt. An der Vorderfront der Kirche erscheinen zu seiten des großen Barockfensters in luftiger Höhe je zwei feingearbeitete Schmuckplatten. Mit dem Einsturz des linken Fassadenteils wurde 1915 auch die linke Zierplatte in Mitleidenschaft gezogen, wie man mit dem Fernglas noch an den von einer Restaurierung stammenden Flecken in den Tierkörpern beobachten kann. Die Restaurierung hat den Zustand der Fassade, wie sie vor 1915 war, beibehalten. Die Anordnung der Platten, die je zwei sich gegenüberstehende Tiere zeigen, ist noch die ursprüngliche, erkennbar an der durchlaufenden oberen und unteren sowie an der gemeinsamen mittleren Rahmenleiste, die die Platten voneinander trennt. Das Relieffeld ist kassettenartig vertieft und wird von drei Schmuckbändern eingefaßt. Das Rankenmuster, ohne figürliche Einschiebsel, weist auf eine Werkstatt des Marserlandes im 13. Jh. hin. Dieser Formenapparat begegnet an den Portalen von S. Cesidio in Trasacco, an den von Erdbeben beschädigten Kirchen in Avezzano, an S. Salvatore in Paterno und an S. Maria delle Grazie in Rosciolo. Die Darstellungen auf den Reliefs gehen auf klassische Vorbilder zurück, für die die Kunst der Marser besonders empfänglich war, und die durch kampanisehe Vermittlung wirksam wurden. Die Rosette über dem Löwenrücken hingegen verrät eine durchaus abruzzesische Note; das Motiv erscheint hier (S. 169) ähnlich wie an den Evangelistensymbolen der Kanzel von Pianella. Auf der linken Seite der Fassade zeigt die linke Schmuckplarte einen Greifen, der zwischen den Klauen ein Lamm hält. Ihm gegenüber steht ein Löwe, der eine Frau gepackt hat. Die Zierfelder auf der rechten Seite zeigen den schon aus der Kanzelwerkstart des Nikodemus bekannten Löwenbändiger Samson sowie ein geflügeltes Mischwesen, vielleicht eine Sphinx, vor der ein Mensch sitzt.
Das figürliche Repertoire der Chorschranken ist erstaunlich konservativ. Immer wieder werden phantastische Tiere vorgeführt. Trotz der Wiederholungen wird eine hervorragende Qualität erreicht. Das zeigt sich auch bei der einzigen datierten Ikonostase von 1263 in S. Pellegrino in Bominaco. Die Trennwand von Chor-und Laienraum besteht aus zwei Marmorplatten, die von Zierstreifen eingefaßt sind. Die linke zeigt einen Drachen (Tf. 116) von einer Gewaltsamkeit, als wolle er den Bildrand sprengen. Die Bildung des weit aufgerissenen Maules mit der Betonung der beiden gefährlichen Zahnreihen und der vorschießenden Zunge erinnert zwar an das Untier der Chorschranken im Dom von Penne, doch ist jenes, wie gesagt, realistischer gebildet, während der Drache in Bominaco ornamental stilisiert ist. Die rechte Platte stellt einen Greifen dar, der sich anschickt, aus einem Kelch zu trinken. über den Zierleisten der beiden Reliefs ist eine Inschrift angebracht, die besagt, daß Theodinus den Bau von S. Pellegrino im Jahr 1263 errichten ließ. Dieser Theodinus wurde später Bischof von Valva und dankte 1275 ab. Die Chorschranken von S. Pellegrino gehören zu den Meisterleistungen des 13. Jh., und mit Recht hat man sie mit Werken des Marserlandes in Verbindung gebracht, etwa mit den Schmuckplatten an der Fassade von S. Lucia in Magliano. Ein geographischer überblick zeigt, daß die Errichtung von Chorschranken innerhalb der Abruzzen auf das Marserland beschränkt blieb. Penne und Bominaco gehören in diesem Fall nur in den Ausstrahlungsbereich der Kunst um den Fueiner See.
Weitere Ausstattungsgegenstände des Kirchenraumes
Abgesehen vom Kanzelbau ist von der Ausstattung des Innenraums in Form von Altarantependien, Tauf-und Weihwasserbecken, Osterleuchtern, Bischofs-und Abtsstühlen oder Grabmälern nur sehr wenig erhalten. Schon bei der Behandlung der Chorschranken fiel auf, daß deren Errichtung sich nur auf ein Teilgebiet der Abruzzen beschränkte.
Von Altarantependien z. B. sind in normannischer und staufischer Zeit nur wenige bemerkenswerte Beispiele überliefert. Die Front des Altartisches in S. Clemente al Vomano (Tf. 137) unter dem 1158 datierten Ziborium dürfte gleichzeitig entstanden sein. Süditalienische und islamische Einflüsse, die schon durch die Ziboriumswerkstatt des Robertus und seines Vaters Roger in die Abruzzen eindrangen, zeichnen sich deutlich an diesem Antependium ab. Die rechteckige Platte ist eine Intarsienarbeit aus verschiedenfarbigem Marmor. Die Mirte nimmt das Gotteslamm ein, von einem Kreisband umgeben, dessen äußerer Rand gezackt ist. Das übrige Feld ist gleich einem Teppich von Ornamenten überzogen. Arabesken verschlingen sich um Vierpaßbogen, in die kreuzförmige Muster eingefügt sind, die aus vegetabilen, aber auch aus geometrischen Elementen gebildet sind. Ein anderes Beispiel für islamisch-süditalienischen Einfluß bietet ein gutes halbes Jahrhundert später das Antependium im Dom von Atri. Die Technik ist wie in S. Clemente al Vomano Einlegearbeit aus farbigem Marmor, mit der hier jedoch alle vier Seiten des Altars verziert sind. Die Vorderseite zeigt geometrische Formen und Tiergebilde, an einer Schmalseite ist ein stilisierter Baum dargestellt. Völlig fremdartig wirkt die Rückseite. Sie ist in drei horizontale Zonen mit je sechs quadratischen Feldern gegliedert, deren Ornamente wie arabische Schriftzeichen aussehen, die sich ähneln, ohne sich jemals in derselben Form zu wiederholen. Der Altar wurde für den Dom hergestellt, der am 1. Oktober 1223 geweiht wurde. Auf einer Zierleiste nennt sich der Künstler, dessen Name leider nicht mehr vollständig zu entziffern ist, »Rnlino me feeit«, was etwa in Raulino oder Renolino aufzulösen ist.
Nach dem Erdbeben von 1915 wurde in S. Pietro in Alba Fucense in einem Barockaltar das Altarantependium gefunden, das einstmals unter dem Ziborium des 13. Jh. seinen Platz hatte. Nach den Restaurierungen von 1957 wurde die Schmucktafel vor dem neuen Hauptaltar im Chor angebracht. Sie zeigt in der Mitte zwei Rosetten in kassettenartiger Rahmung. Die umgebenden Flächen sind von einem etwas langweiligen und grob gearbeiteten durchbrochenen Rautenmuster überzogen.
Taufbecken sind in unserer Landschaft äußerst selten. Nach einem langen Intervall macht sich das Molise wieder bemerkbar. In S. Giorgio in Petrella Tifernina ist eine Taufschale aus dem Ende des 12.. Jh. erhalten. Ein glattes umlaufendes Band teilt die Wandung in zwei Zonen, die beide mit einem Rankenmuster verziert sind. Kunsthistorisch unbeachtet ist das Taufbecken der Salvatorkirche in Toro (Tf. 123), einer kleinen Ortschaft 13 km östlich von Campobasso. Zur Herstellung benutzte man eine antike Säulentrommel, auf der sich das römische Geschlecht der Munazia nennt. Die äußere Wandung hat man im 13. Jh. mit figürlichen Reliefs versehen. Wie an der Kanzel von Bominaco oder an den Chorschranken des Doms von Penne erscheinen auch hier wieder kampanische Tierszenen. Ein Vierfüßler greift einen Ziegenbock am Hals an, und ein Hirsch wird von einem Tier in den Hals und von einem anderen in sein rechtes Hinterbein gebissen. Ein kurzberockter Jäger mit Horn treibt ein Tier vor sich her.
In der Oberkirche von S. Giusta in Bazzano steht ein runder skulptierter Stein des 13. Jh. (ca. 80 cm hoch), der Teil eines Taufbeckens oder eines Brunnens (Tf. 122) sein mag. Die Figuren sind nie überzeugend gedeutet worden. Die linke ist ein sitzender König. Seinen rechten Arm hat er angewinkelt erhoben und greift mit seiner Hand nach einem Ast des seitlichen Rankengewindes. Die rechte Figur, durch einen Pilaster von der anderen getrennt, trägt eine flache Mütze, ist mit einem Riemen gegürtet und hält einen rechteckigen Gegenstand, vielleicht ein Buch, in den Händen. Am (S. 170) Ornament lassen sich noch Einflüsse von S. Clemente a Casauria feststellen.
Bei der Ausstattung des Kirchenraums erfuhren die Osterleuchter in den Abruzzen eine gewisse Bevorzugung. Der Brauch der Osterkerze ist durch Schriftquellen seit dem 4. Jh. überliefert. Sie wurde auf monumentalen Kandelabern, vor allem auf Säulen aufgestellt. Am Samstag vor Ostern wurde sie geweiht und bis zum Himmelfahrtstag gezeigt. Die Kerze wurde bei feierlichen Messen und Vesperfeiern in der Osterzeit angezündet. Im 12. und IJ.Jh. erfährt der Brauch vor allem in Rom und Süditalien eine großartige Ausgestaltung. Frühe bildliche Darstellungen finden sich in den Miniaturen der Exultetrollen, während die Chronik von Montecassino wieder als Quelle dienen kann mit der Beschreibung des unter Abt Desiderius erstellten Leuchters: »Vor der Kanzel errichtete er in Form eines großen Kandelabers eine sechs Ellen hohe Säule, mit 24 Pfund Silber versehen, z.T. auch vergoldet. Als Sockel diente eine Base aus Porphyr. Auf der Säule erhob sich die große am Ostersamstag zu weihende Kerze.« In S. Paul vor den Mauern in Rom wurde der um 1190 entstandene fast 5 m hohe Leuchter als wahrhafte Bildsäule gestaltet. Ein spätes Beispiel ist die am Ende des 13. Jh. entstandene, 3,50 m hohe Kerzensäule von Gaeta mit 48 Reliefs. Großartige Behandlung erfuhren die Kandelaber in Palermo in der Cappella Palatina im 12. Jh. (4,50 m hoch) und im Dom von Salerno (5,Jo m). Dagegen erscheinen die Osterleuchter in den Abruzzen schlichter, doch sind sie in ihrer Einfachheit von eindrucksvoller Würde. Aus dcm 12. Jh. ist nur ein Beispiel in Carsoli in S. Maria in Cellis erhalten. Der im Durchmesser dünne und nicht sehr hohe Kerzenhalter setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen. Die auf vier Beinen stehende Basis ist oben als menschlicher Oberkörper gebildet. Dieses Wesen mit abgeflachtem Schädel erscheint als Drückerfigur, die den Säulenschaft trägt. Darum legt sich in fünf Windungen eine Spirale, die sich bei genauem Hinsehen an ihrem Ende als Schlange entpuppt, deren Kopf im Kapitell zu erkennen ist. Der Osterleuchter stammt vom selben Meister wie die I 132 entstandene Kanzel.
Gleichzeitig mit der Kanzel von S. Pietro in Alba Fucense, den Chorschranken und dem Ziborium entstand etwa 1209 der große Osterleuchter, der dem Ambo gegenüber im Mittelschiff steht. Er ist ohne Base und aus einer kräftigen antiken Monolithsäule gebildet. Das dreigeschossige schön gearbeitete Blattkapitell zeigt eine antikisierende Gestaltung und ist das Werk einer lokalen Schule des Marsergebietes. Die Vorbilder lieferten die römischen Kapitelle des Langhauses. Auf der Deckplatte ist noch der Eisenstift zur Befestigung der Kerze sichtbar.
Den qualitätvollsten abruzzesischen Osterleuchter findet man in S. Maria in Bominaco (TI. 132.). Das eigenwillig geformte Monument erhebt sich auf einem stehenden Löwen. Der Schaft besteht aus zwei wulstigen Strängen, die sich miteinander verschlingen und in einer eigentümlich schwellenden spiralförmigen Bewegung aufsteigen. Der Kerzenträger wirkt allein aus den Windungen seines Schaftes, die eine lebendige Kraft auszuströmen scheinen. Damit wird dem weißen Stein seine in sich ruhende Natur genommen. Wie ein fleischlicher Körper quetscht und windet er sich, um mit letzter Kraft das symbolische Osterlicht zu tragen. Wie sooft bei Meisterleistungen abruzzesischer Kunst beobachten wir auch hier, wie eine Ornamentform zum Bedeutungsträger gesteigett wird. Der Kandelaber ist eine Arbeit des IJ.Jh. und formal aus Kampanien abzuleiten. Dem Löwen als Träger freistehender Säulen begegnen wir an den Kanzeln von Sessa Aurunca und Calvi bei Capua sowie an denen von Ravello und Benevent. Ebenso erinnert das sehr fein durchgebildete Kompositkapitell an Kampanien, wo es ganz ähnlich noch später, 1272, an der Kanzel von Ravello anzutreffen ist.
In S. Clemente a Casauria steht in Höhe der Kanzel der große Osterleuchter des vorgeschrittenen 13. Jh. (Tf. 97, 133), der stilistisch mit kampanischen Ausstattungsstücken dieser Art verbunden werden kann. Auf einem spätantiken Kapitell mit vier Löwenköpfen erhebt sich die mächtige Säule aus Kalkstein, die ein Kapitell französisch-zisterziensischer Form trägt. Ober einem kunstvoll mosaizierten Abakus steht die untere Laterne. Sie zeigt einen sechseckigen Kern, dessen hochrechteckige Flächen mit Cosmatenschmuck verziert sind. Die sechs gedrehten Säulen an den Ecken dienten als Kerzenträger. Darüber sitzt ein zweites üppiges Kapitell, das die heute nicht mehr vollständig erhaltene zweite kleinere Laterne zu tragen hatte. Von dieser ist nur noch der mit Mosaikstreifen ornamentierte sechseckige Kern zu sehen. An dessen Kanten hat man sich wiederum sechs gewundene Säulen vorzustellen, so daß entsprechend der Zwölfzahl der Apostel insgesamt zwölf kleinere Kerzenhalter vorhanden waren. Erst darüber erhob sich triumphierend die eigentliche große Osterkerze.
Der aus dem 13. Jh. stammende Osterleuchter im Mittelchor von S. Maria in Arabona (Tf. 135) ist 6 m hoch und in der Gestaltung demjenigen von S. Clemente a Casauria sehr nah verwandt, so daß auf eine gemeinsame Herkunft aus einer gotisch-abruzzesischen Werkstatt geschlossen werden darf. Der Kandelaber von Arabona ist indessen in der Ausführung reicher und noch feiner als der von Casauria. Auf einer hohen quadratischen Basis setzt der sich etwas nach unten verbreiternde Säulenfuß auf, an dem ursprünglich vier Hunde hochsprangen, von denen einer heute fehlt. Ober einem Wulstring steigt der schlanke Säulenschaft empor, um den sich spiralförmig eine naturalistisch gebildete Weinranke schlingt. Der Schaft trägt ein Weinrankenkapitell mit einer kräftigen, mehrfach profilierten Deckplatte. Auf dieser erhebt sich ein zweigeschossiger Aufbau (Tf. 134) mit je sechs kunstvoll gedrehten Säulchen, jedes anders in der Form, die, wie in S. Clemente a Casauria, die zwölf Apostel versinnbildlichen. Ober der zweiten Säulenetage und nochmals erhöht durch ein Zwischenstück, das von lanzettförmigen Blättern kaschiert ist, sitzt ein verziertes Trommelkapitell, auf dem die Osterkerze stand.
Auch im Dom von Teramo hat es wahrscheinlich einen Osterleuchter gegeben. In der Nähe der modernen Kanzel (S. 171) steht ein Kandelaber, in den mittelalterliche Fragmente eingearbeitet sind, die Teile eines alten Kerzenträgers gewesen sein können. Der Bau von Osterleuchtern erschöpft sich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Jedoch fügen sich die konservativen Abruzzesen nur ungern einem strengen zeitlichen Schema. Die Pfarrkirche S. Maria La Nova in Cellino Attanasio verwahrt den einzigen in den Abruzzen fest datierten Osterleuchter von 1383 mit Evangelistensymbolen und Weinranken.
Von Abts-oder Bischofsstühlen ist in den Abruzzen kaum etwas übriggeblieben. Der steinerne Sessel eines Abtes steht heute an der Rückwand der Mittelapsis von S. Maria in Bominaco. Er galt lange als verloren, bis er bei den Restaurierungsarbeiten in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts wiedergefunden wurde. Man hatte ihn zur Füllung der Barockkirche benutzt, während man seinen Verbleib in irgendwelchen europäischen Museen vermutete. Der Aufbau erinnert stark an apulische Vorbilder. Den Wangen des Sessels sind zwei kauernde sich anschauende Löwen vorgesetzt. Die rechte Wange zeigt außen eine Inschrift, die derjenigen auf der Kanzel von Bominaco ähnlich ist. Darin nennt sich der Abt Johannes mit dem Datum 1180 und stellt sich gleichzeitig bildlich vor. Er ist in Frontalansicht wiedergegeben und trägt in seiner Rechten einen gewaltigen Abtsstab. Die Ornamente wiederholen Formen von der Kanzel, so daß dieselbe Werkstatt für beide Ausstattungsstücke postuliert werden muß.
An der Rückseite der mittleren Apsis in der Domkrypta von Sulmona ist der Bischofssitz angebracht, der einstmals in der Oberkirche stand und von dort versetzt wurde, als Ferdinando Mosca aus Pescocostanzo 1751 den Platz für das Chorgestühl beanspruchte. Zum alten Thron gehören nur die Seitenwangen, die mit großen quadratischen Rosetten in vertieften kassettenartigen Feldern geschmückt sind. Die Form der Blüten ist schon an der Kanzel von Prata d'Ansidonia vorgebildet, so daß der Bischofsstuhl von Sulmona nach 1240 anzusetzen ist.
Es ist hinreichend betont worden, daß die Innenausstattung der Kirchen in der uns angehenden Zeit nur spärlich überliefert ist. Trotzdem ist es erstaunlich, daß wir in unserem Bergland kaum ein Grabmal von künstlerischer Bedeutung kennen. Erwähnenswert ist ausgerechnet ein Künstlergrab, um das sich Legenden gesponnen haben, und das bislang zeitlich falsch angesetzt wurde. Der Künstler heißt Nikolaus und erscheint als Baumeister in S. Maria in Valle Porclaneta. Er wird auf zwei undatierten Inschriften genannt. Die eine am rechten Eingangspfeiler der Vorhalle preist ihn in hymnischen Versen, die andere ist an seinem Grab zu sehen. Da man den Vorbau in die letzten Jahrzehnte des I I. Jh. datierte, schloß man daraus auf die Lebenszeit des Nikolaus und datierte auch das Grabmal in diese frühe Zeit. Verschiedene Anzeichen deuten jedoch auf eine spätere Entstehung der Vorhalle. Zunächst verbaute man durch sie die benediktisch gegliederte Fassade mit dem erhöhten Dach des Mittelschiffs und den niedrigeren Seitenschiffen, die man von einer höheren Stelle des Geländes noch gut erkennen kann. Das Satteldach der Vorhalle, das in den Abruzzen frühestens am Ende des 12. Jh. auftritt, widerspricht der Dreiteiligkeit der dahinter liegenden Fassade. Es entstehen zwischen dem Dach des Vorbaus und dem oberen Abschluß der Kirchenfassade unschöne Flächenabschnitte, die nicht mit einer künstlerischen Gesamtkonzeption zu vereinbaren sind. Ferner ist die ungewöhnlich hohe und breite Bogenöffnung der Eingangshalle, die auf einer auffallend schmalen Kapitellzone ansetzt, im Verhältnis zum übrigen viel zu groß und auch nicht mit den im 1 I.Jh. üblichen Proportionen in den Abruzzen in Einklang zu bringen. Ungefähr gleichzeitig mit dem Vorbau dürfte die gotische Tür in die Fassadenwand eingebaut worden sein. Eine Bestätigung dafür, daß wir unseren Nikolaus später sterben lassen müssen, bieten auch die Formen seines Grabmals, die dem 13. Jh. angehören. Ober dem Sarkophag erhebt sich auf gedrehten Säulen eine Ädikula. Die skulptierte Schauwand des Kastens besteht aus drei Steinplatten. Die größte mittlere trägt an der oberen Leiste die den Nikolaus nennende Inschrift. In der Mitte dieses Feldes sieht man das Lamm Gottes in einem übereck gestellten Quadrat, aus dessen Ecken Rankenmuster wachsen, die sich bogenförmig über die Seiten des Vierecks legen. Links und rechts des Agnus Dei knien Kerzen tragende Engel mit Heiligenscheinen. Auf den Seitenplatten der Schauwand ist je ein Fabelwesen von harpyienähnlicher und sphingenhafter Gestalt eingemeißelt.
Wir haben bislang von Reliefs gesprochen, die zu einem bestimmten Ausstattungsgegenstand des Kirchenraums gehörten, dessen Standort mehr oder weniger fixiert war. Es gibt aber aus unserer Zeit unzählige Beispiele, deren ursprüngliche Bestimmung nicht mehr genau festzulegen ist, wie die vielen Fragmente, die in Museen aufbewahrt werden, z.B. in Sulmona, L'Aquila und dem Dommuseum von Atri. Andere Reliefs verbergen sich verstreut, oft noch der Forschung unbekannt, irgendwo an den Außen-oder Innenwänden von Kirchen. Solche versprengte Objekte sind mir besonders im Molise aufgefallen, wo wir von der Geschichte der Skulptur wenig wissen und bei systematischer Nachforschung auf Neufunde hoffen dürfen.
Nicht auf Grund seiner künstlerischen Bedeutung, sondern aus Gründen der Seltenheit und wegen seines geheimnisvollen Inhalts sei das Relief genannt, das in dem Langobardenort Gildone bei Jelsi aufgetaucht ist. Mein verstorbener Freund, der Arzt Vincenzo D'Amico, hat es ausfindig gemacht und es in die Außenwand seines Hauses in Jelsi eingelassen. Das Relief besteht aus zwei übereinandergesetzten Kalksteinen, zusammen 80 cm hoch und 60 cm breit, die Dicke schwankt zwischen 25 cm im unteren und nur 8 cm im oberen Stein. Auf jedem Block erscheinen zwei Darstellungen übereinander, die alle von einem kleinen, aus dem Stein herausgehauenen Steg getragen werden. Die oberen Teile der oberen Reliefs sind nicht mehr vollständig erhalten. Links oben sitzt eine männliche Gestalt barfuß und mit kurzen bis zu den Knien reichenden Hosen. Die rechte Hand ruht auf einem Stock, seine linke stützt sich auf ein Schwert. Rechts oben erkennt man das Fragment einer riesigen nack (S. 172) ten Frau mit über dem Schoß zusammengelegten Händen, zu ihren Seiten stehen zwei halb so große nackte Gestalten, deren Arme waagerecht ausgestreckt sind. Zwischen der großen Frauengestalt und der kleineren Figur rechts windet sich eine Schlange empor. Auf den unteren Darstellungen sieht man zwei Reiter mit eigentümlich geschwungenen Mützen. Sie halten Zügel und Lanze in den Händen. Da die Reliefs erstaunlich rundplastisch gearbeitet sind, können sie wohl kaum langobardisch sein. Besonders in den Reitern sind gewisse Anklänge an die byzantinische Kunst ablesbar. Möglicherweise ist die Arbeit in das I I. Jh. zu datieren.
Vielleicht gegen das Ende des II.Jh. entstanden große, bislang unbeachtete Figurenreliefs an der Außenwand des linken Langhauses der Kathedrale von Guardialfiera. Die linke Platte stellt in Vorderansicht einen Bischof mit Mitra und Bischofsstab dar, der mit seiner Rechten den Segensgestus ausführt. Trotz der schematischen Gewandfaltung in parallelen durchlaufenden Zügen zeichnet sich im Oberkörper die Stofflichkeit des Ornats ab. Die Figur wird von einer rechteckigen Fläche hinterfangen, die in der Höhe des Halses in einen flachen Bogen übergeht, der den Kopf des Bischofs rahmt. Die Ränder der Reliefplatte sind in unregelmäßigen Abständen von kleinen Buckeln eingefaßt. Aus derselben Werkstatt stammt offenbar die querrechteckige Zierplatte rechts vom Bischof. Darauf präsentieren sich drei nebeneinanderstehende Personen, deren Gewänder ähnlich gebildet sind wie das auf der vorigen Schmuckplatte. Eine bärtige Mittelfigur ohne Kopfbedeckung segnet mit der Rechten; sie ist von zwei Ministranten begleitet, die mit ihrer rechten Hand ein Weihrauchgefäß vor sich halten. Dieses Thema, das hier in der Plastik des Molise und der Abruzzen zum erstenmal auftaucht, geht auf Vorbilder im kampanisehen Kunstkreis zurück und zwar auf Miniaturen von Exultetrollen. Es wird später in das Programm des Kanzelbauers Nikodemus aufgenommen und erscheint noch 1223 an der Kanzel von S.Maria di Canneto. Trotz der streng frontalen Haltung aller drei Figuren, trotz der gleichen Haartracht sowie der ähnlichen Bewegung der Arme und der gleichen Gewänder sind die Gestalten durch die variierten Gewandfalten differenziert. Zwischen den Figuren sind in Schulter-und Fußhöhe symmetrisch Rosetten eingesetzt, die nie das gleiche Muster aufweisen.
Die nächsten Arbeiten führen in die Abruzzen zurück. In S. Pietro in Alba Fucense existierte noch in den 30er Jahren eine Kalksteinplatte, deren bizarre Figuration von äußerster Seltenheit ist. Diese Reliefarbeit ist verschwunden und Nachfragen nach dem Verbleib blieben ergebnislos. Dargestellt war die Allegorie der Luxuria (Tf. 121). Ein Satyr führt eine nackte Frau an einer Kette, die dieser um den Hals gelegt ist. Das Weib wird von vielen unreinen Tieren geplagt. Eine Kröte beißt sich in ihre Genitalien ein, mit der linken Hand umfaßt sie eine doppelköpfige Schlange, deren Mäuler sich ihrer Brustwarzen annehmen, und aus dem üppigen Haarschopf kriecht an der Wange eine Viper entlang, die ihr Gift in den Mund der Unglücklichen spritzt. Zwischen dem Bocksfuß des Satyrs und dem linken Bein der Frau schickt sich eine zweite größere Kröte an, ihrerseits das Teufelswerk zu beginnen. Das Relief entstammt der Werkstatt, die um 1123-1126 die alte Ikonostasis in S. Pietro erstellte. Die Bildfindung geht wahrscheinlich wieder auf kampanische Einflüsse zurück. Das hochrechteckige Format des Reliefs und die ungewöhnlichen Ausdrucksmittel erinnern an die Tiere und den hl. Georg mit dem Drachen im Chorumgang des Domes von Aversa. Allerdings ist das dortige flachgearbeitete Relief sehr viel früher entstanden als die Luxuria in S. Pietro, die in ihrer plastischen Gestaltung ausdrucksvoller ist.
Rechts und links vom Hauptportal in S. Pietro ad Oratorium sind zwei stark verwitterte Reliefs in die Mauer eingelassen (Tf. 52). Es sind Versatzstücke von ungleicher Größe. Darf man die Inschrift auf dem Stein in mittlerer Höhe neben der rechten Figur auf die Darstellung des Reliefs beziehen, so hätten wir den »S. Vincentius diaconus« vor uns. Er ist als Ganzfigur dargestellt und hält mit beiden Händen ein Buch vor der Brust; die Ausführung ist roh und grob, besonders in den schematischen Einritzungen, die die Gewandfalten verdeutlichen sollen. Ohne Einfassung geblieben ist auf der linken Seite das kleinere Relief mit der Halbfigur des Königs David. Er ist mit einer Chlamys bekleidet, die auf seiner rechten Schulter nach antikem Vorbild von einer Spange zusammengehalten wird. Sein Haupt ist erhoben, und mit einer Hand trägt er ein Täfelchen, auf dem der erste Vers aus Psalm 25 zu lesen ist »Ad te, levavi animam meam, Domine«. Die andere Hand deutet auf eine Inschrift, die in eine Leiste eingemeißelt ist, die nicht zur Reliefplatte gehört sondern über dieser weiter nach rechts versetzt ist. Darauf steht: »Sculptori meo apparuit ita in somnis hec« (Meinem Bildhauer erschien dieses [Bild] auf diese Weise im Traum).
In der Plastik ist die Darstellung Christi äußerst selten. Die Vorliebe galt ganz eindeutig der Maria. Seit dem 12. Jh. erscheint sie in repräsentativen Darstellungen der Reliefkunst. Die nach dem zweiten Weltkrieg erbaute einschiffige Kirche S. Maria Mater Domini in Chieti zeigt an der rechten inneren Langhauswand in der Nähe des Eingangs ein Madonnenrelief des 12. Jh. aus braunem Marmor (Tf. 124). Eindrucksvoll ist die starre Frontalität der Gottesmutter mit Kreuznimbus, die ihr Kind, das etwas aus der Bildachse nach rechts verschoben ist, mit beiden Händen umschließt. Der Oberkörper Mariens hebt sich weit vom Reliefgrund ab, die Gewandung zeigt verschiedene Ornamente, wobei die Muster des linken Gewandteiles anders ausgefallen sind als die des rechten. Die erst vom Ellenbogen an sichtbaren Arme liegen schwer auf den Wangen des Throns. Die Bildung des Sitzes ist der Wirklichkeit abgesehen und ahmt geschnitzte Formen nach. Diese Arbeit gehört zu den ältesten und qualitätvollsten Mariendarstellungen der Abruzzen. Sie war lange Zeit an der Porta S. Giovanni angebracht und wurde später unter dem Namen Mater Domini in der kleinen Kirche verwahrt, die an dieser Stelle vor dem Neubau von 1959 stand. Das Christuskind hält in der Linken ein Spruchband mit den Worten »Ego sum vestra redemptio«, während die Rechte den Segensgestus ausführt. Unter dem (S. 173) Thron nennen sich in einer am Schluß verderbten Inschrift die Künstler oder Auftraggeber dieses seltenen Kunstwerks, der Subdiakon Scangius aus Chieti und andere: »S. Maria Mater Domini, miserere nobis. Scangius Teatinus ecclesiae subdiaconus hoc feeit opus. Robertus Raunerius et Benedictus Catapenes«.
Die an der Vorhalle von S. Clemente a Casauria so zahlreich vertretene Figurenwelt hat nur wenig Fortune gemacht und in den Abruzzen kaum eine direkte Nachfolge gefunden. Eine Ausnahme bildet die Madonnenfigur über dem rechten Portal (Tf. 126). Sie stammt aus der Werkstart des Kanzelmeisters von S. Clemente. Alle von Casauria abhängigen Madonnenreliefs müssen nach 1182, dem Todesjahr des Abtes Leonas, angesetzt werden, als sich die dortige Bauhütte auflöste und anderwärts in den Abruzzen Arbeit suchte. Auf die Abhängigkeit vom Marienrelief in Casauria weist der Matthäusengel an der Kanzel von Pianella hin. Von Casauria abzuleitende Madonnenreliefs befinden sich in der Domkrypta von Sulmona (Tf. 125) und am Campanile von S. Pelino in Corfinio eingebaut. Alle drei Figuren zeigen das Christuskind auf dem Schoß der Mutter in weitem Abstand von dieser nach links gerutscht, in der linken Hand die Schriftrolle tragend und mit der rechten segnend. Die Disposition des Faltenwurfs der Madonna ist in allen Fällen gleich, und immer bedeckt das Schultertuch den Kopf. Charakteristisch sind auch die Bildung der stark und starr hervortretenden mandelförmigen Augen und die überlange Kinnpartie. Das Postament, auf dem die Füße ruhen, ist eine auf der Vorderseite abgerundete Platte mit Ornamenten. Wiederholt wird auch das Untergestell des Thrones mit seiner Gliederung in vier Horizontalstreifen, die durch kleine Stege unterteilt werden.
Eine Madonna des 13. Jh. ist in eine Mauer von S. Maria delle Grazie in Luco dei Marsi als Füllstein eingelassen. Der Oberteil des Reliefs ist an der rechten Seite zerstört, und daher ist vom Kopf Mariens nur wenig zu sehen. Man erkennt auf ihrem Schoß das säugende Christuskind. Die Halbfigur eines Engels erscheint in der oberen linken Bildhälfte. Der Aufbau des Throns läßt marsische Eigenheiten erkennen. Die reich ornamentierte Sitzbank wird von zwei gedrungenen Säulen auf steilen Basen gestützt. Die Säulenschäfte sind, wie sooft in diesem Gebiet, spiralförmig gedreht, eine Reminiszenz an die Cosmatenarbeiten.
Ober einem Seiteneingang von S. Maria in Valle Porclaneta ist ein Madonnenrelief des 13. Jh. angebracht, gerahmt von einer einfachen Profilleiste. Maria sitzt auf einer schlichten Steinbank und hält auf ihrem rechten Knie das segnende Kind mit Kreuznimbus. Maria trägt eine Krone und ihr Kopf wird von einem großen Heiligenschein hinterfangen.
Das Steinrelief der sitzenden Madonna aus S. Maria delle Carceri in L' Aquila (Tf. 127) hat man für eine Arbeit des ausgehenden 12.. Jh. gehalten. Gewiß treten hier sehr konservative Formen auf, wie die starre frontale Haltung Mariens, die Gewandfalten über den Beinen oder die altertümlichen Kapitelle unter der Bank. Andrerseits aber scheinen raffinierte dekorative Elemente weit in das 13. Jh. zu weisen. Das über den Kopf gelegte Schultertuch ist reich und gleichmäßig wie mit Perlen geschmückt und läßt über der Stirn eine elliptische Vertiefung erkennen, die einen Edelstein andeutet oder vielleicht auch die Fassung für einen solchen abgegeben hat. Die Sitzbank zeigt eine Art Rückenlehne, die nur auf der rechten Seite erhalten ist. Die quadratischen Vertiefungen in dieser Lehne erscheinen heute grob und langweilig. Es ist durchaus möglich, daß sie ursprünglich mit bunten Steinen ausgefüllt waren, die man ihres Wertes wegen später herausgebrochen hat. Die Farberscheinung des Reliefs wäre dadurch völlig anders gewesen als in seinem jetzigen Zustand. In eine spätere Zeit weisen auch die Attribute. Maria hält in ihrer Rechten eine Lilie auf hohem Stengel und das Christuskind hält in seiner Linken einen kleinen Vogel.
Einzelne Monumente
Im Molise und in den Abruzzen sind in verschiedenen Gegenden Reliefszenen überliefert, deren Inhalte in unserer Region einmalig sind. Es handelt sich um die Bilderwelten in S. Maria della Strada (1148) und in der Vorhalle von S. Clemente a Casauria (vor 1182) sowie um die Portalskulpturen von S. Giovanni in Vene re (1225-1230)' S. Maria della Strada entlehnt die Themen zum großen Teil dem humanistisch-profanen Bereich. In S. C1emente erscheint am Architrav des Hauptportals zum erstenmal eine historische Erzählung, die der Chronik von S. C1emente a Casauria entnommen ist, und in S. Giovanni in Venere werden u.a. seltene biblische Erzählungen vorgeführt. Alle drei Monumente, deren stilistische Einordnung wir schon früher behandelten, haben in unserer Landschaft keine künstlerische Nachfolge gefunden.
Die englische Forscherin Evelyn Jamison führte in den 30er Jahren die schwer zu deutenden Reliefszenen an Haupt-und Südportal von S. Maria della Strada auf Heldensagen zurück, die schon in karolingischer Zeit bekannt waren und vor allem durch die sogenannten römischen Mirabilienbücher verbreitet wurden. Künstlerisch ist die Qualität der Reliefs, die sicherlich alle aus einer Werkstatt stammen, nicht allzu hoch zu veranschlagen. Die Figuren sind flach aus dem Grund herausgeschnitten und kaum plastisch modelliert. Die Mitte des dreieckigen Giebelfeldes über dem Hauptportal (Tf. 37) nimmt über einem als Postament dienenden Steinbalken das Bild eines Reiters ein. Das Pferd ist im Profil dargestellt und schreitet von links nach rechts. Auf ihm sitzt, dem Beschauer zugewandt, eine männliche Gestalt, deren schmales, langgezogenes Gesicht Rankenbänder, die zur Giebelspitze aufsteigen, gleich einem Heiligenschein umschließen. Die Figur verkörpert den Kaiser Konstantin. Unter der Basis des Giebeldreiecks verläuft ein skulptiertes Steinband, an dessen rechter Seite der Wal den Jonas verschluckt, der an der linken wieder ausgespien wird. Zwischen beiden Szenen beobachtet man kämpfende Monstren. Die stark verwitterte Darstellung unterhalb der rechten Jonasszene zeigt wahrscheinlich, wie ein Feind der Stadt Rom von einem Helden überlistet und gefangengenommen wird. (S. 174) Darunter folgt wieder ein christliches Motiv. Zwei aus dem Lebensbrunnen trinkende Vögel stehen über einem Engel mit Heiligenschein. Zu dessen Füßen ragt aus dem rechten Pilasterkapitell ein Stierkopf hervor. In der besser erhaltenen Darstellung unter der linken Jonasszene sehen wir einen Löwen mit einem Kind zwischen den Tatzen, darüber einen Reiter, dessen Pferd von einem Löwen angefallen wird. Der Ritter holt mit seinem kurzen Schwert zum Schlag aus, vermutlich Bilder zur Geschichte der Königin Drugiolina und ihres Sohnes Ottaviano, die in den Kreis der Erzählungen von Fioravante gehören. Auch die Darstellung in der Lünette der linken Blendarkade ist den Taten des Fioravante entnommen. Zwar sind die ältesten Manuskripte zum Leben dieses Helden jünger als die Reliefs in S. Maria della Strada, doch mag der Legendenstoff schon früher bekannt gewesen sein. Es handelt sich vermutlich um den Kampf des Fioravante mit den drei Sarazenen, die die Königstochter Ulia gefangenhielten. Fioravante befreit sie, indem er zwei Muselmanen tötet, während der dritte fliehen kann. Die Bilder in der Lünette der rechten Blendarkade -in der Mitte ein stehender Mann, der in sein Horn bläst -sind möglicherweise Szenen aus der Rolandssage.
Auf sicherem Grund stehen wir bei der Interpretation des Reliefs an dem besser erhaltenen Südportal (Tf. 53). Der Lünettenbogen, der oben das Kreuzeslamm und an den Seiten zwei Monstren zeigt, schließt das Tympanonfeld mit der Darstellung der Himmelfahrt Alexanders d. Gr. ein. Die erste lateinische Übersetzung der ursprünglich in griechischer Sprache bekannten Alexandergeschichten fertigte der Archipresbyter Leo von Neapel zwischen 951 und 959 an. Aus dem kampanisehen Humanistenkreis, von dem auch das Relief in S. Maria della Strada beeinflußt ist, verbreitete sich das Thema über ganz Europa. Das Haupt Alexanders ist in unserer Darstellung unbedeckt, und von seiner Gestalt gehen Strahlen aus. Die »macchina«, in der Alexander steht, und von der auch die Quellen berichten, hat hier Ähnlichkeit mit einer Schaukel. Die ausgestreckten Hände halten die Speisen, um die die »macchina« tragenden Greifen anzufeuern, ihn aufwärts zu heben, um das Himmelsgewölbe erforschen zu können. Die profane Legende wird mit erstaunlicher Unbefangenheit mit der Himmelfahrt Christi in Verbindung gebracht. Der Bezug wird einmal durch das Agnus Dei über dem Alexander verdeutlicht. Wichtiger ist aber die Inschrift auf einem horizontalen Steinbalken, der den äußersten Portalbogen im Scheitel berührt und aus dem Bauverband hervorkragt. Dort steht: »Quicumque fecerit voluntatem patris meis [!] qui in celis est ipse intravit.«
In S. Clemente a Casauria wird die figürliche Plastik in der Vorhalle an markanten Stellen angebracht. Vier durch Witterungseinflüsse entstellte Evangelistensymbole sitzen am Ansatz der drei großen Arkadenbogen. Aus je sechs Aposteln sind die Kapitelle von zwei Säulenvorlagen am mittleren Bogen des Portikus gebildet (Tf. 129). Die darüber aufsteigende Bogenlaibung ist von Figuren begleitet, von denen die unteren als König Salomon, der hl. Clemens, ein Agnus Dei und König David zu identifizieren sind.
Drei Portale führen in das Innere der Kirche. Die Lünetten der Seitenrüren zeigen künstlerisch hervorragende Reliefs. Über dem linken Eingang steht der hl. Michael als Drachentöter, und über dem rechten thront Maria. Die mittlere Tür ist das früheste monumentale, reich ausgestattete Portalwerk in den Abruzzen (Tf. 56). Figürlicher Schmuck findet sich an den Stipites, den Kapitellen, dem Architrav und in der Lünette. Die Türpfosten zeigen je zwei übereinanderstehende Propheten mit Spruchbändern, wobei jeder von einer Ädikula gerahmt wird. In den Kapitellen darüber treiben ihr Wesen unerlöste Gestalten, die mit Füßen und Krallen Halt an den Kapitellringen suchen; ähnlich wie auf früheren abruzzesischen Ziborien des Robertuskreises sind es ein in Pflanzen verstrickter Alter, Harpyien, Löwen und verängstigte menschliche Gestalten.
Die Reliefs des Architravs erzählen die Gründungsgeschichte des Klosters. Inschriften im Bildfeld und auf einer Leiste darunter erläutern die Darstellungen. Der Bericht beginnt auf der linken Seite mit einer bisher wenig beachteten Romdarstellung. Es folgt der thronende Papst Hadrian 11. (867-872.), der in seiner Hand den Schrein mit den Gebeinen des hl. Clemens hält, um sie Kaiser Ludwig 11., der sich ihm demutsvoll zuneigt, zu übergeben. Darauf beziehen sich die Hexameter der Inschrift:
Cesaris ad votum Clementem confero totum
Ecce pater patrias magnum tibi confero munus
Clementis corpus tu sacrum suscipe funus
Martyris eximii Clementis suscipe corpus
Es folgt die Überführung der Gebeine des Heiligen von Rom nach Casauria. Die dritte Figur ist der Graf Suppo, der mit gezogenem Schwert den Kaiser schützend folgt, während dieser den mit dem Schrein beladenen naturalistisch gebildeten Esel vor sich hertreibt. In Casauria wird das Gefolge von den Klosterbrüdern Celsus und Beatus in Empfang genommen. Die Mitte des Architravs nimmt die Vedute der Kirche von Casauria ein, die vor der Überführung der Reliquien ganz folgerichtig noch als »templum s. Trinitatis« bezeichnet wird. Daß der Bau auf einer Insel liegt, wird durch die Darstellung des Flusses Pescara deutlich gemacht. Rechts von der Kirche erscheint Kaiser Ludwig zum drittenmal auf dem Architrav und verleiht Romanus, dem ersten Abt des Klosters, den Abtsstab; das Bild begleitet die Inschrift »Sceptro firmamus regimen tibi sume rogamus«. In der nächsten Szene wird von einem Weltlichen und einem Geistlichen dem Kaiser der Besitz von Casauria bestätigt. Der Ritter (miles) Sisenandus hält ein Spruchband »Cesar vestra sit hec insula Piscarie«. Es folgt der Bischof Garibaldus mit seinem Schriftband »Damus vobis omne ius nostrum in hac insula«. Die Dreiergruppe wird von Kaiser Ludwig beschlossen. Alle drei berühren mit ihren Händen eine Schale mit Früchten als Versinnbildlichung des die Szene erläuternden Mottos »Insula Piscarie paradisi floridus hortus«. Die äußerste Figur rechts stellt den Grafen Heribaldus als Beschützer des Kaisers dar. Die letzten Hexameter auf der unteren Schriftleiste scheinen sich auf Bischof Garibaldus zu beziehen:
(S. 175)Insula Piscarie que nostri iuris habetur
Libera perpetuo tua Cesar iure vocetur
Die Lünette über dem Architrav (Tf. 128) zeigt größere Figurenreliefs, die Zwickel sind mit Schmuckplatten ausgefüllt, die vom Kanzelmeister stammen. Auf einem Kissen thront in der Mitte der segnende hl. Clemens, der in seiner linken Hand den Stab trägt. Vom Beschauer aus links folgt der hl. Phoebus mit dem Spruchband »Homo quidam nobilis«. Noch weiter links ist bei dem hl. Cornelius zu lesen »Clementis episcopi omnibus fidelibus benedictio«. Auf der rechten Seite bringt Abt Leonas in demütiger Haltung dem hl. Clemens das Modell des Neubaus von Casauria dar, und zwar erscheint in der Darstellung genau der Teil, von dem die Chronik von Casauria überliefert, daß Leonas ihn errichtete. Die Inschrift lautet:
Suscipe sancte Clemens tibi regia templa parata
Retribuens celo Leonati regna beata
Auf einem Fries an der Ostseite des Ziboriums von S. Clemente finden wir die interessanteste Kopie in den Abruzzen aus dem 14. oder 15. Jahrhundett. Das dortige Relief wiederholt, allerdings ohne die Inschriften, getreu die gerade beschriebenen Szenen auf dem Architrav über dem Hauptportal von S. Clemente. Die lange Erzählung von Ludwig 11. und seiner Klostergründung erscheint hier noch einmal in hartem Stuck.
Der Reliefschmuck des Hauptportals von S. Giovanni in Vene re ist in der Lünette und am Seitengewände des Eingangs angebracht. In der Lünette innerhalb der hufeisenförmigen Archivolte sind die stark aus dem Grund herausgearbeiteten Reliefs großenteils nicht mehr erhalten und manche Figuren nur durch die Beischriften zu erschließen. In der oberen Zone thront der segnende Christus in Frontalansicht. Rechts von ihm steht, leicht ins Profil gedreht, die sich demütig neigende Maria, deren Hände dem Gestus des gegenüberstehenden Johannes entsprechend zu ergänzen sind. In der Zone darunter ist kaum noch etwas zu erkennen. In dem eigentümlichen, oben von einem Dreipaßbogen abgeschlossenen Gehäuse ist die Büste des hl. Benedikt aufgestellt. Ihm fehlt der Kopf, er wird aber in einer Inschrift unter den Füßen des über ihm thronenden Christus genannt. Rechts davon schließt die Inschrift an: »Abbas Rainaldus hoc opus fieri fecit«, und deshalb dürfte die darunter nur in ihrem Unterkörper erhaltene Figur den von 1225-1230 amtierenden Rainaldus darstellen. Laut Inschrift stand ihm der heute nicht mehr vorhandene hl. Romanus gegenüber, der Heilige, der dem Benedikt in Subiaco Aufnahme und Unterkunft gewährte.
Die Gliederung der reliefgeschmückten Flächen zu seiten des Portals ist rechts und links die gleiche. Die figürlichen Szenen -in drei Feldern übereinander, von denen das untere niedriger ist -werden durch breite horizontale Schmuckbänder voneinander getrennt. Das Hauptthema sind Begebenheiten aus dem Leben Johannes des Täufers, wobei die wichtigste, die Taufe Christi, gar nicht gezeigt wird. Die Abfolge der Szenen beginnt rechts vom Portal mit der unteren großfigurigen Darstellung, springt dann nach links über und verläuft in der oberen Zone ebenso wieder von rechts nach links. Den oberen rechten Abschluß bildet ohne Zusammenhang mit den übrigen Ornamenten ein antiker Fries. Die Szene darunter zeigt die seltene Darstellung der Beschneidung des Johannes (Tf. 130). Zwölf Personen sind hier auf engem Raum zusammengedrängt. Vor einer Reihe von sechs Assistenzfiguren erkennen wir die fünf Hauptgestalten von rechts nach links: Eine Frau hält das Kind auf ihren Armen, neben ihr steht der Mann, der die Beschneidung vornehmen will, mit dem dazu notwendigen Instrument in der Rechten, dann folgt Elisabeth, die Mutter des Johannes; sie hält eine Spruchrolle, auf der man die Worte liest »Ioannes erit nomen eius«. Die linke Hauptfigur ist der alte Vater Zacharias, der im Begriff ist, mit einem Stift den Namen des Johannes auf die Schreibtafel einzuritzen. Nach der Überlieferung erhält der ungläubige Zacharias durch diesen Akt seine Sprache wieder. Unter diesem Relief verläuft eine Blendarkatur von vier Rundbogen mit Rosetten, in den Zwickeln erscheinen Türme und Kuppelarchitekturen. Im Gegensatz zu der figurenreichen oberen Szene enthält die untere nur zwei Gestalten. Es handelt sich um die Verkündigung der Geburt des Johannes an seinen Vater Zacharias. Die Flügel des Engels Gabriel nehmen Dreiviertel der Bildbreite ein. In reicher Kleidung, mit einem Szepter in der Linken und erhobener Rechten, verkündet er die göttliche Botschaft von der Geburt eines Sohnes durch Elisabeth. Der Priester Zacharias, mit Weihrauch gefäß und Nimbus ausgestattet, steht vor einem Altar mit einem Ziborium darüber. Nach der Überlieferung glaubte Zacharias nicht an die frohe Botschaft, weil er und seine Frau zu alt seien, um noch ein Kind zu haben. Zur Strafe wurde er stumm und erhielt die Sprache erst wieder, als er den Namen seines Sohnes Johannes auf die Schreibtafel eintrug. In der untersten Zone rechts sieht man noch eine selten dargestellte Szene, den Propheten Daniel in der Löwengrube, wohin ihn die Volksmenge warf, nachdem er den für göttlich gehaltenen Drachen in Babylon getötet hatte. Daniel kniet zwischen Löwen. Der Text der alttestamentlichen Apokryphe vom Drachen zu Babel ist hier wortgetreu ins Bild gesetzt.
Der Verkündigung an Zacharias auf der rechten Seite entspricht links die Verkündigung an Maria. Zwei Säulenvorlagen teilen das Bild in drei Kompartimente. Links sehen wir Maria, die sich mit der linken Hand an die Säule stützt und die Botschaft des auf sie herabfahrenden Engels vernimmt. Auf dem Kapitell der Säule befindet sich ein Giebeldach, eine Hieroglyphe für das Haus in Nazareth, in dem die Begebenheit geschah. Die Mitte des Relieffeldes nimmt das schönste Bild des Zyklus ein, die Begegnung Mariens mit ihrer Verwandten Elisabeth (Tf. 131). Die schwangeren Frauen sind im Nachsinnen über die göttlichen Botschaften versunken. Die Figur ganz rechts ist nicht eindeutig zu erklären. Ihrer Haltung nach ist sie eine Gegenfigur zur Mariengestalt auf der linken Seite. Über dieser Bildzone liegt entsprechend der Anordnung auf der rechten Seite des Portals eine Blendarkatur, die bereits Ansätze zum Spitzbogen zeigt. Die Bogenfelder sind mit Rosetten ausgestattet. Die linke ist (S. 176) am linken unteren Rande abgearbeitet, um dem Verkündigungsengel darunter Platz zu machen. Ober der Blendarkatur liegt ein Bildstreifen, der sich im Vergleich mit den anderen nicht so erzählfreudig zeigt und daher auch schwerer zu interpretieren ist. Vier ganzfigurige Gestalten stehen vor einem Hintergrund mit Bäumen. Die beiden rechten sind Juden, von denen der eine auf seinem Spruchband den Johannes fragt: Was bist Du denn, daß wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Die Antwort des Johannes, die zweite Figur von links, steht auf der in voller Ansicht dargebotenen Rolle: Ich bin die Stimme eines Predigers in der Wüste (Joh. 1, 22-23). Die Gestalt links außen hat einen Heiligenschein und dürfte Johannes als Prediger in der Wüste darstellen. Den oberen Abschluß auf der linken Seite bilden zwei einander gegenüberstehende Pfauen, die aus einer antikisierenden Vase trinken, ein Motiv, das aus frühchristlicher Zeit bekannt ist.
Malerei
Vorbemerkung
Die Kunstgeschichte der Abruzzen zeigt erstaunliche Phänomene. Dieses Bergvolk entwickelte Glanzzeiten in den verschiedensten Kunstgattungen, in der Architektur, der Plastik, der Malerei, in der Miniatur, dem Kunstgewerbe, in der Musik und in der Literatur. Indessen kamen alle Zweige in verschiedenen Zeiten zur vollen Entfaltung. Es gibt keinen Moment, in dem die Höhepunkte der einzelnen Gebiete koinzidieren. Am ehesten könnte man ein Zusammengehen von Architektur und Plastik geltend machen. Aber die Reliefkunst war zum großen Teil Bauplastik und Paladin der Architektur. So wenigstens in der Blüte im Zeitalter der Normannen und Staufer. Die Malerei in den Abruzzen zeigt andere zeitliche Akzentuierungen. Sie setzt um 1100 ein. Im 12. Jh., der großen Zeit der Architektur und Plastik, vermissen wir jegliche Spuren von Malerei. In den großen Bauten von Sulmona, S. Clemente a Casauria und S. Maria in Bominaco fehlen Hinweise auf Wandbemalung. Eine neue Belebung erfährt sie erst im 13. Jh., und die bedeutendsten Schöpfungen liegen in der zweiten Jahrhunderthälfte, als sich Architektur und Plastik in großen Leistungen bereits erschöpft hatten. Bei aller Verschiedenheit der zeitlichen Ponderation kommt es aber keineswegs zu einer Verlagerung der künstlerischen Zentren, etwa vom Lande in die Stadt oder vom Benediktinerorden zu anderen aufstrebenden Bewegungen, den Zisterziensern, Franziskanern oder Dominikanern. Die Stätten der Kunsttätigkeit bleiben meistens die schon bekannten und behandelten benediktinischen Niederlassungen, jedoch sind sie nicht gleichmäßig über unsere Region verteilt. Mit Ausnahme von Rocchetta und Trivento gibt es im Molise kaum Orte mit nennenswerten Malereien. Innerhalb der Abruzzen spielt der adriatische Küstenstreifen eine untergeordnete Rolle, und, wie wir schon oft beobachteten, ist das eigentliche Ballungszentrum das Hügel-und Hochland mit den Provinzen L'Aquila und Pescara. Das Marserland um den Fuciner See, das im 13. Jh. in der Architektur und Plastik einen bedeutsamen eigenständigen Stil entwickelte, zeigt in der Malerei keine vergleichbaren Leistungen.
Mit dem Ende der Stauferzdt schließt 1268 eine stilistische Entwicklung in der Architektur und Plastik ab. Anders verhält es sich in der Malerei. Die bis etwa 1280 entstehenden Darstellungen sind durch die älteren Bauten, in denen sie sich befinden, mit der früheren Zeit verbunden, so daß sie nur im Zusammenhang mit diesen sinnvoll vorzuführen sind.
Die Malerei der Abruzzen ist eklektisch und von verschiedenen Kunstrichtungen inspiriert. Trotzdem kommt es zu einem lokalen Stil mit typischen Merkmalen. Die der Bibel und den Legenden entnommenen Szenen werden ohne überhöhungen als etwas Natürliches betrachtet, und ihr Inhalt wird mit einfachen Formen verständlich gemacht. Die göttliche Welt ist im Bannkreis der menschlichen Erfahrung angesiedelt. Daraus resultiert eine ungebrochene Treuherzigkeit und eine sich aus vielen Einzelbeobachtungen speisende natürliche Frische der Schilderung. Die unreflektierte Bilderzählung kann oft sehr ausdruckskräftig dargestellt sein. Die simplen Realitäten werden stets mit einer Würde und Oberzeugungskraft vorgetragen, die verhindern, daß sie in Platitüden ausarten, oder daß ihre Darstellung zur Volkskunst wird.
Der Abruzzese nimmt hin, was er sieht und würde kaum auf den Gedanken kommen, daß das theologische Programm, das einer mittelalterlichen Malerei zu Grunde liegt, etwas unfolgerichtig oder aber nicht in Ordnung ist. Es fiel schon bei den Reliefszenen auf, die das Leben des Täufers in S. Giovanni in Venere schilderten, daß der Höhepunkt seines Wirkens, die Taufe Christi, gar nicht zur Darstellung kam. Ein Parallelbeispiel zeigt S. Pellegrino in Bominaco. Mit großer Ausführlichkeit wird dort die Lebensgeschichte Christi geschildert, aber es fehlt die Kreuzigung. Nach dem Bilde der Geißelung folgt abrupt die Kreuzabnahme.
Die mittelalterliche Malerei folgte einem Kanon, auf Grund dessen die Heilswahrheiten an bestimmten Wänden in der Kirche anzubringen waren. So ist der Darstellung des Jüngsten Gerichts die Innenwand der Fassade vorbehalten, und die Erzählungen aus dem Alten und Neuen Testament stehen sich an den Langhauswänden gegenüber. Unbekümmert von diesem Schema verhält sich die abruzzesische Malerei. Das Mittelalter pflegt die Darstellung Gottvaters, der Evangelisten und der 24 Ältesten aus der Apokalypse als gewichtiges Thema in der Apsis darzustellen. In S. Pietro ad Oratorium nimmt man es aus diesem heiligsten Raumteil des Gotteshauses heraus und zeigt es über dem Apsisbogen ,. und seitlich davon. Die Wände der Apsisrundung überläßt man fast belan'glosen Heiligen. In Ronzano gerät der christologische Zyklus, ähnlich wie in Fossa, in das Querschiff und in die Apsis hinein. Eine großzügige Unbekümmertheit in der Szenenabfolge ist für S. Pellegrino in Bominaco charakteristisch. Die Lebensgeschichte Christi verteilt sich ohne Zusammenhang auf verschiedene Wände. Das Jüngste Ge (S. 177) >richt, das in Fossa traditionsgerecht den Platz an der Fassadenwand einnimmt, ist in Bominaco zersplittert und mühevoll zusammenzusuchen, der seelenwägende Michael, Petrus an der Paradiestür, die drei Patriarchen mit den glücklichen Seelen im Schoß befinden sich an einer Wand und an der anderen die unerlösten von Dämonen Gequälten. Bös hat man dem Petrusbild in Bominaco mitgespielt, wo der Apostel zur Rechten Christi unter den Pellegrinusszenen an der linken Langhauswand zu sehen ist, deutlich erkennbar am Gesicht, am Attribut der Schlüssel und über seiner rechten Schulter inschriftlich als Petrus beglaubigt. Die Worte auf dem Spruchband, das er in der Linken hält »Nolite pueri effici sen sibus, set malitia parvuli estote« sind indessen kein Ausspruch des Petrus sondern des Paulus und dem ersten Korintherbrief 14, 20 entnommen. Der Programmgestalter des Zyklus hat also Petrus mit Paulus verwechselt. Das Ensemble der Darstellungen in Bominaco wird durch die unterschiedlichen Größenverhältnisse der Bilder sowie durch zu zahlreiche und heterogene Szenen gestört. Zu dem christologischen Zyklus kommt noch die Schilderung der Lebensgeschichte des Pellegrinus hinzu, sodann ist eine Vielzahl von Gestalten aus dem Alten Testament und der Welt der Heiligen eingestreut, und endlich sind noch die Monatsbilder dargestellt.
Dem Realismus und der einfachen Erzählungsweise entspricht auch die Farbgebung. Wenige, aber kräftige Erdfarben werden bevorzugt. Das Kolorit zeigt eine beschränkte Skala und wenig Transparenz. Die Farbe hat keinen künstlerischen Eigenwert und dient meist nur zur Determinierung der Form. Das Gewand einer Person zeigt jeweils eine ungemischte Farbe und weist keine Schattierungen auf. Die Farbfläche muß natürlich differenziert werden, um Körperpartien kenntlich zu machen, was sehr graphisch mit bunten und oft auch schwarzen Einzeichnungen geschieht. Mit diesem für die Nuancierung der Formen unvermeidlichen Mittel verfährt man indessen so sparsam, daß die Grundfarbe immer bestimmend in der Gesamtdarstellung bleibt. Es entstehen so relativ große ungebrochene Farbflächen, die sehr ausdrucksstark sein können. Natürlich gibt es innerhalb dieses einheitlichen Verhaltens auch Graduierungen. Die Fresken in Bominaco z.B. sind bunter als die in Fossa mit ihren dumpferen Farben. Auch die vom Inhalt her buntere Welt in Bominaco wird in Fossa reduziert, und in diesem Sinne verhält sich Fossa abruzzesischer als Bominaco. Der Unterschied ist besonders interessant, da die Künstler von Fossa, wie sich aus gewissen ikonographischen übernahmen ergibt, sehr genaue Vorstellungen davon hatten, was in dem unweit gelegenen Bominaco vorging.
Die Formenwelt der abruzzesischen Malerei folgt anderen Leitbildern als die Architektur und Reliefplastik. Konnten wir für letztere engste bis zur Kopie gehende Bindungen an die benediktinische Kultur feststellen, so sind für die Malerei deratt weitgehende Abhängigkeiten nicht nachzuweisen. Man kann dieses Phänomen deutlich an dem frühesten monumentalen Wandgemälde in S. Pietro ad Oratorium (um 1100) erkennen. Die dortige Architektur und Baudekoration zeigen ein Weiterwirken der Formen von S. Liberatore alla Maiella, der Kirche, die am stärksten und reinsten benediktinische Baugewohnheiten in die Abruzzen einschleuste. Bau und Ausmalung in S. Pietro dürften gleichzeitig entstanden sein. Aber die künstlerische Gestaltung der Apokalypse hat nur wenig Gemeinsames mit dem kampanisehen Kunstkreis, verglichen etwa mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts in S. Angelo in Formis bei Capua. Dort ist die Ordnung der Figuren lateinisch klar aufgebaut, und die Einzelgestalten sind nach klassischen Vorbildern modelliert. Der Künstler in S. Pietro arbeitet ikonographisch wohl mit überkommenem Gut, setzt aber im oberen Teil des Freskos die Figuren derart ins Ornament um, daß der Inhalt nur schwer erkennbar wird. Dieses Verhalten hat kaum Analogien in Italien, am ehesten findet sich noch Vergleichbares in nordischen Miniaturen; es spiegelt sich darin wieder eine abruzzesische Eigenart, die wir sooft in der Reliefplastik belegen konnten.
Die Malerei im späteren 13. Jh. entwickelte sich, als die benediktinische Kunstlandschaft ihre Ausstrahlungskraft verloren hatte. Man orientierte sich an gängigen byzantinischen Beispielen, die genugsam im Südreich der Normannen und Staufer zu finden waren. Diese Abhängigkeit zeigen etwa die Deesis von Cartignano oder die Fresken in der Krypta von S. Giovanni in Venere. Dennoch blieb der Einfluß vom Süden relativ gering, und es ist in unserer Region nicht zu großen durch das Südreich angeregte Leistungen gekommen. Dagegen erscheint ab 1263 mit dem Eindringen französischer Motive eine völlig neue Komponente in der Malerei der Abruzzen. Immerhin war der lokale Stil so weit in sich gefestigt, daß der Gesamtausdruck nicht französisch wurde. Man kann nur Einzelelemente finden, die in Inhalt und Form aus den transalpinen Gebieten abzuleiten sind. In Bominaco wird z. B. bei der Wartung des Christuskindes die Magd Anastasia eingeführt, deren Legende besonders in Frankreich verbreitet war. Auch die Darstellung des französischen hl. Martin in Bominaco erinnert nach Form und Inhalt an nordische Vorbilder, ebenso kann man die dortigen Monatsbilder besser mit französischen als mit italienischen und byzantinischen Beispielen vergleichen. Im Dom von Atri erscheint um 1270 eine bis dahin in den Abruzzen nicht gesehene Geschichte, die Erzählung von der Begegnung der drei Lebenden mit den drei Toten. Die literarische Quelle dieses Themas ist in Frankreich zu suchen, wo im 13. Jh. dieses seltsame Treffen in Versen erzählt wird. In Ronzano 1281) hat man mit Recht gewisse Stilelemente mit dem Norden in Verbindung gebracht; z. B. ist die tief eingeschnürte Hüftpartie der Madonna in der Verkündigung typisch französisch, ebenso sind es die Schüsselfalten der äußersten linken Figur in der Apostelreihe. Der keck gotisch gebildete Joseph auf der Flucht nach Ägypten und der Scherge, der im Bethlehemitischen Kindermord mit seiner linken Hand sein Opfer an den Füßen packt, sind Figuren, die im Norden vorgebildet sind.
Freskoschichten sind zerstörbarer als der Stein, und die erhaltenen Malereien sind mehr oder minder zufällige Über (S. 178) bleibsel. Die Abruzzen liefern im 13. Jh. in Süditalien den seltenen Fall, daß in einem verhältnismäßig kleinen Gebiet, unweit von L'Aquila, drei Kirchen erhalten sind, die, von geringen Fehlstellen abgesehen, vollständig ausgemalt sind: S. Pellegrino in Bominaco, S. Maria ad Cryptas in Fossa und S. Crisanzio e Dazia bei Filetto. Die Fresken der letzteren sind noch recht unbekannt, viele Teile verbergen sich unter einer späteren Verputzschicht, und vorsichtige Restaurierungen könnten noch weitere Aufschlüsse geben. Bei anderen Kirchen kann man nachweisen, daß die Ausmalung einstmals sehr viel umfangreicher war im Vergleich zu dem heute Erhaltenen. So verschwanden bei Restaurierungen der 60er Jahre dieses Jahrhunderts unverständlicherweise Fresken in S. Pietro ad Oratorium, die noch auf älteren Photographien erscheinen. Dazu gehört vor allem die früheste Darstellung des Onophrius in unserer Region, der Heilige, der, aus welchen Gründen auch immer, das Schoßkind der Abruzzen gewesen ist und im 12.. und 13. Jh. am häufigsten gemalt wurde. Die Kirche S. Maria delle Grotte in Rocchetta al Volturno zeigt an vielen Wänden Farbspuren, von denen aber nur wenige den Darstellungsinhalt erkennen lassen. In S. Maria di Cartignano bei Bussi waren um die Jahrhundertwende, abgesehen von der Deesis, die heute im Nationalmuseum von L'Aquila zu sehen ist, noch andere Fresken vorhanden, und zwar handelt es sich um mehrere in einer gemalten Arkadenreihe stehende Heilige in der Apsis. Das Innere der Kirche S. Angelo in Pianella war einst völlig mit Fresken geschmückt, die zum größeren Teil den Restaurierungen des Jahres 1826 zum Opfer fielen. Den schmerzlichsten Verlust an romanischen Fresken stellen die in S. Pietro in Alba Fucense dar, die durch das Erdbeben von 1915 zugrunde gingen. Sie befanden sich in der Apsis, an den Seitenwänden vor der Apsis und an der Langhauswand in Höhe der letzten Arkade links vor dem Chor. Es gibt keine alten Photographien, die ein genaues Urteil über Form und Inhalt der Malereien zulassen. Auch in S. Maria di Ronzano ist anzunehmen, daß das malerische Ausstattungsprogramm einstmals umfangreicher war als es heute erhalten ist.
Im Gegensatz zur Architektur und Reliefplastik sind in der uns angehenden Zeit in der Malerei nur wenige datierte Werke überliefert, und erstaunlich gering ist die Ausbeute an Künstlernamen. Die chronologische Abfolge der Fresken ist schwer festzulegen, da wir meistens nur mit stilistischen Kriterien operieren können. Diese wiederum sind nicht einfach anzuwenden, da die Malerei äußerst konservativ ist und keine einheitliche Entwicklung zeigt. Das erste sicher datierte Werk der Malerei ist das Fresko in der Apsis von S. Maria di Cartignano vom Jahre 1237, das letzte eine Marienikone von S. Maria ad Cryptas in Fossa von 1283. Die datierte Inschrift von S. Maria di Ronzano hat viele Interpretationen über sich ergehen lassen müssen. Zunächst las man die Jahreszahl als 1171 und korrigierte sie später in 1181. Unter Zugrundelegung dieses Datums haben die Fresken in der Kunstgeschichte mancherlei Behandlung gefunden. Stilistische Vergleiche lassen dieses Datum jedoch unglaubhaft erscheinen, und erst neuere Untersuchungen ließen erkennen, daß die Zeitläufte einen bösen Streich gespielt haben. Ein C (= 100) war nicht mehr sichtbar, und so kam es zur Lesung von MCLXXXI anstatt von MCCLXXXI. Die nun zu Recht gesicherte Jahreszahl 1281 hat eine gewisse Umstellung der Geschichte der abruzzesischen Malerei zur Folge. Bestimmte Einflüsse, die man früher von Ronzano auf Bominaco und Fossa feststellte, erfolgen tatsächlich umgekehrt, indem Bominaco und Fossa die gebenden Teile sind. Die in Ronzano beobachteten französischen Einflüsse sind unbestreitbar, treten aber ein Jahrhundert später auf als man früher angenommen hatte.
Nur zwei Künstlernamen sind überliefert. Auf dem Apsisfresko von S.Maria di Cartignano von 1237 nennt sich ein Armanino von Modena, der künstlerisch sehr wenig Abhängigkeit von Oberitalien zeigt und sich möglicherweise nach einem Aufenthalt im Südreich den gängigen byzantinischen Gewohnheiten anschloß.
Gentile da Rocca signiert und datiert 1283 eine Ikone in Fossa. Um ihn haben sich in den letzten Jahren wahre Legenden gebildet. Seine einzige gesicherte Arbeit ist das Werk in Fossa, das jedoch durch überarbeitungen und Restaurierungen nicht ganz leicht zu beurteilen ist. In der Diözese Chieti nennt sich zum Jahre 1271 in einer Urkunde ein Gentilis pictor magister. Wichtigere Nachrichten von einem Maler Gentile vermittelt die Lebensgeschichte des Papstes Coelestin V. Es wird erzählt, wie vor der Papstwahl 1294 ein gewisser Simon aus Kalabrien zu Coelestin in die Einsiedelei S.Onofrio am Morrone kommt, um von ihm wunderwirkendes Wasser zur Heilung eines Aussätzigen zu erbitten. Als Zeuge dieses Vorgangs meldet sich der magister Gentilis pictor, »qui tune in tempore pingebat oratorium illius cellae«. Tatsächlich sind in dieser Einsiedelei Malereien vom Ende des 13. Jh. erhalten, allerdings von unterschiedlicher Qualität und von verschiedenen Künstlerhänden gearbeitet. Es ist durchaus möglich, daß sich der dreimal überlieferte Name des Malers auf dieselbe Person bezieht, die in den Abruzzen zwischen 1271 und 1294 tätig war. Ausgehend von der gesicherten Ikone in Fossa hat man versucht, den Künstler mit dem Meister der Kreuzigung in der Einsiedelei S. Onofrio zu identifizieren und mit dem Maler, der in Fossa das Jüngste Gericht und das Abendmahl schuf. Hätten wir nicht den Künstlernamen Gentile, so würde wahrscheinlich keiner auf den Gedanken kommen, die heterogen gestalteten Bilder miteinander in Beziehung zu bringen. Nach meinem Dafürhalten sollte man es vermeiden, dem Meister eine Werkliste zu unterschieben und sich damit bescheiden, daß als einziges gesichertes Werk nur die 1283 datierte und signierte Marienikone von Fossa zu gelten hat.
Einzelne Monumente
Die Anfänge der abruzzesischen Monumentalmalerei liegen völlig im Dunkeln. Eine Spur führt nach S. Liberatore aHa Maiella, wo sich in unserer Region der Einfluß der benediktinisch-cassinesischen Kunst am frühesten auswirkte. Dort sind in der Mittelapsis Fresken des 16. Jh. über einer Malschicht aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. vorhanden. Man (S. 179) könnte weiter nachforschen, ob unter den um 1275 entstandenen Fresken noch ältere zu finden sind, die vielleicht aus der Bauzeit im letzten Viertel des 11. Jh. stammen. Dieser Frage ist man noch nicht nachgegangen, da die beiden vorhandenen Schichten so restaurierungsbedürftig sind, daß man, um größeres Unheil zu verhüten, nicht wagen wollte, eine etwa noch tieferliegende Schicht freizulegen.
Neuerdings ist in L' Aquila die Kirche S. Sisto vor der Porta Romana zum erstenmal in das Blickfeld der Kunstgeschichte geraten. Auf der linken Langhausseite fand man auf einer Fensterbrüstung Freskospuren mit groben geometrischen Darstellungen, worin in arabischen Ziffern die Jahreszahl 1080 zu lesen ist, die sich auf die Entstehungszeit dieser primitiven Malereien beziehen soll.
Völlig unbeachtet sind Malereien in der Kirche S. Micheie in S. Vittorino bei Amiternum. An der Unterseite des Triumphbogens vor dem Querhaus sieht man eine Reihung von Heiligenköpfen in Medaillons. Mit äußerster Vorsicht könnte man der Vermurung zustimmen, daß die an antike Vorbilder erinnernden Gesichter mit ihrer zarten Farbgebung dem Ende des II.Jh. zuzurechnen sind. Wir hätten es dann mit den ältesten Fresken zu tun, die in der uns angehenden Zeit in den Abruzzen erhalten sind.
Das nächste Monument ist nur durch Schriftquellen überliefert. Die Chronik von Casauria berichtet, daß Abt Grimoaldus zwischen 1090 und 1101 an der Nordseite seines Klosters einen Wohnpalast für die Äbte errichtete. Dieser wurde mit Malereien ausgestattet, die Szenen aus dem Alten Testament darstellten.
Die Fresken in S. Pietro ad Oratorium bei Capestrano (Tf. 136) sind der früheste Zyklus aus romanischer Zeit in den Abruzzen, um 1100, gleichzeitig mit dem datierten Bau, anzusetzen. übriggeblieben sind die Malereien an der Stirnwand der Mittelapsis, die weniger gut erhaltenen in der Apsisrundung und in der Kalotte sowie dürftige Spuren in den Seitenapsiden. Links und rechts der mittleren Apsisöffnung sind die 60 cm breiten Wandabschnitte als Scheinarchitektur behandelt. Es sind dort gemalte Säulen mit minuziös gebildeten Blattkapitellen sowie mit Schaftringen und Deckplatten dargestellt. Schon hier kündigt sich die Vorliebe für gemalte Architekrur an, der wir später in Bominaco und Fossa wiederbegegnen werden. Auf der Stirnseite und im Gurtbogen der Apsisöffnung sieht man Ornamentbänder mit vegetabilen Formen, die jeweils im Scheitel von figürlichen Darstellungen unterbrochen werden. Im Unterzug befindet sich der in konzentrischen Kreisen eingefaßte Johannesadler, wohingegen im Scheitel der Archivolte in einem Medaillon die Hand Gottes gemalt ist. Darüber erscheint das Bild des bärtigen Erlösers in Frontalansicht. Er sitzt auf einem Kissen auf einem mit Edelsteinen geschmückten Thron, mit seiner Rechten im griechischen Gestus segnend, während er in der Linken ein aufgeschlagenes Buch hält, auf dessen Seiten die apokalyptischen Verse (Offenbarung 22, 13) geschrieben sind: »Ego sum primus et novissimus«. Der Salvator thront vor einem weißen Hintergrund, und zu seinen beiden Seiten sieht man je zwei übereinander angeordnete Evangelistensymbole, links oben den Matthäusengel und darunter den geflügelten Markuslöwen, rechts oben den Johannesadler und unter ihm den Lukasstier. Die Gesichter von Löwe und Stier zeigen durchaus menschliche Züge. Das ganze Bild wird von einem querrechteckigen Rahmen eingefaßt. An dessen Seiten wachen innen die sechsfach geflügelten Cherubim. Gewisse Requisiten erinnern noch an die kampanisehe Malerei in S. Angelo in Formis. Auch dort erscheint der Erlöser ohne Mandorla auf einem Thron ohne Rückenlehne mit der gleichen Inschrift aus der Offenbarung. Die Kopfbildung weist ebenfalls Ähnlichkeiten auf, beide sind bärtig, beide haben tiefe Querfalten am Hals und henkelförmig gebildete abstehende Ohren. Jedoch ist die künstlerische Behandlung in S. Pietro, entsprechend den Darlegungen im vorigen Kapitel, völlig anders als in den kampanisehen Beispielen.
Den Bogenabschnitt vom Ansatz der Archivolte bis zur rechteckigen Rahmung begleiten die 24 Ältesten aus der Apokalypse. Auf verhältnismäßig kleiner Fläche ist es dem Künstler gelungen, auf jeder Seite zwölf Figuren unterzubringen. Allerdings hat er sich damit sehr schwer getan. Im unteren Teil, wo der Platz recht spärlich bemessen ist, kam es nur zur Darstellung der Köpfe, die den Bildrand sprengen. Weiter oben konnte er etwas großzügiger verfahren, und dort erscheinen die apokalyptischen Personen als Halbfiguren. Sie sind weißhaarig und bärtig und tragen Kronen auf ihren Häuptern. Soweit es der Raum zuläßt, halten sie goldene Schalen in Händen. über dem Rechteckfeld mit dem Erlöser, den Evangelistensymbolen und den Cherubim verläuft horizontal ein sehr zerstörter Zierstreifen mit pflanzlichen Ornamenten, der wieder in der Mitte unterbrochen wird. Heute ist dort nur eine von einem konzentrischen Kreis eingefaßte Scheibe zu sehen, und es ist zu fragen, ob sie bemalt war. Sollte sich auf ihr etwa die Darstellung einer Taube befunden haben, so wäre in der Mittelachse des Freskos die Trinität veranschaulicht worden, Vater, Sohn und Heiliger Geist, verkörpert durch die Hand Gottes in der Archivolte, darüber Christus und zuoberst die Taube. Die Grundfarbe der Fresken ist ein tiefes Rot, dessen Intensität variiert. Der Künstler betont besonders eindringlich mit weißen, gleich Perlschnüren erscheinenden Tupfen Verzierungen wie Gemmen, Bänder oder Gewandmuster.
Eine zweite Künstlerhand schuf je drei Heiligenfiguren zu seiten des Fensters der Mittelapsis. Dieser Meister war an überkommene byzantinische Formen mit den typisch langgestreckten Körpern gebunden. Die Gestik der Gestalten ist uniform. Mit ihrer rechten Hand machen sie den lateinischen Segensgestus und mit ihrer linken umfassen sie ein Buch. Interessanter ist die Rahmung. Jeder Heilige steht in einer Rundbogenarkade, deren Säulenschäfte dreigeteilt sind, der untere Abschnitt ist spiralförmig gedreht, der mittlere zeigt Kannelüren und der obere besitzt wieder die Spiralform. Ähnliche Bildungen kennen wir an den marsischen Chorschranken des 13. Jahrhunderts. Sowohl diese Baudekoration wie die früher entstandene gemalte Architekrur in S. Pietro ad Oratorium greifen unabhängig voneinander auf (S. 180) Vorbilder zurück, die Miniaturen besonders in den Kanonbögen zahlreich lieferten. Kümmerliche Reste von Malereien sind in der Apsiskalotte erhalten. Vermutlich befand sich dort eine dreifigurige Szene. Auf der linken Seite wendet sich eine Gestalt, deren Kopf nicht mehr erhalten ist, der Bildmitte zu. Eine entsprechende Figur ist auf der rechten Seite anzunehmen, von der nur der linke Fuß übriggeblieben ist. Am unteren Rand der Kalotte ist in der Mitte der Ansatz eines Thrones sichtbar. Die Szene wird auf beiden Seiten von Palmen begrenzt, von denen die linke, sehr naturalistisch gebildete, fast vollständig erhalten ist, während rechts oben noch ein Baumstumpf erspäht werden kann. Unterhalb der Kalotte zieht sich in der Horizontalen ein weißes Band hin, das einstmals eine Inschrift trug, von der einige Buchstaben zu entziffern sind. Die Forschung hat sich um dieses Apsisprogramm noch nicht gekümmert. Ein Versuch, das Schriftband zu lesen, könnte weitere Auskünfte liefern. Die Fresken in der linken Nebenapsis sind kaum noch sichtbar. Immerhin erkennen wir in Resten die kompliziette Säulenform wieder, der wir an den Arkaden begegneten, die die sechs Heiligen in der Mittelapsis einfaßten, und wir schließen daraus, daß hier wie dort derselbe Meister am Werke war. In der rechten Apsis befand sich die bei der Restaurierung verschwundene Figur des hl. Onophrius in der gleichen Rahmung wie die der Heiligen der Mittelapsis. Onophrius erschien in Frontalansicht mit einem nach unten spitz zulaufenden Bart. Zwischen den lang herabfallenden Haaren waren die eng aneinandergestellten Beine sichtbar, deren Knie, simplifiziert durch konzentrische Kreise, verdeutlicht wurden.
Die vielversprechenden Anfänge der Ausmalung von S. Pietro ad Oratorium haben keine direkte Nachfolge gehabt. Es tritt eine Pause von nahezu hundert Jahren ein, und erst im 13. Jh. finden wir wieder Fresken, darunter solche, die den Höhepunkt der mittelalterlichen Malerei in den Abruzzen darstellen. Allerdings ist es mir nie gelungen, Fresken in der Ruine des alten Bischofssitzes Forcone zu inspizieren, und ich kann mich nur auf eine Aussage von 1933 stützen, die gemalte Reste in der Kapelle des Glockenturmes und am Turmaufgang nennt. Wegen des schlechten Lichtes und des dürftigen Erhaltungszustandes hat der Berichterstatter Arturo Alinari kaum etwas gesehen. Er glaubt, Darstellungen von Heiligen und Bischöfen erkannt zu haben, die er summarisch dem 12. oder 13. Jh. zuschreibt.
Die frühesten Fresken des 13. Jh. zeigen überkommene Formen und eine traditionelle Gestaltung und führen uns aus den Abruzzen hinaus in das Molise. Um 1200 mögen die Malereien in S. Maria delle Grotte in Rocchetta al Volturno entstanden sein. Sie sind verb laßt, und ihr Inhalt ist kaum noch erkennbar. Stilistisch haben die Bilder mit den Abruzzen nichts zu tun und gehören in den Verband der kampanisehen Kunsttätigkeit. In der Annahme, daß hier eine Werkstatt des benachbarten Klosters S. Vincenzo al Volturno beschäftigt war, können wir hypothetisch Rückschlüsse auf S. Vincenzo ziehen, ein Kloster mit einer bedeutenden Maltradition, von der ja die Fresken in der Krypta von S. Lorenzo aus dem 9. Jh. zeugen. Schriftquellen berichten, daß der 1044 verstorbene Abt Hilarius die Kirche des hl. Vincenz völlig ausmalen ließ. In Rocchetta sieht man in der Portallünette Reste eines sehr zerstörten Freskos, eine Madonna mit Kind zwischen zwei kerzentragenden Engeln. Im Kircheninnern haben sich äußerst beschädigte Malereien an der linken Langhauswand erhalten. Neben der Riesengestalt des Christophorus, der die gesamte Höhe der Malfläche einnimmt, erscheinen weitere ganzfigurige Heilige rechts und links von ihm in halber Größe und in zwei Reihen übereinander angeordnet. Jeder Heilige steht in einem rechteckigen Rahmen, den weiße Tupfer gleich Perlschnüren zieren. Nicht mehr lesbare Beischriften benannten die Figuren. Zu identifizieren ist allein der breitbeinig dastehende Onophrius in der Mitte der oberen Reihe rechts vom Christophorus. Links unten neben dem Riesen erscheint ein geistlicher Würdenträger im reichen Ornat. Sein Kopf ist nicht mehr erhalten, und seine Linke liegt auf dem Haupt eines Mannes ohne Heiligenschein, den wir als Auftraggeber des Bildes ansehen können. Dieser zeigt das besterhaltene Gesicht von allen Figuren, plastisch modelliert und mit großen Augen.
In der Krypta des Domes von Trivento, die um 1200 entstanden sein dürfte, sind im rechten Raumteil auf den Flächen der Pfeiler byzantinisierende Malereien erhalten, ein Diakon mit Tonsur in reicher Kleidung, an anderer Stelle ein Mönch mit Heiligenschein, langem weißem Bart und schwarzweißem Gewand. Daneben sind noch Spuren einer Kreuzigung mit Maria und Johannes zu erkennen.
Die Malereien der ersten Jahrzehnte des 13. Jh. in den Abruzzen tradieren kampanisehe Gewohnheiten, ohne auf bestimmte Vorbilder zurückzugehen. In diesen Umkreis gehören die Fresken in dem Kirchlein S. Maria del Monte, einem kleinen Wallfahrtsort, den man nach einer 4,5 km langen Steigung von Civita d' Antino aus erreicht. Die Apsisbilder sind sehr verschmutzt und bedürften einer sorgsamen Reinigung. In der Kalotte sitzt der von zwei Engeln umgebene Erlöser auf einem Thron ohne Rückenlehne. Mit seiner Rechten spendet er den lateinischen Segen, und seine Linke hält ein aufgeschlagenes Buch mit den Worten: »Ego sum rex celi plurimos de morte rederni«. Die plastisch modellierten Gesichter erinnern an ähnliche Formen in La Rocchetta und an das unpublizierte Lünettenfresko Gottvaters über dem Portal von S. Maria delle Grazie in Civitaquana.
Die Fresken in der Krypta von S. Giovanni in Venere, deren Entstehung die ältere Forschung für gleichzeitig mit dem Bau hielt und in die Zeit des 1204 gestorbenen Abtes Odorisius 11. datierte, sind bei genauerer Betrachtung uneinheitlich und zum Teil viel später angefertigt worden. Allein das Fresko in der Mitte der Hauptapsis kann dem Anfang des 13 .]h. zugeordnet werden. Ober dem Fenster thront auf dem Himmelsbogen in einer von zwei Engeln getragenen Mandorla der Erlöser; mit der einen Hand macht er den Segensgestus, und in der anderen hält er ein aufgeschlagenes Buch. Neben der Lichtöffnung stehen links der Täufer und rechts der hl. Benedikt, wie die Mönchskutte und die An (S. 181) fänge der Beischrift erkennen lassen. Neben Benedikt kniet eine Devotionsfigur, der Stifter des Bildes. Er nennt sich in einer kaum noch lesbaren Inschrift: ,.Hoc opus fieri feeit Fr. Provenzanus«. Die gesamte Darstellung ist stark beschädigt und übermalt. Die stilistischen Beziehungen zu Kampanien und Montecassino sind sehr locker, und es zeigt sich wie auch in Civita d'Antino ein abruzzesischer Lokalstil, allerdings von mäßiger Qualität.
Die Darstellung des Jüngsten Gerichts ist in den Abruzzen sehr verbreitet. Dieses Thema wird in Pianella und Moscufo in der Mittelapsis behandelt, in Bominaco an beiden Langhauswänden, in Ronzano an der Nordwand des Querhauses, in Fossa an der Innenwand der Fassade und in S. Maria Assunta in Pescosansonesco an der Rückwand der Kirche.
Das älteste Beispiel ist in S. Angelo in Pianella erhalten, meistens zu früh datiert und wohl erst dem zweiten Viertel des 13. Jh. zuzuschreiben. In der Mitte der Kalotte sitzt der Erlöser mit ausgebreiteten Armen auf dem Himmelsbogen. Er zeigt die ]nnenflächen seiner Hände, auf denen die Wundmale der Kreuzigung sichtbar sind. Die Figur wird von konzentrischen Kreisbändern eingeschlossen, von denen das mittlere ein Sternenmuster ziert, wohingegen das innere und äußere gleich wie der Himmelsbogen gezackt sind, ebenso wie es schon die Einfassung des Weltenrichters in S. Angelo in Formis zeigt. ]n Pianella werden die konzentrischen Kreise durch den Wechsel dunkler und heller Farbtöne besonders akzentuiert. Vorherrschend ist ein kräftiges mit Rot vermischtes Gelb. Den Weltenreif stützen oder drehen zwei Engel, ein Motiv, das, wie die Wundmale der Hände, der Ikonographie der Himmelfahrt Christi entlehnt ist. Die Engel sind typisch abruzzesisch gebildet. Ungestüm greifen sie in das Rad, und ihre heftige Bewegung erstarrt in den Gewandfalten zum bizarren Ornament. Ihre wilde Aktion steht im Gegensatz zu der Ruhe, die die Gestalt des Erlösers ausströmt. In der unteren Zone sind die Beisitzer des Weltgerichts, die Apostel, dargestellt. Ihre Gesichter sind plastisch modelliert, und der Künstler ist bemüht, einem jeden ein individuelles Aussehen zu verleihen. Die Apostel werden durch zwei Engel, die sich in der Mitte unter dem Erlöser befinden, in zwei Gruppen geteilt. Die Engel halten Spruchbänder mit gotischen Lettern. Die Inschrift des rechten ist noch lesbar und lautet: »Ire maledicti in ignem aeternum dicit Dominus«. Analog muß sich die Schriftrolle des linken Engels auf die ins Himmelreich Erwählten bezogen haben. Daraus ist auf eine weitere Zone nicht erhaltener Malereien zu schließen, die auf der linken Seite die Rechtschaffenen und auf der rechten die Ausgestoßenen darstellten, wie es später in Moscufo zu sehen ist. Die Fresken von Pianella sind von hoher Qualität. Natürlich war das Programm im benediktinischen Umkreis vorgegeben, aber es sind in jeder Hinsicht, auch im Verhältnis zu S. Angelo in Formis, Abweichungen erkennbar. Vor allem zeigt sich der Maler in der künstlerischen Ausführung sehr eigenwillig und entwickelt einen beachtlichen eigenständigen Stil.
Im Nationalmuseum von L'Aquila befindet sich das nicht gut erhaltene Fresko aus der Apsis von S. Maria di Cartignano bei Bussi. Die Rundung wurde nach den originalen Maßen der Apsis nachgebildet. Man sieht das byzantinische Thema der Deesis, den Weltenherrscher zwischen Maria und dem Täufer. Zwischen Sonne, Mond und Sternen sitzt Christus auf dem Kissen eines Thrones, die Rechte im griechischen Segens gestus erhoben. Die Linke hält das Buch mit den Worten: »Ego sum lux mundi«. Mit den Pflanzen und Bäumen im unteren Teil des Bildes wird das Paradies angedeutet. Laut der heute verderbten Inschrift datierte und signierte ein sonst unbekannter Maler Armaninus aus Modena sein Fresko 1237. Als Auftraggeber nennen sich drei Mönche, vermutlich Angehörige des Klosters S. Maria di Cartignano, Jakobus, Petrus und Gentile. Sie wandten sich an einen auswärtigen, vielleicht durchwandernden Maler, der mit dem abruzzesischen Lokalstil nicht vertraut war und byzantinische Vorbilder benutzte, die das italienische Südreich vermitteln konnte. Bei Restaurierungen der Klosterkirche kamen 19681r969 noch weitere Freskoreste in der Apsis zum Vorschein. Man nahm sie von der Wand ab, spannte sie in sechs Rahmen ein und brachte sie ebenfalls in das Museum von L' Aquila.
Der Innenraum von S. Giusta in Bazzano ist mit mittelalterlichen Malereien ausgestattet, von denen einige in den Zeitraum zwischen 1138, dem Datum des Hauptportals, und 1250 anzusetzen sind. In der Lünette über der Tür im Innern befindet sich eine herkömmliche Deesis, die segnende Halbfigur des Erlösers zwischen Maria und Johannes. Auf der rechten Langhauswand sieht man Reste eines Christuskopfes mit Kreuznimbus und einem Heiligenschein, dessen Reif mit den so häufig begegnenden weißen, einer Perlschnur gleichenden Tupfen verziert ist. Auf vier schlecht erhaltene Heilige, die von einer rechteckigen Rahmung eingefaßt werden, folgt eine zu wenig beachtete Madonna, eine Vorstufe zu den späteren abruzzesischen Madonnenikonen. Die Darstellung zeigt eine strenge Symmetrie. Maria und der Knabe sind in Frontalansicht gezeigt, das Kind sitzt gen au in der Mitte auf dem Schoß der Mutter. Zu seiten des Marienkopfes schweben zwei Engel, und links unten kniet neben der dekorierten Thronwange ein Stifter.
Die 1915 zerstörten Fresken von Alba Fucense sind kaum noch zu interpretieren. Nach noch vorhandenen Photographien scheint es, daß stadtrömische Einflüsse, die die Gestaltung der Kanzel, der Chorschranken und des Ziboriums in S. Pietro bestimmten, auch in den Malereien wirksam wa ren. Die Rahmung, gewisse Ornamente, das Fragment einer Kreuzigung und eine Figur mit Heiligenschein könnte man vielleicht mit den um 1146 entstandenen Fresken in der Silvesterkapelle in S5. Quattro Coronati in Rom in Verbindung bringen.
In Mittelitalien, vornehmlich in Latium, Umbrien und der Toskana, war die Herstellung bemalter Holzkruzifixe üblich. Die Abruzzesen dagegen haben sich gescheut, den gekreuzigten Heiland in dieser überkommenen Weise zur Schau zu stellen. Das einzige Beispiel findet man im Nationalmuseum von L'Aquila (Tf. 141). Es ist ein großes lateinisches Holzkreuz, auf dem die Christusgestalt in Tempera (S. 182) gemalt wurde. Es stammt aus dem Klostermuseum in S. Clemente a Casauria, aber es ist nicht sicher, ob es ursprünglich Casauria oder einer anderen abruzzesischen Kirche gehörte. Das Bild ist sehr zerstört, nur der Kopf mit dem Kreuznimbus, die waagerecht ausgebreiteten Arme und Teile des Oberkörpers sind noch sichtbar. Das Gesicht des Heilands wirkt gütig mit den großen offenen Augen eines lebenden Menschen und zeigt noch nicht die leidenden Züge des Gemarterten, wie es in der zweiten Hälfte des 13. Jh. in Mittelitalien zur Gewohnheit wird. Die weiche Modellierung des Körpers zeugt von hoher Qualität und läßt sich am ehesten mit gemalten latialen Kruzifixen vergleichen. Unmittelbar unterhalb der Kreuzarme verbreitert sich der Stamm in etwa einem Drittel seiner Länge, so daß seitlich schmale Felder entstehen, in denen -sehr verblaßt -die Darstellungen von Maria und Johannes d. T. erscheinen. Eine Datierung um die Mitte des 13. Jh. scheint durchaus möglich zu sein.
Nach der Jahrhundertmitte trifft man eine Gruppe von Fresken an, die einen beachtlichen lokalen Stil zeigt, der aber kaum von einer einzigen Werkstatt entwickelt worden ist. Dazu gehören die wenig oder gar nicht bekannten Malereien in S. Paolo di Peltuino bei Prata d'Ansidonia, in S. Pietro in Caporciano und die Fresken in S. Tommaso in Varano bei Caramanico. In S. Paolo di Peltuino sieht man arg zerstörte Bilder in dem Wand feld unterhalb des ersten Schildbogens an der rechten Langhauswand. Die Mitte nehmen vier stehende Heilige mit kräftig modellierten Gesichtern ein. Der zweite von rechts ist Paulus mit dem Schwert, links von ihm stehen zwei hll. Bischöfe. In kleinerem Maßstab sind links und rechts in Höhe der Bogenansätze Szenen aus dem Leben des Titelheiligen der Kirche dargestellt. Die rechte Seite zeigt die Steinigung des Stephanus in Anwesenheit des Saulus. Gegenüber sieht man die Bekehrung Pauli. Auf die Mahnung Christi richtet sich Paulus von der Erde auf. Er ist geblendet, denn »als er seine Augen auftat, sah er niemand«.
In S. Pietro in Caporciano haben sich kümmerliche Reste von einer Grablegung erhalten. Zu erkennen sind noch der Kopf des Heilands und Bruchstücke des in das Leichentuch eingehüllten Körpers. Weit vorgebeugt schmiegt sich Maria an das Gesicht Christi. Rechts hinter ihr stehen die gespannt beobachtenden Marien. Die zwei darauffolgenden Figuren scheinen am Vorgang unbeteiligt, als hätten sie mit der Grablegung nichts zu tun. Eine gekrönte Frau mit Heiligenschein (Tf. 140), ein Gefäß vor sich haltend, hat ihr Gesicht teilnahmslos von der Szene abgewendet. Neben ihr steht ein Mönch mit Heiligenschein und erhobener Hand, der in seiner Linken ein aufgeschlagenes Buch trägt. Die Ränder der Heiligenscheine und Reste der Bildrahmung zeigen die weiße Tüpfelung in Art einer Perl schnur. Die prachtvollen großen Gesichter werden durch kräftige dunkle Binnenzeichnung charakterisiert. Ausdrucksvoll und lapidar ist das Antlitz Christi gegeben, zwei parallele Striche markieren die Nase, an der oben in einem akzentuierten Winkel die Augenbrauen ansetzen. Die Trennung von Kopf und Hals bei den Marien und der Königin geschieht durch eine einzige geschwungene kräftige Linie, während die Bärte, die Christus und der Mönch tragen, durch kurze parallele Strichlagen gebildet sind.
Wenig beachtet sind die Fresken von S. Tommaso in Varano. Es ist der einzige Fall in den Abruzzen, wo man eine zusammenhängende christologische Szenenfolge auf einer Pfeilerfläche anbrachte. Am vierten Pfeiler der rechten Langhausseite sind drei Szenen aus der Passionsgeschichte übereinander dargestellt (Tf. 138), oben die Kreuzabnahme, dann die Grablegung und schließlich der Abstieg in die Vorhölle, ein Thema, das die Reliefkunst schon früher an der Ikonostasis von S. Pietro in Alba Fucense gestaltet hatte. Die Drängung eines Abschnittes aus der Lebensgeschichte auf nur einer Pfeilerfläche wirft die Frage auf, ob nur dieser Auszug aus dem Leben Christi ausgewählt worden ist oder andere Pfeiler weitere Malereien trugen, die Szenen aus seinem Leben schilderten. Von größter Anschaulichkeit ist die Kreuzabnahme. Der Maler wendet dabei formale Kunstgriffe an. Das Gabelkreuz ist aus der Bildmitte nach rechts verschoben, um genügend Platz für die schräg angesetzte Leiter zu gewinnen, auf der Joseph von Arimathia den Leichnam herabnimmt. Die Form der Gabel wurde gewählt, um in genügender Größe die Assistenzfiguren, je zwei auf jeder Seite, unterbringen zu können. Damit wurden überschneidungen vermieden, die die Form des lateinischen Kreuzes verursacht hätte. Der Heiland mit dem gotisch geschwungenen Körper zeigt eigentümlich gemalte Füße. Sein rechtes Bein erscheint in Vorderansicht, das linke legt sich darüber, wohingegen dessen Fuß in Seitenansicht dargestellt ist. Rechts unten am Kreuz kniet eine Stifterfigur.
Die Grablegung zeigt Christus auf einem Marmorsarkophag; Maria umarmt ihn, daneben sieht man die beiden anderen Marien und ]oseph von Arimathia. Die Christusfigur in der Darstellung des Limbus ist wieder leicht aus der Mittelachse des Bildes nach rechts versetzt. Seine rechte Hand mit dem Wundmal greift die des inschriftlich bezeichneten Adam, der auf der linken Seite steht; unter diesem schaut die ebenfalls namentlich genannte Eva zum Erlöser auf. Die rechte Gruppe stellt laut Inschrift die Propheten dar.
Die Fresken von S. T ommaso sind stilistisch mit den Wandgemälden in Caporciano verwandt, allerdings sind ihre kleineren, schematisch gebildeten Gesichter von geringerer Qualität. Trotzdem sind Ähnlichkeiten nicht zu verkennen. Die Form der Wickelung des Leichentuches ist in beiden Grablegungsdarstellungen fast identisch. Die Binnenzeichnung der Gesichter wird wiederholt, das rechtwinklige Aufeinandertreffen der Linien von Nase und Brauenbogen, die Strichelung der Bärte und das Absetzen des Kopfes vom Hals durch einen einzigen Linienzug. Die Rahmung mit weißen Tupfen gleich einer Perlschnur kennt S. Tommaso ebenso wie Caporciano. Im Ganzen jedoch ist in S. Tommaso die Gestaltung spröder, einfältiger und weniger künstlerisch.
Wohl gleichzeitig mit den Passionsszenen ist der Christophorus (Tf. 139) am dritten linken Langhauspfeiler anzuset (S. 183) zen. Er ordnet sich in die Reihe der großformatigen abruzzesischen Christophorusdarstellungen ein. Die Figur nimmt die ganze Höhe des Pfeilers ein. Der Heilige erscheint in Frontalansicht, reich gekleidet wie ein byzantinischer Prinz. In seiner linken Hand trägt er das federleicht erscheinende segnende Christuskind. Das Wasser, das er mit seiner Last durchwatet, wird durch Querriefelungen und einen naturalistisch geformten Fisch angedeutet.
Die Ausmalung von S. Pellegrino in Bominaco zählt zu den bedeutendsten Leistungen abruzzesischer Malerei im 1 3. Jh., der in dieser Zeit im gesamten Süditalien kaum Vergleichbares zur Seite steht. Wie aus Inschriften in und an der Kirche hervorgeht, wurde der Bau 1263 von Teodinus, Abt von S. Maria in Bominaco, errichtet.
Wandvorlagen teilen den einschiffigen, von einer zugespitzten Tonne gewölbten Raum in vier Joche (Abb.35). Das Außenlicht dringt nur spärlich ein. Die Baudekoration tritt zugunsten großer bemalter Wandflächen in den Hintergrund, und das Zusammenspiel von Architektur und Malerei läßt auf eine gleichzeitige Entstehung schließen. Alle Wände -auch in der Gewölbezone -sind von Fresken überzogen. Die Langhauswände, mit Ausnahme der beiden ersten Joche, zeigen eine Reihe figürlicher Darstellungen, während sich in der Gewölbezone zwei Bildreihen übereinander hinziehen. Die Bildfelder haben verschiedene Größe, wodurch das architektonische Raumgefüge verwischt wird. Die Trennung der einzelnen Szenen erfolgt durch interessante Ornamentstreifen, deren Muster auch in der abruzzesischen Reliefplastik vorkommen, und deren gemeinsame Wurzel in der Buchmalerei zu suchen ist.
Wie früher bereits gesagt, sind die Zyklen nicht im Zusammenhang dargestellt, sondern an verschiedenen Stellen auf der Wand verteilt. Gezeigt werden das Marienleben, die Jugendgeschichte Christi, die Passion, das Jüngste Gericht, das nur verkürzt durch Paradies und Hölle angedeutet wird, Patriarchen, Könige, Propheten des Alten Testaments, verschiedene männliche und weibliche Heilige. Zum öttlichen Themenkreis gehören die berühmten Darstellungen des Kalenders der Diözese Valva und die Szenen aus dem Leben des Titelheiligen Pellegrinus. Restaurierungen erfolgten in den Jahren 193711938, wobei man Votivbilder aus dem 14. und 15. Jh. von den Mauern ablöste, so daß vor allem in der unteren Zone die Malereien des 13. Jh. voll zum Vorschein kamen. Auf der den Einwirkungen des Wetters am meisten ausgesetzten Nordseite fehlen Fresken in den hinteren Jochen. Bei diesen war jede Restaurierung unmöglich.
Betritt man die Kirche durch den Haupteingang im Osten, so sieht man rechts vom Portal auf der Innenwand der Fassade den abruzzesischen Lieblingsheiligen Onophrius, dessen Körper von seinem grauen Barthaar bedeckt ist. In der Hand hält er ein Kreuz, und zu seinen Füßen kniet eine Devotionsfigur, deren Name, Maria, in einer Beischrift genannt ist. Ober Onophrius steht der hl. Franz von Assisi mit ausgebreiteten Armen. Rechts davon nimmt der hl. Christophorus die ganze Höhe der Fassadenwand ein. Er trägt eine rote Tunika, die mit einer schwarzen Borte, worauf weiße Blumen sind, verziert ist. Zwischen seinen nackten Beinen im Wasser erscheint ein Spruchband, dessen Inschrift sich auf den Volksglauben bezieht, daß derjenige, der morgens beim Austritt aus seinem Haus das Bild des Heiligen erblickt, desselben Tages von keinem plötzlichen Tod ereilt wird. Aus dieser Vorstellung erklärt sich die Tatsache, daß der Heilige in Riesengestalt so häufig an Außenwänden von Kirchen dargestellt wurde. Ober dem Hauptportal erkennt man zwei Propheten übereinander, deren Schriftbänder auf den Einzug Christi in Jerusalem und auf die Fußwaschung auf der linken Seite der Fassadenwand Bezug nehmen. Zacharias (I, 9) verkündet »Ecce rex tuus veniet tibi humilis« und Jesaias (1, 16) »Lavamini mundi estote«. Im Scheitel des spitzbogigen Tonnengewölbes steht das Gotteslamm mit Nimbus. Auf der linken Seite der Wand wird unten die erwähnte Fußwaschung gezeigt mit einer schönen Gruppierung der Figuren, darüber der Einzug Christi in Jerusalem mit den üblichen Episoden, wie dem Ausbreiten des Tuches vor dem Palmesel und dem zuschauenden Jüngling im Baum. Ober dieser Szene kann man mit einiger Mühe noch Reste von der Darstellung des Kindermordes in Bethlehem erkennen.
Im ersten Joch der südlichen linken Langhauswand lassen sich die Geschichten Mariens und Christi von oben nach unten ablesen. In der Gewölbezone oben links (Tf. 142) verkündet Gabriel die Botschaft an Maria. Die Szene spielt vor eigentümlichen hochaufragenden Kuppelbauten. Zwischen dem Engel und der Jungfrau steht eine Spiralsäule mit Pflanzenkapitell. In einem komplizierten Raumgefüge schließt sich rechts daneben die Heimsuchung an. Elisabeth und Maria begegnen sich mit eindringlichen Gebärden. Sie sind von Mägden begleitet, die wie in einer Theaterarchitektur aus Nebenräumen, die durch Vorhänge geschlossen sind, die Bühne des Geschehens betreten. Die ganze Breite dieser beiden Szenen nimmt darunter die Darstellung des Abendmahles ein. Christus sitzt an der linken Schmalseite eines langen Tisches, und Johannes ruht an seiner Brust. Alle Jünger richten ihre Blicke auf Jesus mit Ausnahme der dritten Gestalt links, die in die entgegengesetzte Richtung schaut. Judas, der einzige ohne Heiligenschein, kniet links vor dem Tisch, und seine Hände sind von einem Tuch verhüllt. Auf dem Tisch sieht man Brote, Fische, Eßbesteck und Gefäße.
Abb. 33: Bominaco, S.PellegrinoIm ersten Joch ist das Bildfeld auf der südlichen und nördlichen Langhauswand ausnahmsweise in der Horizontalen unterteilt, so daß zwei Bilderreihen entstehen. In der oberen Reihe der südlichen Langhauswand sieht man zwei Passionsszenen, links Judas die Silberlinge von den Hohen Prie (S. 184) stern übernehmend und rechts Christus vor Pilatus, der seine Hände in Unschuld wäscht. Die untere Bildzone zeigt spärliche Reste des Jüngsten Gerichtes. Nackte Verdammte erwarten ihr Urteil, Dämonen und Teufel sind am Werk, die Reichen zu quälen, und Luxuria erscheint von Schlangen umstrickt.
An der gegenüberliegenden nördlichen Langhauswand zeigt das Gewölbefeld im ersten Joch in der unteren Reihe eine äußerst schlecht erhaltene Darstellung, vielleicht die Weisen aus dem Morgenland bei König Herodes. Darüber befindet sich die Anbetung der Könige. Die unter einem Baldachin thronende Maria, mit dem im griechischen Gestus segnenden Kind auf dem Schoß, teilt das Bild in zwei Hälften mit verschiedenem Geschehen. Links vom Thron sieht man die Geschenke bringenden drei Könige heranschreiten, mit ihren Namen Kaspar, Baldassar und Melchior beschriftet. Sie verkörpern, wie auch sonst üblich, die drei Lebensalter. Auf der anderen Seite des Throns steht Joseph etwas vereinsamt. Rechts von ihm beginnt ein neues Ereignis. Herodes ordnet den Mord der Unschuldigen Kindlein an.
Auf der nördlichen Langhauswand im ersten Joch sind in der oberen Reihe drei Szenen von links nach rechts abzulesen. Auf die eindrucksvolle Geißelung (Tf. 144), wo Christus eine Spiralsäule wie hilfesuchend fest umklammert, folgt in der Mitte die Abnahme vom gabelförmigen Kreuz (Tf. 147) Maria links und Johannes rechts ergreifen die schlaff herabhängenden Hände des Heilands zum Kuß, während Joseph von Arimathia auf einer Leiter den leblosen Körper in die Arme schließen will. Rechts von dieser Szene ist die Grablegung dargestellt. Der untere Bildstreifen auf der Langhauswand im ersten nördlichen Joch zeigt wieder drei Bilder. Links erscheint Petrus mit einem Spruchband in der linken Hand, mit der rechten führt er den Schlüssel in das Schloß der Himmelstür, die den Eingang eines turmartigen Gebäudes bildet. Darauf folgen in der Mitte die mit Namen bezeichneten drei Erzväter. Links sitzt Abraham auf einem reich geschmückten Thron, er hat das Haupt zum Himmel erhoben und hält einen Bischof und einen Weltlichen in seinem Schoß. Isaak neben ihm hält drei Personen im Schoß, während der dritte Erzvater Jakob einen Mönch in schwarzer Kutte hält. Die Patriarchen werden durch Paradiesesbäume getrennt, nach deren Früchten kleine Figuren die Hände ausstrecken. Im drirten Bild rechts wägt Michael im Ornat eines Priesters das ungleiche Gewicht zweier nackter Seelen, und mit seiner Linken trägt er den Globus. Diese untere Bildreihe verbindet sicherlich ein Sinnzusammenhang. Es wird in gedrängter Form der Eingang der Auserwählten in das himmlische Jerusalem geschildert, während der entsprechende Bildstreifen auf der gegenüberliegenden Seite den anderen Teil des Jüngsten Gerichts behandelt, die Verurteilung der Verdammten. Im anschließenden zweiten Joch sind bei den Restaurierungen auf der Nordwand Malschichten zum Vorschein gekommen, die wenigstens im Gewölbe links die Darbringung Jesu im Tempel und rechts in Rudimenten den Zug der Drei Weisen nach Bethlehem erkennen lassen.
Besser erhalten sind im zweiten Joch die Malereien gegenüber an der südlichen Langhauswand. Im linken oberen Bildfeld des Gewölbes sieht man die Geburt Christi (Tf. 143) nach byzantinischem Muster. Die Schilderung dieses Ereignisses ist in drei Abschnitte unterteilt. In der Himmelszone sind drei Engel Zeugen des Vorgangs. Darunter liegt Maria in einer Höhle, deren geschwungene Kontur sie gleich einem farbigen Band umschließt; neben ihr steht die Krippe in Form eines quadratischen Kastens, unter diesem kauert Joseph, der sein Haupt auf die rechte Hand stützt. In der unteren linken Bildhälfte findet die Waschung des Kindes statt, an der drei Frauen beteiligt sind. In die stark byzantinisierende Komposition wird aber eine Figur eingeführt, die der östlichen Welt fremd war, die Anastasia. Sie ist inschriftlich mit ihrem Namen bezeichnet. Sie wird in provenzalischen und französischen Wunderlegenden des 12. Jh. erwähnt als Tochter der Leute, die Maria und Joseph in Bethlehem aufnahmen. Das Mädchen war ohne Arme zur Welt gekommen, die ihr aber im Augenblick nachwuchsen, als sie die Mutterschaft Mariens wahrnahm. Rechts vom Geburtsbild ist die Verkündigung an die Hirten dargestellt. In einer hügeligen rotfarbigen Landschaft verkündet oben rechts ein schwebender Engel die frohe Botschaft.
Unter Geburt und Verkündigung wird in der Gewölbezone die Lebensgeschichte des hl. Pellegrinus, des Titelheiligen des Kirchleins, erzählt. Er hat nichts mit dem Märtyrer gleichen Namens zu tun, der Bischof von Amiternum bei L' Aquila war und im Fluß Aterno den Tod fand, und dessen Fest auf den 13. Juni fällt. Das Fest des hier behandelten syrischen Heiligen ist laut des noch zu besprechenden Kalenders von Valva der 18. November. In sechs Szenen mit Architekturrahmungen werden Ereignisse seines Lebens vorgestellt. Links kniet der Heilige vor Christus. Die Architektur scheint eine Hieroglyphe der Stadt Rom zu sein, denn nach der Inschrift spielt sich der Vorgang in der Ewigen Stadt ab: ..De Siria sanctus Peregrinus venit ad Urbem«. Im rechts anschließenden Bild wird der Heilige von einem geißelnden Schergen vor einen thronenden König gezerrt. Ein Engel greift von oben in das Geschehen ein. In der folgenden Szene hält der große aufrechtstehende Heilige ein Buch und segnet einen Mann und zwei Frauen. Die zugehörigen Beischriften müßten noch genauer untersucht werden. Im vierten Bild hält Pellegrinus einer Gruppe von Menschen ein Spruchband vor: »!te baptizari«. Im vorletzten Gemälde (Tf. 145) zieht ein Scherge das Schwert, um eine kniende weibliche Gestalt zu töten. Die Beischrift lautet: »Tarquinii sponsam Christo facit ense murena ...«. Die letzte Begebenheit ist das Martyrium des Heiligen. Vor einem sitzenden Richter wird er von zwei Bütteln mit Lanzen durchbohrt.
Auf der südlichen Langhauswand dieses zweiten Joches sind unter den Pellegrinuserzählungen fünf Personen aus dem Neuen Testament abgebildet. Die Reihe beginnt links mit Johannes dem Evangelisten, auf den Petrus folgt. In der Mitte thront der segnende Christus mit den Worten: »Rex ego sum celi, plurimos de morte rederni«, eine Beischrift, die schon der Erlöser im Sanktuarium S. Maria del Monte bei (S. 185) Civita d'Antino zeigt. Rechts davon kommt Paulus, er trägt das Schwert in der einen Hand und erteilt mit der anderen den Segen. Den Beschluß dieser Gruppe bildet der segnende Jakobus minor.
Die Fresken des nächstfolgenden dritten Joches sind auf der Südwand von unten nach oben zu lesen. Auf der Langhauswand erscheint links Christus mit realistischem Gehabe in bäuerlicher Tracht den zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus. Auf dem anschließenden Bild rechts sieht man den hl. Martin auf einem Schimmel, wie er seinen Mantel mit dem Schwert teilt, um die eine Hälfte einem Armen zu überlassen.
Im Gewölbefeld erscheint in der unteren Reihe die erste Hälfte des Kalenders des Bistums Valva (Tf. 146), zu dem Bominaco gehörte. Die Festtage des Kirchenjahres und der Heiligen wurden im 13. Jh. noch von den jeweiligen Diözesen bestimmt. Bei den Gemälden von Bominaco dienen jedem Monat zwei langrechteckige Felder, von denen ein jedes oben von einem Dreipaßbogen begrenzt wird. Jedes linke Rechteck ist mit einer Figur ausgestartet, die den betreffenden Monat versinnbildlicht. Das entsprechende rechte Feld zählt die Tage eines Monats auf, auf die ein Gedenktag fällt. über den Textfeldern sieht man in dem Dreipaßbogen die Zeichen des Zodiakus. Die Lesung der Monate edolgt von links nach rechts. Ein sitzender Mann mit Zipfelmütze, der sich über offenem Feuer die Hände wärmt, verkörpert den Monat Januar. Den Februar bezeichnet ein Mann, der die r Zweige eines Baumes beschneidet. Der März ist die Nachbildung der antiken Statue des Dornausziehers. Der April ist ein Mann mit Hut und kurzer Tunika, der in jeder Hand eine Blume trägt. Der Mai erscheint als Reiter mit einer Blume in der Rechten; das in Seitenansicht dargestellte Pferd ist, wegen der schmalen zur Verfügung stehenden Malfläche, arg zusammengedrängt und erinnert an ein Spielzeug. Der Juni wird durch einen Mann versinnbildlicht, der die Früchte eines Baumes in seinen Korb sammelt.
Im oberen Streifen des Gewölbefeldes stellen sich vier in ganzer Figur abgebildete Vertreter des Alten Testaments vor, die durch ihre Beischriften von links nach rechts als Moses, Hiob, Jonas und Jesaias zu erkennen sind.
Die Malereien im dritten Joch auf der Nordseite sind äußerst schlecht erhalten. In der unteren Reihe der Gewölbezone erscheint die zweite Jahreshälfte des Kalenders von Valva, die im einzelnen kaum noch zu entziffern ist. Darüber befinden sich fünf Vertreter aus dem Alten Testament in Ganzfigur mit Spruchbändern. Auf Adam an der linken Se.ite folgen Daniel, Samuel, Salomon mit dem Szepter, und an letzter Stelle rechts steht Elias.
Die Malereien hinter den Chorschranken haben nicht mehr die Bedeutung wie die übrigen Gemälde. Es sind dies die Fresken in den Feldern des vierten Joches, an der Rückwand der Kirche sowie am Gewände des dortigen Treppenaufgangs. über diesen erreicht man eine hoch in der Westwand gelegene Tür, deren Lage durch das ansteigende Terrain bedingt ist. In diesem Raumabschnitt fehlen szenische Darstellungen, es werden nur noch einzelne Heilige und Gestalten aus dem Alten Testament vorgestellt. Der Programmgestalter dieser Fresken zeigt eine Vorliebe für die Propheten, die im rückwärtigen Teil der Kirche als Büsten in Medaillonform erscheinen. Wegen des schlechten Erhaltungszustandes sind sie schwer zu identifizieren. Von insgesamt dreizehn Büsten im vierten Joch auf der Nordseite sind noch neun erkennbar. Gegenüber auf der Südwand lassen sich in der Gewölbezone von fünf Prophetendarstellungen drei bestimmen, es sind Hesekiel, Joel und Habakuk, und unter ihnen ist noch Abdias abgebildet mit dem Spruchband: »Audivimus a Domino et legatum ad gentes«. An der Rückwand der Kirche sind zwei Medaillons erhalten. Im linken wird aufs neue der Prophet Joel dargestellt, und die Figur rechts von ihm ist als Hosea zu deuten. Eine Gruppe von Heiligen befindet sich im vierten Joch im südlichen Gewölbefeld neben dem Abdias, bestehend aus Nikolaus im Gewand der griechischen Bischöfe, der hl. Lucia und dem Evangelisten Johannes. Mit einer anderen Versammlung von Heiligen ist das Treppengewände versehen. Dazu gehören Leonhard mit einer weiß gekleideten Stifterfigur und die als orientalische Prinzessin dargestellte Margarethe, die einen schwarzen Teufel an den Haaren hält. Neben einer nicht zu erkennenden Figur folgt die Madonna mit dem Kind.
Manche Stil elemente, die nur in Bominaco vorkommen und keinerlei Entsprechungen in der sonstigen abruzzesisehen Wandmalerei haben, stehen mit cassinesischen Miniaturen in Verbindung. Von dort abhängige Skriptorien waren zahlreich in den Abruzzen vertreten. In diesem humanistischen Umkreis ist auch der Auftraggeber Abt Teodinus von Bominaco zu Hause. Die Entstehungszeit der Malereien ist einheitlich um 1263, jedoch sehen wir verschiedene Künstler am Werk. Enzo Carli hat sich als erster um die Händescheidung bemüht und überzeugend drei Meister herausgestellt. Zunächst unterscheidet er den Maler der Passion Christi. Von ihm stammen auf den Langhauswänden Abendmahl, Geißelung, Kreuzigung, Grablegung, Christus auf dem Weg nach Emmaus und der hl. Martin, weiterhin die Fresken auf der Eingangswand im Osten, die Malereien auf dem Treppengewände im Presbyterium und die schlecht erhaltenen Reste auf der Rückwand des Chores. Er zeigt die monumentalste Gestaltungsweise und arbeitet weniger mit malerischen als mit graphischen Mitteln. Er umreißt die Konturen seiner Figuren mit dunklen, markanten Strichen. Seine Linienführung ist großzügig und häufig durch parallele Strichlagen akzentuiert. Ihm fehlt der Zug zum Ornamentalen sowie die Freude an der architektonischen oder landschaftlichen Szenerie. Dementsprechend zeigt er auch kein Gefühl für räumliche Tiefe, wie die Fußwaschung, die Kreuzabnahme oder der hl. Martin erkennen lassen. Eine andere Malweise zeigt der Meister der Jugend Christi. Er hat Geschmack am byzantinischen Formengut. Seine figuren sind zierlicher und bewegter als die des Passionsmalers. Er liebt das Beiwerk in Form von vielgestaltigen landschaftlichen Hintergründen und schwer verständlichen Architekturstaffagen mit Kuppelbauten. Im Gegensatz zum ersten Meister zeigt er ein größeres malerisches Talent, gleichzeitig (S. 186) aber ist seine Linienführung kleinteiliger und ornamental verspielter. Er vermeidet großflächige Frontal-und Profilansichten. Mit Ausnahme des Abendmahles verfertigte er die Malereien in den Gewölbefeldern der ersten beiden Joche. Der dritte Meister ist der sogenannte Miniaturist. In Anlehnung an frühgotische Miniaturen malte er den Kalender von Valva. Ihm liegt die Kleinmalerei mehr als die Behandlung großer Flächen. Charakteristisch für ihn sind die manieristische Art der Drapierung, rotfleckige Gesichter, kleine rundlich gebildete Hände. Seine Bilder sind sehr buntfarbig. Er hat Sinn für das Ornamentale und bemüht sich durch Schattierung um plastische Gestaltung. Der Miniaturist ist der Autor aller Malereien in den beiden Gewölbefeldern der dritten Jochzone.
Der Freskenzyklus von S. Maria delle Grotte in Fossa ist neben dem von S. Pellegrino der umfangreichste der Abruzzen. Die Datierung von Fossa muß nach 1263, der Entstehungszeit der Fresken von Bominaco, angesetzt werden, weil inhaltlich und formal ganze Partien von dort übernommen wurden. Beide Werkstätten zeigen einen ausgesprochenen lokalen Stil. Auch die Künstler von Fossa sind noch sehr stark an die byzantinische Ikonographie gebunden. Französische Einflüsse sind nicht auf direktem Wege eingedrungen sondern werden aus Bominaco übernommen. Das zeigen die hll. Georg und Mauritius, die sich an den hl. Martin in Bominaco anlehnen. Auch die französisierenden Monatsbilder sind Ableitungen von S. Pellegrino, allerdings sind sie vereinfacht, weniger elegant und nicht so farbig gestaltet. Die Malereien müssen vor 1281 beendet gewesen sein, da wir in den mit dieser Jahreszahl datierten Fresken von S. Maria in Ronzano und denjenigen in S. Spirito bei Fossa von 1280 Zyklen vor uns haben, die die von Fossa voraussetzen.
Das Langhaus von S. Maria delle Grotte ist ein rechteckiger, einschiffiger Raum, durch Wandvorlagen in drei Joche von gleicher Größe gegliedert. Zwei Stufen führen zum quadratischen Chor hinauf, dessen Achse im Verhältnis zu der des Hauptraumes leicht nach rechts verschoben ist. Die Tiefe des Chores entspricht der eines Langhausjoches. In die Ecken des Chores sind Säulen gestellt, deren Knospenkapitelle Gewölberippen und Schildbogen tragen. Der Chorraum erhält Licht durch je einen schmucklosen Fensterschlitz in jeder der drei Außenwände. Wie in S. Pellegrino ist der Hauptraum sehr einfach gehalten, damit sich auf den Wandflächen die Malerei frei entfalten konnte. Viele Fresken stammen aus späteren Jahrhunderten. Aus der Zeit zwischen 1260 und 1280 sind nur erhalten die Malereien im Chor, am Triumphbogen, an der rechten Langhauswand mit Ausnahme des unteren Feldes im zweiten Joch, sowie an der Eingangsfassade. Im Chor verläuft in Höhe der Knospenkapitelle ein breites gemaltes Ornamentband, das die Fresken auf dem unteren Wandabschnitt von denen in den Lünettenfeldern trennt. Letztere sind durch Vertikalstreifen fünffach unterteilt, und es erscheinen dort Christus, die Apostel und die Jünger. In der Lünette der linken Chorwand sind nur noch die beiden rechten Standfiguren erhalten, durch Inschriften als Bartholomäus und Thaddäus bezeichnet. Im Lünettenfeld der Rückwand steht links der mit einem Fell bekleidete Täufer mit einer Schriftrolle in der Linken. Es folgt Paulus mit rotem Gewand. Ober dem Fensterschlitz erscheint der thronende Christus als Halbfigur, in der Linken hält er ein geöffnetes Buch, worin geschrieben steht: »Ego sum lux mundi«. Danach kommt Petrus (Tf. 157), und als fünfte Figur des Feldes erscheint Johannes der Evangelist. Mit den Lateinkenntnissen unseres Malers stand es nicht zum besten. Die Worte des Evangelisten »In principio erat« stehen im aufgeschlagenen Buch auf vertauschten Seiten. Sie beginnen rechts und enden links. Die beiden ersten Worte »In principio« nehmen allein 1 1/2 Seiten ein, so daß noch »erat« folgen konnte, aber es fehlt das Hauptwort des Satzes, »verbum«. Dem Meister muß sein Unvermögen bewußt gewesen sein, denn die Schriftrolle des Täufers ist zwar liniert, aber die Zeilen bleiben leer und tragen keinen Text. Im Lünettenfeld der rechten Chorwand sind links Simeon, neben ihm Jakobus und als letzter Lukas benannt.
Wichtiger sind die Szenen auf den unteren Wandabschnitten. Sie haben die Lebensgeschichte Christi zum Inhalt. Die Darstellungen beginnen an der linken Chorwand mit dem Abendmahl (Tf. 152), das die Anordnung des Freskos gleichen Themas in Bominaco wiederholt. Auf dem langgezogenen, mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch befinden sich Gefäße, Eßbestecke, Brote und Wurzelgemüse. Links an der Tafel sitzt Christus mit Johannes. Es folgen Petrus und die übrigen Jünger, die über ihren in den Farben abwechselnden Heiligenscheinen namentlich bezeichnet sind. In kleinerer Proportion steht Judas vor dem Tisch, bartlos und ohne Heiligenschein. Er ist die einzige Profilfigur. Mit beiden von einem Tuch umhüllten Händen nimmt er aus der Rechten Christi das Brot entgegen. Bominaco und Fossa gehen bei der Gestaltung dieses Themas auf die gleiche Vorlage zurück. Aber die künstlerische Durchführung ist so grundverschieden, daß die Maler nicht identisch sein können. Der Maler von Bominaco läßt Raum zwischen den einzelnen Gestalten, während sie sich in Fossa ineinanderschieben als seien sie körperlos, auch sind die Gesichtsausdrücke unbeteiligter als in Bominaco. Rechts vom Abendmahl erscheint in einer Rahmung aus Zahnschnittmuster die schön gegliedette Szene des Judaskusses (Tf. 151). Jesus und der Verräter begegnen sich aufeinander zuschreitend. Judas im Profil und mit einem klein gebildeten Kopf kommt von rechts, während Christus, gleichsam des Vorgangs nicht achtend, aus dem Bild herausblickt, sich dem Beschauer zuwendet und seine Rechte dem Petrus hinstreckt, der am linken unteren Bildrand erscheint und soeben den Malchus kläglich zugerichtet hat. Kriegsknechte mit Hellebarden und Schilden füllen den Hintergrund, und Kaiphas im roten Gewand bildet rechts den Abschluß der Szene. Die Passionsgeschichte wird auf der Rückwand des Chores fortgesetzt. Links sieht man das besonders eindrucksvolle Bild der Geißelung (Tf. 15}) im Beisein des Pilatus, der in einer kunstvollen Nische auf einem kostbaren Thron sitzt. Sein weißes Gewand, das sich in vehementem Schwung über seinem Schoß bauscht, ist an den Rändern der Ärmel und auf der (S. 187) Brust mit goldenem Besatz verziert. Höchst expressiv ist die schmale, teilweise vom Marterpfahl überschnittene Gestalt Christi, die mit Stricken an eine prächtige Säule gebunden ist, deren Kapitell, wie in Bominaco, das Bildfeld sprengt und über die gemalte Architekturrahmung hinausragt. Jesus, von den Knien an aufwärts an die Säule gepreßt, so daß sein Körper eins mit ihr wird, überragt die Schergen und erscheint übernatürlich groß. Durch ihre Profilstellung sind die Büttel als Bösewichter gekennzeichnet.
Das Mittelbild unter dem Fensterschlitz zeigt den Gekreuzigten. Sein gotisch geschwungener Körper mit dem leidenden Gesicht ist mit drei Nägeln an das lateinische Kreuz geschlagen, und die durchhängenden Arme mit übergroßen Händen sind stark akzentuiert. Unter dem Kreuz stehen mit konventionellen Gebärden Maria und Johannes, und über den Kreuzarmen erscheinen die Halbfiguren zweier Engel.
Das rechte untere Feld der Chorrückwand ist in der Horizontalen zweigeteilt. Im oberen Abschnitt erscheint die Grablegung (Tf. 154). In das weiße Leichentuch gehüllt, liegt der Heiland auf einem großen rechteckigen Marmorkasten. Am Kopfende zeigen die drei Marien alle den gleichen Schmerzensgestus durch das Zerreißen ihrer Gewänder. Es folgt Johannes, der die Hand des Toten ergriffen hat, um sie zu küssen. Den Abschluß der Reihe bilden der bärtige Joseph von Arimathia und der bartlose Nikodemus, die beide namentlich bezeichnet sind. Der Bildstreifen darunter führt eine Familie vor mit schlecht erhaltener und deshalb noch nicht endgültig entzifferter Inschrift am oberen Rand der Darstellung. Diese Sippschaft war sicherlich Auftraggeber der Malereien. Auf der linken Seite gibt sich das Familienoberhaupt, der Ritter Guilelmus, zu erkennen mit einem Schild vor der Brust, das ein weißes Kreuz auf blauem Grund zeigt. Dasselbe Zeichen trägt der Schild des hl. Georg auf der rechten Langhausseite. Neben dem Ritter steht seine Frau, und dann folgen die übrigen Angehörigen der Familie, zu denen auch ein Geistlicher zählt. Die farbige Gliederung des Hintergrunds ist für den Maler charakteristisch. In diesem Bild hat er ihn in vier fast gleichbreite Abschnitte geteilt, die abwechselnd hell und dunkel sind, so daß die lange Figurenreihe aufgelockert und gleichsam in vier Gruppen gegliedert wird. Mit diesem Farbwechsel arbeitet der Meister bei Wiederholungen von Heiligenscheinen und rhythmisiert damit zuweilen den Verlauf der Ornamentbänder. In der unteren Zone der rechten Chorwand sind die Fresken bis auf geringe Reste zerstört. Man erkennt darin noch Spuren, die auf die Himmelfahrt Christi deuten.
Die Gemälde am Triumphbogen zum Laienraum hin sind schlecht erhalten. Die Wand wird horizontal durch ein breites Rankenmuster unterteilt, das den Scheitel des Bogens schneidet. Links sieht man über dem Ornamentstreifen die Anbetung der Könige. Maria sitzt auf einem reich geschmückten Thron und hält auf dem Schoß den Knaben, der sich den Königen, die durch verschieden geformte Kronen gekennzeichnet sind, mit griechischem Segensgestus zuwendet. Auf der anderen Seite des Throns steht einsam der Joseph.
Szenen aus der Genesis, die in Bominaco nicht auftreten, sind in Fossa ein wichtiger Bestandteil des Programmes. Sie beginnen über dem Ornamentstreifen an der rechten Seite der Triumphbogenwand. In der Mitte dieses Wandabschnitts thront der Schöpfer jugendlich und bartlos. Im Schöpfungsakt hebt er die Hände empor, wobei seine Rechte den Segen erteilt. Er trennt das Licht von der finsternis. Darunter entsteht zu seiner Rechten das Wasser und zu seiner Linken die durch zwei Pflanzen angedeutete Erde. Unter dem Weinrankenmuster neben dem rechten Bogenansatz nährt Maria ihr Kind, ein Thema, das hier ohne Zusammenhang erscheint.
Die Schöpfungsberichte werden im dritten Joch an der rechten Langhauswand in zwei durch ein Rankenmuster voneinander getrennten Zonen fortgesetzt. Die obere zeigt zwei Bilder. Links ist der vierte Schöpfungstag dargestellt mit der Erschaffung von Sonne und Mond (Tf. 148, 149). Zu seiten des Thrones von Gottvater stehen Engelsgruppen. Darauf folgt die Formung der Tierwelt. Gottvater erscheint in dieser Szene und in den nachfolgenden in Seitenansicht. Das Tierreich wird zweireihig vorgestellt, oben die Vogelwelt, darunter die Vierfüßler. Unter dem Rankenmuster zeigt die zweite Bildzone die Geschichte von Adam und Eva in vier Szenen, je zwei übereinander. In der oberen linken erschafft der irrtümlicherweise als Jesus bezeichnete Schöpfer den Adam, und, von dieser Begebenheit durch ein Ornamentband getrennt, erscheint auf der rechten Seite dieses Bildfeldes die Erschaffung der Eva, die dem Körper des schlafend hingestreckten Mannes entsteigt. In gleicher Höhe rechts vom Fenster in der Langhauswand vernehmen Adam und Eva im Garten Eden das auf einer gewaltig großen Spruchtafel erscheinende Gebot (Tf. 150), das Gott mit seiner Linken vorzeigt, nicht vom Baume der Erkenntnis zu essen. Dieses Thema wird in Genesisbildern Mittelitaliens nur selten dargestellt. In der unteren Bildreihe des dritten Joches erscheint links der Sündenfall. Eva steht rechts vom schlangenumwundenen Baum und reicht Adam auf der anderen Seite den Apfel hin. Die schmale Fläche unter dem Fensterschlitz wird durch einen Seraph ausgefüllt. Rechts davon schließt sich die Vertreibung aus dem Garten Eden an. Im Angesichte des Herrn, der seine Arme fortweisend erhoben hat, verläßt das mittlerweile bekleidete Menschenpaar, zum Paradies zurückschauend, mit Spaten und Spinnrocken die glücklichen Gefilde.
Die Fresken im mittleren Joch an der rechten Langhauswand sind durch den Einbau eines 1597 datierten Barockaltars bis auf den obersten Bildstreifen im Gewölbeansatz zerstört. über der Altarädikula gehören die sechs Propheten zum alten Ausstattungsprogramm. Jeder steht in einer gemalten Arkade, die Spiralsäulen mit Pflanzenkapitellen zeigt. Alle Propheten tragen Spruchbänder, deren Texte zum Teil auch auf Begleitschriften in S. Pellegrino vorkommen. Einige Figuren sind durch Texttafeln, die sie alle monoton in gleicher Höhe in der linken Hand tragen, zu identifizieren, links außen tritt Jesaias auf mit den Worten »Lavamini mundi estote« (I, 16), neben ihm Haggai mit der Schrift (S. 188) »Conmovebo terram et mare« (2, 6). Der dritten Gestalt fehlt der Name. Aus der Beischrift» Vere lancores [Ianguores) nostros ipse tulit« (Jesaias 53,4) läßt sich kein Schluß auf einen bestimmten Propheten ziehen, da Jesaias bereits, namentlich genannt, in derselben Reihe erschien. Die vierte Figur zeigt den Text »Exulta satis, filia Sion« (Zacharias 9, 9). Der letzte Prophet könnte laut seiner Schrifttafel als Jeremias gedeutet werden.
Die obere Bildreihe im ersten Joch an der rechten Langhauswand zeigt zwei Reiter auf Schimmeln. Links stößt der hl. Georg (Tf. 155) in ritterlicher Tracht dem Drachen die Lanze in den Rachen. Der Schild des Drachentöters zeigt ein weißes Kreuz auf rotem Grund. Das Reiterbild daneben, das auf der rechten Seite zerstött ist, gilt allgemein als der hl. Mauritius.
Die ganze Breite dieser beiden Bilder nimmt darunter die Abfolge der Monatsdarstellungen ein, angefangen mit dem Juli. Der Zyklus setzt genau da an, wo die entsprechenden Monate in Bominaco nicht mehr erhalten sind. Da die Übernahmen vom benachbarten S. Pellegrino so zahlreich sind, können wir mit einiger Vorsicht Rückschlüsse ziehen, wie die zweite Jahreshälfte in Bominaco ausgesehen haben dürfte. Die Folge Januar bis Juni muß in Fossa die gegenüberliegende Wand gezeigt haben, an der sich heute die Fresken des 14. Jh. befinden. Die Monate sind von links nach rechts zu lesen. Die Personifikation des Juli läßt wegen des schlechten Zustandes auf keine bestimmte Tätigkeit schließen. Wahrscheinlich mäht er. Der August schlägt das Getreide mit einem Dreschflegel. Von einem dichtbelaubten Baum pflückt der September Früchte in einen Korb. Der Oktober stellt anschaulich das Keltern der Weintrauben dar. In einem Bottich stampft ein Mann mit geraffter Kleidung die Beeren, so daß die nackten Füße sichtbar werden. Durch ein Loch läuft der gekelterte Saft in einen zweiten Behälter. Der November wird durch einen Sämann vorgestellt, und der Dezember endlich durch einen Alten, der mit einem Krug aus einem Behälter Wein schöpft.
Der unterste Bildstreifen im ersten Joch unter den Monatsdarstellungen ist nur in der linken Partie erhalten und zeigt, ähnlich wie in Bominaco, die drei Patriarchen (Tf. 156) Abraham, Isaak und Jakob mit den geretteten Seelen in ihrem Schoß. Dieses Fresko, das die Auserwählten im Paradies darstellt, steht thematisch mit den Malereien der Eingangswand im Zusammenhang, die einschließlich der gemalten Sockelzone in sechs horizontale Streifen gegliedert ist. Im obersten Feld über dem Fenster thront der Salvator mit erhobenen Armen in einer Mandorla. Zu seinen Seiten blasen Engel die Trompeten des Jüngsten Gerichts. Im Wandabschnitt darunter, zu beiden Seiten des Barockfensters, erscheinen wie üblich die zwölf Apostel als Mitrichtende. Unter dem Fenster zeigt der dritte Streifen drei Gruppen. In der Mitte sitzt der weißbekleidete Michael mit erhobenen Händen. Zu seiner Rechten hält ein Engel einer großen Personenschar die Schrift entgegen »Venite benedicti patris mei, possidete regnum« (Matthäus 25, 34). Diesen Rechtschaffenen und Auserwählten steht auf der anderen Seite die Gruppe der Verstoßenen gegenüber, denen ein weiterer Engel die Worte aus Matthäus 25, 41 entgegenhält »lte maledicti in ignem eternum«. Die darauffolgende untere Bildzone über der Tür besteht aus neun rechteckigen Feldern. In ihnen öffnen sich die oft kunstvoll gearbeiteten Gräber der Auferstehenden, die sich dem Urteil des Weltenrichters zu stellen haben. Das Abwägen der Seelen vollzieht der reich bekleidete Michael auf seiner Waage im untersten Bildstreifen links; neben ihm ist Maria dargestellt. Auf der rechten Seite erfüllt sich das Schicksal der Verdammten, denen ein moloch ähnliches Ungeheuer droht. Einzelne Typen der Ausgestoßenen sind durch Beischriften gekennzeichnet, Mörder, Hure, Säufer usw.
Die Fresken des 13. Jh. an der linken Langhausseite sind verschwunden und wurden am Ende des Trecento durch eine neue Bildfolge ersetzt, die zu den bedeutendsten dieser Zeit in den Abruzzen gehört. Wahrscheinlich waren im IJ.Jh. an dieser Wand Darstellungen aus der Jugend Christi, Marienszenen und die erste Jahreshälfte des Kalenders zu sehen.
Der in Bominaco und in Fossa vereinzelt festgestellte französische Einfluß wird um 1270 in einem Fresko im Dom von Atri in vollem Umfang wirksam. Der dort tätige Künstler gibt die traditionelle von Byzanz und dem Südreich geprägte Gestaltungsweise auf und zeigt sich mit seinem Werk, der Geschichte der drei Lebenden und der drei Toten, völlig im Bannkreis der höfischen französischen Gotik. Die Darstellung ist eigentümlich disponiert. Die drei Skelette (eines wurde beim Einbau eines inzwischen wieder entfernten Barockaltares zerstött) erscheinen im linken Seitenschiff auf der Rückwand rechts. Dann springt die Erzählung auf die im rechten Winkel anstoßende Wand über, die das Seitenschiff vom Chor trennt. Hier sind die drei Lebenden mit ihrem Anhang abgebildet. Die Eindringlichkeit und Spannung des Geschehnisses wird durch diese Anordnung gesteigert, indem es gewissermaßen räumlich veranschaulicht wird und die ungleichartigen Protagonisten sich beinahe tatsächlich gegenüberstehen. über den beiden Teilen der Darstellung verläuft eine Inschrift in gotischen Majuskeln; über den Toten ist sie nicht mehr zu entziffern und über den Lebenden nur in Bruchstücken erhalten. Immerhin ist noch ein Hexameter herauszulesen: »Gloria sublimis mundi existere nescit« (Die Ruhmsucht dieser Welt ist nicht von Dauer). Die Knochenmänner, die teilweise noch mit Haut bedeckt sind, was den Eindruck des Makabren steigert, erwarten aufrechtstehend, gleichsam am Eingang des Totenreiches, eine Gruppe von drei Edelleuten, die ohne eigenen Willen, wie von fremder Kraft beherrscht, dem Bereich der Gestorbenen in rhythmischen Schritten zustreben. Die Gesten der Herren in kostbaren Gewändern erscheinen wie ein Tanz; der erste mit einem Falken auf der Hand verzögert seinen Schritt, der zweite ist der bewegteste und erinnert an einen Moriskentänzer; mit einer Gebärde des Erschreckens hat er die Arme weit ausgebreitet, so daß das Futter seines Mantels sichtbar wird und die Figur auch farbig die lebhafteste der Gruppe ist. Der dritte Edelmann, auch er mit einem (S. 189) Falken auf seiner linken Hand, hat das Haupt vor Entsetzen gesenkt und scheut sich, noch einen Schritt nach vorn zu wagen. Die Herrschaften sind soeben von ihren Jagdpferden abgestiegen, die auf der rechten Bildseite von drei Knappen vor einem blühenden Baum gehalten werden.
Das Fresko in Atri geht auf französische literarische Quellen und französische Miniaturen zuriick. Der Künstler hat sich indessen von seiner Vorlage aus der Kleinmalerei gelöst und das Bild mit höchster Ausdruckskraft ins monumentale Format umgedacht. Eine Darstellung gleichen Themas, die heute jedoch nicht mehr existiert, war am Anfang dieses Jahrhundetts noch rechts vom Eingang in der Kirche S. Maria in Piano bei Loreto Aprutino zu sehen.
Das Eindringen französischer Themen und Formen geschah indessen nur sporadisch. Atri und Loreto Aprutino sind Städte, die schon fast am Rande der Abruzzen liegen. Das Binnenland hielt weiter an überkommenen Formen fest. Ein Beispiel dafür kann S. Liberatore alla Maiella liefern, das Einlaßtor benediktinischer Kunstübungen in den Abruzzen. Bernardus I. Agglarius, von Geburt Franzose, leitete als Abt 1265-1282 die Geschicke von Montecassino. Er ließ um 1275 S. Liberatore mit Mosaiken und Malereien ausstatten. Es ist reine Hypothese, wenn man ihre Ausführung dem Teodinus pietor zuschreibt, der zu dieser Zeit im Dienste von Montecassino arbeitete, den aber keine Quelle im Zusammenhang mit der Ausstattung von S. Liberatore nennt. Die Malereien von 1275 liegen unter einer Malschicht des späten 16. Jahrhunderts. Neuere Untersuchungen haben ergeben, daß Programm und Komposition der alten und neuen Schicht nicht sehr verschieden sein können. In der Mitte thront der hl. Benedikt, zu seiner Linken übergibt ihm ein Abt das Kirchenmodell von S. Liberatore. Daneben steht Sancio, Feudalherr von Villa Oliveti, mit der Schenkungsurkunde seines Kastells vom Jahre 1004. Zur Rechten Benedikts sieht man zwei weitere Wohltäter. Der eine ist Karl d. Gr., bartlos mit roten Haaren und reich gekleidet in roten Samt und Goldbrokat. Er zeigt eine Urkunde vor, worauf er den Besitz eines Tertullus Patritius bestätigt.
Ludovico Antinori (1704-1778), der berühmte Historiograph der Abruzzen, hat eine heute verschollene Urkunde von 1280 überliefert, in der von einer Stiftung von Malereien in S. Spirito d'Ocre, unweit von Fossa, die Rede ist. Der Auftraggeber hieß Jacobus und war Sohn des Simone di Gandolfo di Ocre. Die Langhausfresken dieser einschiffigen Zisterzienserkirche wurden im 16. Jh. übertüncht. Unter der Kalkschicht scheinen noch dürftige Spuren von Malereien erhalten zu sein. Sichtbar sind noch Fresken an der Eingangsseite des Kirchleins in einer baufälligen Altarädikula. Sie bedecken das Innere dieses Aufbaus. Auf der Rückwand erscheint die thronende Madonna und hält den segnenden Sohn auf ihrem Schoß. Auf der linken Seite steht Petrus mit einem gewaltig großen Schlüssel und rechts Paulus mit blankem Schwert. Beide Apostel legen ihre Arme auf die Schultern eines Stifterpaares. Die spitzbogige Bedachung der Ädikula ist im Scheitel mit Sternen bemalt, und darunter erscheinen auf beiden Seiten tubenblasende Engel. Unter Maria, Petrus und Paulus ist noch ein Rest einer gemalten Rahmung mit außerordentlich verblaßten Figuren sichtbar. Die rechte Seite nimmt eine Gruppe von Menschen ein, man erkennt noch ihre dicht aneinandergereihten Köpfe sowie einige Hände. Die Gewandbehandlung zeigt bei Maria, Petrus und den Engeln Ähnlichkeit mit den Fresken in Fossa. Neuerdings entdeckte man in der Kapelle links vom Chorraum Malereien, die stilistisch mit den Tabernakelfresken übereinstimmen. Erkennbar ist Christus, dem Kopf und Füße fehlen. Es sind noch Teile des Johannes sichtbar und minimale Reste von der Maria.
Eigentümlicherweise sind in der zweiten Hälfte des 13. Jh. Fresken vor allem in einschiffigen, von Zisterziensern beeinflußten oder errichteten Kirchen überliefert, in Bominaco, Fossa und in S. Spirito d'Ocre. Dazu gesellt sich noch ein einschiffiger Bau, S. Nicola in Pescosansonesco, eine kleine Kirche, die zu S. Clemente a Casauria gehörte. Im Innenraum (14,65 x 5,50 m) sind an der rechten Langhausseite in farbiger Rahmung zwei Figuren dargestellt, links in Frontalansicht ein hl. Bischof im Ornat, den griechischen Segensgestus ausführend. Die rechte Figur ist inschriftlich als hl. Andreas bezeichnet. Sein Nimbus und die Rahmung zeigen die einer Perlschnur ähnelnde weiße Tüpfelung.
Andere Malereien in Pescosansonesco befinden sich an der Rückwand der Kirche S. Maria Assunta. Sie wurden 1935 restauriert. Wie sooft in den Abruzzen, ist auch hier das Thema das Jüngste Gericht. Die Schar der Auserwählten und die Schar der Verdammten sind noch gut zu erkennen. Vom richtenden Christus ist nur der Unterkörper erhalten. Die Fresken zeigen einen lokalen abruzzesischen Stil und sind mit denen in S. Nicola im gleichen Ort verwandt. Weiterhin verbinden sie sich mit den Malereien in S. Giusta in Bazzano, in Fossa und in S. Spirito d'Ocre, was eine Datierung um 1280 nahelegt.
Die 1281 datierte Ausmalung von S. Maria di Ronzano hat die Zeiten nur teilweise überdauert; erhalten blieben die Fresken in der Mittelapsis sowie an der Nord-und Südwand des Querhauses. Die Verteilung der Szenenfolgen in diesen Raumteilen ist, wie in Bominaco, recht inkonsequent. Die Erzählungen beginnen auf der Südwand mit Bildern aus dem Alten Testament und der Geschichte von Elisabeth und Zacharias. Geschehnisse aus dem Leben der Maria und der Kindheit Christi werden in der Apsis gezeigt. Dort sind im oberen Teil auch Christus und die Apostel dargestellt, die üblicherweise als Mitrichter im Jüngsten Gericht auftreten, das bruchstückhaft an der Nordwand des Querhauses wiederzufinden ist.
Die Südwand zeigt drei Bildreihen übereinander. In der obersten Zone links erschafft Gottvater die Welt. Er erscheint, wie in Fossa, als Christusfigur mit deutlich sichtbaren Wundmalen und hält in seiner Linken eine Schriftrolle. In Profilstellung wendet er sich einer großen Kreisfläche zu, in der die Arbeiten mehrerer Tagewerke zusammengefaßt sind. Das äußere rodarbige Kreisband zeigt die Gestirne. Der innere Kreis gliedert sich in vier gleichgroße Sektoren. Links sieht man Bäume und rechts Wellenlinien, um die (S. 190) Trennung von Wasser und Erde anzudeuten. Im oberen Kreisviertel erscheinen Berge, im unteren Tiere, vorgestellt durch zwei vor einen Pflug gespannte Rinder; hinter diesen steht im Mittelgrund ein Mann, der mit beiden Händen eine Axt über sich schwingt. Der übrige Teil der obersten Bildreihe ist kaum noch sichtbar. Das verlorene Mittelbild könnte den Sündenfall dargestellt haben, denn rechts davon erkennt man in Fragmenten die Vertreibung aus dem Paradies. Den Beschluß der Genesisfresken bildet das linke Bild der mittleren Reihe. Adam und Eva müssen arbeitend ihr Leben fristen (TE. 161). Beide sind nackt in sehr detaillierter anatomischer Bildung dargestellt, und übergroße Feigenblätter bedecken ihre Scham. Adam erscheint hinter Gezweig, das sich wie ein bizarres Ornament über seinen Körper legt. Beide Figuren sind an die Bildränder versetzt, so daß zwischen ihnen viel Raum entsteht, was die Stimmung des Bildes, das Abwartende und zugleich gespannt Beobachtende, das in ihren Gesichtern zum Ausdruck kommt, eindringlich unterstreicht. Der Kopf des jungen schönen Adam ist mit begierigen Blicken der Eva zugewendet, die ihrerseits überlegend und etwas lüstern auf den Jüngling schaut. Ihr wie zu einer Bildsäule erstarrter Körper neigt sich leicht ihrem Partner zu. Als Attribute tragen Adam eine gewaltige Hacke und Eva einen Spinnrocken.
Der Gestalter des Bildprogamms hat sich in reichem Maß literarischer Quellen aus den Apokryphen bedient. Davon zeugen die beiden nächsten Fresken, die Vorgänge aus dem Leben der Elisabeth und des Zacharias schildern. Die Mitte des Bildstreifens zeigt die Verkündigung der Mutterschaft an Elisabeth, die Frau des Zacharias, die Johannes den Täufer gebären wird. Auf diese Verkündigung folgt die Darstellung der schön komponierten Geschichte von Joachim und Anna, den Eltern der Jungfrau Maria. Nach zwanzigjähriger kinderloser Ehe begibt sich Joachim in den Tempel von Jerusalem, um ein Lamm zu opfern. Sein Opfer wird nicht angenommen, und verzagt zieht er sich zu seiner Herde und seinen Hirten zurück und bleibt dort, bis der Befehl des Engels die Ehegatten wieder zusammenführt. Diese Begebenheit erscheint im Bild. Vor einer Architektur aus minuziös gebildeten Quadersteinen steht der große Engel, und mit eindringlicher Gebärde versucht er, den skeptischen Joachim, der mit einem Heiligenschein dargestellt ist, zu überzeugen. Hinter diesem schauen zwei Hirten neugierig dem Geschehen zu. Schafe und Widder deuten den Aufenthalt Joachims beiden Tieren an. Das Fresko zeigt eine sehr graphische Behandlung mit nervös bewegten Strich lagen, in denen sich die Erregung der Personen widerspiegelt.
Der unterste Bildstreifen der Südseite des Querhauses ist wieder in drei Szenen aufgeteilt. Die linke ist so zerstört, daß der Inhalt nicht mehr zu rekonstruieren ist. Auf der rechten Bildseite ist nur noch eine stehende Figur unter einer gemalten Arkade übriggeblieben. Die mittlere Darstellung bezieht sich wieder auf die Apokryphen und erzählt vom Verlöbnis Mariens mit Joseph, das von einem Hohen Priester vollzogen wird. Er tritt links aus einem Gebäude hervor und trägt, ebenso wie die Figur hinter ihm, einen Heiligenschein. Er ist bartlos und hält in seiner Linken ein Buch. Diesen beiden Gestalten gegenüber steht Maria, die eine Gruppe von Männern mit jugendlichen Gesichtern anführt. Nur der letzte von ihnen ist bärtig. Es ist der betagte Joseph, der, durch einen Traum ermutigt, zu den Freiem getreten ist. Derjenige, dessen Stab zu blühen beginnt, soll der Maria verlobt werden. Joseph ist der Erwählte, denn sein Stab blüht.
Das letzte Bild der Reihe zeigt die Darbringung Jesu im Tempel. Das übliche Personenaufgebot ist hier auf ein Mindestmaß reduziert. So fehlen z.B. Joseph und Anna, die Mutter Mariens. Vor einer gemalten Bogenarchitektur erscheint links Maria und hält den segnenden Knaben vor sich. Auf dem Altartisch, der den Mittelteil des Bildes beansprucht, steht ein Kelch, der sehr naturalistisch von einem Tuch zugedeckt ist. Auf der rechten Seite kommt Simeon in reicher priesterlicher Gewandung Mutter und Sohn entgegen.
Die Mittelapsis zeigt Malereien in der Kalotte und auf der Wand in drei Bildstreifen übereinander, hinzu kommt eine ornamentale Sockelzone. Im Apsisgewölbe thront der segnende Erlöser und trägt in seiner Linken die Erdkugel. Vier Engel halten die ihn umgebende Mandorla. Die obere Bilderreihe auf der Apsiswand in Höhe des Fensters besetzen die zwölf Apostel. Wie in Pianella wird ihre Abfolge in der Mitte unterbrochen, dort geschah es durch Engel, hier durch die Verkündigung. Links vom Apsisfenster bringt der Erzengel Gabriel die Botschaft, die rechts davon die nach französischen Vorbildern gemalte Maria vernimmt. In der Darstellung der Apostelreihe, die links außen mit Thomas und Bartholomäus beginnt, befreit sich der Künstler von den stereotypen byzantinischen Vorlagen. Laut der Beischriften mischen sich unter diese Gruppe auch die Evangelisten, die üblicherweise nicht dem Kreis der Apostel zugeordnet werden. Eine andere Freiheit nimmt sich der Künstler, indem er einige Apostel mit der Mönchstonsur abbildet. Die Gesichtszüge sind sehr differenziert. Petrus neben Maria hält zwei große Schlüssel, wobei sehr naturalistisch vorgeführt wird, daß sie an einer langen Kette hängen, die mit Ösen an der Schrifttafel des Apostels befestigt ist.
In der mittleren Bildzone der Apsiswand werden die Geschehnisse weitererzählt, die an der südlichen Querhauswand ihren Anfang nahmen. Auf der linken Seite sehen wir die in traditioneller Weise gestaltete Begegnung der beiden schwangeren Frauen Maria und Elisabeth, der Mutter des Täufers. Eigentümlich ist die Komposition in der folgenden Geburtsszene. Auf Grund ihrer Größe erscheint als Hauptfigur die mit einem Nimbus ausgestattete Schaffnerin, die das segnende neugeborene Kind mit beiden Armen der sich im Bett aufrichtenden freudvollen Maria entgegenstreckt. Hinter der Magd schaut eine ebenfalls mit einem Heiligenschein versehene Gestalt dem Vorgang zu. Die sonst übliche Waschung des Christusknaben ist hier ausgelassen. Dafür erscheint das Kind zum zweitenmal über dem Kopf Mariens in Windeln gewickelt in einer Krippe liegend. Ober deren Rand gaffen die Köpfe von Ochs und Esel wie Teufelsfratzen. In der Mitte dieses Streifens ist das nächstfolgende Bild, das (S. 191) unter dem Apsisfenster liegt, zerstört. Aus dem Programm der Abfolge und aus einigen Resten können wir hier die Anbetung der Könige erschließen. Das folgende Fresko zeigt die Flucht nach Ägypten (Tf. 163). Darin wird das Abweichen von der Tradition besonders augenfällig, wobei der Künstler bemüht ist, eigenwillige und selbstempfundene Vorstellungen auszudrücken. Der Esel, auf dem Maria reitet, zeigt eine kapriziöse Behandlung des Körpers, der völlig von ornamental verspielten Linien überzogen ist. Trotz des traurigen Anlasses erweckt die Szene einen fröhlichen Eindruck, besonders durch die kecke Figur des fast tänzelnden Joseph, der mit einer drolligen Mütze bekleidet ist und sein Gewand hoch geschürzt hat. Mit heiterem Blick wendet er sich zu Maria zurück und zieht den Esel an einem langen Halfterband, das er in zierlich gotischer Bewegung in seiner Rechten hält. Ober seiner linken Schulter trägt er den großen Knotenstock, an dessen Ende der Mantelsack hängt. Leichtfüßig schreitet er einher. Seine Schuhe laufen vorne spitz zu, und auf die Vorführung der Wadenstrümpfe wird einige Sorgfalt verwandt. Die Szenenabfolge erzeugt dramatische Effekte. Auf die fröhliche Auswanderung nach Ägypten folgt eine Gruselgeschichte, der Bethlehemitische Kindermord (Tf. 162). Davon weiß der Künstler so viel zu erzählen, daß der Vorgang noch in den untersten Bildstreifen übergreift. Die obere Darstellung zeigt verschiedene Vorgänge des Geschehens. Oben rechts thront Herodes mit dem Szepter in der Linken und gibt Mordbefehl. Das Thronkissen liegt, nicht ganz nachvollziehbar, auf dem Dach eines hohen schmalen Hauses aus Quadersteinen mit großem Eingangstor, das seinen Palast oder das Gefängnis bedeuten soll, in dem die Opfer gesammelt wurden. Links oben, dem Herrscher gegenüber, erscheint der wütende Scherge in einem Kettenpanzer. Mit kräftigem Griff hat er ein Kind an den Füßen gepackt und hochgehoben und setzt das mächtige Schwert an den Hals des Unglücklichen. Es ist nicht sein erster Mord. Gleichsam als Rahmung dieser Gruppe sieht man an den Seiten und darunter abgeschnittene Kinderköpfe mit alten müden Gesichtern und geschlossenen Augen. Im linken unteren Bildfeld erscheint eine Schar stehender Kinder, die mit weitgeöffneten Augen spannungsvoll das ihnen zugedachte Los erwarten. Die Mütter dieser Unglückseligen erscheinen in der untersten Bildzone. Höchst dramatisch zerreißen einige ihre Kleider, andere erheben trostlos und klagend ihre Hände. Die bewegten Gewänder unterstreichen die Aufregung der Frauen. Wie in der Abfolge der Apostel verleiht der Maler den Gesichtern der Kinder und Frauen höchst individuelle Züge, als ob er für jede Figur ein besonderes Modell vor Augen gehabt hätte.
In der untersten Bildreihe setzen sich sodann die christologischen Szenen fort, links mit dem Judaskuß beginnend. Die Kostümierung der Krieger im Hintergrund mit Helmen, Waffenröcken und Schilden entspricht der zeitgenössischen Tracht und ist kulturgeschichtlich von Bedeutung. Im nächsten Bild wird Christus gefesselt an einer langen Kette von einem Schergen dem Pilatus vorgeführt. Die Bewegung des Gerichtsdieners wiederholt die Haltung des Joseph in der Flucht nach Ägypten. Es folgt die Geißelung (Tf. 164). Die Christusfigur ist völlig anders empfunden als in derselben Szene in Bominaco und Fossa. Dort ist Jesus im wahrsten Sinn des Wortes eine überragende Gestalt, größer als die auspeitschenden Büttel. Umgekehrt in Ronzano. Hier ist der Heiland klein, dürftig und leidend, ein Erbärmdebild. Wir kennen diesen Typ aus der Malerei der nordischen Länder.
Das Kreuzigungsbild ist im oberen Teil völlig zerstört. Zu sehen sind noch die übereinandergeschlagenen Füße des Gekreuzigten, die mit nur einem Nagel durchbohrt sind. Nicht ganz leicht zu deuten sind die Nebenfiguren. Die sonst üblichen Assistenzgestalten Maria und Johannes scheinen zu fehlen. An ihrer Stelle ist vielleicht links vom Kreuz der den Essigschwamm darbietende Stephaton getreten und rechts Longinus, der mit der Lanze die Brust des Erlösers öffnete.
Die chronologische Anordnung der christologischen Szenen verlief bisher in der Mittelapsis durchaus folgerichtig. Um so erstaunlicher ist es, nach der Kreuzigung den Hohenpriester Kaiphas, den Mitverantwortlichen für die Verurteilung Jesu, und Pilatus wiederzusehen, die beide inschriftlich bezeichnet sind. Der nicht ganz eindeutig zu erklärende Inhalt dieser Szene ist vermutlich einer apokryphen Quelle entnommen. Links außen steht der bärtige Kaiphas und rechts von ihm der jugendliche Pilatus, der in der Lokalgeschichte übrigens als Abruzzese gilt. Seine linke Hand liegt auf einem Gefäß mit Deckel, in dem er vielleicht seine Hände in Unschuld gewaschen hat. Vor ihm kniet eine Frau mit erhobenen Händen; sie trägt ein weißes Kopftuch und hat keinen Heiligenschein. Ein bärtiger Mann mit Nimbus empfiehlt sie dem Pilatus. Die Linke des Bärtigen berührt die Frau und in der Rechten trägt er ein weißes Tuch. Pilatus wird in den Evangelientexten nach der Kreuzigung noch einmal genannt, als Joseph von Arimathia zu ihm kommt, um von ihm den Leichnam Christi zu erbitten. Auf diese Stelle könnte sich möglicherweise die Darstellung beziehen. Dann wäre der Bärtige mit Heiligenschein Joseph von Arimathia, in der Hand das Leintuch tragend, worin er den Leib Christi nach der Freigabe durch Pilatus einhüllte. Allerdings wäre mit dieser Deutung nicht die nimbenlose Frauenfigur in Einklang zu bringen, die in den Evangelien nicht belegt ist.
Den Beschluß der Passionsfolge bildet die Grablegung (Tf. 165). Die Komposition hält sich an das traditionelle Bildschema, etwa wie das in Fossa. Doch beobachten wir hier wie auch in anderen Fresken von Ronzano die schon erwähnte Eigenwilligkeit des Künstlers. Die trauernden Marien hinter dem Sarg sind ganz ähnlich gebildet wie die schmerzerfüllten Mütter im Kindermord. Es entsteht hierdurch der Eindruck, als bestünde eine geheime Verbindung zwischen diesen beiden Szenen, die den Anfang und das Ende der untersten Bildreihe auf der Apsiswand bilden.
An der Nordwand des Querhauses befand sich das Jüngste Gericht, von dem nur einzelne Motive übriggeblieben sind. In einer Reihe sieht man zuerst links den geflügelten Michael in Frontalansicht beim Wägen der Seelen. Seine Gestaltung ist von Fossa abhängig, und die Behandlung sei (S. 192) nes Gewandes ist mit derjenigen der dortigen Michaelsfigur verwandt. Vor allem ist das Muster des Tuches, das vor dem Unterkörper des Michael ausgespannt ist, eine genaue Kopie von Fossa, allerdings in etwas vergröberter Durchführung. Im nächsten Bild öffnet Petrus die Paradiesestüren. Das Portal ist von zwei schmalen hohen Türmen flankiert. Vier Auserwählte mit ausgestreckten Armen umgeben den Himmelswächter und begehren Einlaß. Petrus ist bedeutend größer als seine Assistenzfiguren. Neben der Petrusszene sitzen die drei Patriarchen, Abraham, Isaak und Jakob; sie halten die Seelen der Auserwählten in ihrem Schoß. Zwischen ihnen stehen wie in Bominaco und Fossa Paradiesesbäume, in deren Zweigen sich wie in Fossa Jünglinge tummeln. Unter den Patriarchen befindet sich ein zerstörter Bildstreifen, von dem noch Teile der Rahmung und die Beischrift »iudex« zu erkennen sind.
Die Entstehungszeit der besprochenen Malereien in Ronzano ist einheitlich. Doch kann man verschiedene Künstlerhände unterscheiden. Ein Meister war an der Südwand tätig. Ikonographisch ist er traditionsgebunden, hat aber das Bestreben, die Vorgänge einfach zu erzählen unter Vermeidung von Nebensächlichkeiten, was in der Darbringung Jesu im Tempel deutlich wird oder in der Schöpfungsgeschichte, wo er verschiedende Tagewerke in einem Bild zusammenfaßt. Ein zweiter in Ronzano tätiger Künstler muß die Werkstatt von Fossa gekannt haben. Von ihm stammen die Gemälde auf der Nordwand des Querhauses. Den qualitätvollsten und fortschrittlichsten Maler finden wir in der Mittelapsis am Werk. Er schuf den Christus in der Mandorla, die Apostelreihe und die christologischen Szenen mit Ausnahme der Heimsuchung und der Geburt, die konventionell sind und aus dem Zusammenhang herausfallen. Er ist expressiv und hat Freude an der naturalistischen Wiedergabe von Details. Vor allem ist er der Meister, der Kenntnis davon hatte, was zu seiner Zeit in der Malkunst jenseits der Alpen vorging.
Mit den Fresken von Ronzano endet die Zeit der großen szenischen Malereien in den Abruzzen. Stilistische Neuerungen, die sich dort anbahnten, werden nicht fortgesetzt, und am Ende des 13. Jh. greift man wieder auf die Tradition zurück. Dieses erklärt, warum man die künstlerisch retardierenden Fresken in der Apsis von S. Maria del Lago in Moscufo viel zu früh in das 12. Jh. datieren konnte. Bei genauerer Betrachtung erkennt man aber, daß sie Malereien in Fossa und Ronzano voraussetzen, so daß ihre Entstehung erst sehr spät, nach 1281, möglich ist. Schematisch und ausgelaugt wird das Lieblingsthema der Abruzzen, das Jüngste Gericht (Tf. 158, 159), gezeigt, das diesmal ganz unkonventionell seinen Platz in der Mittelapsis gefunden hat. Die Erlöserfigur in der Kalotte ist zum größten Teil zerstört. Nur die Füße sind erhalten geblieben, von denen der rechte das Wundmal mit dem drastisch gemalten Blutgerinnsel zeigt. In der Wölbung rechts vom Heiland bläst ein Engel in eine große Trompete und ruft die Verstorbenen zum Gericht auf. Die Haltung des Ausrufers kennzeichnet eine gotisch übersteigerte Bewegtheit. Die Beine sind wie zum Spagat weit gespreizt und darüber legt sich das Untergewand in parallelen Faltenzügen, die von einer Starrheit sind, als sei das Gewand aus Metall gebildet. Sensibel ist die Hand gemalt, die sich um das Mundstück des Blashorns legt. über die Kalotte verstreut, reagieren die Toten auf den Weckruf. Ähnlich wie in Fossa erheben sich die Gestalten aus ihren Särgen. Die Köpfe der Toten, die nur in Umriß zeichnung erscheinen, sind denen im Kindermord von Ronzano verwandt, freilich fehlt in Moscufo die überzeugende Gestik und Expression, so daß sie puppenhaft wirken. Zum Jüngsten Gericht gehört die Apostelreihe, die in der Apsisrundung zu Füßen Christi dargestellt wird. Die stehenden Mitrichter sind voneinander wenig differenziert. Ihre Gestik ist monoton, und die Gewandfalten sind schematisiert.
Den überkommenen abruzzesischen Lokalstil zeigen die Fresken in der Einsiedelei, die Papst Coelestin V. aufzusuchen pflegte. Sie befindet sich bei der kleinen Kirche S. Onofrio über dem Herkulesheiligtum am Morrone bei Sulmona. Aus einem Raumteil, der mit zwei Altären ausgestattet ist, die dem hl. Onophrius und dem Eremiten Antonius geweiht sind, erreicht man über drei Stufen die ausgemalte Zelle. Aus schriftlichen Quellen wissen wir, daß der Maler Gentile da Rocca vor der Papstwahl Coelestins im Jahr 1294 an der Herstellung beteiligt war. Allerdings sind wir nicht imstande, ihm ein bestimmtes Werk in dieser Einsiedelei zuzuschreiben. Die Kreuzigung zeigt wie üblich Maria und Johannes neben Christus. Im Vergleich zu Fossa erkennt man hier das traditionelle Verhalten. Die schwingende Bewegung der dortigen Christusfigur ist in der Gestalt in der Einsiedelei abgeschwächt. Wie in Fossa erscheinen über den Kreuzarmen zwei Engel. Sie sind mit ganz besonderen Aufgaben bedacht. Der linke ist im Begriff, dem Gekreuzigten eine Königskrone aufs Haupt zu setzen, während der rechte einen Reifen in Händen hält, den man nur als Dornenkrone deuten kann, ein selten auftretendes Motiv. Von anderer Künstlerhand stammen konventionelle Bilder in den Lünettenfeldern. Das eine zeigt als Halbfiguren den hl. Benedikt in der Mitte, rechts von ihm den hl. Maurus und links den Eremiten Antonius, der sein Attribut, den Knotenstock, in der linken Hand hält. In einer anderen Lünette thront Maria mit dem Kind auf dem Schoß, das der Mutter die Wangen streichelt. Neben dem minuziös geschilderten Thron mit Rückenlehne erblickt man links das Gesicht der Sonne und rechts den Mond. Es ist ein Zufall, daß diese Malereien in der im Zweiten Weltkrieg beschädigten Einsiedelei unversehrt geblieben sind.
Völlig ausgemalt war die den römischen Märtyrern Crisantus und Daria geweihte kleine Kirche, die bei Filetto in der Nähe von Assergi liegt. Die Fresken des ausgehenden 13. Jh. sind äußerst schlecht erhalten und liegen teilweise noch unter Verputz. Kunsthistorisch sind sie bisher kaum gewürdigt worden, und vor allem wäre es nötig, die vielen Inschriften und Beischriften genauer zu untersuchen und zu entziffern. Fresken befinden sich in der Apsis und auf der rechten und linken Langhauswand an der Eingangsseite des einschiffigen Kirchleins. Szenische Darstellungen scheinen nicht vorhanden gewesen zu sein. Die Apsis zeigt den thro (S. 193) nenden Christus zwischen zwei Engeln und das Bildnis einer Stifterin mit der Beischrift »Donna Maria pinge[re] feeit«. Gut erhalten sind die beiden letzten Bilder auf der rechten Langhausseite mit den typischen rahmenden Mustern, die ähnlich in Bominaco, Ronzano und anderswo anzutreffen sind. Links erblickt man die Ganzfigur des hl. Michael (Tf. 160) in Frontalansicht, reich drapiert nach byzantinischer Manier. Links unter ihm steht eine kleine weibliche Devotionsfigur mit erhobenen Händen, und ihr gegenüber kniet ein Mann, der betend zum Heiligen aufschaut. Wie es scheint, überliefert die Inschrift auf der Rahmenleiste unter dem Michael den Künstlernamen. Bedauerlicherweise ist ausgerechnet der erste Buchstabe des Nachnamens ausgefallen »Hio ... eranallus pi[nxit]«. Demnach könnte der Kniende rechts unten zu Füßen des Michael den Künstler darstellen. Rechts von Michael erscheint auf einem Thronsitz mit Rückenlehne die Madonna, die den segnenden Christusknaben stillt. Thron und Mariengewand sind von einem dichten Netz von Ornamenten überzogen. Das Muster des Gewandes bilden nachlässig gemalte konzentrische Kreise mit einem Punkt in der Mitte. Unter der Madonna liest man den Namen der Auftraggeberin »Donna Maria pingere fecit«. Die Stifterin ist als kleine Ganzfigur links unten am Thron abgebildet. Von einem anderen Maler, der Gesichter und Körper naturgetreuer wiedergibt, stammen die beiden folgenden Heiligen, von denen der erste inschriftlich als hl. Crisantus bezeichnet wird, während der Name des nebenstehenden Heiligen nicht zu entziffern ist. Die Farbfrische der darauffolgenden fünf Heiligen hat sehr gelitten. Schon die Art der Rahmung zeigt, daß hier wieder der erstgenannte Meister am Werk ist. Unten in der Mitte erscheint wiederum das Bild der bereits bekannten Stifterin mit der Inschrift »Dna [domina] Maria de Galteri de Gentilis pingere [fecit?]«. Eine Inschrift desselben Wortlauts erscheint mit dem Bildnis der Stifterin nochmals auf der linken Langhauswand. Dort sind die Reste dreier übereinanderliegender Bildzonen zu erkennen. Eine Figur rechts, wahrscheinlich Christophorus, beansprucht die ganze Wandhöhe. In der linken oberen Ecke ist der Rest eines Reiters mit Lanze sichtbar. Die verderbten Beischriften der beiden nebenstehenden Heiligen sind mit bloßem Auge kaum noch zu entziffern, während ein Heiliger weiter unten mit »S. Bracatio«, wahrscheinlich einer Dialektform für Pankratius, benannt ist. Von besonderer Schönheit ist die nur im Oberkörper erhaltene Figur eines segnenden Bischofs links neben der erwähnten überlebensgroßen Gestalt. Die wiederholte Erwähnung der unterschriftsfreudigen Maria de Galteri läßt den Schluß auf eine einheitliche Entstehungszeit der Fresken zu.
Dem Ende des 13. Jh. gehören einige Malereien in den Apsiden der Krypta von S. Giovanni in Venere an. Die Fresken in der Kalotte der linken Apsis und an der rechten Seite der Mittelapsis leiten sich von byzantinischen Modellen ab, die über Apulien in die Abruzzen eindringen konnten. Die Bemalung der linken Apsiskalotte ist auf der linken Bildhälfte völlig zerstört. In der Mitte sitzt der segnende Christus auf einem Thron, dessen Wangen in der Vorderansicht wie mehrgeschossige Türme erscheinen. Auf der rechten Seite stehen, durch Inschriften ausgewiesen, der hl. Vitus und der Apostel Philippus.
Das Fresko auf der rechten Seite der Mittelapsis zeigt die Madonna mit dem Kind zwischen den hit. Michael und Nikolaus von Bari. Der geflügelte Michael in reicher byzantinisierender Drapierung ist Maria zugewendet und trägt in der Rechten die Weltkugel, in die ein Kreuz eingezeichnet ist. Die Gestaltung des Thrones erscheint ganz anders als bisher in den Abruzzen üblich. Er ist hier erstmals perspektivisch gebildet. In der rechten Apsis ist der Erlöser dargestellt. Er sitzt auf einem Cosmatenarbeiten nachgebildeten Thron, dessen Verkürzung noch stärker betont ist als die des vorgenannten. Das großflächige Gesicht Christi und der untere Bildabschluß in Form eines perspektivisch gemalten Konsolengesimses verraten den Einfluß des römischen Malers Cavallini, der in den ersten Jahren des 14. Jh. auch in Neapel tätig war, und es bleibt zu fragen, ob die Einflüsse in S. Giovanni in Venere direkt von Rom abzuleiten sind oder über den Umweg von Neapel.
Figürliche Mosaiken
Mosaikwerkstätten setzen eine lange Tradition an Ort und Stelle voraus. Sie mußten ständig beschäftigt werden, was zahlreiche Aufträge erforderlich machte. Das aufwendige Arbeitsmaterial konnte nicht so leicht von einem Ort zum anderen bewegt werden wie Pinsel und Farbtopf eines Malers oder wie der Schreibstift eines Skriptors. In die Abruzzen, mit ihren verstreuten kirchlichen Niederlassungen auf dem Lande, ist die Kunstübung des Mosaizierens niemals eingedrungen. Die Städte Apuliens und Kampaniens, Rom und die Toskana kannten sich in dieser Technik sehr wohl aus. Die Anwendung bunter Steine und Glaspasten, die man zu Figuren und Szenen zusammensetzte, war stets mit einer gewissen Prachtliebe verbunden, welche den sich auf das Einfache beschränkenden Bergbewohnern fremd war. Diese innere Abneigung war vielleicht schwerer zu überwinden als die technischen Schwierigkeiten. Die einzigen figürlichen Mosaiken in unserer Region sind an der Südgrenze im Molise im Dom von Termoli überliefert. Dort war allerdings keine heimische Werkstatt tätig, sondern die Künstler kamen aus Apulien. Bei Restaurierungen um 1935 fand man unter dem heutigen Dom Fundamente eines Vorgängerbaus. Es ist noch das letzte Stützenpaar des Langhauses vor dem Chor sichtbar, eine Säule und ein Pilaster mit vorgelegter Halbsäule. Entsprechende Stützen befinden sich vor den Mauerzungen zwischen den Apsiden. Der Altbau war wie die Oberkirche nach Westen orientiert, beide haben die gleiche Breite, doch sind die Apsiden der späteren Kirche weiter nach Westen vorgezogen. Auf diese Weise entstand im Abstand von ein bis zwei Meter eine Ummantelung. Die wertvollste Entdeckung bilden die Fußbodenmosaiken des frühen 12..Jh. in der linken Apsis mit Darstellungen phantastischer Tiere. Stilistisch verbinden sie sich mit den Mosaiken der 1045 gebauten Abteikirche S. Maria a Mare auf der (S. 194) Insel S. Nicola, die zur Gruppe der Tremiti-Inseln gehört, die im 12..Jh. einen Teil der Diözese Termoli bildete. Mosaiken aus derselben Zeit, aber von einer anderen Künstlerhand, zeigen Tierdarstellungen, u. a. Löwen und Fische. Sie zieren den Fußboden des Mittelschiffs im Altbau und sind heute schwer zugänglich; sie sind nur zu betrachten, wenn es einem gelingt, die schweren Bretter im Mittelgang der Oberkirche beseitigen zu lassen.
Skriptorien und Miniaturmalerei
Vorbemerkung
Die Erforschung der Skriptorien in den Abruzzen und im Molise ist eine Beschäftigung mit dem mittelalterlichen Humanismus. Die Schreibwerkstätten unterstanden in unserer Zeit den Kathedralen und Klöstern. Weltliche Feudalherren und die Städte, die später durch zahlreiche Statuten und Ortsgeschichten eine neue Art von Quellen liefern werden, waren in dieser Zeit noch nicht wirksam. Von der Vielzahl der Skriptorien mit ihrem Reichtum an Handschriften können wir nur annähernde Vorstellungen gewinnen. Was übriggeblieben oder zu rekonstruieren ist, stellt nur einen zufälligen Bruchteil des Bestandes dar. Die Kirchenschätze der Abruzzen und des Molise, zu denen die kostbaren Manuskripte gehörten, waren in allen Jahrhunderten Plünderungen begieriger Humanisten ausgesetzt. Diebstähle waren und sind noch heute an der Tagesordnung. In Notzeiten der Klöster kam es zu Verkäufen, und die leichte Transportierbarkeit der Handschriften brachte es mit sich, daß heute Kodizes und Miniaturen unseres Berglandes über die ganze Welt verstreut sind und nur Relikte, meistens von minderwertiger Qualität, noch an Ort und Stelle zu studieren sind. Auf Grund derartiger Schwierigkeiten hat die Forschung, besonders die Kunstgeschichte, trotz mancher Einzeluntersuchung noch keinen Gesamtüberblick gewonnen, der die Stilphänomene bis ins einzelne ausgelotet hätte.
Die Miniaturmalerei ging in unserem Bergland ganz andere Wege als die Monumentalmalerei. In den Fresken entwickelte sich ein lokaler Stil, der häufig künstlerisch bedeutsame Werke hervorbrachte. Die Miniaturmalerei steht mehr als die Wandmalerei im Bann der benediktinischen Ausstrahlungen. Die große Zeit dieser von Montecassino ausgehenden Expansion waren das 11. und 12.. Jahrhundert. Während die Blütezeit der abruzzesischen Großmalerei im vorgeschrittenen q.Jh. liegt, entfaltete sich die Tätigkeit der Miniaturisten vor allem im 12. Jh., aus dem keine Wandmalereien überliefert sind. In der Miniaturmalerei kam es kaum zu einem abruzzesischen Eigenstil. Trotzdem ist sie als historisches Phänomen von größter Bedeutung. Beobachten wir in anderen Kunstzweigen einen Schwerpunkt der künstlerischen Tätigkeit im Hochland der Abruzzen, so gewinnt diesmal der adriatische Küstenstreifen an Bedeutung. Die meisten Skriptorien sind in den Provinzen Teramo und Pescara und besonders in der Provinz Chieti überliefert.
Chroniken
Angeregt durch die cluniazensische Bewegung und durch die Reformideen des Papstes GregorVII. erhielten die benediktinischen Chroniken Italiens völlig neue Akzente. Aus hagiographisehen Erbauungsbüchern und aus mit Wundergeschichten gespeisten Berichten entstand die historische Chronik, eine Geschichtsquelle ersten Ranges. Gegen Ende des II.Jh. wurde das Mutterkloster Montecassino Gegenstand einer ausführlichen Darstellung, die von dem Abruzzesen Leo aus dem Geschlecht der Marsergrafen stammt. Den Auftrag dazu bekam er von Abt Desiderius, zu dessen Zeit das Kloster die höchste Blüte erreichte. Leo erhielt vom Abt die Anweisung, die Geschichte der Abtei von den Anfängen bis zur Gegenwart zu beschreiben. Besonderen Wert legte man auf die Dokumentation durch Urkunden, Privilegien und Schenkungen, die Kaiser, Könige, Fürsten und Herzöge zugunsten des Klosters ausgestellt bzw. vorgenommen hatten. Diese Form der Darstellung wurde auch in den Chroniken unserer Region übernommen, in S. Vincenzo al Volturno, S. Clemente a Casauria und in S. Bartolomeo bei Carpineto.
Zu den historischen Quellen gehören auch die Obituarien, die die Seelenmessen für die Toten, die einem Kloster nahestanden, erwähnen. Ein frühes Beispiel für ein Nekrologium ist in S. Giovanni in Venere aus dem 11. Jh. überliefert. Die älteste Chronik, die die Anordnung von Montecassino übernimmt, stammt aus dem Molise, aus S. Vincenzo al Volturno, der Abtei, die besonders enge Beziehungen zum Mutterkloster unterhielt. Ferner bezog sich der Verfasser auf die Chronik des befreundeten Klosters Farfa, wo Gregorius di Catina den Stoff in ähnlicher Weise behandelt hatte. Autor des Unternehmens in S. Vincenzo ist der dortige Mönch Johannes, der später als Johannes VI. Abt des Klosters wurde. Mit der Niederschrift begann er kurz vor I I 15. Er brauchte lange Zeit, um sich mit den Archivalien seines Klosters vertraut zu machen, und er arbeitete an seinem Werk bis um die Mine des Jahres 1139, als er zum Abt ernannt wurde. Wegen der Bürde der neuen Tätigkeit konnte er sein Vorhaben nicht fortsetzen. Die Chronik war, wie der Verfasser in seiner Einleitung sagt, auf sieben Bücher angelegt, wobei er die siebenteilige Gliederung in Anlehnung an die sieben Schöpfungstage gewählt hat, wie er sagt. Die Arbeit bricht am Ende des fünften Buches ab mit der Beschreibung der Taten des Abtes Liofredus (1045-1053) und den Anfängen der Regierungszeit des Nachfolgers Johannes V. (1053-1076). Die letzte Eintragung bezieht sich auf die Wahl Robert Guiscards zum Fürsten von Capua (1076/ 1077). Das Werk enthält die Lebensgeschichten der Äbte von den Anfängen bis auf Johannes V. und die Abschriften von 207 Dokumenten, die sich auf S. Vincenzo beziehen. Eingestreut sind eine Papst-und eine Kaiserliste, historische Berichte über Langobarden, Franken, Könige Italiens, fränkische und deutsche Kaiser, Nachrichten über Bulgaren und Sarazenen sowie Heiligenlegenden. Das Manuskript hat 341 Seiten (23,6 x 19,5 cm), geschrieben in cassinesisch-beneven (S. 195) Itanischen Minuskeln. Die Aufzeichnungen und Dokumente wurden mit 37 Miniaturen und 29 Büsten von Äbten aus S. Vincenzo illustriert. Das Original, von dem auch Abschriften bekannt sind, wurde 1566 in S. Vincenzo neu entdeckt, kam zunächst nach Neapel und gelangte dann auf vielen Umwegen 1685 in den Besitz der Familie Barberini in Rom und befindet sich seit 1902 im Vatikan als Ms. Barb. lat. 2724. Für die Geschichte des Molise in unserer Zeit ist die Chronik von S. Vincenzo die wichtigste Geschichtsquelle.
Ungefähr ein halbes Jahrhundert später erhielten die Abruzzen ihr bedeutendstes Geschichtswerk in der Chronik von S. Clemente a Casauria. Die Anordnung des Stoffes geht wieder auf cassinesische Gewohnheiten zurück. Neben der Klostergeschichte, die chronologisch an Hand der Lebensläufe der Äbte vorgeführt wird, werden mehr als 2200 Dokumente verarbeitet. Jede Seite besteht aus zwei Textkolumnen, die eine ist breiter und behandelt die Privilegien, die schmalere wird an den Rändern durch einfache Striche eingefaßt und enthält die eigentliche Chronik von Casauria. Der Kodex ist mit Miniaturen versehen. Ähnlich wie in S. Vincenzo werden Äbte, Kaiser, Könige, Fürsten, Barone und die Wohltäter des Klosters dargestellt. Die in vier Bücher unterteilte Handschrift hat 272 Pergamentseiten (40 x 25 cm). Die Schrift ist nicht mehr beneventanisch-cassinesisch, sondern die Buchstaben nähern sich gotischen Formen. Das Werk war 1182 zum Abschluß gebracht worden. Einige Verwirrung hat ein Satz gestiftet, in dem sich die Verfertiger der Handschrift nennen: »Hunc quoque librum instrumentorum seu chronicorum, quem ego frater Johannes composui et ordinavi et magister Rusticus manibus scripsit, ipso Leonate iubente, perfecimus« (Dieses Buch mit Dokumenten und Chroniken, das ich, der Mönch Johannes zusammenstellte und ordnete und der Magister Rusticus eigenhändig schrieb, brachten wir auf Anweisung des Leonas zum Abschluß). Auftraggeber war ganz eindeutig Abt Leonas von Casauria (gest. I I 82). Der Mönch Johannes stellte an Hand des Klosterarchivs das Material zusammen und ordnete es, und die eigentliche Niederschrift besorgte Magister Rusticus. Es ist häufig die Meinung vertreten worden, Johannes sei der Schreiber gewesen und Rusticus hätte die Miniaturen ausgeführt. Vom Miniator ist aber überhaupt nicht die Rede. Der gesamte Kodex zeigt eine einheitliche Kalligraphie. Allein auf Seite 251, die leer geblieben war, befindet sich ein Nachtrag von anderer Hand mit der Abschrift eines Dokuments vom Jahre 1131. Die Chronik von Casauria wurde von den Mönchen 1494 an König Karl VIII. von Frankreich geschenkt, als dieser eine Expedition nach Süditalien unternahm, um die Ansprüche des Hauses Anjou auf Neapel geltend zu machen. Karl inkorporierte die Handschrift seiner königlichen Bibliothek. Sie wird heute in der Nationalbibliothek in Paris unter der Signatur Ms. lat. 541 I verwahrt. Diese wichtigste mirtelalterliche Geschichtsquelle der Abruzzen ist noch nicht vollständig publiziert worden. Eine gute kommentierte Ausgabe gehört zu den dringendsten Aufgaben der abruzzesischen Historiker.
In S. Flaviano, dem heutigen Giulianova, existierte im 12. Jh. ein Nekrologium, das heute verschollen ist. Es war im Besitz des Bischofs Guido von Teramo (1156-1170), der sich nach der Zerstörung seiner Bischofsstadt auf das Kastell von S. F1aviano zurückgezogen harte. 1185 erstellte der Mönch Rolandus die Chronik von S. Stefano di Rivomare bei Casalbordino, eine Abtei, die 842 errichtet worden war. Die Chronik von Loreto Aprutino (Chronicon Lauretanum) wurde im Jahr 1182 begonnen, und die letzten Eintragungen stammen von 1271. Dieses Dokument berichtet nur von allgemeinen Ereignissen, ohne Privilegien und Urkunden zu überliefern. Das Manuskript befindet sich in der Nationalbibliothek von Neapel in einem Sammelband mit der Signatur IX,C 24, fol. 52-53. Wichtiger ist die Chronik von S. Bartolomeo bei Carpineto. Nach dem Muster von Montecassino behandelt sie die Abtsgeschichte unter Verwendung des Archivmaterials der Abtei. Verfasser war der Mönch Alexander aus S.Bartolomeo am Ende des 12. Jahrhunderts. Keine abruzzesische Chronik ist im Hochland der Region überliefert, alle Beispiele stammen aus dem adriatischen Küstenstreifen.
Skriptorien
Die Stadt Teramo, wo die Herstellung von Handschriften und Miniaturen erst im 14. und 15. Jh. zur Entfaltung kam, hat schon im frühen Mittelalter über eine Schreibschule verfügt. Der Vatikan verwahrt unter der Signatur Ms. Barb.lat. 505 eine im 9. oder 10. Jh. entstandene Abschrift der Werke des hl. Beda von einem Adelbertus aus Teramo, die dieser der Kathedrale seiner Stadt widmete »ad honorem b. Mariae sedis Abruptiensis«. An dieselbe Kathedrale wurde von Bischof Guido (1156-1170) ein Evangeliar gestiftet. Das Domarchiv von Atri besitzt über 22 Handschriften, die zwischen 1140 und 1400 entstanden. Im 12. und J3. Jh. wurden dort qualitätvolle Miniaturen angefertigt. In der Provinz Pescara bestand wohl das älteste Skriptorium der Abruzzen in der Abtei S. Liberatore alla Maiella, die schon mehrfach in anderen Zusammenhängen erwähnt wurde. Die Kenntnisse über die Schreibschule von S. Bartolomeo in Carpineto della Nora müßten noch eingehender ausgewertet werden. Der Mönch Alexander erwähnt in seiner Chronik von S. Bartolomeo den aus Civitella gebürtigen Erimundus, der Abt dieses Klosters war und nach 25jähriger Amtszeit am 25. Januar I 072 starb. Er war auch Leiter des dortigen Skriptoriums, aus dem noch einige z. T. illuminierte Handschriften nachzuweisen sind. Verschwunden ist eine fünfbändige Bibel in beneventanischer Schrift, die der Mönch Berardus 1251 an den Dom von Sulmona gestiftet hat. Andere heute verschollene Kodizes sah der Historiograph Antinori (gest. 1778) im Kloster von Casanova, das 1258 mit S. Bartolomeo vereinigt wurde. Ein leidenschaftlicher Liebhaber von Manuskripten war Kardinal Federico Borromeo (1564-1631), der seine Agenten in Italien ausschickte, um alte Handschriften zu sammeln, die er der von ihm gegründeten Biblioteca Ambrosiana in Mailand zukommen ließ. Darunter befanden sich auch illuminierte Werke in beneven (S. 196) Itanischer Schrift aus Carpineto. Im Jahre 1901 wurde aus der Bibliothek Corvisieri in Rom ein Kodex mit Miniaturen des 1 I.Jh. versteigert, der den Besitzvermerk trug »Liber iste est monasterii Case Nove d. Cardinalis Borromei 1612.«. Die Chronik von S. Clemente a Casauria bezeugt, daß auch dort eine angesehene Schreibschule tätig war. Besonders zahlreich sind die Skriptorien in der Provinz Chieti vertreten. In der Hauptstadt selbst erwähnten wir bereits an anderer Stelle eine Schreibschule des 9. Jahrhunderts. Im Jahre 1064 illuminierte ein Kleriker namens Theodoricus von Ortona a Mare ein heute verschollenes Meßbuch, das von dem Subdiakon Petrus aus Chieti geschrieben wurde. Aus Chieti stammen wahrscheinlich zwei illuminierte Handschriften des 12. Jh., die heute im Vatikan als Vat.lat. 7818 und 10646 zu finden sind. Die erste enthält ein römisches Pontifikal, eine Sammlung liturgischer Formulare für die bischöflichen Funktionen, die zweite ein römisches Meßbuch. Das Kapitelarchiv in Chieti ist im Besitz mehrerer alter Handschriften. Darunter befinden sich die Dialoge Gregors des Großen. Die abruzzesische Lokalliteratur überliefert, daß um das Jahr 1000 eine Schreibschule in S. Clemente a Camino bei Guardiagrele bestand, die ihre Erzeugnisse illuminierte und in der Umgebung verbreitete. Zwischen den Orten Guardiagrele und Rapino lag das um 800 gegründete Kloster S. Salvatore alla Maiella, das bis zum 15. Jh. existierte. Dort lebte im 10. Jh. ein gewisser Johannes, der, um der Welt zu entfliehen, nach S. Salvatore kam und dort 64 Bücher abschrieb. Eins davon hat der Historiker Domenico Romanelli, der am Ende des 18. und am Anfang des 19· Jh. lebte, gesehen. Er fand den Besitzvermerk: .,Ego Johannes, Dei gratiam mundum fugiens, monasterium Magellanum [Maiella] petii ... libros autem LXIV scribere feci«. Die Chronik von S. Stefano in Rivomare bestätigt die Existenz einer Schreibschule in diesem Kloster. Vom Skriptorium in S. Giovanni in Venere zeugt das dortige Nekrologium des 11.Jahrhunderts. In dieser Zeit verfügte die Abtei über eine reiche Bibliothek. Um das Jahr 1030 führte dort der Mönch Giuliano da Palearea Handschriften mit Miniaturen aus, die er auch signierte, von denen aber nichts erhalten ist. Weniger verbreitet sind die Skriptorien im Hochland der Abruzzen. In einem Inventar von 1400, das der Mönch Petrus Ungerus für das Kloster SS. Cosma e Damiano in Tagliacozzo erstellte, werden 56 Handschriften aufgezählt. Aus diesem Bestand wird in Montecassino ein Fragment des 13. Jh. verwahrt, das einen Teil des Traktats des hl. Augustin betreffend das Johannesevangelium in beneventanischcassinesischer Schrift enthält. Aus der Mitte des 13. Jh. ist in der Kirche S. Francesco in Tagliacozzo ein wertvolles mit Miniaturen versehenes Missale erhalten, ausgeführt in gotischer Schrift mit zwei Textkolumnen auf jeder Seite. Der Kodex umfaßt 270 Seiten (31 x 24 cm) und stammt aus der Benediktinerkirche S. Giovanni in Val di Varri bei Tagliacozzo. Natürlich besaß auch das Bistum Valva in Corfinio eine Schreibschule. Die älteste dort ausgestellte Urkunde ist vom 6. September 843 datiert. Eine Handschrift des 11. oder 11. Jh., die viele Heiligenlegenden, u. a. die des hl. Pelinus von Valva enthält, liegt heute im Vatikan als Vat. lat. 1197. Sie kam 1580 dorthin als Geschenk der Mönche von Valva. Das Mutterkloster Montecassino besitzt einige Handschriften, die von Barrea nach dort gelangten. Aus dem 10. Jh. stammt ein Fragment (35 x 27 cm) der Leidensgeschichte des hl. Apollinaris von Ravenna. Auf zwei Folioblättern (39 x 18 cm) mit je zwei Textkolumnen sind einige Kapitel aus dem vierten Buch des Moses erhalten. Ein anderes Fragment aus dem 11. oder 13. Jh. erzählt Begebenheiten aus dem Leben des hl. Eustachius sowie aus dem Leben seiner Frau und seiner Kinder.
Den Beweis für ein ansehnliches Skriptorium in S. Vincenzo al Volturno liefert die Chronik dieses Klosters. In ihr sind längst nicht aUe Dokumente edaßt, die die Abtei einstmals besaß. Einige davon wurden im Vatikan aufgefunden, andere in der Kathedrale von Sulmona und im Kapitelarchiv von Piacenza. Aus dem 11. Jh. sind aus S. Vincenzo noch eine Bibel und andere kleinere Kodizes nachweisbar.
Ein zweites Skriptorium des Molise bestand in S. Pietro Avellana, wo im 1 I. Jh. der hl. Domenicus von Sora eine Benediktinerabtei zu Ehren des hl. Petrus gegründet hatte. In einem Inventar vom 10. Oktober 1171 zählt der Propst Petrus di Majo eine Liste von Handschriften aus dem Klosterbesitz auf. Aus diesen Beständen ist der Kodex 465 in Montecassino übriggeblieben. Er enthält eine Predigtsammlung des II.Jh. und vier Blätter mit kolorierten Initialen, die einen Teil der Moralia des Papstes Gregor d. Gr. darstellen.
Miniaturmalerei
Exultetrollen enthalten einen Hymnus des Augustin, der am Gründonnerstag verlesen wurde. Sie kommen nur in Südund Mirtelitalien vor. Ihre ausführliche Bebilderung vermittelt unschätzbare Kenntnisse von der Monumentalmalerei des frühen Mittelalters, welche davon beeinflußt wurde und von der nur wenig überliefert ist. Von 18 aus Mittel-und Süditalien erhaltenen Exultetrollen zeigen nur zwei nicht die übliche Illustrierung; die eine befindet sich in der Bischofskurie von Avezzano und die andere im Kathedralarchiv von Bari. Das Exemplar in Avezzano ist die einzige in den Abruzzen erhaltene Rolle, 5,66 m lang und 27 cm breit. Acht Pergamentblätter von unterschiedlicher Länge, zwischen 40 und 85 cm schwankend, sind mit weißen Pergamentfäden aneinandergenäht. Die Rolle in Avezzano ist vorzüglich erhalten; der Text ist mit brauner Tinte geschrieben und ein Meisterwerk cassinesischer Kalligraphie. Die Rolle wurde für die Diözese des Marserlandes angefertigt und nennt den Namen des Bischofs Pandulfus. Er regierte 1057 und unterhielt engste Beziehungen zu Montecassino, das er mit liturgischen Geräten beschenkte. Zwar fehlen die Darstellungen der sonst üblichen Szenen, doch ist das Exemplar von Avezzano nicht ganz ohne bildlichen Schmuck. In den Text sind Darstellungen von Windhunden und Drachen eingestreut sowie die üblichen geometrischen und pflanzlichen Ornamente, alles von großer Feinheit in der Zeichnung. Einzigartig ist das Haupt des Erlösers in kleinem Format, umgeben von einer rötlichen Scheibe mit weißen Tupfern gleich (S. 197) Ieiner Perlschnur. Dieser Kreis ist in ein Rechteck von grünlicher Farbe eingeschlossen, um das sich konzentrisch eingrößeres Rechteck legt. Diese äußere Rahmung ist mit Spiralbändern ausgefüllt, worin Hunde verstrickt sind. Christus selbst repräsentiert den byzantinischen Typ, jugendlich und bartlos, der Ansatz der Tunika ist orangefarbig.
Eine zweite Exultetrolle in den Abruzzen, diesmal mit szenischen Darstellungen, ist dokumentarisch für S. Maria delle Grazie in Luco dei Marsi überliefert. Dort entstand 1372 ein Kircheninventar, das die heute verlorene Rolle erwähnt.
Zwischen dem 20. Dezember 1899 und dem 20. Januar 1900 wurde an 23 Tagen in Rom die Bibliothek Corvisieri versteigert. Zum Verkauf kam die bereits erwähnte Handschrift mit dem Besitzvermerk des Federico Borromeo am oberen Rand der ersten Seite und dem Hinweis, daß der Kodex aus Casanova stammt. Das Manuskript enthält Heiligenviten aus dem II.Jh. auf 186 nicht numerierten Seiten (41,5 X29,5 cm). Laut Verkaufskatalog zeigt die Handschrift 34 reichgeschmückte Initialen, von denen eine abgebildet ist. Ober ihren Käufer und ihren Verbleib ist bislang nichts bekanntgeworden.
Die wertvollsten Miniaturen sind in der Chronik von S. Vincenzo al Volturno im Molise erhalten. Der Bericht ist von Wichtigkeit für die Geschichte des Klosters selbst, er ist aber auch aufschlußreich für die Kunstgeschichte sowie für die Kenntnis der ökonomischen und sozialen Verhältnisse des Umlandes, wo S. Vincenzo Liegenschaften besaß. Darüber hinaus erhalten wir einen genauen Einblick in den Werkstattbetrieb eines Skriptoriums. Es beschäftigte für die Anfertigung der zwischen 11 I 5 und 113 9 entstandenen Handschrift zahlreiche Schönschreiber mit unterschiedlichen Schriftzügen und mindestens zehn Miniatoren. Der Anteil einiger Künstler beschränkte sich nur auf wenige Darstellungen. So kennen wir von einem Meister nur das Dedikationsbild, die erste Illustration in der Handschrift, von einem anderen ist nur das Bild mit der Donation Kaiser Ottos H. an S. Vincenzo bekannt, wieder von einem anderen stammen nur zwei Abtsbüsten, von denen die eine unvollendet ist. Die meisten Miniatoren hingegen waren mit größeren Aufgaben bedacht. Sie schufen manchmal ganze Bildfolgen hintereinander. Dann finden wir aber auch andere, deren Arbeiten an den verschiedensten Stellen der Handschrift auftauchen. Oft stammt die Illustration auf Vorder-und Rückseite von verschiedenen Meistern. Die Bebilderung des Kodex ist ungleichmäßig, der Anfang ist reicher mit Miniaturen ausgestattet, während sie zum Ende hin seltener werden und ihre Qualität nachläßt. Die Miniatoren erhielten ihre Aufgaben entsprechend ihrer Begabung zugewiesen. Das Dedikationsbild, als erste und vornehmste Miniatur der Handschrift, zeigt den besten Künstler am Werk. Es gehört zu den schönsten benediktinischen Buchmalereien Süditaliens. Die zahlreichen Donationsbilder erreichen nicht diese Bedeutung, noch weniger die Miniaturen, die die Gründungsgeschichte des Klosters erzählen, und am belanglosesten sind die sich dauernd wiederholenden Bilder der Äbte. Die Arbeit war so aufgeteilt, daß ein Meister das Dedikationsbild schuf, fünf andere verfertigten die Donationsbilder, zwei sind an der Darstellung der Gründungsgeschichte beteiligt, und vier verschiedene Hände waren mit den Porträts der Äbte betraut.
Auf dem Dedikationsbild (Tf. 166a), der einzigen christologischen Darstellung der Handschrift, erscheint auf purpurfarbenem Grund der segnende Christus in der Mandorla, links und rechts begleitet von Maria und dem Täufer. Links unter der Mandorla fleht mit erhobenen Händen Johannes, der Verfasser der Chronik, inbrünstig den Heiland an. Besondere Sorgfalt verwandte der Künstler auf die großartige Christllsfigur, die auf einem mit Edelsteinen besetzten Bogen sitzt. Der Kopf mit Kreuznimbus, die rechte Hand und die Füße greifen über die innere Kreisfläche aus kräftigem Blau in die grünliche Mandorla über, deren inneren und äußeren Rand zwei weinrote Streifen begleiten. Das Gewand Christi ist weiß getupft, und die Falten des Saumes bilden bald gezackte, bald geschwungene hauchzarte weiße Linien. Der Kreuznimbus, der Kopf Christi und seine Hände sind bis ins kleinste differenziert. Im Gegensatz zu der leuchtenden Farbigkeit dieser Gestalt erscheinen die Randfiguren von Maria und Johannes in reiner Federzeichnung und in kleinerem Format als die Sitzfigur Christi. Koloriert dagegen ist der ausdrucksvolle Mönch und Autor Johannes, der die Assistenzfiguren Maria und Johannes d. T. an Größe bedeutend übertrifft.
In der Gruppe der Donationsbilder unterscheiden sich die fünf beteiligten Künstler am meisten in der Behandlung des Hintergrundes. Der eine stellt seine Szene vor eine Fläche, die vertikal von purpurnen und blauen Streifen gegliedert ist, ein anderer füllt den Hintergrund mit einer einfarbigen kräftig getönten Architekturdarstellung aus, wieder ein anderer zeigt sein Bild vor einem Ornament, das wie die Drapierung eines Stoffes erscheint. Auch in der Gestaltung der Figuren unterscheiden sich die Meister; die einen zeichnen sie größer, schmaler und eleganter, die anderen geben sie untersetzter und summarischer wieder.
Die Donationsbilder beschränken sich auf Päpste und auf regierende weltliche Herrscher. Erzbischöfe, Bischöfe und der niedere Adel werden nicht berücksichtigt. Die Päpste erscheinen mit einer Ausnahme als Stifter von Privilegien an die Äbte von S. Vincenzo; so Papst Stephan II. (752-757) an Ato, Stephan VII. (928-931) an Raimbaldus, Martin II. (942 bis 946) an Leo, Johannes XV. (985-996) an Roffredus, Papst Paschalis II. (1099-1118) tritt zweimal auf. Einmal ermuntert er den Autor Johannes, in seiner mühevollen Arbeit auszuharren, das andere Mal stellt er vermutlich dem Abt Benedikt von S. Vincenzo ein Privileg aus.
Weit mehr als die geistliche Macht kommt die weltliche zu Wort. Auch in diesen Bildern geht es um Privilegien und Schenkungen, die von beneventanischen Herzögen, langobardischen Königen, italienischen Nationalkönigen und Kaisern bewilligt werden. Der älteste dargestellte Herrscher ist Gisulf I., Herzog von Benevent (689-706). Er steht auf der linken Bildseite und übergibt einem der drei Kloster (S. 198) Igründer das Diplom mit der Bauerlaubnis. Die drei Gründer stehen aber in der bereits fertigen Kirche von S. Vincenzo, in der noch ein Altar mit einem Kelch darauf zu sehen ist. Ein anderer Miniator zeigt den knienden Gisulf 11., Herzog von Benevent (742-751), der dem thronenden hl. Vincenz mit grünem Nimbus ein Privileg darbietet. Die Assistenzfiguren auf der rechten Bildseite sind ein Abt und ein Mönch. Zu den Wohltätern gehört auch der Herzog Ariehis 11. von Benevent (758-760), der im Innern der Klosterkirche seine Urkunde aushändigt (Tf. 166g).
Von langobardischen Königen wird Aistulf (749-760) vorgestellt (Tf. 166f), der dem hl. Vincenz ein Diplom überreicht. Die Assistenzfiguren des Heiligen sind Abt Paldus und ein Mönch. Der letzte Langobardenkönig Desiderius wird zweimal gezeigt. Als Dreiviertelfigur mit der Langobardenkrone auf dem Haupt greift er mit der linken Hand in eine Initiale, die den Bericht des Traumes einleitet, in dem ihn der Apostelfürst Petrus auffordert, eine Kirche in Trita S. Pietro ad Oratorium) zu bauen, die er dann dem Kloster S. Vincenzo al Volturno unterstellte. In einem anderen Bild übergibt Desiderius das Privileg für S. Pietro in Trita dem hl. Vincenz.
Die Reihe der italienischen Nationalkönige eröffnet Pippin (gest. 810), Sohn Karls des Großen. Kniend übergibt er eine Urkunde dem thronenden hl. Vincenz, der von einem Abt mit quadratischem Nimbus und zwei Mönchen umstanden ist. Der König Hugo (926-947) und sein Sohn, König Lotharll. (gest. 950), überreichen kniend ihr Privileg dem Titelheiligen. In gleicher Form ist die Schenkung der beiden Könige Berengarll. (950-964) und Adelbert vom Jahre 951 dargestellt.
Von den Kaisern wird Karl d. Gr. zweimal vorgeführt. Im Innern der Kirche übergibt er als Dreiviertelfigur ein Diplom an einen von einem Mönch begleiteten Abt, an anderer Stelle bestätigt Karl dem Abt Autpertus die Besitzungen seines Klosters. Der Vorgang spielt wieder im Innenraum einer Kirche. Ähnliche Bildschemata wiederholen sich in den anderen Donationsbildern, wobei nur die Stifter ausgetauscht werden. So überreicht Ludwig der Fromme (814-840) seine Urkunde an den Titelheiligen, ein anderes Mal vollzieht Kaiser Guido (gest. 894) den gleichen Akt. Stereotyp präsentieren sich die Kaiser Otto I. und Otto 11. mit dem Unterschied, daß Orto I. kniend auf der rechten Bildseite erscheint, wie er sein Diplom an den von zwei Figuren begleiteten hl. Vincenz übergibt, während Otto 11. auf der linken Seite kniet. Die byzantinischen Kaiser werden nicht anders behandelt. Von fünf in der angeführten Urkunde genannten Kaisern werden in der dazugehörigen Miniatur nur zwei vorgestellt, die dem Titelheiligen und dem Abt Leo (944-957), der von einem Mönch begleitet ist, ihre Wohltaten zukommen lassen.
Der Chronik von S. Vincenzo geht die Erzählung des Mönches Autpertus voraus, der das Leben und den Tod der drei beneventanischen Edelleute Paldo, Taso und Tato schildert, die das Kloster im ersten Jahrzehnt des 8. Jh. gründeten. Der Verfasser, zunächst Mönch von S. Vincenzo, schrieb den Traktat im Auftrag seines Abtes, wahrscheinlich Johannes I. (764-778). Autpertus wurde dann 778-779 selbst Abt dieses Klosters und starb 784. In dieser illuminierten Gründungsgeschichte sind die Figuren reine Federzeichnungen auf farbigen Grundflächen in Blau, Rot und Gelb. Ihre Gestik ist unbeholfen. Dieser Miniator ist nicht an der Illustrierung der eigentlichen Chronik beteiligt. Die nicht zu hoch zu veranschlagende Qualität der Bilder wird durch volkstümliche Frische und Anschaulichkeit ausgeglichen, die wir in den Miniaturen der Klosterchronik vermissen. Nur der zweite an den letzten Bildern der Gründungsgeschichte beteiligte Miniator taucht in der Chronik wieder auf, wo er die Donationsszenen des Herzogs Ariehis 11. von Benevent und des Papstes Stephan 11. ausführte. Die erste Darstellung des ersten Miniators behandelt den unbemerkten Ausritt der drei Edelleute aus ihrer Heimatstadt Benevent (Tf. 166b). Die Stadtvedute ist mit Kirchen und Stadttürmen gen au dargestellt. Auf ihrer Reise begegnen die Jünglinge im Marserland drei Armen, mit denen sie ihre Gewänder tauschen (Tf. 166c). Auf der Weiterfahrt kommen die Beneventaner in das Kloster Farfa im Sabinerland, wo ihnen Abt Thomas (gest. um 720) die Füße wäscht. Die nächste Miniatur zeigt die drei Herren auf Besuch in der Stadt Rom (Tf. 166d). Links sieht man das Stadtbild, rechts die Peterskirehe, wo sie zusammen mit Abt Thomas das Grab des Apostelfürsten besuchen. Im nächsten Bild treten in einer Arkadenarchitektur die verzweifelten Angehörigen der Jünglinge auf, die überall gesucht wurden (Tf. 166e). Vom Abt Thomas erhalten sie die Einwilligung zur Rückkehr in ihr Heimatland unter der Bedingung, sich in den unwirtlichen, von Räubern und wilden Tieren heimgesuchten Gefilden an den Quellen des Volturno niederzulassen, wo schon ein Kirchlein des hl. Vincenz bestand. Das nächste Bild zeigt die Ankunft der drei Wandersleute an ihrem neuen Bestimmungsort. Dort fristen sie ein klägliches Leben, so daß eine neue Begebenheit geschildert werden muß, wie ein Engel den Erschöpften Wein und Brot bringt, eine Darstellung des zweiten Miniators. Die beiden nächsten Szenen sind die letzten von der Hand des ersten Miniators. Sie zeigen den ersten Abt des Klosters, Paldo, wie er in S. Vincenzo Zuzug von weiteren Mönchen bekommt und diese segnet. In der nächsten Miniatur nehmen wir an der Totenmesse des auf der nackten Erde liegenden Paldo teil. In der Gestalt eines Kindes wird seine Seele von einem Engel in Empfang genommen. Sein Nachfolger als Abt ist der zweite Edelmann Taso. Auf reich geschmücktem Stuhl sitzend, verhandelt er unter einer Arkadenarchitektur mit seinen Mönchen. Der Abt hat es nicht leicht gehabt. Sein überschwenglicher Gotteseifer wurde den Mönchen zur Last. Sie setzten ihn ab und wählten einen neuen Abt. Solche Untat rächte Gott und ließ die Anstifter dieses Plans einen nach dem anderen sterben, so daß manchmal zwei oder drei in einem Sarg beigesetzt werden mußten. Diese Szene wird sehr anschaulich geschildert. Die Mönche liegen einzeln oder zu zweien in ihren Särgen, wobei links ein spätantiker Riefelsarkophag nachgeahmt wird. Danach kamen glücklichere Zeiten, und so schildert das Schlußbild den wieder als Abt eingesetzten Taso im (S. 199) Ifriedlichen Gespräch mit seinen Mönchen in der Kirche von S. Vincenzo al Volturno.
Die Chronik ist mit 27 Bildern von Äbten ausgestattet. Mit Ausnahme der Gründeräbte Taso und Tato, die als Ganzfiguren erscheinen, werden die übrigen sehr schematisch als Büsten dargestellt, ohne daß eine physiognomische Charakterisierung gesucht wird. Einen guten Beweis hierfür liefert der Vergleich des Bildnisses des Abtes Epiphanias (824-842) in der Chronik mit dem lebensnahen und porträtähnlichen Fresko in der Krypta von S. Lorenzo in S. Vincenzo al Volturno, wo er als Stifter der Malereien erscheint.
Nur wenige Darstellungen stehen außerhalb des beschriebenen begrenzten Themenkreises der Miniaturen. Dazu gehört ein Lageplan von S. Pietro ad Oratorium, dem Kloster, das S. Vincenzo al Volturno unterstand. In der Gründungsurkunde sagt der letzte Langobardenkönig Desiderius, er habe die Abtei zu Ehren des hl. Petrus gestiftet, dem er schon in seiner Residenz Pavia eine Kirche (S. Maria e S. Pietro) errichtet hätte. Die Zeichnung gibt die topographische Situation von S. Pietro ad Oratorium wieder, an dem der Fluß Tirino vorbeifließt, in dessen Oberlauf zwei nicht genannte Wasserläufe münden. Eingezeichnet sind die benachbarten Städte »Ansedona« und »Fidene«. Möglicherweise verfügte das Archiv von S. Vincenzo über Katasterpläne noch anderer Liegenschaften, und der Autor der Chronik, Johannes, wählte nur den Plan von S. Pietro ad Oratorium aus. Die Besitzeintragungen waren ja überhaupt ein Anliegen des Benediktinerordens; es sei nur an die Darstellung der klostereigenen Kastelle auf der Bronzetür von S. elemente a Casauria erinnert. Zu einer anderen Dokumentation des Klostereigentums gehört die Architekturzeichnung der Kirche S. Balbina Abegie, auch Abeie genannt, am Fluß Calidus, an der Grenze zwischen den Diözesen Furcone und Valva.
Für den Musikhistoriker mögen die Abbildungen von Noten in der Chronik von S. Vincenzo interessant sein. Sie dienten zum Absingen eines Trauergesangs in Distichen, der in die Liturgie des Klosters aufgenommen wurde, um jährlich am 10. Oktober des Sarazeneneinfalls zu gedenken, der 881 an diesem Tag stattgefunden hatte.
Ein eigener Miniator übernahm die gesamte Ausmalung mit Initialen. Sie sind von unterschiedlichem Format, die größeren oft koloriert, andere erscheinen in reiner Federzeichnung. Es entfaltet sich darin eine phantastische Formenwelt, die mit den besten cassinesischen Arbeiten der Desideriuszeit zu vergleichen ist. Tier-und Menschenfratzen verstricken sich in pflanzlichen Arabesken. Manchmal endet das Gezweig in Tierköpfen. Geometrische Ornamente und langobardische Knotenmuster werden der benediktinischen Miniaturmalerei entlehnt.
Die bildliche Ausstattung der Chronik von S. elemente a Casauria von 1182 ging zeitlich zusammen mit dem Neubau der Klosterkirche. Historische Personen auf den Reliefs der Vorhalle erscheinen auch in den Miniaturen, Kaiser Ludwig 11., der Propst Celsus, Abt Beatus, Abt und Kardinal Leonas und der hl. Clemens. Im Gegensatz zur Chronik von S. Vincenzo al Volturno stammen die Miniaturen in der Handschrift von Casauria von emer Hand. Wie der uns schon bekannte Schönschreiber Rusticus seine Arbeit vom Anfang bis zum Ende allein durchführt, so bleibt auch die Künstlerhand immer dieselbe, sowohl in den Bildern wie in den Zierstreifen. Die Illustrationen der Handschrift sind im strengen Sinn nicht als Miniaturen zu bezeichnen. Es sind reine unkolorierte Federzeichnungen mit einer hauchzarten Strich führung, die um eine naturalistische Wiedergabe der menschlichen Figur bemüht ist, und, mit Ausnahme der Behandlung der Schmuckleisten, niemals ins Expressive übergeht. Die Frage ist noch nicht gestellt worden, ob die minuziöse, oft wie Filigran anmutende Zeichenmanier einem abruzzesischen Lokalstil entspricht, oder ob darin der Einfluß außerabruzzesischer Kunstübung zu sehen ist. Das szenische Programm dagegen unterscheidet sich kaum von der Chronik von S. Vincenzo und gehört damit ganz in den benediktinischen Verbund.
Der Künstler hat für die Darstellung der Klostergeschichte eigens historische Studien betrieben. Dabei fiel es ihm schwer, sich Vorlagen für die porträtähnliche Wiedergabe der Kaiser zu beschaffen. Der Gründungskaiser Ludwig 11. (855-875), sicherlich die wichtigste Persönlichkeit der Klostergeschichte, ist längst nicht so detailliert behandelt wie die nachfolgenden Herrscher, die seine Gründung und seine Privilegien bestätigen. Als Vorbilder für die Darstellung Ludwigs 11. dienten dem Künstler sicherlich Münzen, denn er bildet ihn als Münzbild ab. Der Meister unserer Handschrift wußte, daß die ersten Äbte von Casauria vom Kaiser eingesetzt wurden. Als Abtinsignie erhielten sie nicht den üblichen Krummstab sondern das Szepter. Grimoaldus ist der erste Abt, der von einem Papst, von Urban 11. (1088 bis 1099), konsekriert wurde. Dementsprechend werden die Äbte bis auf Grimoaldus mit einem Szepter ausgestattet, das oben in einer Lilienform endet. Seine Nachfolger erscheinen mit dem Krummstab. Der Miniator weiß auch, daß der Freund Papst GregorsVII., Trasmundus, Abt von Casauria war und Bischof von Valva zugleich. Deshalb hält er in seinen Händen zwei Stäbe, das Lilienszepter und den Bischofsstab. Die Handschrift zeigt nur eine einzige Architekturzeichnung (Tf. 167a). Diese stellt die Klosterkirche von Casauria dar und ist bislang nie mit dem Baubefund konfrontiert worden. Wie mir scheint, hat sich der Zeichner den Bau zum Vorbild genommen, was für den Architekturhistoriker aufschlußreich sein könnte. Er zeigt die Clemenskirche in drei Ansichten. Auf der rechten Bildseite sieht man das südliche querschifflose Langhaus mit nur einer Apsis. Unter den fünf Fenstern des Hochgadens und dem Pultdach wird das aufgehende Mauerwerk des Seitenschiffs aus den für die Abruzzen üblichen sorgfältig behauenen Quadersteinen nachgebildet. Von diesem Seitenschiff führt eine Tür in das Innere der Kirche. Große Aufmerksamkeit wurde der Verriegelung zuteil, die detailliert im Bilde wiedergegeben ist. Eigentümlich ist die Darstellung des Kirchturms. Die obere Partie erscheint im Aufriß und der Unterteil im Längsschnitt, wobei die Treppenstufen und Kehren in den verschiedenen Stockwerken genau ablesbar sind. Die linke Bild (S. 200) Ihälfte nimmt der Portikus des Leonasbaus mit seinen drei Bogenöffnungen ein. Die Säulenvorlagen, die den Mitteleingang flankieren, verlängert der Zeichner über den Arkadenscheitel hinaus nach oben, wo sie die Blendarkatur aufnehmen, wie es heute noch zu sehen ist.
Der Künstler hatte ein verhältnismäßig langweiliges Programm auszuführen. Die Bebilderung bestand nur in der Wiedergabe der Wohltäter, die das Kloster mit Urkunden und Privilegien bedacht hatten. So mußte er z.B. den Kaiser Heinrich IIl. (1039-1056) mehrere Male in einer Szene fast gleichen Inhalts schildern. Der Gefahr des Schematismus entzieht er sich durch Differenzierung der Details. Jedes der fünf Kaiserbilder Heinrichs III. fällt anders aus. So erscheint er einmal mit sechs Mönchen, die in drei Zweiergruppen auf der rechten Bildseite übereinander aufgereiht sind, dann wiederum sieht man ihn mit Abt Dominicus und vier Mönchen in einer Reihe. Schließlich trägt der Kaiser einen Globus und verhandelt mit demselben Dominicus allein. Die Lust zu differenzieren merkt man immer wieder. Keine der vielen dargestellten Kronen wiederholt sich in den Einzelformen. Die Unterschiede sind für die Kronenforschung ein wahres Studium wert. Natürlich ist der Zeichner auch bemüht, die Gesichter der Wohltäter, Äbte und Mönche zu individualisieren, und er ist sogar imstande, psychologische Effekte zum Ausdruck zu bringen. Auf einem Bild wird links der italienische König Adelbert dargestellt, Sohn des 966 verstorbenen Berengars 11. Thronend übergibt er Abt Ildericus eine Urkunde zugunsten des Klosters, aber gegen den Willen des Bischofs Johannes von Penne. Adelbert erscheint in seinem Minenspiel entschlossen, während sich der Bischof Johannes auf der rechten Bildseite von der übergabe des Dokuments abwendet und seinen Unmut nur mürrisch verwindet.
In der Handschrift wird der übliche benediktinische Initialschmuck unterdrückt. Einen Ersatz dafür bilden die Randleisten, die den Schriftblock meistens unten abschließen, ihn manchmal aber auch seitlich rahmen können. Anstelle des cassinesischen Rankenmusters ist für unseren Künstler charakteristisch, daß er aus einer Blattform, zuweilen auch aus dem Mund eines Menschen-oder Tierkopfes, hauchfeine Linien aufsteigen läßt, die sich fächerförmig ausbreiten, und deren Enden mit schwarzen Klecksen, die wie Kugeln erscheinen, besetzt sind. Besonders auffallend ist die Zeichnung eines Elefanten, dessen Rüssel so lang ist, daß er wie ein Rahmen den Schriftblock einschließt.
Bis auf die erwähnte Architekturzeichnung von S. Clemente beschränkt sich der Zeichner auf die Darstellung von Figuren. Am wichtigsten sind natürlich die Kaiserbilder. Ludwig 11. erscheint zweimal-wie schon gesagt -als Nachahmung einer Kaisermünze, das dritte Mal ist er in größerem Format wiedergegeben, thronend mit Szepter, Krone und reichem Gewand. In besonders feiner Zeichnung sehen wir Kaiser Karl III., den Dicken, 881 zum Kaiser gekrönt, wie er mit gütigem Blick dem devoten Propst Celsus ein Dokument aushändigt. Bei Kaiser Otto handelt es sich sehr wahrscheinlich um Otto I. Der Zeichner hatte die mißliche Aufgabe, diesen Herrscher zweimal wiedergeben zu müssen, wie er dem Abt Adam (gest. 987) eine Urkunde übergibt. Das eine Mal sitzt der Kaiser auf der rechten Bildseite (Tf. 167b), mit seiner Rechten die Schulter des Abtes berührend, der von fünf Mönchen begleitet wird, das andere Mal thront Otto auf der linken Seite mit ähnlichen Gesichtszügen und leicht variiertem Kaisermantel. Zwischen ihn und den Abt schiebt sich nun der Schriftblock der Urkunde. An anderer Stelle verleiht Kaiser Konrad 11. sein Privileg an Abt Wido, früher Mönch in Farfa, seit 1024 Abt in Casauria, gestorben lO11. Von den fünf Kaiserbildern Heinrichs III. sprachen wir weiter oben.
Eine zweite Gruppe von Herrschern bilden die italienischen Nationalkönige, von denen einzelne für kurze Dauer die Kaiserwürde erlangten. Der früheste Vertreter dieser Reihe ist Guido, dem eine steilaufsteigende Karriere gelang. 883 war er Herzog von Spoleto, 889 König von Italien. Er wurde 891 zum Kaiser gekrönt und starb 894. Er erscheint als Einzelfigur auf einem Thron und trat auch unter den Herrscherbildern von S. Vincenzo al Volturno auf. Eine der schönsten Zeichnungen stellt Berengar I., Markgraf von Friaul, dar, 888-924 König von Italien und seit 916 Kaiser. Er stirbt 924 als Opfer eines Meuchelmords in Verona. Thronend händigt er fünf Mönchen aus Casauria seine Urkunde aus. Wir erwähnten schon den König Adelbert im Zusammenhang mit Abt Ildericus und Bischof Johannes von Penne. Ein anderes Mal, etwas überdrüssig der großen Anzahl darzustellender Könige, vereinigte der Künstler in sauberer Zeichnung vier Herrscher in einem Bild. Sie schauen als Halbfiguren über die Dächer der Architekturzeichnung von S. Clemente herüber, die beiden äußeren in Frontalansicht, die mittleren im Dreiviertelprofil. Von links nach rechts erscheinen Hugo von Vienne, König von Italien 926 bis 947, König Lambert von Italien (gest. 898), König Lothar (gest. 950) und an letzter Stelle Berengarius II., König von Italien 950-964, gestorben in Bamberg 966. Eigentümlicherweise hat man den Herrscher, der auf fol. 248 abgebildet ist, bislang nicht gedeutet. Durch den Schrift block einer Urkunde getrennt steht gegenüber einem thronenden König Abt Oldrius (Iu8-IIp) mit dem Krummstab in der linken Hand. In schwer zu entziffernder Schrift sind folgende Eingangsworte des Diploms zu lesen: »In nomine Domini nostri Jhesu Christi Rogerius, divina favente dementia, rex Siciliae, ducatus Apuliae et principatus Capuae ...«. Damit kann nur Roger II., König von Sizilien (1130-1154) gemeint sein. Es ist das letzte weltliche Herrscherbildnis in der Handschrift und macht deutlich, daß der Einfluß der deutschen Kaiser nachließ und die neue Regierungsgewalt vom Süden ausging. Neue Machtbestrebungen kamen auch von päpstlicher Seite. Man kann diese historische Wandlung in der Handschrift wie in einem Bilderbuch gut nachvollziehen. Auf die Darstellungen der weltlichen Herrscher, die ihren Einfluß auf das Kloster ausübten, folgen nun die Päpste, beginnend mit Leo IX. (1049-1054), Urban II. (1088-1099), der den Grimoaldus in sein Amt einsetzt, Kalixt II. (1119 bis 1124), Hadrian IV. (1154-1159) und Alexander III. (S. 201) (1159-1181). Die schönste Miniatur ist das Schlußbild (Tf. 167c), auf dem der Mönch Johannes Berardi huldvoll die mit Edelsteinen geschmückte Chronik dem Titelheiligen seiner Kirche, dem hl. Clemens, darbietet. Bei genauem Studium der Zeichnungen läßt sich noch ein bislang unberücksichtigtes Papstbildnis identifizieren. Man hat behauptet, auf fol. 233 sei der Abt Trasmundus, der auch Bischof von Valva war, dreimal abgebildet. Er ist es aber nur zweimal, als Abt und als Bischof, beide Male stehend. Mit seinen Insignien und in seiner Physiognomie unterscheidet er sich von der dritten Figur. Da sich der Inhalt der Bilder durchweg auf den benachbarten Text bezieht und diesen ins Bild setzt, können wir in diesem Fall die Gestalt als eine kunstvolle Darstellung des Papstes GregorVII. (1073-1085) interpretieren. Wir wissen, daß dieser Papst mit Trasmundus befreundet war. Er persönlich setzte ihn als Abt von Casauria ein, nachdem er vorher Abt von S. Maria auf den von den Normannen bedrohten Tremiti-Inseln war. Gregor schützte ihn vor dem Zugriff dieser Eindringlinge, denen er im Fall weiterer Besitzergreifungen mit dem Kirchenbann drohte. Genau diese Drohung wird im Beitext ausgesprochen. Diese Bildseite enthält nicht die übliche Aushändigung eines Privilegs, sie ist ein politisches Bild und ein Freundschaftsbild zugleich.
Die lange Reihe der Äbte ist in S. Clemente künstlerisch reifer und anschaulicher dargestellt als die entsprechende schematisierende Serie in S. Vincenzo al Volturno. Aus den sich immer wiederholenden Büsten in S. Vincenzo sind differenzierte Ganzfiguren geworden. Sie können für sich allein stehen oder handelnd in die Schenkungsszenen einbezogen werden. Ihrer historischen Bedeutung wegen sind in der Reihe der Äbte der öfter genannte Trasmundus hervorzuheben, dann Abt Albericus, später Bischof von Chieti, 1112 gestorben, und vor allem Abt Leonas, der die Kardinalswürde erlangte. Er war Auftraggeber der Handschrift und der Erbauer seines Klosters, beide Male entstanden Meisterwerke der abruzzesischen Kunst. Zweimal bringt der Zeichner das Konterfei seines Zeitgenossen in der Handschrift, einmal im Verein mit Papst Hadrian IV., dann mit dem Nachfolger dieses Papstes, Alexander III. Leonas erscheint im ersten Bild noch rüstig, mit gütigen und wissenden Zügen, wohingegen er in der anderen Miniatur mit seinem spitzen Gesicht älter wirkt.
Die wichtigsten Zeugnisse der Miniaturmalerei, die Chronik von S. Vincenzo al Volturno und die von S. Clemente a Casauria, werden außerhalb unserer Region verwahrt. Was im Lande verstreut übriggeblieben ist, nimmt sich dagegen recht dürftig aus. Eine Miniaturenschule scheint die Kathedrale von Atri unterhalten zu haben. Aus dem Ende des 12. Jh. sind dort illuminierte Handschriften erhalten, die völlig die benediktinischen Kunstübungen von Montecassino übernehmen. Dazu gehört der Kodex A 1 aus dem Domarchiv in Atri, ein lückenhaftes Martyrologium und Lektionar (36x 26 cm) auf SI Pergamentseiten. Auf fol. 2 befindet sich das Datum 1183, so daß die Handschrift nach dieser Zeit anzusetzen ist. Auftraggeber war ein gewisser Filippo di Muralto. Schon erwa 70 Jahre vor den Kalendarien in Bominaco und in Fossa werden hier die Personifizierungen der Monate dargestellt, von denen sich Januar, Februar, Mai und Juni erhalten haben. Sie sind mehr Federzeichnungen als eigentliche Miniaturen, nur in zarten Farben Rot, Grün und Gelb, ausgemalt. Die Darstellungen sind anschaulich und lebendig sowie sicher im Strich. In den Initialen mit Flechrwerk, worin Tiere und auch geometrische Muster eingebunden sind, kann man wahrscheinlich die Hände zweier lokaler Künstler unterscheiden. Unter der Signatur A 3 verwahrt das Domarchiv noch ein Lektionar, das um 1200 entstanden sein mag (45,5 x 30 cm). Diese Handschrift besteht aus 152 Pergamentseiten, die jeweils zwei Textkolumnen in Minuskeln zeigen. Die Initialen zeigen Flechtbandmuster mit eingestreuten Tieren. Sie stammen von einem abruzzesischen Miniator, der sich an cassinesische Vorbilder anschloß. Stilistisch verwandt ist der Kodex A 6, ein Evangeliar und ein Martyrologium.
Die im Anfang lückenhaft überlieferte Riesenbibel, die sich seit 1856 in der erzbischöflichen Kurie von L'Aquila befindet, hat den Vorzug, datiert zu sein. Sie wurde 1209 von Benedetto di Alessandro, einem Kanoniker aus S. Maria dei Ponte bei Tione degli Abruzzi, für seine Kirche in Minuskelschrift zweispaltig auf 120 Seiten (59 x 38,5 cm) geschrieben. Die Illustrationen bestehen aus Kanonbögen, die, wie die Initialen, mit Blumen, Flechrwerk und Mäandern verziert sind. Diese Ausschmückung stammt von einem abruzzesischen Künstler, der die cassinesische Tradition übernahm.
Ein abruzzesischer Künstler verfertigte um die Mitte des 13. Jh. das Meßbuch in S. Francesco in Tagliacozzo. Wir bemerken in dieser Handschrift zum erstenmal das Abweichen von cassinesischen Vorbildern und eine Zuwendung zu Formen, die vom Norden einströmten. Es ist dieselbe Zeit, in der wir das gleiche Phänomen in der Monumentalmalerei beobachten konnten, zuerst in Bominaco, erwas später in Atri und dann in S.Maria di Ronzano. Von den Miniaturen des Manuskriptes in S.Francesco in Tagliacozzo sind hervorzuheben der Christus mit zwei Heiligen, die Anbetung der Könige sowie die Kreuzigung Christi mit Maria und Johannes. Am Kreuzesfuß knien in kleinerem Format zwei Figuren, die als Stifter zu interpretieren sind.
[Teil 4] - Das Ende des Mittelalters und die Neuzeit
(S. 204)Geschichte
Vorbemerkung
In einem Zeitraum von 500 Jahren, angefangen von den Langobarden und Franken bis zu den Normannen und Staufern, waren die Abruzzen ein in sich gefestigtes Land geworden und genossen, von staatlicher Seite nicht allzusehr bedrängt, eine gewisse Selbständigkeit. Diese innere Kontinuität führte zu beständigen, lebensfähigen Siedlungen, zu einer Gesellschaft, die einflußreiche und geistvolle Persönlichkeiten hervorbrachte, zu Klöstern, die über Jahrhunderte das Land mit geistigen Kräften speisten, zu Kunstwerken, deren hohe Qualität und Geschlossenheit ein Spiegel des wohlerzogenen Bergvolkes ist. Von zerstörerischen Kriegen blieb das Land verhältnismäßig verschont. Die Kaiserzüge in den Abruzzen und im Molise waren nicht gegen unsere Region gerichtet. Sie dienten vielmehr der Kontrolle des Gebietes, um die Weltmächte der Griechen und Muselmanen an einem Zugriff zu hindern.
Die Eroberung des Landes war für die Normannen ein militärischer Spaziergang. Die Staufer übernahmen in der Verwaltung zum großen Teil die Gebräuche der Vorgänger. Natürlich war Friedrich 11. von Hohenstaufen daran interessiert, sein Reich nach innen zu sichern. Gegen Rebellen und gegen sich auflehnende Städte wurde streng vorgegangen, was die Abruzzen zur Genüge zu spüren bekamen. Im übrigen überließ man das Land sich selbst. Die Regierungsstadt Palermo mit ihren weltpolitischen Aktionen und ihrer höfischen und international gespeisten Kultur lag weit von unserem Bergland entfernt. Begünstigt durch das Eingeschlossensein in unwirtlichen und hohen Bergen, entwickelten die Abruzzesen eine gewisse Unabhängigkeit und waren viel freier als die anderen Teilgebiete des Königreichs, Sizilien, Kalabrien, Apulien und Kampanien. Mit dem Sturz des Stauferreiches in der Schlacht bei Tagliacozzo (1268) wurde das Eigenleben, das unser Bergvolk ein halbes Jahrtausend entwickeln konnte, jäh unterbrochen. Neue Kräfte und neue Mächte bildeten sich, die die Abruzzen in Verbindung mit einer größeren Welt brachten. Aber die Eigenständigkeit des Landes war so gefestigt, daß es nicht zu einem geographischen Begriff erniedrigt werden konnte. Abruzzesische Impulse blieben wirksam, allerdings nicht mehr so gut ablesbar wie in früheren Zeiten. In der Kunst z.B. behaupteten sich nur mühselig noch eine Zeitlang die alten Charakteristika, und man orientierte sich bald an anderen Zentren. Die Bevölkerung geriet bis zur Auflösung des Südreiches 1860 immer mehr in den Strudel der Interessen ausländischer Herrscher. Neue geistige Strömungen bildeten sich, die weit über das eigene Land hinausgriffen.
Andere Verhältnisse entstanden durch die intensivere Staatsführung der neuen Herrscher. Die Langobarden, Normannen und Staufer regierten ihr Südreich selbst, unabhängig von fremden Mächten, und waren mehr auf das Wohl des Staates bedacht als die Anjou, Aragonier, Spanier, Habsburger und Bourbonen. Diese waren viel stärker an die Ereignisse der großen Politik gebunden, die Anjou an Frankreich und die Aragonier an Spanien. Die Könige des spanischen Groß staates regierten gleichzeitig das Königreich Neapel. Von 1529 bis 1713 ließen sie sich von gefügigen Vizekönigen vertreten. Die Habsburger unterstanden 1713 bis 1734 den Anweisungen des Wiener Hofes, und die spanischen Bourbonen (173 5-1860) orientierten sich an der Pyrenäenmacht. Kein Wunder, daß das Königreich Neapel nie zu einem wahren Nationalstaat werden konnte, der die verschiedenen Regionen von innen heraus zu einem gemeinsam handelnden Gebilde hätte vereinigen können. Das Königreich besteht aus Teilgebieten, die im Grunde noch die aus der Antike bekannten Einteilungen darstellen und eine Agglomeration ohne innere Einheit bilden. Feudale und Bürger hatten keinen aktiven Anteil an der Politik des Königreiches. Sie standen wohl im Dienst des Staates, aber ohne eigene Willensäußerung. Bezeichnend ist die Entfremdung zwischen den Königshäusern und den Untertanen. Kaum ein Herrscher wurde im Königreich außerhalb Neapels geboren, und es gab keine Ehe, die mit einer im Königreich geborenen Frau geschlossen wurde. Eine engere Verknüpfung der Abruzzen mit der Staatsführung erfolgte unter den ersten Anjou durch Verlegung des Regierungssitzes von Palermo in das näher gelegene Neapel, eine Residenz, die von allen Dynastien gepflegt wurde. Die Geschicke des Königreiches wurden allein von dieser Stadt aus gesteuert. Es entstand ein gewaltiger von Ausländern durchsetzter Beamtenapparat. Den Schwerpunkt der Macht bildete das Justizwesen, das den gesamten Staat gesetzesstreng überwachte. Der Stand der Advokaten erlangte eine in Europa einzigartige Bedeutung. Noch heute ist der Neapolitaner Advokat der gesuchteste, gefürchtetste und geschickteste Jurist, der in Italien zu finden ist, wenn es um die Regelung schwieriger, ehrenhafter oder unehrenhafter Fälle geht. Der Juristenstand in Neapel hatte keine politischen Ambitionen und trug wenig zum Wohle des Landes bei.
Die Abruzzen waren durch alle Jahrhunderte Zulieferer von Juristen. Ich wähle nur zwei Persönlichkeiten aus. Der Jurist Nicolo Mozzapede aus L' Aquila war Berater und Kanzler unter Johanna I. und König Ladislaus. Zu den größten Juristen seiner Zeit gehörte Antonio Giordano aus Venafro (geb. 1459, gest. Neapel 1530). König Ferdinand der Katholische berief ihn an die Universität Neapel, nachdem er vorher in Bologna und Florenz gelehrt hatte.
Ein zweiter Schwerpunkt des staatlichen Aufgabenbereiches und ein Anliegen aller Herrscher des Königreiches war das Eintreiben überhöhter Steuern. Und so wurde Süditalien ein armes Land, ausgebeutet durch Jahrhunderte. Dieser verarmte Zustand fällt jedem auf, der die kleinen Städte und ländlichen Siedlungen Unteritaliens besucht. Die heute noch (S. 205) brennende und ungelöste Frage, einen wirtschaftlichen Ausgleich zwischen Nord-und Süditalien herzustellen, geht auf die mindestens 600 Jahre währende fiskalische Ausbeute dieses Landes zurück. Unter den Aragoniern und den spanischen Vizekönigen erreichte die Steuerlast den Höhepunkt. Die eingetriebenen Gelder kamen nie den Regionen zugute, jedoch zum Teil der Residenzstadt Neapel, wo architektonisch und gesellschaftlich eine der glanzvollsten Residenzen Europas entstand.
Ganz im Sinne einer Regierung mit absolutistischen Tendenzen war auch die Universität Neapel angelegt, die von Friedrich H. von Hohenstaufen 1224 gegründet worden war. Sie ist bis 1860 die einzige Universität von Bedeutung im Königreich geblieben. An sich waren derartige Anstalten im Mittelalter sehr demokratisch organisiert. Das Wort Universitas bezeichnete ursprünglich die Korporation der zu einer Hochschule gehörenden Personen, der Professoren und der Schüler. Ganz anders in Neapel. Der Typ war hier von vornherein die Staatsuniversität. Die Lehrer waren vom Staat bezahlte Beamte. Den aus dem Königreich stammenden Studierenden wurde verboten, sich an anderen Universitäten zu bilden. Somit hatte Neapel das Bildungsmonopol des Staates inne. Das Fehlen anderer Universitäten im Königreich hatte für die Bildung der Untertanen sehr ungünstige Folgen.
Die von Neapel aus gesteuerte strenge Regierung äußerte sich auch in der Vergabe des Feudalbesitzes. Von der Residenzstadt aus wurden die Barone eingesetzt, sehr oft ausländischer Herkunft, ohne Kenntnis der Ortsgeschichte und der Ökonomie des Umlandes, das sie zu verwalten hatten. Es fehlte häufig der unmittelbare Kontakt vom Herrn zum Knecht, und die örtlichen Interessen und Wünsche fanden nur wenig Gehör. Jedes neue Herrscherhaus vollzog mehr oder minder eine Umbesetzung des Feudaladels, so daß die Zeit der Amtsführung in den einzelnen Familien oft nur von kurzer Dauer war.
Eine Umschichtung der sozialen Verhältnisse bewirkten die sich neu bildenden Stadtkulturen. Das eben gegründete L'Aquila wurde bald zur mächtigsten und bedeutendsten Stadt der Abruzzen und zur zweitgrößten des Königreiches. Daneben blühten Sulmona, Teramo, die Messestadt Lanciano und ganz besonders Chieti. Handel, Verkehr und ein verändertes soziales Gefüge erweiterten beträchtlich die Beziehungen zum übrigen Italien und zum Ausland. Im Handel und geistigen Austausch wurden Städte wie Florenz, Bologna, Mailand und besonders Venedig vortreffliche Partner der Abruzzesen.
Neue religiöse Bewegungen kamen unabhängig von Montecassino auf. Andere Orden wurden wirksam. Für einen Augenblick war die neugegründete Stadt L'Aquila Zentrum des Weltkatholizismus, später Ausgangspunkt der Reform des Franziskanerordens, und Chieti wurde eine Hochburg der Gegenreformation, gefördert von zahlreichen Kirchenmännern, die aus der nahen Maiella kamen und später in den Stand der Heiligen erhoben wurden.
Die Abruzzen waren befähigt, die besten Kräfte ihres Landes zur Bewältigung der eben beschriebenen neuen Situation einzusetzen. Träger der Wandlung war eine neue Bildungsschicht, die sich aus den Klöstern in die Städte verlagert hatte. Wohl gehört auch der Feudale zu den geistigen Kräften, aber dem Bürger kommt die wichtigste Rolle zu. Es ist deshalb höchst bedeutsam, Familien und Einzelpersönlichkeiten festzuhalten, die oft verborgen und im Schatten einer europäischen Kultur das Abruzzesische in den Abruzzen weitertradierten. Die Leistungen, die hier erzielt wurden, übertreffen diejenigen in vielen anderen Teilgebieten des Königreichs, und die Abruzzen unterscheiden sich, wie sooft in der Geschichte unseres Berglandes, vom übrigen Staat, dem sie bis zum Jahre 1860 angehörten. Sie lieferten dem Königreich die besten Staatsdiener und versorgten auch am Ende des Mittelalters und in der Renaissance das übrige Italien mit ausgezeichneten Kondottieri und Soldaten, ein Nachklang an die Tapferkeit in der Zeit der Antike. Eine gewisse überlegenheit der Abruzzen über das Molise hatten wir schon öfter beobachtet. Der Abstand wird immer größer. Das Molise verliert seine Eigenständigkeit unter den Anjou 1272 und gehört bis 1538 zur Region der Terra di Lavoro in Kampanien. Erst 1806 wurde das Molise wieder ein eigener Verwaltungsbezirk.
Abruzzen und Molise unter fremdländischer Herrschaft
Das Haus Anjou (1265-1435)
Natürlich kann an dieser Stelle nicht die Gesamtgeschichte der fremdländischen Dynastien im Königreich Neapel nacherzählt werden. Berücksichtigung erfahren nur einige charakteristische Geschehnisse, die mehr oder minder stark die Abruzzen und das Molise betreffen. Das Haus Anjou ist die Macht, die sich in persönlichem Einsatz am meisten im Positiven wie im Negativen mit unserer Region beschäftigt hat, mehr als die Normannen und Staufer, mehr als die Spanier, Habsburger und Bourbonen.
Die Entscheidungsschlacht bei Tagliacozzo 1268 hatte für die Anjou eine Vorgeschichte, die mindestens fünf Jahre zurückreichte. Bedrängt und bekriegt durch die Staufer, versuchten die Päpste, den gefürchteten Gegner durch Bannflüche und Ernennungen von Gegenkönigen zu schwächen. So belehnte schon Papst Alexander IV. (1254-1261) Edmund von Lancaster, einen achtjährigen Sohn des englischen Königs Heinrich III., mit Sizilien, dem Stammland der Staufer. Edmund ist nie in den Genuß seines Lehens gekommen. Mit mehr Glück wandte die gleiche Taktik Papst Urban IV. (1261-1264) an. Dieser Schuhmachersohn aus Troyes ruft 1263 Karl von Anjou nach Italien. Er war der fünfte Sohn des französischen Königs Ludwig VIII. und verheiratet mit Beatrix von Provence. Urban sah Sizilien als päpstliches Lehen an, das er Karl von Anjou übertrug. Bei seiner Ankunft in Italien im Mai 1265 war Urban schon gestorben. Der Nachfolger Papst Clemens IV., selbst Franzose und dem französischen Königshaus nahestehend, belehnt Karl am 28. Juni 1265 mit dem Königreich Neapel-Sizilien. Am (S. 206) 6. Januar 1266 findet die Krönung Karls in Rom statt. Schon im folgenden Monat, am 26. Februar, besiegte der neue Anjoukönig Manfred von Hohenstaufen in der Schlacht bei Benevent und am 28. August 1268 den letzten Hohenstaufenherrscher, den sechzehnjährigen Konradin, bei Tagliacozzo. Der Haß und die Brutalität des Papsttums gegen das Stauferreich fand durch Karl I. eine rigorose Fortsetzung. Die Erinnerung an die Staufer wurde ausgemerzt, wo es nur möglich war. Der staufische Regierungssitz Palermo erlosch. Neu dafür entstand Neapel. Hier entschieden sich fortan die Geschicke Siziliens, Unteritaliens und des Balkans. Weil die Bewohner der neugegründeten Stadt L'Aquila der päpstlichen Partei zugeneigt waren, zerstörte der Staufer Manfred die Stadt. Bald danach baute sie Karl I. wieder auf, und die anfängliche Blüte dieses Gemeinwesens ist eine Tat der Anjou. Feudalbesitzer aus staufischer Zeit wurden verjagt. Konrad von Antiochien, Enkel Kaiser Friedrichs II., war Herr von Alba Fucense. Nach der Schlacht bei Tagliacozzo verwüstete man den Ort, und die Steine des alten Kastells sollten beim Bau der Siegeskirche von S. Maria della Vittoria verwendet werden. Zu Zeiten Konradins gab es in Sulmona eine kaiserliche Partei. Aus Furcht vor dem neuen Anjou gingen mindestens zweihundert Einwohner ins Exil, und es gelang erst Papst Coelestin V., von Karl II. Anjou 1294 das Zugeständnis zu erhalten, daß die Ausgewanderten wieder zurückkehren durften. Unter diesen wird auch ein Goldschmied Robertus genannt. Als altes Reichskloster hatte S. Clemente a Casauria unter den Anjou kein besonderes Ansehen. 1272 urkundet Karl I. zuungunsten der Abtei und schmälert den Außenbesitz.
Mit klaren überlegungen begannen die Anjou sofort, den Staatsapparat nach ihrem eigenen Gutdünken wirksam werden zu lassen. In jeder Provinz fungierte ein hoher Justizbeamter, der die Autorität des Königs verkörperte. Er überwachte die öffentliche Ordnung und trieb Steuern ein. Karl I. verstand kaum italienisch, und die Amtssprache war teilweise französisch. Im Gegensatz zu den Staufern, die ihre Macht mit den Städten und mit den Feudalen organisierten, stützten sich die Anjou mehr auf die von ihnen eingesetzten Feudalherren, und mit Ausnahme von L'Aquila spielten die Städte kaum eine Rolle.
Trotz der straffen und strengen Staatsführung hatten es die Anjou nicht leicht, ihr Reich zusammenzuhalten. Die schwerste Einbuße erlitten sie durch den Verlust Siziliens infolge der Volkserhebung in Palermo. Der Aufstand ist unter dem Namen der Sizilianischen Vesper in die Geschichte eingegangen, da er am 30. März 1282, dem zweiten Ostertag, um die Vesperzeit ausbrach. Am Abfall Siziliens waren verschiedene Kräfte interessiert, die den staufischen Ideen nachhingen. Zu den Gegnern der Anjou gehörte Enrico d'Isernia, der schon 1270 mit Giovanni da Procida konspirierte. Letzterer war der eigentliche Promotor der Sizilianischen Vesper; er stammte aus Salerno, war Arzt Kaiser Friedrichs II. gewesen und von den Anjou vertrieben worden. Einen Bundesgenossen fand er in König Peter III. von Aragon, der 1262 Konstanze, die Tochter des Hohenstaufenkönigs Manfred, geheiratet hatte. Die Königin hatte in Konrad von Antiochien einen Verwandten, der durch die Anjou seine Besitzungen in den Abruzzen verloren hatte. Mit Hilfe geldlicher Zuwendungen von seiten der Konstanze schürte Peter Aufstände in unserem Bergland. Nach der Sizilianischen Vesper schreibt Peter III. von Aragon einen Lagebericht an Konrad von Antiochien und an die Stadt L'Aquila. Die Folge ist ein Wiederaufflackern des Widerstandes gegen die Anjou in den Abruzzen 1284. Ein Jahr später wendet sich Papst Honorius IV. an den Erzbischof von Benevent mit der Bitte, er möge einen Bischof im Molise zur Raison bringen, der seine Diözese aufwiegele, Partei für das Haus Aragon zu ergreifen. Nach ihrem geglückten Aufstand riefen die Sizilianer Peter III. von Aragon zu Hilfe, der im August 1282. auf der Insel landete. 1283 ließ er sich in Palermo zusammen mit seiner Konstanze krönen und huldigen. Der Streit um Sizilien zwischen den Dynastien Anjou und Aragon dauerte bis zum Jahre 1435, als es dem Hause Aragon gelang, unter seiner Herrschaft Sizilien wieder mit Neapel zu vereinen. Danach blieben die beiden Königreiche mit kurzen Unterbrechungen in den Jahren 1713-1720 und 1806-1815 bis zur Einigung Italiens zusammen.
Infolge der unglückseligen Hauspolitik der Anjou wurden die Abruzzen zum Schauplatz feindlicher Auseinandersetzungen. Im Januar 1285 starb Karl I. Anjou. Der legitime Nachfolger, sein Sohn Karl II. (gest. 1309), konnte die Regierung nicht sofort übernehmen, da er zu dieser Zeit von Peter III. von Aragon im Staatsgefängnis von Barcelona streng gefangen gehalten wurde. Das Interregnum wurde vom Papst ausgefüllt. Erst 1288 erhielt Karl II. gegen Kaution, die er nie zahlte, die Freiheit wieder und wurde am 29. Mai 1289 in Rom zum König gekrönt. Verheiratet war er mit Maria, Tochter Stephans V., König von Ungarn. Aus dieser Ehe stammen Karl Martell (gest. 1295 an der Pest), der nach dem Erlöschen des Hauses Arpad Titularkönig von Ungarn wurde, und Robert, der als Nachfolger seines Vaters von 1309 bis 1343 das Königreich Neapel regierte. Die ungarische Nebenlinie der Anjou stellte später Ansprüche auf den italienischen Besitz, und so bahnte sich der Untergang der Hauptlinie in Neapel eben durch diese Heirat Karls II. an. Die ersten Auseinandersetzungen mit den Ungarn ereigneten sich unter der Regierung der Königin Johanna I. von Neapel (1343-1382), der Enkelin König Roberts. In erster Ehe heiratete Johanna I. ihren Vetter Andreas von Ungarn, den sie 1345 in Aversa erdrosseln ließ. Bruder des ermordeten Andreas war Ludwig d. Gr., König von Ungarn (1342 bis 1382). Unter seiner Leitung erfolgte die erste Invasion in das Königreich Neapel von Norden her durch die Abruzzen. In L'Aquila fand der König die Unterstützung des dortigen Tyrannen Lalle Camponeschi. Am 10. Mai 1347 zogen die Ungarn in die Stadt ein, und den Neapolitanern gelang es nicht, L'Aquila zurückzuerobern. Als Rächer seines Bruders Andreas befindet sich Ludwig I. 1348 in Neapel. Johanna I., seit 1346 in zweiter Ehe mit Ludwig von Tarent verheiratet, mußte mit ihrem Mann in die Provence flüchten. 1352 konnte sie wieder in Neapel einziehen, weil dort Ludwig I. (S. 207) von Ungarn mit der Bevölkerung in Konflikt geraten war, wie auch schon sein Bruder Andreas. Unverrichteter Sache verließ er das Königreich. Zuvor hielt er sich 1347 ein zweitesmal in L'Aquila auf. Die wieder in Neapel residierende Königin Johanna I., die 1362 den König Jakob III. von Mallorca geehelicht hatte und nach dessen Tod eine vierte Ehe mit Otto von Braunschweig einging, handelte sehr unklug. Einerseits sicherte sie ihrem Vetter, dem ungarischen Karl von Durazzo, das Königreich zu, andrerseits hatte sie Ludwig Anjou, Sohn des französischen Königs Johann II., adoptiert und zum Erben eingesetzt. Die damalige Kirchenspaltung tat ihr Werk zu den Zwistigkeiten hinzu. Papst Urban VI. krönt 1381 persönlich Karl von Durazzo zum König von Neapel, und der Gegenpapst Clemens VII., vertraut mit den politischen Absichten der Königin Johanna, krönt im selben Jahr in Avignon Ludwig I. ebenfalls zum König von Neapel. Am zähen Widerstand Karls von Durazzo scheiterten die Unternehmungen Ludwigs I. Anjou, sich Neapels zu bemächtigen. Mit Unterstützung Urbans VI. kämpfte Karl von Durazzo gegen die Königin. Sie wurde gefangengenommen und am 22. Mai 1382 erdrosselt. Karl wurde König von Neapel und regierte bis 1386. Ludwigl. Anjou hatte das Nachsehen. Gekrönt, erscheint er mit großem Gefolge in L'Aquila, konnte aber militärisch gegen Karl von Durazzo keine durchgreifenden Erfolge erzielen und starb 1384 in Bari.
Der französische Zweig der Anjou war mit seinen Zielen, dauernd die Regentschaft des Königreichs Neapel in die Hand zu bekommen, vom Pech verfolgt. Ludwig II. Anjou, Sohn des 1384 verstorbenen Ludwig I., wurde vom seiben Gegenpapst Clemens VII., der seinen Vater gekrönt hatte, zum König von Neapel bestellt. 1391 konnte er sein ihm zugedachtes Reich erobern, wurde aber von dem aus der ungarischen Linie der Anjou stammenden Ladislaus, der als König von Neapel 1386-1414 regierte, verjagt und starb 1417 zu Angers in Frankreich. Nicht besser erging es seinem Sohn Ludwig III. Anjou. Er wurde in die unglückseligen Machenschaften der Königin Johanna II. von Neapel (1414 bis 1435) verwickelt, die die Herrschaft der Anjou durch Liebschaften und Launen völlig zerrüttete. Ähnlich wie ihre Vorgängerin Johanna I. trieb die Königin ein Doppelspiel mit ihrer Nachfolge. Um den Ansprüchen Ludwigs III. Anjou entgegenzuwirken, adoptierte sie 1420 Alfons V., König von Aragon. Als dieser aber 1423 einen Liebhaber der Königin festsetzte, änderte Johanna II. ihre Meinung und adoptierte Ludwig III. Anjou, der jedoch bereits 1433 im Alter von 30 Jahren in Cosenza starb. Darauf ernannte die Königin den Bruder Ludwigs III. zum Erben, René Anjou, ein musischer Herrscher und Herzog von Lothringen und Bar. Der Zeitpunkt des Todes der Johanna II. war für René höchst ungünstig. Im Gefängnis des Herzogs von Burgund mußte er den Ereignissen hilflos zusehen. So konnte Alfons V. von Aragon, dessen Erbansprüche Johanna 11. zunichte gemacht hatte, von Sizilien aus das Königreich Neapel gewinnen und regierte dort als erster Herrscher des Hauses Aragon bis zum Jahre 1458 als Alfons I. von Neapel. Nach Wiedererhaltung der Freiheit landete René Anjou 1438 in Neapel, konnte aber nicht die übermacht des Königs Alfons überwinden. Ohne größere Erfolge kehrte er 1442 endgültig in die Provence zurück. René hielt sich 1438 in den Abruzzen auf. Wir treffen ihn in Ortona de'Marsi an. Während der Feindseligkeiten mit Alfons I. hielt er, im Glauben an einen glücklichen Ausgang seiner Angelegenheiten, seinen feierlichen Einzug in L'Aquila und wohnte im königlichen Palast, den Karl II. Anjou (1285-1309) in der Nähe von S. Domenico erbaut hatte. Auf dem großen Platz vor S. Maria di Collemaggio hörte er am 15. August 1438 eine Predigt des ehrwürdigen Bernhardin von Siena.
Das Haus Anjou besaß keinen legitimen Anspruch auf Süditalien. Von den Päpsten ins Land gerufen, zerstörten die französischen Herrscher die staufische Macht, und anfänglich verstanden sich die Partner vortrefflich. Die ersten Anjou taktierten sehr geschickt mit Rom, natürlich auch zu eigenem Nutzen. Nach der Sizilianischen Vesper war es ein Anliegen des Königshauses, die Päpste auf ihrer Seite zu wissen als Stütze gegen die Machtbestrebungen der Aragonier. Karl II. Anjou nutzte nach dem Tode des Papstes Nikolaus IV. die zwei Jahre dauernde Sedisvakanz aus, einen neuen Papst nach seiner Wahl zu kreieren. In dem greisen und weltfremden Coelestin V., der am 5. Juli 1294 die Papstwürde erlangte, glaubte er, das richtige Werkzeug gefunden zu haben. über diesen in Isernia geborenen Papst, der sein Leben am liebsten in den Abruzzen zubrachte, werden wir noch ausführlicher an anderer Stelle zu sprechen haben. Schon vor der Papstwahl besuchte Karl II. den künftigen Kirchenfürsten in seiner Einsiedelei am Morrone bei Sulmona. Die Papstkrönung in L'Aquila war ein internationales Ereignis und gleichzeitig eine Demonstration der Macht des Hauses Anjou. Es war etwas Besonderes, daß ein Papst außerhalb Roms oder des Kirchenstaates gekrönt wurde, eben im Königreich des neuen französischen Herrscherhauses. Karl II. verfolgte seine kirchenpolitischen Interessen und zwang den Papst, nicht in Rom sondern in Neapel zu residieren. Die wenigen Monate von Coelestins Amtszeit waren damit ausgefüllt, daß er, mehr oder minder genötigt, französischen Interessen entgegenzukommen hatte. Er ernannte 12 Kardinäle, von denen 7 Franzosen waren, und setzte den Sohn Karls II., Ludwig, zum Erzbischof von Toulouse ein. Der König war nicht geizig, das Bündnis mit dem Papst zu honorieren. Durch königliche Gunst erfuhr die Stadt L'Aquila eine erste Blütezeit, und auch andere Orte in den Abruzzen wurden mit Wohltaten von ihm bedacht.
Kein Herrscherhaus kannte sich in den Abruzzen so gut aus wie die Anjou, die ihre Lieblingsstädte L'Aquila und Sulmona immer wieder aufsuchten. Karl I., Sieger von Tagliacozzo, weilte am 26. April 1271 in Avezzano, am 4. Mai desselben Jahres in Sulmona, 1278 ist er wieder im Marserland und nimmt an der Weihe seiner Siegeskirche bei Scurcola teil. Sein Nachfolger Karl II. läßt sich bei der Weihe der Franziskanerkirche in Castelvecchio Subequo 1288 durch seinen General vertreten. 1290 wohnt der Sohn des Königs, Karl Martell, für einige Tage in der Residenz in L'Aquila, (S. 208) die sein Vater hatte bauen lassen. 1294 feiert der König die Papstwahl Coelestins V. in L'Aquila. Einige Zeit darauf wird sein Sohn, König Robert von Neapel (1309-1343), mit großen Feierlichkeiten in L'Aquila empfangen. Ein zweitesmal erscheint er dort 1328 mit seinem Hofstaat und seinem Sohn Karl. Dieser war Fürst von Kalabrien, verheiratet mit Maria von Valois, und starb noch im selben Jahr seines Besuchs der Stadt L'Aquila. Die späteren Anjou bevorzugen die Stadt Sulmona. Ludwig von Tarent, zweiter Gemahl der Königin Johanna I., besuchte die Stadt 1351 und 1352. Karl III. Anjou, König von Neapel (1381-1386), machte Sulmona zu seiner Lieblingsresidenz. König Ladislaus von Neapel treffen wir 1401 in L'Aquila an. Im Museo Civico in Sulmona sieht man ein schmales, hohes, nicht mehr tadellos erhaltenes Fresko (1,80 x 0,55 m) aus der Zeit um 1400, das der Überlieferung nach den König Ladislaus darstellen soll. Es wurde in einem im 14. Jh. gebauten Privathaus von der Wand abgenommen. Die Ganzfigur trägt einen blauen goldbesetzten Mantel, die Hände sind mit langen Handschuhen versehen, die Rechte hält den goldenen Apfel, in der Linken ist wahrscheinlich das Schwert zu ergänzen. Seltsam ist die dreilappige Kopfbedeckung. Wir wissen, daß der noch nicht zwanzigjährige König in den Jahren 1392 und 1395 Sulmona besuchte.
Die Französisierung von Abruzzen und Molise bezog sich auf die Oberschicht. Die Neueingewanderten waren meistens Franko-Provenzalen, die mit dem ersten Anjoukönig nach Neapel kamen und im höheren Justizdienst wirksam wurden. Zwischen 1269 und 1281 hatte die Stadt L'Aquila mindestens zwölf französische »Capitani« aufzuweisen. Auch hohe kirchliche Ämter hatten die Neuankömmlinge inne. So finden wir den Hofkaplan Karls I. Anjou 1283 als Abt von S. Gerusalemme in Pescara wieder. Französische Bischöfe leiteten im 14. Jh. die Geschicke des Bistums Chieti. 1321 wird dort Raimondus Bischof. Er stammte aus der Familie Mausaco in Marseille. Der seit 1336 regierende Bischof Beltramino Paravicino war vorher Kantor in einer Kirche in Bordeaux. 1340 bekleidet Wilhelm II. das Bischofsamt. Zuvor war er Schatzmeister (thesaurarius) in einer Kirche in Tours.
Den größten Anteil hatten die Franzosen am Feudalbesitz. In einem heute verschollenen Katalog von 1279 aus Sulmona werden dort zwanzig Lehngüter von Franzosen und Provenzalen aufgeführt. Natürlich wurde mit der Vergabe von Lehen viel Mißbrauch getrieben. Das Ein-und Absetzen konnte sehr schnell erfolgen, sicherlich nicht zugunsten der Bevölkerung, die auf diesen Gütern zu arbeiten hatte. Ein frühes negatives Beispiel liefert der Ort Petrella Tifernina im Molise. Karl I. setzte dort 1271 die provenzalischen Feudalen Raimondi und Berlingieri ab. Ein Teilbesitz wurde der Familie Alamanni zugesprochen, die dort schon andere Ländereien unter den Normannen hatte. Den anderen Teil von Petrella Tifernina erhielten 1279 die aus Frankreich stammenden Herren De Barras. Man sollte denken, die neuen Lehnsträger hätten stets die Interessen des französischen Königshauses in Neapel vertreten. Häufig aber handelten sie aus egoistischen Gründen gegen die Absichten des Königs. Karl I. Anjou, stolz auf sein Siegesmal S. Maria della Vittoria, konnte dieses ausschließlich mit Franzosen besetzte Kloster nur lebensfähig erhalten, wenn er die Abtei mit fruchtbaren Ländereien ausstattete. Aber die neuen Nutznießer des Umlandes, ebenfalls Franzosen, fühlten sich durch diese Maßnahmen in ihrem Eigenbesitz geschmälert. So hatte z.B. Oddo de Toucy, Herr von Alba Fucense, die schon zugeschnittenen Quadersteine für den Bau der Siegeskirche entwendet. Um 1280 verbietet sein Stellvertreter den Mönchen den Fischfang im Fuciner See. Drei Feudale, gebürtig aus St. Gilles, überfallen den Klosterbesitz. Auf den besten Ländereien, die die Siegeskirche in der Capitanata unterhielt, wurden von einem französischen Anrainer 400 Schafe und vier Ochsen gestohlen, und dieser Herr vetweigerte dem Abt die Rückgabe des entwendeten Gutes.
Der Besitz der französischen Feudalen war normalerweise nicht groß. Doch haben wir Beispiele, wo es in den Abruzzen zu Großgrundbesitz gekommen ist. Ich wähle einen Fall in der Grafschaft Chieti aus, auch um zu zeigen, wie die abruzzesische Bevölkerung in den Bannkreis internationaler Verflechtungen geriet. Dort setzte Karl I. Anjou Philipp, Graf von Flandern (gest. 1308), ein. Um 1269 erhielt Philipp den Titel eines Grafen von Chieti. Zu seinem Besitz gehörten u.a. die Orte Lanciano, Atessa und Bomba. Bei der Grafschaft handelt es sich nur um das Umland, nicht um die Stadt Chieti selbst, die im Besitz des Bischofs bleibt. AnläßIich der um 1284 vollzogenen Ehe mit Mathilde von Courtenay, die 1301 kinderlos starb, schenkte Karl I. dem Flamen die Grafschaft Loreto Aprutino, einstmals im Besitz des Konrad von Antiochien. Später kamen noch andere Lehen hinzu, z.B. Montorio und Quadri. In zweiter Ehe heiratete Philipp die Filippa de Milly, Gräfin von Guardiagrele (gest. 1309). Die Unterdrückung auf seinen Ländereien muß beträchtlich gewesen sein, denn 1302 erhoben sich die Bürger von Lanciano gegen ihn. Aus den lokalen abruzzesischen Verhältnissen wechselte der Graf in die große europäische Politik über. In der denkwürdigen Schlacht bei Kortrijk (1302) im belgisehen Westflandern hatten die Flamen einen entscheidenden Sieg über die Franzosen errungen. Danach wurde der Graf von Chieti Gouverneur in seinem Heimatland Flandern. Wie sooft in der Geschichte, zog es die Menschen wieder nach Italien zurück. Und so kehrte Philipp 1305 dauernd in das Königreich Neapel heim. Weil er ausgewandert war und außerdem in Flandern Partei gegen die Franzosen genommen hatte, bekam er seine Lehen Chieti und Loreto nicht zurück, behielt aber die Güter seiner Frau Filippa de Milly in Guardiagrele, Roccamontepiano, die Burg von Fara Filiorum Petri usw. Am Ende muß er mit den Menschen seiner Wahlheimat engeren Kontakt bekommen haben. Sein Testament von 1308 unterzeichnen viele Personen unseres Berglandes. Ein Gentile Acquaviva, der nicht schreiben konnte, begnügt sich mit dem Zeichen eines Kreuzes, dann unterschreiben mit vollem Namen Rinaldo d'Aquila, der Arzt Berardo di Bucclano und Matteo di Penne sowie Giovanni d'Isernia aus dem Molise.
(S. 209)Aus der Ehe Karls II. Anjou mit Maria von Ungarn ging die Tochter Clemenzia (gest. 1300) hervor. Sie wurde 1292 Feudalherrin von Sant'Angelo Limosano in der Provinz Campobasso und heiratete 1294 Karl von Valois, den Bruder des Königs von Frankreich.
Wichtiger ist die Geschichte der Cantelmi, die aus der Provence kamen. 1269 schenkte Karl I. die Stadt Popoli an die Cantelmi, die ihren Besitz bis 1700 hielten. Popoli war einer der strategisch wichtigsten Orte in den Abruzzen. Die Stadtgeschichte ist die Familiengeschichte der Cantelmi. Ihnen gehörten mehr als 150 Siedlungen, die sich von den Abruzzen bis nach Kampanien erstreckten. Zwischen dem Sangro und der Pescara besaßen sie mehr als zwanzig Burgen. Später gehörten sie zum vornehmsten Patriziat von Neapel. Von Edelherren stiegen sie 1404 zu Grafen auf und 1558 zu Herzögen. Giovan Giuseppe Cantelmo I., Herzog von Neapel, bekleidete das Amt eines Vizekönigs von Sizilien. Seine Mutter war Giovanella Carafa, Schwester des Papstes Paul IV. (1555-1559). Bis zum Jahre 1556 regierten die Cantelmi ohne Unterbrechung in Popoli.
Vor dem Zugriff der Franzosen konnten sich die alteingesessenen Feudalherren zuweilen durch kluge Hauspolitik retten. Meisterhaft taktierte das Adelshaus der Celano, das schon unter den Normannen und Staufern durch geschickte Familienverbindungen eine fast selbständige Dynastie bilden konnte. Roger von Celano (gest. 1282) verheiratete seine Tochter Filippa mit den eben angekommenen Franzosen. Die erste Ehe führte sie mit Oddo oder Eudes de Toucy, dem großen Justitiar unter den Anjou, den wir schon als Feudalherren von Alba Fucense kennen lernten, und die zweite mit Peter von Beaumont, der 1272 starb.
Vor allem die beiden ersten Anjoukönige Karl I. und Karl II. waren darauf bedacht, sich in den Abruzzen durch Bauten und Stiftungen zu verewigen. Am meisten profitierten von ihnen die Städte Sulmona und L'Aquila. Die letztere würdigte Karl II. durch Anbringung seines Wappens. Am alten Stadttor Barete sah man drei Inschriften, von denen die eine den Dank der Stadtväter an den König zum Ausdruck bringt. Dieses Epigraph befindet sich heute im Hof des Palazzo Comunale. Karl II. hatte 1294 an der Weihe von S. Maria di Collemaggio teilgenommen in Begleitung seiner beiden Söhne Karl Mattell und Ludwig. Letzterer wurde Erzbischof von Toulouse und 1317 heiliggesprochen. An seinen Besuch erinnette sich die Stadt L'Aquila. Inmitten des Ortes errichtete man eine Kirche zu Ehren des hl. Ludwig von Toulouse. Dieser Gedenkbau lag in unmittelbarer Nähe der Franziskanerkirche und wurde von dort aus betreut. Im 14. Jh. bildete sich in S. Ludovico eine Bruderschaft, deren Mitglieder zur französischen Kolonie gehötten, die zum größten Teil aus Kaufleuten bestand. Die Kirche trug den Namen ihres Titelheiligen bis zum Jahre 1488 und wurde dann umbenannt in Chiesa della SS. Concezione. Sie besteht heute noch; allerdings zeigt der Bau keine Spuren mehr aus der Gründungszeit.
Die Wohltaten für die Abruzzen beginnen sofott nach Regierungsantritt Karls I. Zur Zeit des Staufers Konrad IV. (1250-1254) brannte die schon oft durch Feuer heimgesuchte Kathedrale von Sulmona aufs neue ab. Die Domkanoniker wandten sich an den König mit Bitten um Spenden. Helfend griff er mit einem Diplom vom 9. Dezember 1268 ein. 1278 nimmt Karl I. an der Weihe der von ihm gebauten Siegeskirche bei Scurcola teil. Am 21. März 1282 wurde der Grundstein für die Augustinerkirche in L'Aquila gelegt. Das Grundstück für diesen Bau stiftete der König.
Noch engagierter als Karl I. war sein Sohn Karl II. In seinen ersten Regierungsjahren baute er im Stadtzentrum von L'Aquila eine aufwendige Residenz in der Nähe der später entstandenen Dominikanerkirche. Der Palast war lange Zeit das Absteigequattier des königlichen Hofes. Die Vorliebe der Anjou für den hl. Dominikus wurde, wie in Neapel und im übrigen Königreich, auch in den Abruzzen wirksam. In der strengen Haft in Barcelona (1284-1288) hatte der König gelobt, nach seiner Befreiung Kirchen zu stiften. Dazu gehötte der 1309 gegründete Bau von S. Domenico in L'Aquila, aus dessen Entstehungszeit noch einige Partien erhalten sind. Zusammen mit vier Bischöfen soll Karl II. selbst den Grundstein zu dieser Votivkirche gelegt haben, und Buccio di Ranallo sagt in seiner nach 1355 entstandenen Reimchronik der Stadt L'Aquila, der Herrscher habe die Zeichnung des Grundrisses aus der Provence mitgebracht. Durch die guten Beziehungen des Königs zu Papst Coelestin V. profitierte vor allem die Stadt Sulmona. Unweit von dieser hatte Petrus von Isernia, der zukünftige Papst Coelestin, den Hauptsitz des von ihm gegründeten Ordens eingerichtet, der bald an Ansehen gewann und neue Bauten an Ort und Stelle erforderte. Schon am 5. April 1292 hören wir von königlichen Geldschenkungen an den Stammsitz der Coelestiner S. Spirito. Die Zuwendungen reichten aber nicht aus, und 1299 soll der König die Kirche von Grund auf neu gebaut haben. Die Bautätigkeit Karls II., vor allem in Sulmona, ist sehr oft nur aus historischen Schriften der Barockzeit überliefert, die sich auf heute verschollene Dokumente stützen. So soll 1290 Karl II. an der Gründung der Dominikanerkirche in Sulmona mitgewirkt haben. Auch die dortige Kirche S. Francesco della Scarpa schreibt man einer Stiftung Karls II. zu. Doch existierte dieses Gotteshaus sicherlich bereits 1271. In einer Urkunde vom 18. Juni 1370 schreibt die Königin Johanna I. von Neapel, die Franziskanerkirche in Sulmona sei von ihrem Urgroßvater Karl II. gegründet worden. Vielleicht handelt es sich um einen Neubau oder um eine Dotation an eine schon bestehende Franziskanerniederlassung. Außerdem hatte Karl II. Schenkungen an die Augustinerkirche in Sulmona getätigt. Wegen Baufälligkeit wurde sie im vorigen Jahrhundert abgerissen. Man rettete das 1315 datierte Portal und baute es 1885 in die Fassade der Kirche S. Filippo ein. Die Seitenteile der Tür enthalten in Höhe des Archivoltenbogens die Wappen des Anjoukönigs. Andere Stiftungen machte Karl II. an die Dominikanerkirche in Penne, eine der reichsten Ordenskirchen der Provinz, die bis 1809 bestand. Auch die dort verehrte Reliquie des hl. Biagio soll ein Geschenk des Königs sein. Natürlich waren die Anjou in den Abruzzen auch im Wehrbau tätig. Karl II. errich (S. 210) tete 1293 die Burg in Carsoli, deren pittoreske Reste noch erhalten sind. Noch 1402 ordnete König Ladislaus von Neapel den Bau einer Zitadelle in L'Aquila an, um notfalls in die Zwistigkeiten der Stadtpolitiker eingreifen zu können. Der Freiheitssinn der Bürgerschaft war so stark, daß sie in der Lage war, diese Zwingburg schon 1406 wieder zu zerstören. Eine andere Festung baute der König 1409 in Pescara.
Das Bemühen und der persönliche Einsatz der Anjoukönige um die Errichtung ihrer Bauten ist besonders gut für die Kirche S. Maria della Vittoria überliefert. Als Quelle dienen Aufzeichnungen in den Anjouregistern, die im Zweiten Weltkrieg von Deutschen in Neapel zerstört wurden. In einer Aufsatzfolge hat Pietro Egidi 1909 und 1910 die Dokumentation über S. Maria della Vittoria bekannt gemacht. Berauscht von seinen Siegen über die Staufer, entstand in Karl I. der Wunsch, auf seinen Schlachtfeldern Siegeskirchen zu errichten (Tf. 168). Drei Jahre nach der Schlacht bei Benevent begann er dort zu bauen, und sechs Jahre nach der Schlacht bei Tagliacozzo setzen die Arbeiten an S. Maria della Vittoria ein. Der 1269 geplante Bau der Siegeskirche auf dem Schlachtfeld von Benevent blieb aus uns unbekannten Gründen in den ersten Anfängen stecken. Anstelle von Benevent wählte er einen anderen Ort bei Scafati, unweit von Pompeji, und ließ dort die Siegeskirche S. Maria di Realvalle aufführen. Die Errichtung von S. Maria della Virtoria wurde bereits 1273 in Erwägung gezogen. In diesem Jahr schrieb der König an das Generalkapitel in Citeaux und bat, seine beiden Siegeskirchen möchten dem Zisterzienserorden unterstellt werden. S. Maria della Vittoria sollte eine Filiation des Zisterzienser klosters Le Loroux bei Saum ur werden, das im Stammland der Anjou blühte, und S. Maria di Realvalle wünschte er sich als Tochter von Royaumont, einer Zisterzienserabtei, die sein Vater König Ludwig VIII. von Frankreich gestiftet hatte. Citeaux erklärte sich mit dem Vorhaben des Königs einverstanden und schickte aus jedem der beiden Klöster Mönche nach Italien. Sie sollten sich mit den Niederlassungen in Fossanova und in Casamari in Verbindung setzen, von wo aus man die Pläne Karls I. unterstützen wollre. Ende des Jahres kam die Delegation aus Le Loroux in Neapel an und wurde zum abruzzesischen Zisterzienserkloster Casanova weitergeleitet. Gemeinsam mit dem dortigen Abt stellte man eine Kommission auf, die die Lage des Schlachtfeldes bei Scurcola topographisch genauestens feststellen sollte, um die Siegeskirche am historisch getreuen Ort zu errichten. Der Ausschuß tagte im Januar 1274. Am 6. Februar 1274 ernannte der König die Administratoren und den Baudirektor mit der Anweisung, sich unverzüglich an die Baustelle zu begeben. Ende März begannen die Fundamentaushebungen. Der Mönch Petrus von Le Loroux und der Jurist Angelo da Foggia verwalteten die königlichen Einkünfte und die Bauausgaben, und Petrus de Chaule, Kleriker an der königlichen Kurie, wurde zum technischen Bauleiter bestimmt. Bis zum Mai 1274 bleibt Petrus de Chaule ständig an der Bauhütte von S. Maria della Vittoria, erhält aber dann von Karl I. den Auftrag, gleichzeitig auch die Bauarbeiten in S. Maria di Realvalle zu beaufsichtigen. Er sollte sich im monadichen Wechsel an den beiden Arbeitsstätten aufhalten. Obwohl die geldlichen Zuwendungen in den ersten Jahren 1274-1277 nur spärlich flossen, waren die Bauarbeiten im Juli 1277 so weit gediehen, daß man daran denken konnte, die ersten Mönche aus Frankreich anzusiedeln. In einem Schreiben vom 4. Juli 1277 bittet der König die Äbte von Citeaux, Le Loroux und Royaumont um Zuweisung von zwei Mönchsfamilien für die beiden Siegeskirchen, bestehend aus je zwanzig Mönchen und zehn Laienbrüdern, die, falls möglich, bereits vor dem Herbst an ihren neuen Bestimmungsorten eintreffen sollten. Ende des Jahres erreichten die Mönche aus Le Loroux mit ihrem Abt Bartholomäus S. Maria della Vittoria. Mit der Anwesenheit des neuen Abtes wurde eine Veränderung in der Bauverwaltung nötig. Der Mönch Petrus von Le Loroux, seit 1274 der Bauleitung angehörend, wurde durch den Abt abgelöst, und auch der Jurist Giovanni di Vairano, der 1275 die Stelle des Juristen Angelo da Foggia übernommen hatte, wurde abgesetzt, erhielt aber vom König den Auftrag, sich zur Verfügung zu halten, um gemeinsam mit ihm die Ausgabenbücher einzusehen und durchzusprechen. Zur Erledigung wichtiger Staatsgespräche in Rom brach Karl I. am 6. Mai 1278 in Capua auf, erreichte das Marserland durch das Lirital und kam am 10. Mai in S. Maria della Vittoria an. Für seine Weiterreise benutzte er später die Via Valeria über Carsoli und Tivoli. Der Aufenthalt auf seinem einstigen Schlachtfeld dauerte drei Tage. Am 12. Mai nahm er an der Weihe seiner Siegeskirche teil. Als Geschenk brachte er eine hölzerne von einem französischen Künstler gearbeitete Madonnenstatue mit, die sehr berühmt wurde, heute jedoch verschollen ist. Wie die Quellen aussagen, war der Bau der Kirche noch längst nicht abgeschlossen. Der König muß mit dem Fortgang der Arbeiten unzufrieden gewesen sein, denn in den Tagen der Kirchweihe erfolgte eine neuerliche Umbesetzung in der Bauleitung. Gualterio aus Sulmona übernahm die Amtsgeschäfte des abgesetzten Giovanni di Vairano. Auch der eigentliche Baudirektor wurde ausgewechselt. Als Nachfolger des Petrus de Chaule fungierte nun der Franzose Enricus da Arsum. Karl I. drängte auf schnelle Weiterführung, doch blieben seine Geldzuwendungen aus. Und so wurde Enricus da Arsum schleunigst nach Rom geschickt und stöberte dort den König in seinen politischen Amtsgesprächen auf. Die Darlegung der Sachlage hatte offenbar Erfolg. Nach Erledigung seiner Mission in Rom kommt Karl I. am 18. Juni 1278 nach S. Maria della Vittoria zurück und zeigte sich mit dem Fortgang der Arbeiten zufrieden, drängte aber auf noch schnellere Erledigung. Schwierigkeiten bereitete die ungenügende Zahl der Bauarbeiter. Die ortsansässigen Italiener waren faul, kamen zu spät zur Arbeit und verließen sie zu früh. Gualterius von Sulmona mußte Soldaten für die überwachung der Arbeiter einsetzen. Aus Mangel an arbeitswilligen Kräften war er gezwungen, Fachkräfte aus Frankreich oder aus Gebieten außerhalb des Königreichs anzuheuern. Neue Störungen entstanden durch die Erkrankung des Gualterius von Sulmona. Der König setzte unverzüglich an seine Stelle den Rinaldo Villani aus Siena, der zur (S. 211) engeren Hofhaltung der Anjou gehörte. Die Ernennung erfolgte am 20. Februar 1279. Gleichzeitig erhielt der Architekt Enricus da Arsum einen Mitarbeiter in Giovanni da Messina. Auch unter dieser Auffrischung der Bauleitung ging 1279 die Fortführung des Baus wegen Mangel an Arbeitskräften schlecht weiter. Im Winter 1279/1280 waren in der über 700 m hoch gelegenen, von Schneebergen umgebenen Bauhütte nur drei Steinhauer und fünf Maurer tätig. Im Januar 1280 forderte der König von April an eine Vermehrung der Zahl der Arbeiter. Dieser persönliche Einsatz von höchster Stelle hatte endlich Erfolg. Im Sommer 1280 sind 38 Arbeiter in den Steinbrüchen tätig, ansonsten arbeiten 30 Maurer, 7 Steinschleifer, 38 Steinmetzen, 3 Zimmerleute, 3 Schmiedemeister, 162. Handlanger, 14 Fuhrleute und 38 Ochsentreiber. Insgesamt waren 356 Menschen am Bau tätig. Für den Transport standen 148 Ochsen, 10 Büffel und 25 Pferde zur Verfügung. Am Ende des Jahres 1280 waren die Arbeiten an Kirche und Refektorium weit fortgeschritten. Den Höhepunkt der Arbeitsleistung brachte die Zeit vom 1. April bis zum 15. September 1281. Die Bauhütte beschäftigte 450 Personen, und mehr als 150 Ochsen und Pferde wurden gebraucht. Gute Bauberichte gingen an den König ab, und dieser antwortete mit dankbaren Gefühlen für die vollbrachte Leistung. Das Jahr 1282. ging mit Abschlußarbeiten hin, mit der Vollendung der Gewölbe und der Klosterbauten sowie den dekorativen Arbeiten an Fenstern und Türen. Da am Ort eine Gießerei fehlte, besorgte man die Kirchenglocke aus einem Minoritenkloster in Amatrice.
In einer Urkunde vom 3. August 1207 hatte Karl I. bestimmt, S. Maria della Vittoria, als Gedenkbau des Sieges der Franzosen über die Staufer, dürfe nur von Männern besetzt werden, die aus dem Königreich Frankreich, der Provence oder aus Forcalquier stammten. Aber schon unter den letzten Anjou lebten hier französische und italienische Mönche zusammen. Völlig verschwanden die Franzosen zur Zeit der aragonischen Dynastie. Schließlich wurde das Kloster aufgegeben. 1525 waren nur noch Ruinen zu sehen, von denen noch Reste erhalten geblieben sind. Wie der König selbst schreibt, wollte er seine Siegeskirche für die Ewigkeit bauen »quasi quoddam memoriale perpetuum«.
Pietro Egidi ist in seiner Dokumentation über S. Maria della Vittoria noch auf die täglich geforderte Arbeitsleistung und auf den Lohn der Beschäftigten eingegangen und zitiert höchst aufschlußreiche Quellen. Nur ein Hinweis mag genügen. Die Anjouverwaltung konnte königliche Bauaufträge auf zweierlei Art durchführen, entweder durch Vergabe oder in eigener Regie mit eigenem Personal. Letzteres geschah bei gewichtigen Bauarbeiten, während kleinere Aufgaben ausgeschrieben oder ausgelobt wurden. So erfolgte z.B. eine Ausschreibung für die Errichtung der Stadtmauer von Manfredonia (1278) oder für die Erstellung einer königlichen Kapelle (cappella regia) in Bari. In S. Maria della Vittoria wurden für Innenarbeiten und für die Tische des Refektoriums Aufträge an Dritte erteilt. In der anderen Siegeskirche, S. Maria di Realvalle, vergab man sogar Konstruktionsarbeiten, wie die Herstellung von Pilastern und Bögen sowie die Bearbeitung von Kapitellen. Ebenso wurden die Transporte von Bausteinen für eastel Novo in Neapel ausgeschrieben.
Die Aragonier, die spanische Herrschaft und die Habsburger
Die Aragonier (1442-1503)
Zur Zeit der Fremdherrschaften waren die Abruzzen und das Molise für das Königreich Neapel nur von sekundärer Bedeutung. Das Gebiet wurde von Neapel aus mit seinem perfekten Beamtenapparat verwaltet. Dieser war ein überwachungssystem, welches das Land durch ungebührliche Steuerlasten ausbeutete und Rebellionen unterdrückte, wo immer sie aufflammten. Die kluge Politik der Anjou fand unter den nachfolgenden Dynastien keine Fortsetzung. Abgesehen von militärischen Anlagen kennen wir keine Monumente und keine Stiftungen, mit denen sich die Königshäuser von Neapel in unserer Region hervorgetan hätten. Ganz anders stand es mit der Stadt Neapel, wo der königliche Hof und die Regierung mit ihren zentralistischen Staatsorganen zur üppigen Entfaltung kamen. Durch Pflege der humanistischen Kultur, durch prachtvolle Bauten -errichtet mit städtebaulicher Weitsichtigkeit -, durch blühenden Handel und eine internationale Gesellschaftsschicht wurde Neapel zu einem der hervorragendsten und attraktivsten Fürstenhöfe Europas. Das Verhältnis der Könige zu den Abruzzen und dem Molise, auf die der Glanz der Regierungsstadt nicht ausstrahlte, bleibt sehr locker und stereotyp. Man beschränkte sich auf Visitationen, die oft mit kriegerischen Unternehmungen verbunden waren, und bemühte sich vor allem unter den Aragoniern und Spaniern, möglichst viele Landsleute aus der iberischen Halbinsel in die Abruzzen einzuschleusen. Die spanische Invasion war nicht immer von Nachteil. Durch Anpassung an die neue Umwelt konnten auch gute Kontakte entstehen, die für das Bergland segensreich wurden.
Der erste aragonische König von Neapel ist Alfons I., der Großmütige, von der Anjoukönigin Johanna II. (gest. 1435) zum Thronerben eingesetzt, aber später enterbt. Nach wechselnden Kämpfen mit den Anjou erlangte Alfons 1442. den dauernden Besitz des Königreiches; er war ein mächtiger Herrscher, von 1416-1458 zugleich auch König von Aragon und Sizilien. Die von den Anjou begünstigte Stadt L'Aquila, die nach Neapel zur wichtigsten Stadt des Königreichs gerechnet wurde, verlor ihre Vormachtstellung, als Alfons Chieti zur Metropole der Abruzzen erhob und damit die Voraussetzung für die Blüte dieser Stadt im 16. Jh. schuf. Am 27. Juni 1438 besiegte der König die Truppen des Jacopo Caldora in der Nähe von Castel di Sangro, und noch am selben Tage brach er von dort zum Besuch der von ihm verehrten Stadt Sulmona auf. Der Kondottiere Caldora stand im Dienst der Anjou, die ihrerseits den Thron von Neapel beanspruchten. 1443 sehen wir Alfons I. wieder in den Abruzzen. Am 8. August wird er in L'Aquila mit großen (S. 212) Ehrungen empfangen. Der eigentliche Zweck seiner Reise waren kriegerische Operationen gegen Francesco Sforza. Dieser war vom Papst mit der Mark Ancona belehnt worden, und Alfons war alles daran gelegen, den Sforza aus den Marken zu vertreiben. Die Kämpfe bewegten sich 1443 teilweise in den Abruzzen. Francesco gelang es, sich der Festung Civitella del Tronto zu bemächtigen und die nördlichen Abruzzen gegen das Haus Aragon aufzuwiegeln. Die Familie Sforza war den Abruzzesen schon durch den Vater des Francesco bekannt. Dieser - namens Muzio Attendolo Sforza - stand als Söldnerführer im Dienst der Anjoukönigin Johanna II. Im Einsatz gegen den Tyrannen von L'Aquila, Braccio da Montone, ertrank Muzio am 3. Januar 1424 in der Pescara.
Hohe Staatsbesuche erhielt auch die Stadt L'Aquila. 1475 erschien dort Alfons, Herzog von Kalabrien, zu dessen Ehren große Feste veranstaltet wurden. Er wohnte im königlichen Palast, der eigens von einem nicht aus L'Aquila stammenden Architekten für diesen Besuch restauriert und hergerichtet worden war. Johanna von Aragon (gest. 1517), zweite Frau des Königs Ferdinand I. von Neapel (1458 bis 1494), war mehrere Male in den Abruzzen, zuerst im Jahr 1485. Wichtiger war ihr zweiter Besuch. Sie reiste in der ersten Hälfte des Juni 1493 unter Begleitung neapolitanischer Würdenträger aus der Hauptstadt ab und erreichte L'Aquila am 29. Juni. Während ihres zehntägigen Aufenthaltes, den sie u.a. dazu benutzte, die Reliquien des Bernhardin von Siena zu sehen, fanden auf der Piazza di Palazzo große Feste statt. Sie hatte ihren Platz auf einer Tribüne gegenüber einem Brunnen. über dem Wasserspiegel prangte ein Adler als Automat. Er konnte seine Flügel heben und senken. Waren sie gespreizt, sah man auf der Brust des Vogels die aragonischen Wappen. Auf der Bühne wurden Poesien vorgetragen, und es wurde musiziert. Auf der Piazza waren Triumphwagen mit allegorischen Anspielungen auf die Taten des Königshauses aufgestellt.
Der nur kurz regierende König Alfons II. von Neapel (1494-1495) hielt sich mit seinem Hofstaat 1495 in Celano auf und mußte dort aus Krankheitsgründen längere Zeit verweilen. Er starb noch im selben Jahr am 19. November. Der letzte Aragonier, Friedrich, König von Neapel (1496 bis 1501), war 1497 in Campobasso auf der Reise nach Apulien, um dort die Bevölkerung zur Raison zu bringen, da sie Partei für die Franzosen ergriffen hatte.
Das Königshaus war natürlich bemüht, den Aragoniern in unserer Region höchste Stellen zu vermitteln. Zur engsten Hofhaltung Alfons des Großmütigen (1442-1458) gehörte Inigo de Guevara. Alfons ernannte ihn zum Grafen von Vasto. Inigo war ein glänzender Reiter, Sänger und Tänzer und verstand sich auf die Musik. In Neapel nahm er an den philosophischen Abendgesellschaften des Königs Altons teil und soll selbst über eine gute Bibliothek verfügt haben. Die Grafschaft Trivento erhielt 1465 Luigi Galzerano de Requesens als Lehen. Er stammte aus einer katalanischen Patrizierfamilie und starb 1504. König Ferdinand I. von Neapel (1458-1494), Sohn Alfons des Großmütigen, heiratete 1477 Johanna von Aragon. Als Hochzeitsgabe erhielt sie die Stadt Sulmona. Damit verlor die bis dahin freie Stadt ihre Selbständigkeit. Als Fürstin von Sulmona starb Johanna 1517. Gelegentlich wurden auch Bischofssitze an Spanier vergeben. Einer von diesen war z.B. Angelo D'Albero, Bischof von Venafro (1471-1504). Alfons von Aragon, ein natürlicher Sohn König Ferdinands I. von Neapel, fungiert 1488 als Bischof von Chieti.
Die spanische Herrschaft (1503-1713)
Die Vereinigung der beiden Königreiche Kastilien und Aragon, vollzogen durch die Heirat Isabellas von Kastilien mit Ferdinand von Aragon, wurde die Grundlage des spanischen Nationalstaates. Bevor Ferdinand 1503 außerdem noch König von Neapel wurde, hatte er schon längst vorher in Fragen der Thronfolge in Süditalien kräftig mitgemischt. Seine Antipoden waren die Franzosen, die durch Jahrhunderte ihren Rechtsanspruch auf Neapel geltend machten. Aber auch gegen die Spanier, gegen Ferdinand und später gegen Kaiser Karl V. konnten sie keine dauernden Erfolge erzielen. Die Auseinandersetzungen erfolgten bereits in den letzten Jahren der aragonischen Herrschaft. König Karl VIII. von Frankreich (1483-1498) glaubte als Nachfolger der Anjou in der Provence seine Ansprüche auf das Königreich Neapel durchsetzen zu müssen. Mit zahlreichem Heer rückte er im August 1494 über die Alpen, zog am 31. Dezember in Rom ein und zwang mit Erfolg Papst Alexander V1., ihn mit dem Königreich Neapel zu belehnen. Bei seinem Anmarsch auf Neapel durcheilte der König die Abruzzen, wo er S. Clemente a Casauria aufsuchte. Ohne Schwertstreich zogen die Franzosen am 21. Februar 1495 in die Hauptstadt ein. Schon vor der Besetzung hatte der aragonische König Alfons II. von Neapel zugunsten seines Sohnes Ferdinand abgedankt. Dieser übernahm im Januar 1495 die Regierung, mußte aber bereits im darauffolgenden Monat vor den Franzosen nach Sizilien fliehen. Im März reagieren auswärtige Mächte auf die Einnahme Neapels, wobei Ferdinand der Katholische von Spanien keine geringe Rolle spielte. Es bildete sich eine Liga, bestehend aus den Städten Mailand und Venedig, aus Ferdinand dem Katholischen und Kaiser Maximilian, mit dem Ziel, Karl VIII. von Frankreich aus Neapel zu verjagen. Unter dem Druck dieser übermacht zieht sich der französische König nach Norden zurück, wird am 6. Juli 1495 in der Schlacht bei Fornovo di Taro (Prov. Parma) von dem Heer der Liga entscheidend geschlagen und stirbt im Alter von nur 27 Jahren 1498 zu Amboise. Der zweite Eingriff in die Politik Süditaliens von seiten Ferdinands des Katholischen geschah unter dem neuen Throninhaber von Neapel, Friedrich von Altamura (1496-1501), einem Onkel seines 1496 verstorbenen Vorgängers. Gegen die Regierung Friedrichs verbündeten sich 1501 Ferdinand der Katholische und der französische König Ludwig XII., der wie König Karl VIII. nicht von Neapel lassen konnte. Das Königreich Neapel wurde von spanischen und französischen Truppen besetzt. Um wenigstens einen Teil des Südreichs zu behalten, überließ Friedrich von Altamura den Franzosen Neapel. Das (S. 213) Bündnis Ferdinands von Spanien mit der französischen Krone war nur von kurzer Dauer. Während der Teilungsverhandlungen brach zwischen diesen Partnern ein neuer Krieg aus, der erst 1505 beigelegt wurde. Weil bei den Bürgern von Neapel die Spanier beliebter waren als die Franzosen, begünstigten sie den Einmarsch des Generals des spanischen Königs, Gonzalo Hernandez, der aus der bedeutenden andalusischen Familie Cordova stammte; auf diese Weise ermöglichten sie dem spanischen König, als Ferdinand III. von Neapel 1503 endgültig den Thron des Südreiches zu besteigen.
Nach dem Tode Ferdinands am 23. Januar 1516 kam das Königreich Neapel an Kaiser Karl V. Bei seiner Abdankung 1556 überließ er das Südreich seinem Sohn Philipp II. (gest. 1598), dem weltlichen Haupt der europäischen Gegenreformation. Die Regierungszeit bei der Herrscher war mit andauernden Kämpfen gegen die Franzosen unter König Franz I. (1515 -1547) und seinem Sohn, König Heinrich II. (1547-1559), ausgefüllt. Schauplatz der Auseinandersetzungen waren häufig die Abruzzen, die als nördliche Provinz des Königreiches den Feinden als Einmarschgebiet dienten. Die Folge war dort gezwungenermaßen eine Schaukelpolitik, die, welche Partei auch immer man ergriff, unglücklich endete. Hielt man zu den Franzosen, rächten sich die Spanier, und umgekehrt. Mit seinen Hegemonieansprüchen auf Italien erhielt Franz I. von Frankreich in der Schlacht bei Pavia eine empfindliche Niederlage und wurde sogar gefangengenommen. Aus Rache für die Demütigung schickte er seinen General Lautrec, der schon 1516 den Oberbefehl über das französische Heer erhielt, nach Süditalien. 1528 drang der Feldherr, von Ascoli Piceno kommend, mit zwei Heeresgruppen in die Abruzzen ein. Die eine zog an der Adriaküste entlang und folgte von Pescara an dem Flußlauf der Pescara, um Sulmona zu erreichen. Die zweite Gruppe rückte im Landesinneren vor und besetzte kampflos L'Aquila. Die Franzosen kamen bis vor Neapel. Während der Belagerung brach im französischen Heer eine Seuche aus, die viele Opfer forderte, und der auch Lautrec am 16. August 1528 erlag. Die Bürger von L'Aquila hatten wegen der kampflosen übergabe ihrer Stadt an die Franzosen das Nachsehen. Noch im selben Jahr 1528 läßt Kaiser Karl V. in L'Aquila eine Garnison einrichten. Die Stadt revoltierte gegen die Strenge der Spanier, und 1529 gelang es dem General und Vizekönig von Neapel, Filiberto von Chalons-Orange (1529-1530), L'Aquila zu besetzen. Den Bürgern wurden zur Strafe ungeheure Geldbußen auferlegt. Nicht minder schlimm erging es den Abruzzesen unter König Heinrich II. von Frankreich. Er sandte seinen General Francois Guise mit 18000 Soldaten nach Italien, um Neapel zu erobern. Das Unternehmen scheiterte politisch völlig, jedoch war die Turbulenz in den Abruzzen gewaltig. Die Stadt Campli wurde von den Franzosen eingenommen und geplündert. Weniger Glück hatte Francois Guise in Civitella del Tronto 1556, wo er die Festung fünf Monate vergebens belagerte. Bei der Verteidigung zeigten die Frauen den gleichen Mut wie die Männer, und Philipp 11. von Neapel zeichnete die Stadt mit dem Beinamen »fedelissima« aus und erteilte 1589 dem Ort die Stadtrechte. Nicht so gut benahmen sich die Einwohner von Ancarano, die wohl die Partei der Franzosen ergriffen hatten. Denn die Stadt wurde 1559 unter dem Oberbefehl des Vizekönigs Fernando Alvarez von Toledo (1555-1558), Herzog von Alba, völlig zerstört. Nach dem Wiederaufbau blieb Ancarano bis 1818 im Besitz der Bischöfe von Ascoli Piceno, kam dann an den Kirchenstaat und gehörte nach 1852 wieder zum Königreich Neapel.
Die Einfälle der Franzosen haben zur Genüge gezeigt, wie ungesichert das Königreich gegen derartige übergriffe war. Moderne, die neue Kriegstechnik berücksichtigende Festungsbauten wurden von spanischen Vizekönigen angelegt, besonders zur Regierungszeit des Pedro von Toledo (1532 bis 1553), der 1541 die Stadt L'Aquila aufsuchte. Die Abruzzen erhielten ein neues, strategisch klug durchdachtes Verteidigungsnetz. Der früheste Kastellbau erfolgte in L'Aquila. Nachdem man dort schon 1528 eine Zitadelle errichtet hatte, begann man 1534 einen Neubau, mit dessen Errichtung man über zwanzig Jahre beschäftigt war. Es entstand ein Monument, das, vorzüglich erhalten, zu den prächtigsten Festungsanlagen dieser Zeit in Süditalien gehört. Die Feste hatte eine doppelte Funktion, sie sollte feindliche überfälle aus dem Norden abwehren und gleichzeitig die eigenwillige Politik der Stadt L'Aquila überwachen. Ab 1535 arbeitete man am Kastell von Pescara, einem großartigen Bau über dem Pescarafluß, der 1867 aus urbanistischen Gründen abgerissen wurde. Die Verteidigungsanlage von Civitella del Tronto galt als uneinnehmbar; der Neubau muß schon 1556 fertig gewesen sein. Der Herzog von Alba, Fernando Alvarez von Toledo, errichtete in der Stadt Chieti neue Befestigungen.
Ebenso gefährlich wie die Einfälle der Franzosen waren die Beutezüge der Türken, deren Aktionen politisch von Frankreich unterstützt wurden. Nach 1566 griffen türkische Korsaren unter dem Oberbefehl des Pascha Piale die Küstenorte des Molise und der Abruzzen an. Pescara konnte den Ansturm abwehren, geplündert und beschädigt wurden Francavilla a Mare, Guglionesi und S. Vito Chietino, Ortona wurde in Brand gesteckt, und in Vasto wurden der Kathedrale und S. Maria Maggiore sowie dem Palast der Familie D'Avalos schwerste Schäden zugefügt. Eine Zerstörung erfuhr auch die Stadt Termoli, wobei der obere Teil der großartigen Domfassade vernichtet wurde. Einwohner gerieten immer wieder in Gefangenschaft und wurden von den Türken als Sklaven verschleppt und verkauft. Die neapolitanische Regierung war gezwungen, die ausgedehnten Küstengebiete des Reichs durch Errichtung von Verteidigungs-und Wachttürmen zu sichern. In dem arg mitgenommenen Küstenstreifen unserer Region hat man im Verhältnis zum übrigen Königreich wenig unternommen. Ein Küstenturm ist noch in Martinsicuro in der Provinz Teramo erhalten. Die Besatzung der Festungen bestand durchweg aus Spaniern.
Noch aufreibender als die Abwehr der Franzosen und Türken war der Kampf im eigenen Land gegen die Banditen. (S. 214) Das Brigantenturn blühte im ganzen Königreich, besonders in gebirgigen Gegenden, in Kalabrien und in den Abruzzen. Ober Jahrhunderte sind die Banden eine Plage ersten Ranges gewesen, die erst nach der Einigung Italiens 1860 erlosch. Den Nährboden für dieses Unwesen schufen sich die fremden Dynastien selbst durch soziale Ungerechtigkeit und durch Ausbeutung der niederen Klassen, ohne ihnen Chancen zum Aufstieg zu geben, und indem sie die Banditen gelegentlich für ihre eigenen Vorhaben dingten. Die Räuber konnten als Wegelagerer einzeln auftreten, oft aber operierten sie in geschlossenen Einheiten. Mit ihrer Bekämpfung in den Abruzzen waren die Vizekönige häufig beschäftigt, und es kam sogar zum Einsatz starker Geschütze. Noch heute ist den Bewohnern von Fontecchio die Belagerung durch die Briganten im Jahr 1647 in Erinnerung. Die Glocke des Burgturmes, die zu den ältesten Glocken Italiens gehört, gibt nach Sonnenuntergang zwei Stunden lang fünfzig Schläge ab, um die Zeitdauer der Belagerung anzuzeigen. 1674 überfiel ein Häuptling mit 400 Banditen die Stadt Pescocostanzo. Das Räuberwesen wurde ein beliebtes Thema der Literatur, der Oper und Legende. Man erzählt von einer sagenumwobenen Begegnung des Torquato Tasso mit Räubern in den Abruzzen. In den achtziger Jahren des 16. Jh. war in unserem Bergland einer der berüchtigtsten Banditen namens Marco Sciarra am Werk. Er nannte sich »König des freien Feldes« (re della campagna). Tasso floh 1578 heimlich vom Hofe in Ferrara und begab sich nach Sorrent. Sein Weg führte durch das Innere unseres Berglandes über L'Aquila, Sulmona, Isernia. Aus Furcht, von der königlichen Polizei erkannt zu werden, tauschte er eines Nachts in einer billigen Herberge sein Gewand mit seinem Stubennachbarn, einem Hirten. Auf seiner Weiterreise wird Tasso von Banditen des Marco Sciarra überfallen. Trotz seiner ärmlichen Kleidung erkennt man ihn als den großen Poeten, der berühmte Waffentaten und die Liebe besingt. Er wurde dem Häuptling Sciarra zugeführt. Wißbegierig und galant wie ein Edelmann lud dieser ihn ein, die Nacht in seiner Höhle zuzubringen.
Die Besetzung der Feudalsitze mit Spaniern wurde großzügig durchgeführt. Mit dem Wechsel der Dynastien erfolgte jeweils die Austreibung der eingesessenen, meistens ausländischen Barone und eine mit leichter Hand vorgenommene Vergabe an Neuankömmlinge. Besonders freigebig zeigte sich Kaiser Karl V. als König von Neapel. Er bevorzugte militärische Persönlichkeiten, die sich in den Feldzügen gegen die Franzosen ausgezeichnet hatten. Der Vizekönig von Neapel Karl von Lannoy (gest. 1527), gebürtiger Flame, Turnierfreund und Vertrauter Karls V., nahm 1525 an der Schlacht von Pavia gegen den Franzosen Franz I. teil. Wegen seiner Verdienste erhielt er den Titel »Principe di Sulmona e di Ortona«. Die Dynastie der Lannoy hielt sich in Sulmona bis zum Jahre 1604. Isabella di Mombel, Fürstin von Sulmona, war Lannoys Gemahlin und 1500 in Gent die Amme Karls V. Als Witwe erhielt sie vom Kaiser Lehen im Molise, 1532 Campochiaro und 1533 Boiano. 1526 gab der Kaiser das Tal des Mavone an Ferrante de Alarcon y Mendoza mit dem Titel eines Marchese. Der in der Schlacht bei Pavia ausgezeichnete General war dazu Lehnsherr von Canzano, Poggio Morello, Sant'Omero und Sant'Egidio. Der Dominikaner Serafino Razzi besuchte 1575 den gleichnamigen Sohn des Don Ferrante auf dessen Anwesen in Tossiccia. Er schildert ihn als sehr höflich und fromm. Er wohne in Neapel, zöge aber vor, die Sommermonate in Tossiccia zuzubringen; er ergötze sich an Musik und Gesang. Razzi rühmt seine Bibliothek vornehmlich weltlichen Inhalts sowie die prachtvollen Einbände seiner Bücher. Weiterhin bewundert er die Hauskapelle, in der auch eine Orgel stand; der Raum war angefüllt mit königlichen und päpstlichen Gewändern, die Clemens VII. nach dem Sacco di Roma von 1527 gerettet und dem Vater des Don Ferrante gegeben hatte. Schon 1521 erhielt Guillaume Croy vom Kaiser die Stadt Guardiagrele im Austausch gegen Isernia. Als sich die Stadt L'Aquila 1528 nach der Revolte gegen die Spanier ergeben mußte, wurde den Einwohnern der Besitz des Umlandes abgenommen und an spanische Militärs vergeben. Der französische Heerführer Lautrec (gest. 1528) besaß die Stadt Lanciano und viele Güter in der Umgebung. Natürlich wurde er von Karl V. enteignet und Grund und Boden teilweise Spaniern zugesprochen. Die bedeutsamste Schenkung erhielt Alessandro Medici vom Kaiser 1522 mit dem Gebiet von Penne und anderen Ländereien in den Abruzzen. Die natürliche Tochter Karls V., Margarethe von Österreich, heiratete in erster Ehe diesen Alessandro, in zweiter Ottavio Farnese, Herzog von Parma und Piacenza und ebenfalls im Besitz vieler Liegenschaften in den Abruzzen. All dieses bildete den Grundstock zu einem eigenen Verwaltungsgebiet, das man als Farnesischen Staat in den Abruzzen bezeichnet. Wie selbstherrlich und willkürlich man mit einst selbständigen Städten umging, zeigte das Schicksal der Stadt Sulmona. Der 1637 bis 1644 amtierende Vizekönig von Neapel, Ramiro de Guzman, Herzog von Medina de las Torres, verkaufte die Stadt Lanciano an den Herzog Castro Pallavicini; 1646 wurde sie an den Marchese von Vasto weiterveräußert.
Weit mehr als die Anjou und Aragonier waren die Nationalspanier darauf bedacht, die Bistümer des Molise und der Abruzzen mit Spaniern zu besetzen. So wurde Sancio Ayethe 1517 zum Bischof von Termoli eingesetzt. Es regierten 1536-1548 in Venafro der aus Burgos gebürtige Bernardino Soria, ab 1539 Ferdinando Mudarra in Larino, 1679-1684 der Spanier De La Madriz Bustamane in Trivento. Aus den Abruzzen nenne ich die Stadt L'Aquila, die schon durch die Festungsanlage mit spanischer Besatzung nicht von den Fremdherrschern verwöhnt wurde. Eine zweite Hispanisierung erfolgte durch Einsetzung spanischer Bischöfe. Giovanni D'Acugna, ein spanischer Priester, erlangte mit 85 Jahren das Bischofsamt und regierte bis 1579, in rüstigem Zustand erreichte er das hohe Alter von 104 Jahren. Der Spanier Gundisalvo De Rueda verwaltete das Amt von 1602-1622. Darauf folgen Alvaro de Mendoza (1622 bis 1628), Gaspare di Gajoso (1629-1644), Francesco Tellio aus Leon (1654-1662), Giovanni Torricella (1676-1681), Arcangelo Tipaldi (1681-1682), Ignazio De La Zerda (1683-1702). Letzterer wurde 1637 in Lima in Peru gebo (S. 215) ren, wo sein Vater spanischer Vizekönig war. Ähnlich verfuhr man in Lanciano, das 1562 zum Erzbistum erhoben wurde. Ab 1553 hatte dott das höchste Kirchenamt der Dominikaner Michele Fortino inne, von Geburt Franzose oder Flame, 1570 residierte dort ein Franziskaner, der Spanier Antonio Gaspare Rodriguez, es folgen 1618-1621 der spanische Karmeliter Francesco Romero, 1669-1673 Ildefonso Alvarez Barba Ussorio, ebenfalls spanischer Karmeliter, 1686-1694 der Spanier Emanuele Della Torre, 1697-1700 der spanische Augustiner Barnaba de Castro. Auch als Äbten begegnen wir Spaniern. 1576 wird in S. Giovanni in Venere ein spanischer Abt genannt, ein gewisser Navarrino.
Die Besuche aus dem spanischen Königshaus waren in den Abruzzen weit seltener als zu Zeiten der früheren Fremddynastien. Philipp IV., König von Neapel (1621 bis 1665), hatte eine Schwester, Maria Anna. Diese heiratet 1629 Ferdinand von Ungarn, der 1637-1657 als Ferdinand III. römisch-deutscher Kaiser war. Anna Maria hielt sich 1630 in Neapel auf. Ihre Rückreise unternahm sie durch die Abruzzen. Sie erreichte die Grenzen des Königreiches bei Giulianova am 4. Januar 1631. Die Stadt L'Aquila sah sich bemüßigt, dem spanischen König Karl II. (1665-1700), gleichzeitig König von Neapel, auf der Piazza S. Margherita eine Statue mit Wappen und Aufschriften zu errichten. Die Dankesschuld scheint nicht aus vollem Herzen abgestattet worden zu sein. Das besonders plumpe Werk stammt aus dem Jahre 1675 von einem kaum bekannten Bildhauer Marcantonio Canini aus Rom.
Die Habsburger (1713-1734)
Karl II., König von Spanien und gleichzeitig König von Neapel (1665-1700), gehötte zur spanischen Linie der Habsburger und starb im Jahr 1700 kinderlos. Schon lange vor seinem Tod setzte die Erbfolgefrage die europäischen Mächte in Bewegung, und nach seinem Ableben begann der spanische Erbfolgekrieg (1701-1713/14). Um die Thronfolge standen die Franzosen und der deutsche Zweig der Habsburger miteinander in Wettstreit. Das Testament Karls II. bestimmte Philipp, Enkel des französischen Königs Ludwig XIV., zum Nachfolger. Dieser zog 1701 in Madrid ein und wurde als König anerkannt. Der Gegenkönig war Karl, Sohn des deutschen Kaisers Leopold I. Es gelang ihm, Philipp zweimal aus Madrid zu vertreiben. Da Philipp aber dank französischer Hilfe militärisch im Vorteil war, richtete der 1703 zum König ausgerufene Karl von Habsburg in Spanien wenig aus. Der Habsburger versuchte nun mit allen Mitteln, König Philipp wenigstens das Königtum in Neapel streitig zu machen. Man plante, daß das österreichische Heer durch die Abruzzen in das Königreich eindringen sollte. Kaiser Leopold I. schickte schon 1702. den Abate Francesco Mastrilli in unser Bergland mit der Aufgabe, den dortigen Adel für die Partei der Österreicher zu gewinnen. Seine Wühlarbeit in den Abruzzen wurde jedoch aufgespürt, und er entwischte als Bauer verkleidet auf abenteuerlichen Fluchtwegen. Im Juni 1703 legte ein österreichisches Kaperschiff vor Giulianova an, wo die Besatzung das dortige Schloß plünderte und in Brand steckte. Der eigentliche Heereszug gegen Neapel begann aber erst 1707 unter Leopolds älterem Sohn Joseph I. Man zog durch den Kirchenstaat, und am 7. Juli rückte die kaiserliche Armee in Neapel ein, an der Spitze Wirich Philipp Lorenz Graf von Daun und Georg Adam Graf von Martinitz. Erst nach der Einnahme der Hauptstadt operierte der kaiserliche Oberst Wallis in den Abruzzen. Die Festung Pescara kapitulierte am 12. September 1707.
Im April 1711 starb auch Kaiser Joseph I. (1705-1711), und die Regierung übernahm sein jüngerer Bruder, der Gegenkönig von Spanien, Karl von Habsburg, der als Kaiser Karl VI. 1711-1740 herrschte. Der spanische Erbfolgekrieg wurde 1713 mit dem Frieden von Utrecht und 1714 mit dem Friedensschluß von Rastatt beendet. Kaiser Karl VI. erhielt die spanischen Niederlande, Sardinien, Mailand und das Königreich Neapel. Wie die Spanier setzten auch die Österreicher Vizekönige in Neapel ein. Sie versuchten, das Wohl des Landes zu fördern und machten sich nicht so verhaßt wie die strengen und selbstherrlichen Vorgänger. Die kulturellen Beziehungen zwischen Neapel und Wien waren dank der vorzüglichen Aktivitäten der Vizekönige sehr fruchtbar. Außer den schon genannten Martinitz und Daun fungierten als Vizekönige Johann Wenzel Graf von Gallas, der Kardinal von Schrattenbach und der Kardinal Michael Friedrich Graf von Althan. Die kulturelle Wechselbeziehung zwischen Neapel und Wien pflegte besonders Alois Thomas Raimund Graf von Harrach.
Die Zeit der Habsburger währte nicht lange. Die Spanier, ihrer ehemaligen Besitzungen in Süditalien eingedenk, setzten alles daran, das Königreich Neapel von neuem zu regieren. 1734 rückten sie in das Königreich ein. Am 11. Mai 1734 hielt Karl Bourbon, Sohn Königs Philipp V. von Spanien, seinen Einzug in Neapel. Zwei Tage später wurde er zum König ausgerufen. Nach Einnahme Neapels kam es noch zu Kriegen in Apulien. Bei Bitonto erlitten die Österreicher eine entscheidende Niederlage. Rückzugsgefechte fanden in den Abruzzen statt. Die Festung Pescara ergab sich am 2. August 1734. Mitte September mußte der tapfere von Lüttwitz den Spaniern das Kastell von L'Aquila überlassen. Der Wiener Präliminarfriede von 1735 beendete den Krieg. Der österreichische Kaiser Karl VI. verzichtete auf das Königreich Neapel. Dafür wurde ihm der Besitz von Mailand, Parma, Piacenza und der Toskana zugesprochen. Der spanische König Philipp V. verzichtete auf sein Thronrecht in den Königreichen Neapel und Sizilien. Der italienische Besitz durfte in Zukunft nicht mehr mit dem Stammland Spanien vereinigt werden. Philipp überließ Süd italien seinem Sohn Karl, und so wuchs das Königreich Neapel, das seit jahrhundetten den Status einer Provinz besaß, zum eigenen Nationalstaat auf.
Wie die früheren Herrscherhäuser kümmerten sich die Habsburger mehr um die Stadt Neapel als um die Provinzen. Mit Ausnahme von Kriegsschauplätzen hinterließen sie nur wenige Spuren in den Abruzzen. Die Verkehrsverhältnisse zwischen Neapel und Österreich waren höchst umständlich. (S. 216) Man schiffte sich in Fiume ein und erreichte das Königreich in apulischen Küstenorten, in Manfredonia oder Bari. Um den Seeweg abzukürzen, erwog man erst am Ende der Habsburger Herrschaft, im Jahr 1734, den Hafen von Pescara als Einschiffungsort nach Fiume auszubauen. Der plötzliche Verlust des Königreiches ließ dieses Projekt nicht zur Ausführung kommen.
In der Kirche S. Marco in L'Aquila verehrte man die Madonna del Popolo Aquilano, eine Bezeichnung, die der Magistrat der Stadt 1726 eingeführt hatte. Zur Kirche gehörte eine Bruderschaft mit sechstausend Mitgliedern. Zum Haupt dieser Gemeinschaft ernannte man die Königin von Neapel. Diese war Elisabeth Christine, Tochter des Herzogs Ludwig Rudolf von Braunschweig-Wolfenbüttel, Gemahlin Kaiser Karls VI. Aus dieser Ehe ging die Kaiserin Maria-Theresia hervor.
Am Hof von Wien lebte eine spanische Kolonie, die dem Kaiser treu ergeben war. Der Favorit dieser Landsmannschaft war Ramon de Vilana Perlas, Marquis von Rialp. Seine Tochter Gertrude, verheiratet mit Joseph Conde de Figuerola, erhielt anfänglich eine kaiserliche Rente von jährlich 1200 Dukaten. Diese wurde später durch den Besitz des Ortes Crecchio (Prov. Chieti) ersetzt.
Nur vereinzelt gelangten unter den Habsburgern auch Deutsche in das Königreich Neapel. Zu ihnen gehörte Franz Karl Freiherr von Abschatz. Er stammte aus dem katholischen schlesischen Landadel und verlor durch den Einfall König Karls XII. von Schweden, der die Protestanten begünstigte, seinen Besitz in Schlesien. 1713 begegnet er uns als Gouverneur von Cellino Attanasio, zwei Jahre später ist er in Bisenti und nach weiteren zwei Jahren in Giulianova. Nach dreijährigem Aufenthalt in Amantea in Kalabrien wurde er 1723 Gouverneur von Brindisi, dann von Barletta und schließlich von Reggio Calabria. Nach dem Fall Neapels beendete er nach anderen Tätigkeiten sein Leben als Regierungsrat in Liegnitz. 1729 schreibt Abschatz seinem Gönner, dem Vizekönig Graf Harrach von seinem Schicksal »als einen eintzigen teutschen Cavalir, so alhir schon sechszehn Jahr lang in diesem Königreich [Neapel] als königlicher Gouverneur dienet, und alles das meinige wegen des Glauben in Schlesingen auff meine Gütter zu Zeiten des Königs aus Schweden verlohren, wie auch meine Frau, so Ihro May. die Kayserin Eleonora [von der Pfalz, dritte Gemahlin Kaiser Leopolds I.] höchst Seeligen Andenckens zum Catholischen Glauben gebracht, auch umb alles das ihrige gekommen«.
Die Bourbonen (1734-1860)
Die konservative Politik der Bourbonen bestand im Grunde nur in der Abwehr allgemeiner fortschrittlicher Ideen, die das 18. und 19. Jh. beherrschten. Man wollte nichts von der Aufklärung wissen, nichts von Freiheitsgedanken, die aus der französischen Revolution hervorgingen, nichts von den Strömungen, die im 19. Jh. zur Einigung Italiens führten. Vielleicht abgesehen von Karl von Neapel (1734-1759) mit seinem reformfreundlichen Minister Tanucci charakterisiert die neapolitanischen Bourbonen die Angst vor dem Fortschritt. In dauernder Bedrängnis wird das Königreich Neapel zum rückständigsten Staatsgebilde Europas. Natürlich waren Aufklärungsgedanken in Neapel und in den Provinzen vorhanden, der Wille, sich von religiösen oder staatlichen Autoritätsvorstellungen zu lösen, der Wunsch nach Weckung des selbständigen Denkens und nach geistiger Befreiung sowie der Drang zur Emanzipation in den mittleren und unteren Ständen. Diese Kräfte lagen überall zutage, sie fanden nur kein Echo in der Staatsführung. Jede Freiheitsbewegung wurde durch den Polizeistaat unterdrückt. Francesco I. (1825-1830) war ein Feind der Wissenschaften, und die Universität Neapel, einstmals ruhmvoll und in ganz Europa angesehen, sank auf ein jämmerliches Niveau herab. Die Kluft zwischen dem Staat und der von ihm beherrschten Bevölkerung war nie so stark wie in dieser Zeit der Bourbonen.
Es war üblich, daß die Ehen absolutistischer Herrscher aus politischen Gründen mit internationalen Königs-und Fürstenhäusern geschlossen wurden. Eine gewisse Einseitigkeit beobachten wir bei den neapolitanischen Bourbonen, die durch Ehen mit dem kaiserlichen Österreich und Deutschland in Verbindung kamen. König Karl (1734 bis 1759) war in erster Ehe mit der Prinzessin Maria Amalie von Sachsen (gest. 1760) verheiratet. Sein 1751 geborener Sohn Ferdinand, der 1759 minderjährig König von Neapel wurde, harte zum Mitregenten den vortrefflichen Tanucci, der aber später von der herrschsüchtigen Frau Ferdinands, Maria Karoline von Österreich, verdrängt wurde. Francesco I. (1825-1830), tatenlos und grausam, verband sich in erster Ehe mit Maria Clementina von Österreich (gest. 1801); Ferdinand II. (1830-1859) heiratete in zweiter Ehe 1837 Maria Theresa Isabella, Tochter des Erzherzogs Karl von Österreich. Der letzte Bourbone Francesco II. (1859 bis 1860) ehelichte 1859 die 1841 zu München geborene Maria Sophia Amalie (gest. 1925), Tochter des Herzogs Maximilian Joseph von Bayern und Schwester des Herzogs Karl Theodor und der Kaiserin Elisabeth von Österreich. Der wenig begabte und von Jesuiten falsch erzogene König (geb. 1836) wurde anfänglich von allen Staatsgeschäften ferngehalten und starb kinderlos 1894.
In den Abruzzen und im Molise hat das bourbonische Königshaus wenig Eindruck hinterlassen. Der einzige persönliche Kontakt bestand in Visitationsreisen, um sich die Gunst der Bevölkerung zu erwerben. Ferdinand I. war 1796 in Sulmona und am 21. Juni Gast in der Badia S. Spirito am Morrone. Francesco I. besuchte die Stadt Campobasso 1826. Sein Sohn Ferdinand II. hielt sich in derselben Stadt dreimal auf; 1832, am 12. Oktober 1844 und am 17. April 1847 erscheint er dort mit der Königin Maria Theresa Isabella und großem Gefolge. Die Reise von 1832 galt den Abruzzen, dabei führte der Weg durch das Molise, wo Ferdinand die Küstenstadt Termoli besuchte. Im September wurde ihm in Vasto ein großer Empfang bereitet, der aber wegen schlechten Wetters empfindlich gestört wurde. Von dort aus begab er sich nach Lanciano und später gelangte er (S. 217) nach Tagliacozzo, wo noch heute ein Gedenkstein an der Fassade eines Palastes an seinen dortigen Aufenthalt erinnert.
Was außerhalb dieser friedlichen und bedeutungslosen Besuche den Abruzzen von den Bourbonen beschert wurde, waren Unterdrückung, Kriege und Aufstände. Der erste Einfall der Franzosen in das Königreich erfolgte 1798/1799. Von Ascoli Piceno vordringend, wurden im Dezember 1798 die Abruzzen fast kampflos besetzt, ein Zeichen, daß die Bevölkerung den demokratischen Ideen, die die Franzosen mitbrachten, nicht ganz abgeneigt war. Am 7. Dezember ergibt sich die Festung Civitella del Tronto, am 9. Dezember wird Campli besetzt, in denselben Tagen Corropoli und Sant'Omero. Gleichzeitig floh die bourbonische Administration aus Teramo. Zu der dort von den Franzosen provisorisch aufgestellten Regierung gehörte auch der berühmte Patriot und Literat Melchiorre Delfico. Am 18. Dezember rückten die Republikaner in Atri ein, am 23. Dezember fällt die Festung Pescara, und schon einen Tag darauf erscheinen die Franzosen siegreich in Chieti, am 26. Dezember in Francavilla, am 28. Dezember in Lanciano, dann in Popoli und Sulmona. Eine zweite Heeresgruppe drang im Westen durch den Kirchenstaat in das Königreich ein. Die Festung Capua fiel am 14. Januar 1799, und am 23. Januar zog der französische Oberbefehlshaber Jean Etienne Championnet (gest. 1800) nach blutigen Gefechten in die Hauptstadt ein und rief dort die Parthenopäische Republik aus, den griechischen Namen der antiken, demokratisch regierten Stadt wiederaufnehmend. König Ferdinand war rechtzeitig nach Sizilien geflohen. Die neue Regierung, von französischen Ideen beseelt, bestand aus 21 Mitgliedern. Die Besetzung der Abruzzen erfolgte so schnell, daß die Umwandlung eines monarchistischen Staats in eine Republik nicht reibungslos verlief. Unkontrollierbare Bewegungen und Aufstände mit Verlusten auf beiden Seiten verursachte eine bourbonische Rückbesinnung in Introdacqua, Manoppello, Agnone und anderswo, besonders grausam ging es in Vasto zu. überall fanden anarchische Aufstände der Massen statt, der Klerus nahm oft Partei gegen die Republikaner, und am meisten profitierten die Briganten.
Die Parthenopäische Republik war von kurzer Dauer. Nicht glücklich verlaufende militärische Operationen in Oberitalien zwangen die Franzosen zur Räumung des Königreichs Neapel. Die Wirren nutzte der bourbonische General Kardinal Fabrizio RuHo (gest. 1827) aus. Schon im Februar 1799 begann er die Wiedereroberung von Sizilien, wobei er sich nicht scheute, Briganten als Söldner anzuheuern. Zu diesen gehörte der berüchtigte, 1760 in Itri geborene Bandit Fra Diavolo, den Ruffo in seinem Heer als Oberst einsetzte. Am 13. Juni erschien die bourbonische Miliz vor Neapel. In den Übergabeverhandlungen wurden den Republikanern von Ruffo ehrenvolle Bedingungen zugestanden, freier Abzug oder unbelästigtes Bleiben. Nach Auslieferung der Stadt am 20. Juni 1799 erschien jedoch der mit den Bourbonen befreundete englische Admiral Nelson (gest. 1805) und erklärte im Auftrag König Ferdinands alle Zusicherungen Ruffos für nichtig. Die Führer der Republikaner ließ er an den Rahen seines Admiralsschiffes aufhängen. Der König kehrte erst im Januar 1800 von Palermo nach Neapel zurück, und das Königreich wurde wiederhergestellt. Bei den Rückzügen der Republikaner hielt die Festung Pescara treu zu den Franzosen. Nach der Rückgewinnung von Neapel mußten die Bourbonen die Verteidigungsanlagen von Pescara mit Gewalt besetzen. Die heldenhaften Verteidiger waren Gabriele Manthone aus Pescara (1764-1799) und Ettore Carafa. Das Strafgericht der zurückgekehrten Bourbonen war fürchterlich und grausam. Die republikanisch gesinnte Bevölkerung wurde überall aufgespürt. Die Gefängnisse waren überfüllt. Viel zu leiden hatte die Stadt Lanciano, wo sich die Bürger für die französische Partei erklärt hatten. Die Liste der in Neapel verurteilten und hingerichteten Molisaner und Abruzzesen ist beträchtlich. Zu ihnen gehörten die Verteidiger von Pescara, Carafa und Manthone. Letzterer war in der republikanischen Regierung Hauptmann der Artillerie gewesen, Kriegsminister für die Truppen zu Lande und zur See und Außenminister. Hingerichtet wurden Advokaten, Mediziner und ein Geistlicher. Die meisten standen in gereiftem Mannesalter. Den Tod erhielten z.B. der 1757 in Gambatesa geborene Advokat Prosdocimo Rotondo, Giovanni Varanese aus Monacilioni, geb. 1777, Student der Medizin, der Advokat Giorgio Pigliacelli aus Tossiccia, geb. 1751, der Advokat Colomba Andreassi, geb. 1770 in Villa S. Angelo, der Advokat Gian Leonardo Palombo, geb. 1749 in Campobasso, der Arzt Nicola Neri, geb. 1761 in Acquaviva Colle Croce, der Advokat Carlo Romeo, gebürtig aus Guardialfiera, der Kleriker Michelangelo Ciccone, geb. 1751 in Moro Teramano.
Kaum hatte der Bourbonenkönig Ferdinand sein Reich mit Mühe geordnet, begannen schon ein halbes Jahr später neue Schwierigkeiten. In der Schlacht bei Marengo in Oberitalien hatte Napoleon in erbittertem Kampf die Österreicher vernichtend geschlagen. Die Siege der Franzosen verängstigte die Regierung in Neapel, deren Kriegskasse durch die vorangegangene Gegenrevolution erschöpft war. Man mußte sich auf Verhandlungen einlassen. Der König von Neapel wurde gezwungen, die Gefängnisse für diejenigen zu öffnen, die sich in den Jahren 1798/1799 zu den Republikanern bekannt hatten. 1801 wurde die Erlaubnis erwirkt, daß der französische Befehlshaber Murat seine Truppen friedlich durch die Abruzzen und Apulien nach Tarent führen könne, um sie von dort nach Ägypten einzuschiffen. Wohl verlief der Durchzug der 8000 Soldaten geordnet und ohne Zwischenfälle. Doch unsere Bevölkerung hatte das Nachsehen. Die Regierung in Neapel verdächtigte die Einwohner, Verbindungen mit dem durchgezogenen Heer aufgenommen zu haben. Die Folge war eine peinliche Inquisition.
Die Geheimpolitik der Bourbonen mit den Gegnern der Franzosen veranlaßte Napoleon nach seiner siegreichen Schlacht bei Austerlitz über die Österreicher und Russen am 2. Dezember 1805, das Königreich Neapel von neuem zu besetzen. Am 8. und 9. Februar 1806 marschierten drei französische Heeressäulen in das Königreich ein, eine von ihnen (S. 218) nahm ihren Weg durch die Abruzzen. L'Aquila fiel kampflos, und danach wurde die Provinz Chieti besetzt. Am 13. Februar ergab sich die Festung Pescara. Der Einzug der Franzosen wurde anfänglich in den Abruzzen mit Wohlwollen aufgenommen und mit Festlichkeiten begrüßt. Am 15./16. Februar 1806 zog Joseph Bonaparte (gest. 1844), Bruder des Kaisers Napoleon, siegreich in Neapel ein. Der Bourbonenkönig war gezwungen, sich eilends zum zweitenmai nach Sizilien ins Exil zu begeben. Der einzige Widerstand, den die Franzosen in den Abruzzen erfuhren, ging von der Festung Civitella del Tronto aus, die sich noch nach der Einnahme Neapels unter dem Kommando des Iren Matteo Wade verteidigte. Das Kastell ergab sich erst am 19. Mai. Nach der Restauration des Königreichs ließ Ferdinand I. dem tapferen Verteidiger Wade auf der Piazza Rosati in Civitella ein Denkmal (Tf. 267) errichten, das man fälschlicherweise dem Bildhauer Canova zugeschrieben hat. Das Ehrenmal bestand aus einem Sarkophag mit den Relieffiguren der Treue und des Schmerzes. Das Porträt Wades sah man in einem Medaillon. Zwei Sphingen und das bourbonische Wappen vervollständigten den Aufbau. Auch dieses Denkmal unterstand den Gesetzen der Geschichte. Nach der Einigung Italiens wurden 1861 Teile des Monuments von bourbonenfeindlichen sardischen Soldaten nach Ancona verschleppt.
Am 30. März wurde Joseph Bonaparte König von Neapel. Auf Inspektionsreisen hält er sich in den Abruzzen und im Molise auf. Mit besonderen Feierlichkeiten sollte er 1806 in Avezzano und in Tagliacozzo empfangen werden, geehrt mit Triumphbogen, an denen die Abzeichen des französischen Herrscherhauses erschienen. Es kam jedoch nicht zum Fest, weil sich Joseph plötzlich zu einem Besuch von Rom entschloß. Er erreichte die Ewige Stadt über L'Aquila, Cittaducale, Rieti und Terni. 1807 besichtigte der König Kampanien und das Molise, wo er sich in Campobasso aufhielt. Seine an sich trefflichen Reformen in Verwaltung, Justiz, Agrar-und Steuerwesen, seine Bemühungen um die Kirchen und Schulen fanden bei der rückständigen Bevölkerung wenig Resonanz. Seine Regierungszeit war mit Aufständen in den Provinzen ausgefüllt, und alles war im Schwanken, als er auf Befehl des kaiserlichen Bruders am 10. Mai 1808 den spanischen Thron bestieg. Sein Nachfolger war Joachim Murat, 1767 als Sohn eines französischen Gastwirts geboren, ein glänzender Feldherr und verheiratet mit Karoline (gest. 1839), einer Schwester des Kaisers Napoleon. Das Regime Murats war reich an Ideen und arm an Geld. Er ordnete die Zivilverwaltung, vermehrte und reorganisierte sein Heer und bekämpfte das Räuberunwesen. Die durch die französische Revolution von 1789 ausgelösten Neuerungen waren für die Abruzzen nicht ganz segensreich. Besonders bereitete die Abschaffung des Feudalismus und die Aufhebung christlicher Orden Schwierigkeiten, da die abgesetzte Schicht nicht durch entsprechend vorgebildete Persönlichkeiten ersetzt werden konnte. Nutznießer der Auflösung der Güter waren verschuldete Gemeinden und einzelne Bürger. Die Qualität landwirtschaftlicher Erzeugnisse ließ nach, und die gute Erziehung durch den geistlichen Stand konnte durch Staatsschulen mit kläglicher Bezahlung der Lehrer nicht ausgeglichen werden. Einzelne kluge Reformen brachten dem neuen König kaum allgemeine Anerkennung. Murat war gleichsam der Stadtgründer von Ateleta im Süden der Provinz L'Aquila. Am Anfang des 19. Jh. bestand der Ort nur aus wenigen Häusern. Um seine Entwicklung zu fördern, wurden den Besitzern von kultiviertem Boden die Steuern erlassen. Ähnlich wie schon die Republikaner Neapel mit seinem antiken griechischen Namen bedacht hatten, verfuhr man auch bei der Benennung dieses Gemeinwesens mit humanistischer Gelehrsamkeit. Die neu entstehende Stadt erhielt als Name das griechische Wort aTEYEla, was Steuerfreiheit bedeutet. Aus Dankbarkeit für das Privileg weihten die Einwohner ihre Pfarrkirche entsprechend dem Vornamen Murats dem hl. Joachim und wählten als Stadtwappen den napoleonischen Adler. Ateleta wurde im Zweiten Weltkrieg sehr zerstört. Der König förderte noch andere urbanistische Entwicklungen. 1814 gab er seine Zustimmung zur Gründung der Neustadt von Campobasso, die zwischen der hochgelegenen Altstadt und der Eisenbahnlinie in der Ebene liegt und heute das Zentrum der Provinzstadt ist. Trotz solcher Verordnungen wurde das Land nicht froh über seinen neuen König. So weigerte sich z.B. der Erzpriester von Vasto, in das Tedeum die Fürbitte für den König Murat aufzunehmen, man betete weiterhin für die Bourbonen. Anders dachten die Einwohner von Valle Oscura, seit 1865 Rocca Pia genannt. Um die Franzosen zu ehren, tauften sie ihren Ort auf den Namen der Mutter Napoleons, der Maria Laetitia Ramolino (1750-1836), in Rocca Letizia um.
Die Reformideen Murats wurden gestört durch die nach Sizilien emigrierten Bourbonen, die sich dort mit den Engländern gegen das Königreich Neapel verbündet hatten. Darüber hinaus bedienten sie sich der Briganten, die in Kalabrien und in den Abruzzen, vornehmlich in der Provinz Teramo und den Gegenden, die dem Kirchenstaat am nächsten lagen, gefährliche Turbulenzen verursachten. Die Räuber verfolgten bestimmte terroristische Programme und hatten es gezielt auf ortsansässige Personen und Ordnungshüter abgesehen. Grausame Untaten vollbrachten sie im Sommer 1809. Sie metzelten die Geschwister des Bürgermeisters des Ortes Colonnella nieder, sie stürmten das Haus des Bürgermeisters von Montebello di Bertona. Opfer wurden in Villa di Acquaratola, einem Ortsteil von Rocca S. Maria, der Arzt und sein Sohn, in Guardia Vomano der Friedensrichter Bindi, in Montesilvano der Erzpriester. Viel Schaden richteten auch die Banditen unter Fra Diavolo im Königreich an. Dieser wurde schließlich von den Franzosen gefangen und am 10. November 1806 gehängt.
Die französische Regierung in Neapel hatte, ebenso wie die vorhergehenden Fremddynastien, teil am Wechselspiel der europäischen Machtinteressen. Murat war gänzlich von den Erfolgen oder Fehlschlägen seines kaiserlichen Schwagers abhängig. Er mußte 1812 am Feldzug gegen Rußland teilnehmen, und 10000 Soldaten aus dem Königreich Neapel stießen zur großen französischen Armee. Im Vormarsch (S. 219) auf Rußland erhielt Murat die Leitung über die Kavallerie und fungierte teilweise als Oberbefehlshaber des Gesamtheeres. Nach der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 kehrte Murat nach Neapel zurück. Als es dem Kaiser gelang, aus der Verbannung auf der Insel Elba zu enrweichen, begann am 1. März 1815 die Herrschaft der Hundert Tage. Murat unterstützte Napoleon weiterhin, rückte von Neapel mit 40000 Mann gegen den Po vor und proklamierte die Unabhängigkeit ganz Italiens. Er wurde am 12. April 1815 bei Ferrara und am 2. Mai bei Tolentino geschlagen, eilte dann nach Frankreich, wurde aber von seinem Schwager nicht empfangen. Nach der unglücklich ausgehenden Schlacht bei Waterloo am 25. August floh Murat nach Korsika, von wo er sich nach Neapel einschiffte mit dem verspäteten Versuch, sein inzwischen von den Bourbonen eingenommenes Königreich zurückzuerobern. Ungünstige Winde zerstreuten seine Schiffe. Mit nur 26 Soldaten gelangte er am 8. Oktober nach Pizzo in Kalabrien und wurde sofort bei Betreten des Landes gefangengenommen. Seine standrechtliche Erschießung erfolgte im Kastell von Pizzo am 13. Oktober 1815.
Inzwischen war der Bourbonenkönig Ferdinand bereits am 17. Juni wieder in Neapel eingezogen. Unterstützt durch die restriktive Politik Österreichs unter dem Fürsten Metternich, war es für Ferdinand und seine Nachfolger ausgemachte Sache, ihren Staat möglichst mit absolutistischen Methoden zu regieren. Trotzdem reichten die kurzfristigen französischen Machtübernahmen aus, um auch in Zukunft demokratische Ideen im Königreich wachzuhalten. Mit diesen hatte sich der veraltete bourbonische Staatsapparat mit seinem miserablen Beamtenturn auseinanderzusetzen. Im ganzen Land gingen von liberal gesinnten Menschen Aufstände über Aufstände aus, und die Abruzzen waren dabei nicht unbeteiligt. 1831 hören wir in Amatrice von Erhebungen gegen die Regierung. 1835 erfolgten Verschwörungen in Penne. In diesem Jahr wütete in Italien die Cholera, und die Bevölkerung glaubte, der Staat habe die Brunnen vergiftet. An dieser Vorstellung entzündete sich der Aufruhr in Penne. 1842 empörten sich die Liberalen in L'Aquila, wobei der bourbonische Militärkommandant der Provinz, Oberst Gennaro Tanfani, ums Leben kam. 1848 begehrten die Bürger von Pescosansonesco auf, und im gleichen Jahr griffen die Bauern von Pratola die Nationalgarde an, wobei es Tote und Verwundete gab. Die Liste solcher Auseinandersetzungen in den Abruzzen ließe sich noch durch viele andere Beispiele erweitern.
Die dauernde Bekämpfung liberaler Ideen wurde begleitet durch Unternehmungen gegen die Briganten, die die Staatsordnung völlig ins Wanken brachten. Schuld an diesem Übelstand hatte die bourbonische Regierung selbst, indem sie in Notzeiten die Räuberbanden in Sold genommen hatte. Zu den Banditenhäuptlingen gehörten der schon genannte Fra Diavolo sowie Mammone, Pronio und andere. Auch für die Verteidigung von Civitella del Tronto unter Wade (1806) waren Briganten gedungen worden. Vor allem unter der Regierung Francescos I. (1825-1830) nahm das Räuberwesen unvorstellbare Formen an. Es war ein Kampf der Verzweifelten, der Armen gegen die Reichen. Mönche von Venafro z.B. tauschten nachts ihre Kutte gegen das Brigantenwams und ergriffen die Waffen, die sie unter dem Altar des wundertätigen Kreuzes verborgen hielten, um zu rauben und zu töten.
Die eigensinnige und selbstherrliche Regierung in Neapel konnte sich in ihrer reaktionären und unklugen Haltung nicht mit den sonst in Italien wirksamen Ideen erfolgreich auseinandersetzen. Diese zielten auf die Einigung des zersplitterten Landes hin. Daraus entstand für die Italiener die Norwendigkeit, militärisch gegen die Bourbonen vorzugehen. Zu den Vorkämpfern für die Einigung Italiens gehörte der unstete Giuseppe Garibaldi. Er landete am 11. Mai 1860 in Sizilien und erlangte einige Tage später die Herrschaft über die Insel. Im August setzte er auf das Festland über und zog am 7. September in Neapel ein. Danach besiegte er im Norden des Königreichs das bourbonische Heer am Volturno, vereinigte sich mit den sardischen und piemontesisehen Truppen, die von Norden kamen, und mit denen er am 7. November herzlich gefeiert in Neapel einzog. Er legte seine Herrschaft über Sizilien nieder und zog sich vorläufig auf die Insel Caprera, nördlich von Sardinien, zurück. Mit der Vertreibung der Bourbonen aus dem Königreich Neapel war der wichtigste und erste Schritt zur Einigung Italiens vollzogen. Victor Emanuel, König von Sardinien (1849 bis 1861), der die gesamte italienische Halbinsel mit Sizilien von 1861 bis 1878 als König von Italien regierte, rückte, während Garibaldi vom Süden vormarschierte, durch die Abruzzen gegen die hilflosen Bourbonen vor. Am 15. Oktober überschritt er den Tronto und wurde von den Abruzzesen begeistert empfangen. In Giulianova baute man ihm Triumphbogen. Die Glocken läuteten, als er vor dem Portal der Hauptkirche von seinem Pferde stieg. Unter einem Baldachin wurde er vom Klerus in die Kirche geführt, wo man den König feierte. Auf seinem Siegesmarsch nach Neapel berührte er Teramo, Chieti, Sulmona, Isernia und Venafro, die klassische Straße, auf der sich seit Jahrhunderten die ausländischen Truppen bewegten. Zusammen mit Garibaldi zog er in Neapel ein, das nun nicht mehr Regierungssitz, sondern nur noch eine unter vielen Städten Italiens ist.
Abruzzen und Molise nach der Einigung Italiens (1860)
Mit der Vertreibung der Bourbonen aus der Stadt Neapel 1860 war der Widerstand des reaktionären Königshauses noch nicht gebrochen. Der letzte Regent, Francesco II. (1859-1860), setzte sich einen Tag bevor Garibaldi am 7. September unter ungeheurer Begeisterung der Bevölkerung die Stadt Neapel betrat, mit 40000 Soldaten in das nördliche Königreich ab und konnte sogar am Volturno und am Unterlauf des Garigliano noch militärische Vorteile erringen. Beim Einmarsch Victor Emanuels in den Norden des ehemaligen Königreichs zog sich Francesco II. in seine Feste Gaeta zurück. Die heldenhafte Verteidigung dauerte 92 (S. 220) Tage, die Kapitulation erfolgte am 13. Februar 1861. Mit seiner Gemahlin Maria Sofia von Bayern verließ er im letzten Moment Gaeta und begab sich nach Rom in den Schutz des Papstes, wo er bis 1870 im Palazzo Farnese wohnte. Außer Gaeta verteidigten noch zwei andere Festungswerke die Sache der Bourbonen, Messina und Civitella del Tronto. Das letztgenannte geschichtsträchtige Bollwerk am Tronto, dem abruzzesischen Rubikon, ergab sich am 20. Mai 1861. Mit dem Papst verbunden, schürte der seines Königreichs verlustige Francesco II. in politisch höchst unkluger Weise von Rom aus weiter gegen die Einigung Italiens. Die militärischen Operationen sollten nach den Plänen des Königs von den Abruzzen und dem Molise ausgehen. Die Bewohner des Berglandes wurden mit schönsten Versprechungen überhäuft. So wütete 1861 ein Aufstand im Molise gegen die vollzogene Einigung. Noch ungeheuerlicher ging es in den Abruzzen zu. Nach altem Rezept wurden wieder einmal die Briganten in den Partisanenkrieg eingeschaltet. Die ersten Turbulenzen begannen in Tagliacozzo und breiteten sich von dort im ganzen Gebiet der kriegsfreudigen Marser aus. Abruzzesische Bauern und aus dem neapolitanischen Heer übriggebliebene Soldaten eroberten Carsoli und Tagliacozzo. Bei einer Erhebung in Scurcola verloren die Aufständischen 150 Menschen. Ein an sich nebensächliches Ereignis spiegelt die politische Situation wider. In Tagliacozzo wurde Aufsässigen eine Fahne abgenommen. Diese bestand aus einem quadratischen weißen Seidentuch, das auf der einen Seite Maria Christina von Savoyen zeigte, Fürstin von Carignano und Mutter des letzten rebellierenden Bourbonenkönigs Francesco II. Sie ist kniend vor einer Madonna dargestellt und drückt mit ihren Füßen das Kreuz des Hauses Savoyen nieder. Auf der anderen Seite der Fahne sah man das Madonnenbild der Unbefleckten Empfängnis, eine Anspielung auf das Dogma der Unbefleckten Empfängnis, das Pius IX. 1854 verkündet hatte. Dieser segnete selbst die Fahne von Tagliacozzo ein, worin deutlich das Einverständnis des Papstes mit den Räuberbanden zum Ausdruck kommt. Von Rom aus warben die Bourbonen Briganten und Freibeuter auch aus dem Ausland an. Zu ihnen gehörte der Katalane Jose Borges (geb. 1803). Er stellte auf der Insel Malta ein wahres Truppenkontingent zusammen und hauste damit in Süditalien. Seine letzten Spuren finden wir in den Abruzzen. Sich verzweifelt wehrend, wurde er doch gefaßt und 1861 in Tagliacozzo mit neun anderen spanischen Gesinnungsgenossen hingerichtet. Mit Borges endet die bourbonische Rebellion im ehemaligen Königreich Neapel.
An die Vertreibung der Bourbonen hatte man viele Erwartungen geknüpft. Der liberale Patriotismus beherrschte die Abruzzen bis zur Einigung Italiens. Das Hoffen auf bessere Zeiten blieb wie sooft mehr oder minder eine Illusion. Das Problem des Südens beschäftigte die neue italienische Staatsführung von Anfang an, leider mehr theoretisch als praktisch. Man stellte fest, daß die Provinzen des ehemaligen Königreichs Neapel ein armes Land waren, durch dauernde Fremdherrschaft erniedrigt und verkümmert. Man erkannte, daß das Bildungsniveau unter dem Stand des übrigen Italien lag. Die einzige Plage, die den Abruzzen genommen wurde, war das Räuberunwesen. Das Verschwinden dieses übels wurde begünstigt durch den Bau eines Eisenbahnnetzes, das den Reiseverkehr weitgehend von den gefährdeten Straßen abzog. Die abruzzesischen Äußerungen zu den Fortschritten der Gegenwart sind oft von Pessimismus begleitet. Der 1978 verstorbene Schriftsteller Ignazio Silone, geboren in den Abruzzen und ein tiefsinniger Kenner und Schilderer seiner Heimat, sagt in seiner Erzählung Fontamara, das einzige, was die Regierung nach 1860 beschert habe, seien das elektrische Licht und Zigaretten, unnütze Dinge für die innere Freiheit des Menschen. Um die Jahrhundertwende bauen D'Annunzio und Michetti eine abruzzesische Scheinwelt auf, worin die Augenblicksfragen außer acht bleiben. Die Bildungsschicht greift kaum in die Gegenwart ein und vergräbt sich in die Geschichte und Kunstgeschichte des Landes. In der Literatur entsteht eine Dialektpoesie, die ein verschwommenes Bild vom guten und etwas simplen Abruzzesen entwirft.
Die Wirklichkeit sah aber anders aus. Die Bevölkerung kämpfte hilflos um ihre Existenz, die nicht im eigenen Land gefunden werden konnte. Ab 1866 setzten die großen Auswanderungen der Armen in einem Umfang ein, daß der Bestand der Bevölkerung ins Wanken geriet. Der Weidebetrieb, einst die wirtschaftliche Grundlage des Landes, erlahmte und kam nach dem Zweiten Weltkrieg fast zum Erliegen. Als Gegenmaßnahme wurde bereits 1927 die neue Provinz Pescara geschaffen mit dem Ziel, die Landwirtschaft durch die Industrie abzulösen. Die Einwohnerzahl dieser Provinz hat sich innerhalb weniger Jahre vervielfacht. Das neue Industriezentrum am Unterlauf der Pescara zog die Einwohner aus dem Hochland in das Küstengebiet. Diese Binnenwanderung hat vieles verändert, vornehmlich bewirkte sie die Stagnation des Wohlstandes der historischen Orte, und ob die Industrialisierung überhaupt von Nutzen ist, bleibt abzuwarten. Neuen Auftrieb gewann der Küstenstreifen durch den Bau der Autobahn Ancona-Pescara-Bari, begleitet von immensen Hotelbauten, die die Ausländer locken sollen. Für die Vertiefung der Landeskennmis sind Autobahnen eine zweischneidige Sache. Sie führen an den historischen Orten vorbei und verleiten zum Durchrasen. Es durcheilen die Abruzzen sehr viel mehr Fremde als zuvor, aber die Oberflächlichkeit des Betrachtens war nie so groß wie heute. Das Projekt eines Tunnels durch das Massiv des Gran Sasso ist in bezug auf Kosten und Länge sicherlich imposant, aber in seiner Notwendigkeit anzuzweifeln.
Im Zweiten Weltkrieg wurde das Bergland noch einmal zum Schauplatz europäischer Machtkämpfe. Im Herbst 1943 landeten, von Süden kommend, englische Truppen in Termoli, und so war die deutsche Wehrmacht gezwungen, einen Verteidigungsgürtel, die sogenannte Gustavlinie anzulegen, die sich von Ortona durch das Sangrotal bis Montecassino hinzog. Die Zahl der unschuldigen einheimischen Opfer ist ungeheuer. Die Schlacht bei Ortona dauerte vom 5. bis zum 28. Dezember 1943, und in den letzten Tagen kämpfte man in der Stadt selbst um jedes Haus. Sie wurde (S. 221) zu neunzig Prozent zerstört, und man zählte über zweitausend Tote unter den Ortsansässigen. Francavilla wurde fast völlig dem Erdboden gleichgemacht, ebenso Miglianico, Tollo und Crecchio, Arielli und Orsogna. 1944 mußte Guardiagrele einen schweren Bombenangriff über sich ergehen lassen. Zerstörungen erfolgten in Casoli. Gessopalena, bereits 1933 von einem Erdbeben heimgesucht, wurde auf dem Rückzug der Deutschen zu neunzig Prozent vernichtet. Großes Unheil traf Lama dei Peligni, und von Taranta Peligna ist kaum etwas übriggeblieben. Palena wurde zu dreiviertel verwüstet, Roccaraso wurde völlig ausgelöscht. Schwerste Schäden erlirten Pescopennataro, Capracotta, Ateleta, Castel di Sangro und Alfedena. Isernia büßte durch Bombardierung Dreifünftel des Stadtgebiets und ein Drittel der Bevölkerung ein, an einem Tag allein zählte man viertausend Tote. Zertrümmert wurden große Teile von Venafro. Auch außerhalb der Gustavlinie kam es zwischen ABiierten und Deutschen zu schweren Kämpfen, z.B. in der Gegend von Campobasso.
Zur Kirchengeschichte der Abruzzen und des Molise
Vorbemerkung
Die Fremddynastien im Königreich Neapel zeigten wenig Tatkraft, den Wohlstand und das Wohlergehen der Untertanen in den Abruzzen und im Molise zu fördern. Das Land war den immer wechselnden Machtsituationen Europas preisgegeben, und man spürte den Staat am stärksten, wenn die Region zum Kriegsschauplatz wurde. Quälende Steuerabgaben, ein sich ständig änderndes Feudalwesen, diskriminierende überwachungen kamen hinzu, so daß man danach fragen muß, welche außerordentlichen Kräfte in unserem Bergland wirksam waren, um das Absinken des Gebietes zu einem rein geographischen Begriff zu verhüten.
Zu den größten Förderern des landwirtschaftlich gebundenen Eigenwesens gehörte die Kirche, teils konservativ, teils sich den Bedürfnissen der Zeit anpassend. Bis zum 19. Jh. gab es, mit Ausnahme einiger aufklärerischer Reformideen unter dem Minister Tanucci, keine grundsätzlichen Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche. Die Könige waren gute Katholiken, und dasw religiöse Leben konnte sich unabhängig von der Staatsautorität entfalten. Die unzähligen Klöster unterstanden verschiedenen Orden mit eigenen hierarchischen Organisationen. Erst mit der Aufhebung vieler Abteien und Klosterschulen kam es im 19. Jh. zu einer empfindlichen Schwächung der kirchlichen Macht. Die Bedeutung der alten Orden, der Benediktiner und Zisterzienser, nahm immer mehr ab. Die Leistung der Klöster, einstmals unter der Obhut von Äbten, die von echt relgiösen und oft auch humanistischen Ideen beseelt waren und ihre Niederlassungen zu großer Wirksamkeit führten, wurde häufig zunichte gemacht, indem man die Abtswürden, mit denen ja ein beträchtlicher Landssitz verbunden war, an Fremde verkaufte. So entstanden die Kommenden, die manchmal mit Kommendataräbten und oft auch mit Laien besetzt wurden. Dieser Verweltlichung, durch die ein Kloster als Geschäftsobjekt angesehen wurde, fielen vor allem die benediktinischen Konvente zum Opfer. Die Zisterzienserbewegung, einst blühend in den Abruzzen, verlor ebenfalls an Bedeutung. Die von Karl I. Anjou in S. Maria della Vittoria errichtete Zisterzienserkirche blieb im Bewußtsein der Abruzzesen immer ein Fremdkörper, und die Besetzung der Bistümer mit Zisterziensern ließ nach. Es ist eine Ausnahme, daß ein Zisterzienser noch im 14. Jh. ein Bistum bekleidete, wie Nicola in Atri (1326-1352).
Von einem Niedergang des Klosterlebens kann aber nicht gesprochen werden. Es handelt sich nur um eine Verlagerung des Schwergewichts, und in den folgenden Jahrhunderten überfluten neue Ordensniederlassungen unsere Region. Dazu gehören die Coelestiner, eine typisch abruzzesische Kongregation, die sich erst später über ganz Europa verbreitete. Die immer um Reformen bemühten Franziskaner hatten durch Jahrhunderte ihre Hochburg und größte Ausstrahlungskraft in den Abruzzen. Von höchster Regsamkeit waren die Dominikaner mit ihren Schulen, die Augustiner, Karmeliten und Jesuiten. Das Zentrum des Theatinerordens lag anfänglich in der Stadt Chieti. Die Anzahl der Seligen und Heiligen, die aus abruzzesischen Klöstern hervorgingen, ist fast unüberschaubar. Für das Eremitentum war durch Jahrhunderte die Region mit dem zerklüfteten Bergland eine ideale Zuflucht. Petrarca nennt das Maiellagebiet einen «Mons Christi«, eine Landschaft in der Christus wohnt. Natürlich konnte die Bergwelt auch ein Schlupfwinkel für zwielichtige Personen werden, die außerhalb des wohlbehüteten Klosterlebens standen. So spricht z.B. Papst Bonifaz VIII. (1294-1303) von religiösen Außenseitern, die sich in die Abruzzen zurückzogen, in Schafskleidern gingen, in Wahrheit aber als Vampire lebten und Häresien in der Bevölkerung ausstreuten. Auch weltlichen Persönlichkeiten konnten die Abruzzen ein willkommenes Asyl bieten. So floh der römische Volkstribun Cola di Rienzo (1313-1354) nach der Vertreibung aus Rom in die Berge und tauchte im Kloster S. Spirito bei Sulmona unter. Dort lebte er las coelestinischer Büßer und sann und grübelte über seine weiteren Pläne nach. Das Bergland wurde überhaupt ein Anziehungspunkt für Pilger. Auf ihrer systematischen Bereisung der Apostelgräber in Süditalien besuchte die hl. Brigitta von Schweden (gest. 1373) die Erinnerungsstätten des hl. Thomas in Ortona. Diese adelige Stifterin des Brigittinnenordens weilte (S. 222) lange Zeit in Rom und wurde durch ihre Kritik am römischen Leben und durch ihre Reformideen bekannt. Sie war sogar zweimal in Ortona, zuerst 1364 und dann nochmals ein Jahr später in Begleitung des schwedischen Bischofs Thomas von Wexiö. Von Ortona führte ihr Weg weiter zum Michaelsheiligtum auf dem Monte Gargano in Apulien.
Das religiöse Leben, das sich früher vornehmlich in kaum besiedelten Gegenden vollzog, verlagerte sich nun immer mehr in die Städte. Besonders die Franziskaner beschleunigten diese Entwicklung. Seit dem 15. Jh. begegnen wir Dominikanern und Franziskanern als Wanderpredigern. Vorzüglich ausgewählte Redner suchen die Städte auf und ziehen eine solche Menschenmenge an, daß der Kirchenraum zu klein wird und sie davor im Freien predigen müssen. Der Kirchplatz erhält eine neue Funktion, gut zu belegen an S. Maria di Collemaggio in L'Aquila. Auf Außenkanzeln oder auf eigens gebauten Gerüsten brachten Gortesmänner wie Bernhardin von Siena oder Johannes Capestrano dem Volk in zündenden Reden die kirchlichen Lehren nahe. Die Reliquien wurden nicht mehr als heiliger Besitz verschlossen in der Kirche gehütet, sondern ans Tageslicht gebracht und der Zuschauermenge vorgezeigt. Noch heute werden am 28. August eines jeden Jahres von der Terrasse der Collemaggio aus die Reliquien des hl. Coelestin der Bevölkerung entgegengehalten. In der Pfarrkirche Assunta in Paganica hat man zur Schaustellung der Reliquien an der Fassade einen schmiedeeisernen Balkon angebracht.
Mit der Entwicklung der Städte ist auch das Aufkommen der Bruderschaften verbunden, deren Mitgliederzahl in die Tausende gehen konnte. Sie hatten ihren Sitz entweder in eigens eingerichteten Kapellen in den Kirchen oder in eigenen Oratorien. Sie verpflichteten sich zu Gebeten und zu guten Werken. Manche Bruderschaften verfügen über besondere Abzeichen, über Skapuliere, Gürtel oder Medaillen. Man kann ihre Aufmachung gut auf abruzzesischen Prozessionen bewundern, bei denen der Auftritt der Bruderschaften eine große Rolle spielt. Diese Vereinigungen von Männern oder Frauen bedurften der Genehmigung eines Ordens. Die Skapulierbruderschaften schließen sich oft den Karmeliten an, die Rosenkranzbruderschaften den Dominikanern und die marianischen Vereinigungen häufig den Jesuiten. In Pacentro bei Sulmona gab es eine Bruderschaft des Ca rlo Borromeo schon 1606, vier Jahre bevor er heiliggesprochen wurde. Zu den guten Werken gehörte vor allem die Krankenpflege. Nach der großen europäischen Pest von 1348 entstanden auch in Italien viele Kirchen, die der Maria mit dem Beinamen »della Misericordia« geweiht wurden. Der Ort Tortoreto unterhielt z. B. eine Misericordienkirche mit eigenem Hospital. Heute dient der mit Malereien ausgestattete Raum als Autowerkstatt. Im höchstgelegenen Teil der Stadt Teramo befindet sich heute zweckentfremdet eine einschiffige Misericordienkirche, die nach der Pest von 1348 gebaut wurde, und der eine vornehme, nur aus Adeligen bestehende Bruderschaft angeschlossen war. Ahnlich verfügte die nach 1348 entstandene Kirche S.Maria della Misericordia in Campli über ein Hospital. Andere Pestkirchen sind dem im Pestjahr 1348 verstorbenen hl. Rochus aus Montpellier geweiht. Er ist Fürsprecher der Aussätzigen und Patron der Hospitäler. Die vielen dem Rochus gewidmeten Bauten in den Abruzzen beziehen sich nicht allein auf die Pest von 1348. Die kleine Rochuskirche in Barisciano erinnert an die Pest von 1636. Die Rochuskapelle oberhalb des Aventinotals in Colledimacine in der Provinz Chieti verdankt ihre Entstehung einer Epidemie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Nach der Pest von 1453 wurde in Tocco da Casauria die Kirche Madonna delle Grazie errichtet, und nach einer Epidemie von 1656 entstand S. Rocco in Roccaraso. 1657 baute man in Atessa einen Turm, der dem Christophorus geweiht war. Dort suchten in Pestzeiten die Pilger Schutz. Von der Pest wurden oft die Pfleger der Kranken selbst betroffen, darunter finden sich auch Franziskanermönche. Bei der Ausübung des barmherzigen Werkes starben an der Pest 1656 z.B. die Franziskaner Riccardo von Loreto Aprutino in Raiano, Fra Giuseppe aus Penne in Penne selbst und Fra Arcangclo von Ocre in Ovindoli.
Das Konzil von Trient (1545-1563) legte das Fundament für den modernen Katholizismus. Die Auswirkungen sind in den Abruzzen stärker als im Molise spürbar. Zunächst beobachten wir zwischen 1540 und 1630 eine enorme Zunahme an Klosterbauten. In Abruzzo Ultra entstehen in dieser Zeit 45 Konvente für Männer, in Abruzzo Citra 28 und im Molise nur elf. Deutlich ist das Zahlengefälle von Nord nach Süd. Dasselbe gilt für die Gründungen von Frauenklöstern in der gleichen Zeit, in Abruzzo Ultra sind es 27, in Abruzzo Citra 18 und im Molise nur fünf Konvente.
Das Tridentinische Konzil verstärkte die Autonomie des Episkopats. Die Bischöfe und der höhere Klerus wurden zur Residenzpflicht aufgerufen, die man in den Abruzzen strenger einhielt als im Molise. Bischöfe werden mehr und mehr Auftraggeber für Neubauten oder für Reparaturen an Kirchen. Nur ein Beispiel aus der Diözese Sulmona zur Zeit des Bischofs Donzelli (1571-1585). Dieser ordnet 1575 in der Ortschaft Pietransieri bei Roccaraso die Vergrößerung einer Kapelle an, und 1579 wird in seinem Auftrag in der Marienkirche von Capestrano eine Kapelle eingerichtet. Die Kirche S. Giovanni in Capite Aquarum bei Capestrano trifft er in ruinösem Zustand an und befiehlt ihre Restaurierung.
Die Sorgfalt, mit der auch die kleinsten Angelegenheiten betrieben werden, geht wieder auf Anweisung des Tridentinischen Konzils zurück. Die Bischöfe wurden angehalten, in ihren Diözesen persönlich Visitationen vorzunehmen. Diesen Inspektionen mußte ein schriftlicher Bericht beigelegt werden, den man in Kopie der visitierten Kirche aushändigte. Diese Dokumente sind für die Kirchen-und Kunstgeschichte von größtem Wert, der noch weithin ungenutzt ist. Sie geben Auskunft über die Anzahl und den Bildungsstand der Kleriker, vor allem findet man oft eine minuziöse Beschreibung des Kircheninventars, das auf seinen Erhaltungszustand geprüft wird. Übelstände, auch am Bau selbst, müssen sofort behoben werden. Die Belege derartiger Inspektionen finden sich in den Abruzzen in den Kathedralarchiven von Corfinio und Sulmona, in L'Aquila sind Berichte erhal (S. 223) ten von 1613, 1617, 1624-1625, in Chieti von 1591, 1615, 1621, 1624 und 1629, in Avezzano von 1680-1684, in Teramovon 1611, 1614 und 1616.
Eine Wandlung der kirchlichen Situation läßt sich in unserer Region auch kulturgeographisch ablesen. Die Einflüsse der Benediktiner und Zisterzienser, die mit den Abruzzen so viele Beziehungen unterhielten, waren aus dem Südwesten und Westen in unser Bergland gekommen. Wohingegen die Niederlassungen der an die Städte gebundenen Franziskaner, die künftighin in unserer Region wirksam werden, nördlich der Abruzzen lagen, in Umbrien und in der Toskana. Die theologischen Lehrstühle der Franziskaner und, Dominikaner befanden sich in Oberitalien. Man studierte in Padua und besonders in Bologna, Universitäten, die nicht nur Studenten aus den Abruzzen aufnahmen sondern auch Professoren, die dort zu hohem Ansehen gelangten, wie wir es später noch ausführlicher darstellen werden. Die Orden, die ja nicht allein auf Italien beschränkt waren, stellten neue kulturelle Verbindungswege nach Deutschland und Frankreich her, die von Abruzzesen mit Fleiß beschritten wurden.
Kirchenorden
Coelestiner
Durch alle Jahrhunderte hin haben Abruzzesen eine Neigung zur Einsamkeit gezeigt und eine Gestaltung des Daseins in schlichter Abhängigkeit vom christlichen Testament gesucht, ohne Einschaltung hierarchischer Ordnungen. Die Verehrung des legendären Eremiten Onophrius in unserem Bergland entsprach einem selbstverständlichen Bedürfnis der Bewohner. Diese Lebensvorstellung war auch im 13. Jh. Pietro Angelerius, dem späteren Papst Coelestin V., zu eigen, ein exemplarischer Vertreter des Menschen in unserem unwirtlichen Bergland, ein glühender Verehrer seiner Heimat und eine tatkräftige Persönlichkeit. Bewußt gedachte er, sein tiefes, einfaches religiöses Empfinden abseits der lauten Welt auszuformen. Jedoch geriet er in den Bannkreis der staatlichen und kirchlichen Politik und scheiterte an dem Versuch, die innere Haltung eines Christen mit der Institution der Kirche in Einklang zu bringen. Dieser Kampf macht den Petrus Angelerius zu einer tragischen Figur, die fast überzeitlich ist. Deswegen hat er durch alle Jahrhunderte eine nie versiegende und liebevolle Verehrung genossen. Es gibt keinen zweiten Papst, der wie Colestin V. nur wenige Monate regierte und so große Verehrung fand, und dessen Leben so stark in die Geschichte einging. Das Zerbrechen des einfachen Lebens an der Übermacht der politischen und zivilisierten Welt wiederholt sich immer wieder, und so ist es kein Wunder, wenn auch die heutige Zeit diesen tragischen Helden nicht vergessen hat. 1950 erschien im Inselverlag das Drama von Reinhold Schneider »Der große Verzicht«, worin das Leben Coelestins als ein überzeitlicher Zwiespalt behandelt ist. In dem Schicksal des 1978 so plötzlich verstorbenen Papstes Giovanni Paolo I. zeigt sich ein ähnlicher Konflikt in moderner Zeit. Es gibt keinen Eremiten, der die Gemüter so aufgeregt hätte wie Coelestin. Sein päpstlicher Nachfolger Bonifaz VIII. repräsentiert genau den entgegengesetzten Menschentyp, er ist der machthungrige, gebildete Autokrat, versiert in politischen Finessen. Dieser Gegensatz zwischen beiden Menschen spiegelt die Zerrissenheit jener Zeit.
Der Kardinal Stefaneschi, Freund Coelestins, beschreibt den Petrus Angelerius als einen Mann von hoher Statur und kräftigem Körperbau, mit fröhlichen und lebhaften Gesichtszügen, sanft und anziehend im Gespräch. Ähnlich äußert sich der Coelestinbewunderer Petrarca. Er sagt, er habe von Freunden, die den Petrus Angelerius persönlich gesehen hätten, gehört, wie in seinen Augen und in seinem Gesicht die Zeichen seiner nach innen gekehrten Fröhlichkeit leuchteten.
Pietro Angelerio stammte aus bäuerlicher Familie und wurde als vorletztes von zwölf Kindern 1215 sehr wahrscheinlich in Isernia geboren. Seinen Vater verlor er im Alter von sechs Jahren. Zunächst begab sich der Knabe in die Obhut der Benediktiner. In der Abtei S. Maria di Faifula bei Montagano im Molise, einstmals ein samnitisches Zentrum, dann von Römern besetzt, soll er sein Gelübde nach der Benediktinerregel abgelegt haben, nach anderen Quellen soll dies in S. Giovanni in Venere geschehen sein. Die Abtei Faifula, die Petrus später als Abt leitete, wurde 1805 durch Erdbeben zerstört und danach wieder restauriert. Sein Umherschweifen im Molise und in den Abruzzen ist chronologisch schwer zu rekonstruieren. Im Kloster S. Maria degli Angeli in der Nähe von Ripalimosani hat er als Mönch geweilt. Zur Erinnerung an ihn wurde die dortige Kirche später auf seinen Namen geweiht. Bei einem kurzen Aufenthalt in Rom erhielt er dort die Priesterweihe. Immer wieder zog es ihn zurück in das Einsiedlerleben, das er wohl in der Gegend von Castel di Sangro und Roccaraso begann. Mit 24 Jahren lebte er als Eremit im Gebirge des Morrone. Die Bildung, die er genossen hatte, war mäßig, wie er selbst eingestand. Die lateinische Sprache kannte er nur aus der Bibel und aus der Liturgie, mit römischen Schriftstellern scheint er sich nicht beschäftigt zu haben. Darüber hinaus verstand er nichts vom bürgerlichen oder kanonischen Recht, Voraussetzungen für den kirchlichen Staatsmann. Diese Unbildung mußte Petrus später schwer büßen; sie tritt in der Unreife seiner Entscheidungen zutage und in der Art, wie er sich unkritisch im Schlepptau der Politik der Anjou bewegte. Sein Zeitgenosse Stefaneschi berichtet, sein Latein sei so mäßig gewesen, daß er sich in Verhandlungen kenntnisreicherer Mittelspersonen bedienen mußte, und Petrarca sagt, seinen Untergang habe seine »inexperentia rerum humanarum« mitverschuldet. Trotzdem ist der fanatische Einsiedler mit Organisationstalenten begabt gewesen. Schon früh entstand in ihm der Plan, die im Bergland verstreuten' Einsiedler zu sammeln und ihr Wirken durch einen festen Verbund zu stärken. Es bildete sich in ihm der Wunsch nach einer eigenen Kongregation. Am Fuße des Morrone vergrößerte er eine schon vorhandene Marienkapelle, und später errichtete er an derselben Stelle eine Kirche, die er dem Hl. Geist weihte. Sie wurde etwa 1247 begonnen; ihr war ein (S. 224) Konvent angeschlossen, und sie ist heute noch berühmt als Badia di S. Spirito (Tf. 170). Dort bildete sich eine Mönchsfamilie, die der Ausgangspunkt des späteren Coelestinerordens wurde. Die Brüder nannten sich zunächst »Frati di Pietro da Morrone« oder einfach »Frati Morronesi« oder »Frati della Badia di S. Spirito«. In der Umgebung des Klosters, in Marane, Roccacasale und Sulmona, weiß man noch heute, auf welch wunderliche Weise der Konvent von S. Spirito zustande gekommen ist. Man erzählt, daß Petrus Angelerius durch Ovidstudien den Schatz des Magiers Ovid am Fuße des Morrone ausfindig gemacht habe. Dieser Fund ermöglichte sein Bauvorhaben. Als er die Planzeichnung seinen Freunden vorlegte, riefen diese erstaunt aus: »Heiliger Vater, wie wollt Ihr solche Absichten durchführen?« Darauf erwiderte der Bauherr: »Steine und Kalk könnten schon fehlen, aber kein Geld.« Keiner vermutete, daß er über einen nicht versiegenden Schatz verfügte. Legenden vom Herbeischleppen der Gold-und Silbersäcke durch Angelerio wurden von den Anwohnern phantasievoll ausgeschmückt. Der Schatz verschloß sich wieder nach dem Abschluß der Bauarbeiten.
Pietro Angelerio zeigte höchste Geschicklichkeit, seiner Niederlassung am Morrone den Status eines legitimierten Ordens zu geben. Von Papst Urban IV. (1261-1264) erhielt er die de facto-Anerkennung seiner Mönchsgründung als ein Zweig der Benediktiner. Die allgemeine Bestätigung eines Ordens wurde unter Berufung auf das lateran ische Konzil von 1215 abgelehnt, das Neugründungen von Orden für unzulässig erklärte. Pietro Angelerio ließ sich nicht einschüchtern. 127serschien er persönlich auf dem Konzil von Lyon, wo ihm am 21. März die Niederlassung am Morrone bestätigt wurde mit der Erlaubnis, weitere Ordensniederlassungen zu gründen. Nach der Rückkehr aus Frankreich organisierte er den Aufbau seiner neuen Kongregation. Bevor Pietro mit den erfreulichen Ergebnissen von Lyon in S. Spirito eintraf, übernachtete er vor den Toren von L'Aquila auf einer Anhöhe, die Collemaggio genannt wurde. Dieser Aufenthalt gab den Anlaß zu einem der berühmtesten Kirchenbauten in den Abruzzen. In dieser Nacht sah er im Traum Engel auf der Himmelsleiter auf-und niedersteigen, und darüber erschien die Jungfrau Maria, die ihm befahl, ihr an dieser SteHe eine Kirche zu errichten. Pietro kehrte in sein Kloster S. Spirito zurück und schickte von dort zwei Brüder nach L'Aquila, die das für den Bau notwendige Land kaufen sollten. Von dem Erwerb durch zwei Mönche erfahren wir aus einer Urkunde, die am 2. Oktober 1287 ausgestellt ist. Schon vier Tage später begannen die Bauarbeiten. In den ersten Monaten des Jahres 1289 ist von einer ersten Weihe die Rede.
Im September 1293 fand man sich in S. Spirito am Morrone zu einem Generalkapitel zusammen, auf dem die Abtei S. Spirito zum Hauptsitz des Ordens erklärt wurde. Der jeweilige Abt sollte gleichzeitig Leiter des Ordens sein. Das Generalkapitel wählte ihn für einen Zeitraum von drei Jahren. In Lyon hatte man dem Pietro zur Auflage gemacht, sein Orden müsse sich an die Regeln des hl. Benedikt halten. Wenn dies auch geschah, so sind doch Einflüsse der franziskanischen Bewegung unverkennbar. Durch die Einfachheit der Niederlassungen, die Armutsideale und Bußübungen steht der neue Orden franziskanischen Ideen näher als benediktinischen. Zu Franz von Assisi hatte Pietro auch ein besonderes Verhältnis. 1294 besucht er Castelvecchio Subequo, wo ein Konvent, eine Hochburg der Franziskaner, bestand. Auch hatte er den Wunsch geäußert, das Franzgrab in Assisi zu besuchen. Angelerio soll in seinem vertrauten Bergland 16 Klöster gegründet haben. Die Mönche trugen ein weißes Gewand mit einer schwarzen Kapuze und einem schwarzen überwurf über Schulter und Rücken.
Am 4. April 1292 starb Papst Nikolaus IV. in Rom. Das Konklave tagte zunächst in der Ewigen Stadt, mußte sich aber wegen einer Pestepidemie auflösen, und am 18. Oktober 1293 vereinigte man sich zur Weiterverhandlung in Perugia. Obwohl die Versammlung nur aus zwölf Kardinälen bestand, konnte man sich auf keinen neuen Papst einigen. Ohne eigennützige Gedanken fühlte sich unser Petrus vom Morrone veranlaßt, einen Appell an den ihm befreundeten Kardinal Orsini zu richten, man möge die Beratungen beschleunigen. Außerdem erschien noch gegen alle protokollarischen Gewohnheiten König Karl II. Anjou in Perugia und drängte auf Erledigung der Wahl. Der Zwist der Kardinäle, die Eingabe des Petrus Angelerius und das Eingreifen des Königs hatten zum Erfolg, daß am 5. Juli 1294 nach einer Beratungszeit von 27 Monaten ein neuer Papst von mittlerweile nur noch neun anwesenden Kardinälen gewählt wurde, Petrus von Morrone, der als Papst Coelestin V. in die Geschichte einging. Die Krönung des Stellvertreters Christi erfolgte am 29. August in L'Aquila. Kirchliche und weltliche Potentaten hatten sich in der jungen Stadt versammelt. Von König Karl II. und seinem Sohn Karl Martell, König von Ungarn, der den Papst schon vorher in seiner Einsiedelei S. Onofrio am Morrone aufgesucht hatte, wurde er festlich in die Stadt eingeholt. Demütig auf einem Esel reitend zog Coelestin ein, und die Krönung fand in S. Maria di Collemaggio statt, in der Kirche, die seine eigene Schöpfung war; er war umgeben von Kardinälen und Bischöfen, Königen, Fürsten, vom Adel und einer nicht zu zählenden Volksmenge. An der Krönung nahm u.a. auch Guido von Montefeltro teil (gest. 1298), ein vortrefflicher Kriegsmann und Parteigänger der Hohenstaufen. Er war so überwältigt, daß er sein Soldatenwams mit der Franziskanerkutte vertauschte. Zugegen war auch der Verehrer des Papstes, Stefaneschi, der die Lebensgeschichte des später Heiliggesprochenen schrieb.
Coelestin mochte sich nicht von L'Aquila trennen. Er verweilte dort 72 Tage vom 27. Juli bis zum 6. Oktober 1294. Der königliche Wunsch zitierte ihn nach Neapel, damit er von dort aus sein katholisches Imperium überwache. Der Weg dorthin ist ihm nicht leicht gefallen, und vielleicht war er schon damals von dem Gedanken beherrscht, den päpstlichen Thron aufzugeben. Am 12. Oktober hält er sich in Sulmona auf, am 14. in Isernia, am 18. in S. Germano und am 8. November erscheint er in Neapel. Dort kommt es innerhalb eines guten Monats zu seiner Abdankung. Fürsprecher (S. 225) für den Verzicht war Kardinal Benedetto Gaetani, der selbst nach dem höchsten Amt der Kirche strebte und als Nachfolger Coelestins als Bonifaz VIII. berühmt wurde. Für seine Wahl war er sich der Zustimmung Karls II. Anjou sicher. Damit war die Resignation Coelestins nur noch eine Formsache. Am 13. Dezember 1294 verzichtete er auf das Papstamt. Die Formulierung der Abdankungsurkunde wird dem späteren Papst Bonifaz VIII. zugeschrieben, der schon am 24. Dezember 1294 den päpstlichen Thron bestieg. Aus Furcht, der Verzicht Coelestins könne für ungültig erklärt werden, bestand die erste Amtshandlung des neuen Papstes darin, seinen Vorgänger gefangenzunehmen. Dem Achtzigjährigen, der inzwischen seine Papstgewänder mit der Eremitenkutte vertauscht hatte, gelang die Flucht. Er hatte die Absicht, Italien zu verlassen und sein Leben jenseits der Adria zu beschließen. Umherirrend durchstreifte er noch einmal seine Abruzzen, besuchte das Heiligtum auf dem Mante Gargano und wollte in Vieste am Fuße des Gebirges in die östlichen Gefilde übersetzen. Dort wurde er aber erkannt und am 16. Mai 1295 von neuem verhaftet. Sein Weg als Gefangener führte zunächst nach Capua, dann nach Anagni in die Residenz seines Antipoden Bonifaz VIII., der ihn im Kastell von Fumone bei Ferentino einkerkern ließ. Dort lebte Coelestin unter Aufsicht von sechs Rittern und dreißig Soldaten und starb am 19. Mai 1296. Wir besitzen kaum glaubhafte Zeugnisse, die besagen, daß Coelestin von seinem Nachfolger ermordet wurde. Trotzdem verbreitete sich das Gerücht von einem Märtyrertod, vor allem in den Abruzzen. Man vermutete, das Messer gefunden zu haben, mit dem ihm der Hals durchgeschnitten worden war. In der Ikonographie des Coelestin gibt es Darstellungen, die ihn als Märtyrer kennzeichnen. Als solcher ist er auf der Hauptglocke abgebildet, die die Mönche in der Badia di Spirito zum Gebet ruft, so erscheint er auf einer Miniatur, die in der Sammlung Pansa in Sulmona verwahrt wird, und auf einem Fresko des 14. Jh. in seiner Einsiedelei S. Onofrio am Morrone. Auch im erwähnten Drama »Der große Verzicht« läßt Reinhold Schneider den Papst als Märtyrer sterben (Akt V, Szene 2). Coelestin wurde zunächst unweit der Burg Fumone in Ferentino beigesetzt. Am 5. Mai 1313 sprach man in Avignon den Eremiten heilig, und im Jahr 1326 gelang es den Coelestinern von L'Aquila, die Gebeine ihres tapferen Gottesstreiters von Ferentina in die Kirche S. Maria di Collemaggio zu überführen.
Coelestin war ein guter Kenner seiner Heimat. Er besuchte z. B. Rocca Montepiano, Serramonacesca und kannte S. Maria in Arabona. Seine größte Anstrengung galt den Klostergründungen. In der Badia S. Spirito konnten die Bauten dank der Privilegien Karls II. Anjou nach dem Tode des Papstes weitergeführt werden. Bauliche Veränderungen wurden im 16. Jh. nötig und besonders nach dem Erdbeben von 1706. Nach Aufhebung des Coelestinerordens 1807 diente der Gebäudekomplex als Schule, dann als Armenanstalt, und heute beherbergt er ein Frauengefängnis, zu dem man nur schwer Zugang erhält.
Der zweite große von Coelestin gegründete Bau ist S. Maria di Collemaggio. Im Innem der Kirche sieht man noch Grabplatten von Ordensgeneralen des 17. Jh., vier im letzten Joch des rechten Seitenschiffes und eine fünfte in gleicher Höhe im Mittelschiff. Rechts von der Collemaggio liegt das Konventsgebäude. Zu den 16 von Coelestin in den Abruzzen gegründeten Klöstern soll auch die Abtei S. Giovanni in Verde gehören. Sie liegt versteckt bei Rosello in der Provinz Chieti, einem Ort, den man auf dem Fahrweg von Borrello nach Roio dei Sangro erreicht. Coelestin besaß in dem sel. Roberto, der 1272 in Sala in der Provinz Pescara geboren wurde, einen Schüler und Mitarbeiter, der ihn bei den Ordensgründungen fleißig unterstützte. Ihm ist die Niederlassung in Chieti zu verdanken, die heute Chiesa del Carmine o dei Monaci Celestini alla Civitella heißt. Die Anfänge dieser Gründung gehen auf das Jahr 1295 zurück. Von dieser 1677 umgebauten Kirche ist noch das gotische Portal erhalten, das laut Inschrift 1321 von Nicola Mancini aus Ortona gearbeitet wurde, den wir auch als Erbauer des beachtlichen Portals der Kathedrale von Ortona kennen. Die Erinnerung an Roberto da Sala hält noch seine Büste über der Tür von S. Carmine in Chieti wach. Eine andere Gründung Rohertos hat sich noch in den Ruinen der Kirche S. Croce in Rocca Montepiano erhalten. Der Klosterkomplex entstand wohl in den letzten Jahren des 13. Jahrhunderts. Vorhanden sind noch Umfassungsmauern aus sehr schönen, regelmäßig geschnittenen Quadersteinen und ein Rundfenster in der Fassade. Infolge eines Erdrutsches wurde das Kloster 1765 aufgegeben. Roberto soll vierzehn Konvente und sieben Hospitäler gegründet haben, u.a. in Lama dei Peligni, in Caramanico und S. Giovanni Battista in Gessopalena. Eine späte Gründung des Roberto erfolgte 1327 in Atessa, ein von Razzi 1576 beschriebener Konvent. Auf dem Monte Gargano errichtete Roberto ein Hospiz. Dieser rührige Sachwalter Coe!estins trat 1288 in den Coelestinerorden ein, wurde zehn Jahre später zum Priester geweiht und starb 1341 im Coelestinerkloster von Pacentro. Im darauffolgenden Jahr wurden seine Gebeine in die Badia di S. Spirito überführt.
In L'Aquila entstand 1320 das Coelestinerinnenkloster S. Basilio, aus dessen Frühzeit keine Spuren erhalten sind. Der ehemalige Coelestinerkonvent S. Maria di Costantinopoli in Ortona geht auf die letzten Jahre des 13. Jh. zurück, er wurde im 16. Jh. umgebaut und nach seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wiederhergerichtet. Von einem Coelestinerkloster in Guardiagrele zeugen ein gotisches Portal und der untere Teil des Glockenturmes. Auf seinen Inspektionsreisen 1575/1576 erwähnt Razzi Niederlassungen des Ordens in Vasto und Guglionesi.
Mit Ausnahme der Bauten in Badia S. Spirito und in S. Maria di Collemaggio in L'Aquila waren die Coelestinerkonvente sehr bescheiden und haben keinen Ordensstil entwickelt. In ihrer Armut bedienten sich die Mönche oft schon vorhandener Bauten. So verrichteten sie z.B. in dem bescheidenen Sanktuarium von S. Venanzio bei Raiano ihre geistlichen Obungen in bereits bestehenden Zellen. Der Coelestinerorden verbreitete sich rasch über die Grenzen unserer Region hinaus im übrigen Italien, in Frankreich und in den (S. 226) Niederlanden. Kaiser Karl IV. stiftete 1369 das Coelestinerkloster Oybin bei Zittau.
Coelestin lebte im Spannungsfeld der Vita contemplativa und der Vita activa, ein Zwiespalt, der sich wie ein Basso continuo durch die Mönchsorden des späteren Mittelalters zieht. Obwohl er sich in tiefer Demut ganz der Abseite des weltlichen Geschehens zuwendet, ist es erstaunlich zu beobachten, wie dieser Einsiedler im Blickpunkt der Welt gestanden hat. Daß er nicht wie so viele andere seiner Geistesart vergessen wurde, rührt doch wohl von seiner ungeheueren Tatkraft her, mit der er seine Ziele verfolgte. Das tritt schon in der Politik seiner Ordensgründungen zutage. Das sich Bewußtwerden seines eigenen Tuns zeigt sehr deutlich seine Autobiographie, an deren Echtheit das allzu kritische 19. Jahrhundert kräftig gezweifelt hat, was aber von kompetenter Seite von dem Philosophen Misch mit Recht für völlig unbegründet erachtet wurde. In seiner Lebensgeschichte berichtet Coelestin treuherzig nur von seiner Jugend und bricht nach den Ereignissen der Ordensstiftung ab. Für seinen Umgang und zur Durchführung seiner Pläne wählte er sich häufig bedeutende abruzzesische Gleichgesinnte. Zu ihnen gehörten der schon erwähnte Roberto von Sala, dessen vorbildliche Zurückgezogenheit der Dichter Petrarca bewunderte, dann Bartholomäus von Trasacco und Thomas von Sulmona, Coelestinermönche, denen wir die zuwenig beachteten Biographien des Papstes verdanken. Bartholomäus schildert Coelestin als tatkräftigen Einsiedler, der sich mit geistigen und praktischen Beschäftigungen abgab, Bücher schrieb und Bücher einband: »Liberalibus aut mechanicis sudabat in artibus, scribens scilicet libros, ligans ...«. Viele Freunde und Bewunderer Coelestins treten als Zeugen in seinem Kanonisationsprozeß auf. Während der wenigen Monate seiner Regierung ernennt er u.a. zwei Abruzzesen zu Kardinälen, den Petrus von L'Aquila (gest. 1298) und den Coelestinermönch Thomas von Ocre (gest. 27. Mai 1300). Der erste war Benediktiner und zunächst Abt von S. Sofia in Benevent; sodann wurde er zum Bischof von Valva vorgesehen, ein Amt, das er wegen seiner Ernennung zum Kardinal nicht ausübte. Petrus war ein treuer Gefolgsmann, 1294 auf der Krönungsfeier in L'Aquila anwesend und Begleiter des Papstes auf seinem schweren Weg nach Neapel. Thomas von Ocre hatte hohe Stellen in Rom inne. In seinem Testament, das er sechs Tage vor seinem Tod anfertigte, erinnert er sich der Abruzzesen und vermachte vor allem den Coelestinerklöstern in den Abruzzen reiche Geschenke.
Außerhalb der Abruzzen gerät Coelestin in das Blickfeld der großen Dichter Mittelitaliens. Der erste, der sich zu Wort meldet, ist der Franziskaner Jacopone von Todi (gest. 1306), dem man das Gedicht »Stabat mater« zuschreibt, das uns durch Vertonung großer Musiker wie Palestrina, Pergolesi, Haydn, Rossini usw. so vertraut ist. Jacopone war ein glühender Gegner des Papstes Bonifaz VIII., den er als Antichrist bezeichnete. Jacopone zeigt sich erfreut über die Papstwahl Coelestins, befürchtet aber, die Lauterkeit des Eremiten könne die Verweltlichung der Kirche und die trostlosen Kardinalsmachenschaften nicht überwinden. Wie es . dann auch geschah. In seiner Görtlichen Komödie spricht Dante im Inferno von einem Verdammten, der aus Feigheit abgedankt habe. Man hat diese Stelle wohl mit Recht auf Coelestin bezogen, obwohl das Urteil der Feigheit zu scharf und nicht ganz zutreffend ist. Ganz anders äußert sich Petrarca in seinem Traktat »De vita solitaria«. Er rühmt das konsequente Verhalten des Papstes; das Vermeiden der Städte und seine Zurückgezogenheit in den hohen Bergen habe ihm den Weg zu den himmlischen Dingen leichter gemacht. Der Dichter wünscht sich, mit unserem Heiligen gemeinsam gelebt zu haben. In der Hinwendung zum solitären Leben seien sie sich sehr ähnlich.
Zu den anhänglichsten und größten Bewunderern des Papstes rechnet Jacopo Gaetano Stefaneschi (1270-1343). Er studierte in Paris und war ein Kenner des politischen und kulturellen Geschehens seiner Zeit. Er war mit Coelestin sehr vertraut und hat sein Aussehen und seine Lebensweise genau geschildert. Stefaneschi gehörte zu den Legaten, die dem Einsiedler am Morrone die Wahl zum Papste verkündeten, und bei der Krönung in L'Aquila war er natürlich anwesend. Coelestin ernannte ihn 1294 zum Kanoniker am Vatikan, und von Bonifaz VIII. erhielt er 1295/1296 die Kardinalswürde. Berühmt wurde Stefaneschi als Kunstmäzen, bekannt mit Giotto und seiner Werkstatt. Er war der Stifter von Giortos »Navicella« in Alt-Sankt-Peter in Rom, ein Werk, das nur in Nachzeichnungen überliefert ist, und wo er als kniende Stifterfigur erscheint. Wohl nicht von Giotto selbst, sondern aus seiner Werkstatt stammt das bekannte und etwa 1320 entstandene Altarbild, das Stefaneschi für Alt-Sankt-Peter herstellen ließ, und das heute eine Zierde der Vatikanischen Pinakothek ist. Hier begegnet uns Coelestin auf der Rückseite, der sog. Petrusseite, an bevorzugter Stelle unten rechts gegenüber von Kardinal Stefaneschi. Der Kardinal ist auch als Schriftsteller und Theologe bekannt geworden. In Versen verfaßte er die Lebensgeschichte des Coelestin mit dem Titel »Opus metricum«, ein Werk, das in vielen Abschriften europäische Bibliotheken füllt. Mit einem Dedikationsbrief schickte er 1319 ein Exemplar an den Abt der Badia S. Spiriro bei Sulmona. Manche Handschriften sind illuminiert. Zu ihnen gehört der Kodex Vat. lat. 4932, vor dem Jahre 1313 geschrieben und einstmals im Besitz des Papstes Paul V. Borghese (1605-1621). Auf der Rückseite des ersten Blattes sehen wir Coelestin ohne Heiligenschein in seiner Klause sitzen, die auf dem Wohnungsschild den Namen des Insassen »fr. P. d'morone« (Bruder Petrus von Morrone) zeigt. Vor ihm schreibt an einem Pult Stefaneschi in einem Buch. Für den Quellenwert seiner Biographie spricht, daß er seine Nachrichten direkt aus dem Munde des Klausners vernommen zu haben scheint. In der Biblioteca Corsiniana in Rom im Kodex 45 G 14, fol. 7 (14. Jh.) sehen wir im »Opus metricum« eine andere bildliche Darstellung des Coelestin. Dort sitzt er mit aufgeschlagenem Mönchshabit auf einer Bank mit Kissen. Vor ihm kniet Stefaneschi und bringt sein Werk dem mit Nimbus versehenen Heiligen dar. Rechts von diesem ist die abgelegte Papstkrone zu se (S. 227) hen. Stefaneschi war noch Autor eines anderen Werkes, das die Lebensgeschichte des hl. Georg, Messegebete, die Messe des hl. Petrus von Morrone und anderes enthält, eine Sammlung, die man als den Kodex von S. Giorgio in Velabro bezeichnet. Zur Zeit der Abfassung war der Autor Kardinaldiakon von S. Giorgio in Velabro in Rom. Diese Handschrift befindet sich heute in Rom im Archivio di S. Pietro als Ms. C. 129. Am Anfang der Messe des hl. Petrus wird Coelestin mit Heiligenschein auf einem Thron dargestellt, und Stefaneschi dediziert ihm sein Werk. Bild und Text entstanden zwischen 1339 und 1344 in Avignon. Man hat diese Miniatur dem Giotto zugeschrieben, andere haben sie Simone Martini zugewiesen. Sicherlich handelt es sich um ein Werk aus der sienesischen Schule. Die behandelten Coelestinbilder sind stilistisch untereinander verwandt. Das Porträt auf dem Stefaneschialtar und dasjenige im »Opus metricum« in der Vatikanischen Bibliothek sind am nächsten miteinander verwandt. Wieweit eine andere Darstellung des Coelestin im Kodex 1167 der Biblioteca Nazionale in Rom in diesen Umkreis gehört, müßte noch genauer untersucht werden. Dort zeigt eine Miniatur den zwischen zwei Geistlichen sitzenden Coelestin, vor ihm knien Mönche, die sich seinem Schutz empfehlen.
Die Coelestinverehrung, sein Aufstieg vom Einsiedler zum Volkshelden, ist vor allem eine Angelegenheit der Abruzzen selbst. Man spürt die Freude des Bergvolkes, in ihm erstmals einen Sohn des Landes von internationaler Bedeutung zu besitzen. Die Begeisterung für den Heiligen vom Morrone bleibt durch alle Jahrhunderte hin bis zur Gegenwart wach. Seine Reliquien werden als Kostbarkeit gehütet, der Eremit wird zum Mitbegründer der Stadt L'Aquila erhoben, sein Bild erscheint auf den Bannern der Stadt, auf Münzen des Königreichs, in der Malerei und Skulptur, auf Glasfenstern, und das Weiterleben seines Bildes in der Druckgraphik ist gar nicht zu fassen. Er wird verehrt in der gelehrten Welt, in der Dichtung und der abruzzesischen Dialektpoesie.
1326 gelangten die sterblichen Überreste Coelestins in seine Krönungskirche, in die Collemaggio von L'Aquila. Den zur Aufbewahrung vorgesehenen Silberschrein ließ man 1410 von Goldschmieden in Sulmona arbeiten. Das heutige Coelestinmausoleum in der Collemaggio zählt zu den reifsten Schöpfungen der Renaissance in den Abruzzen. Es wurde 1514 von der Wollweberzunft in L'Aquila in Auftrag gegeben und laut Inschrift 1517 von Girolamo aus Vicenza vollendet. Die Grabdekoration muß im Lauf der Zeit Veränderungen erlitten haben. Alte Stiche zeigen als Bekrönung eine wahrscheinlich ebenfalls von Girolamo verfertigte Statuengruppe. Links von der Madonna erscheint der Papst mit der aus drei Reifen gebildeten Krone. Den Silberschrein von 141O entführte 1529 der Vizekönig von Neapel, Filiberto von Chalons-Orange, zur Bestrafung der ungehorsamen Bürger von L'Aquila. Einen neuen 1646 erstellten kostbaren Sarg raubten 1799 Franzosen, die die Parthenopäische Republik in Neapel gründeten. Heute liegen die Gebeine in einem Schrein mit Goldbeschlägen. Andere Reliquien des Heiligen werden in der Kirche S. Pietro a Maiella in Neapel und in der Kathedrale von Sulmona aufbewahrt, und Razzi sah 1576 noch weitere in S. Tommaso bei Caramanico.
Nach dem Vorbild des Mausoleums in der Collemaggio entstand in L'Aquila in S. Margherita della Forcella ein Grabbau, den die Bildhauer Ascanio Castagnola und Alessandro Ciccarone (16./17. Jh.) dem hl. Equizio errichteten, einem anderen Schutzheiligen der Stadt. Sogar das Längenmaß der von Coelestin gebauten Collemaggio wurde kanonisch. Die Länge von 96 m wird in der Kirche S. Bernardino in L'Aquila übernommen.
Coelestin wurde als der einfache Eremit Petrus Angelerius vom Morrone heiliggesprochen, nicht als Statthalter Christi. Dadurch ergeben sich verschiedene Darstellungsmöglichkeiten seiner Persönlichkeit. Manchmal erscheint er als Papst, manchmal mit der abgelegten Tiara und dann wieder als schlichter Coelestinermönch. Die Zentren der bildlichen Verehrung in den Abruzzen sind die Stätten seines Wirkens, Sulmona und L'Aquila.
Das früheste erhaltene Fresko mit dem Bildnis Coelestins (87 x 57 cm) ist in seiner Einsiedelei S. Onofrio am Morrone zu sehen. Der Heiligenschein weist auf eine Entstehung nach 1313. Bartlos und jugendlich trägt er das Mönchsgewand und die Papstkrone. Als Zeichen seines angeblichen Martyriums hält er in der Linken einen Palmzweig, in dessen Spitze ein Kreuz gemalt ist. Das Bild ist vor allem im unteren rechten Teil schlecht erhalten. Die nächste Darstellung befindet sich in der profanierten Unterkirche der Badia S. Spirito, wahrscheinlich der alten Marienkirche, über der Coelestin den Neubau S. Spirito ausführte. Dort erscheint in einer Lünette eine szenische Gestaltung aus der zweiten Hälfte des 14. Jh., wo sich der Heilige wiederum jugendlich und bartlos vorstellt; er steht vor einem Vorhang mit geometrischen Mustern und hält den Palmzweig des Märtyrers in der linken Hand. Vor ihm knien Mönche, die nur halb so groß sind wie die Hauptfigur des Coelestin. Der Mönch, der dem Heiligen am nächsten ist, empfängt von ihm ein aufgeschlagenes Buch, in dem ein lateinischer Text geschrieben ist, der übersetzt folgendermaßen lautet: »Kommet und höret mir zu, ich will Euch, die Ihr Gott fürchtet, erzählen, wie Großes er für meine Sache getan hat.« Es ist der zweite Vers aus Psalm 34, der in der Einleitung des Regelwerks des hl. Benedikt sowie in den Eingangsworten der Autobiographie des Coelestin zitiert wird. Es ist schlecht vorstellbar, daß Coelestin den Mönchen die Regel des hl. Benedikt übergibt, und so bleibt nur die Möglichkeit, daß es sich bei dem Buch um seine eigene Lebensgeschichte handelt, die ja unter den Coelestinern weitverbreitet war. Ebenso schlecht erhalten wie das Fresko in der Unterkirche von S. Spirito ist das Lünettenfresko an der Porta Santa in der linken Langhauswand von S. Maria di Collemaggio in L'Aquila. Der Heilige erscheint dort in einer Dreiergruppe, in der Mitte ist die Madonna mit dem Kind, zu ihrer Rechten der Täufer und zu ihrer Linken Coelestin. Seine rechte Hand erhebt sich zum Segensgestus, in seiner Linken hält er ein Pergamentblatt mit einer Aufschrift. Aus Urkunden wissen wir, daß ein frommer Bürger aus L'Aquila, Simone di Cocullo, die Ausführung dieses (S. 228) Tympanons im Jahr 1397 testamentarisch bestimmt hat. Im Innern der Kirche finden wir Coelestin auf einem Kreuzigungsfresko aus der Mitte des 15. Jh., das sich in der Apsis hinter dem barocken Chorgestühl befindet. In seiner linken Hand trägt er die Tiara. Im ehemaligen Refektorium des neben S. Maria di Collemaggio liegenden Klostergebäudes der Coelestiner wurde 1930 ein Kreuzigungsfresko vom Ende des 15. Jh. entdeckt. Unter den dargestellten Heiligen erscheint auch Coelestin mit dem Stadtmodell von L'Aquila in der linken Hand, während er in der erhobenen Rechten die abgelegte Tiara hält. Die Einsiedelei S. Onofrio am Morrone wurde im Zweiten Weltkrieg von Deutschen mit 59 Kanonenschüssen belegt. Wie ein Wunder blieb das früher schon erwähnte Papstbildnis aus dem 14. Jh. unverletzt. Bei den notwendig gewordenen Restaurierungen der Einsiedelei kamen 1949 Lünettenfresken zum Vorschein, von denen ein aus dem 15. Jh. stammendes die Halbfigur des Coelestin zeigt. Mit ausgebreiteten Armen neigt er, ähnlich wie die Gestalt Christi am Kreuz, sein Haupt leicht zur linken Seite. Er trägt eine einfache Krone, ist bättig und sein in der Mitte gescheiteltes Haar fällt lang über die Schultern herab. Künstlerisch zeigt das Potträt Einflüsse aus Umbrien und den Marken.
Das Museo Civico von Sulmona verwahtt ein Ölbild vom Ende des 16. Jh. (1,36 x 1,80 m), das zwei Heilige darstellt, von denen der eine Coelestin ist. In der einen Hand hält er ein rotfarbiges Buch, und die andere erhebt er zum Segen. Ein fast unbeachtetes Ölbild des 16. Jh. ist in der Kirche S.Basilio in L'Aquila zu sehen. Dort steht der von einem Strahlenglanz umgebene Coelestin mit ausgebreiteten Armen und in einfachem Mönchsgewand vor einem Tisch, auf dessen Platte die abgelegte Papstkrone mit drei Reifen und ein Buch mit Schließen liegen.
Eine neue Belebung erfährt der Coelestinkult in der Malerei des 18. Jh., und besonders zahlreich sind die Darstellungen in S. Maria di Collemaggio in L'Aquila. Drei Fresken von mittelmäßiger Qualität in der Kapelle des Papstmausoleums zeigen zum einen den großen Verzicht, zum anderen den Papst im Gefängnis, wobei er das Stadtmodell von L'Aquila trägt, und schließlich ist auf dem dritten Fresko an der Vorderseite des Mausoleums der Tod des Papstes dargestellt.
Im Chor der Kirche malte der Deutsche Carl Ruthart sechs und im Langhaus sieben große Ölbilder, die zusammen mit den in L'Aquila noch vorhandenen Entwürfen und weiteren Bildern von seiner Hand künstlerisch und ikonographisch nur ungenügend gewürdigt sind. Bei den letzten Restaurierungen hat man die Gemälde des Langhauses entfernt und sie später in neuer unschöner Rahmung dort wieder angebracht. Der Vater des Künstlers, ein Schneidermeister aus Fütth, war nach Danzig ausgewandert, wo ihm der Sohn geboren wurde. Dessen Vorliebe für die Tiermalerei geht sicherlich auf flämische Einflüsse zurück. 1663/1664 ist Ruthart Mitglied der Antwerpener Malergilde, 1672 tritt er in Rom als Mönch mit dem Namen Andreas in das Coelestinerkloster S. Eusebio ein und scheint bald darauf in die Collemaggio nach L'Aquila übergesiedelt zu sein. 1707 ist der Maler das letzte Mal lebend erwähnt. Die meisten seiner Bilder behandeln das Eremitendasein und die Wunder des hl. Coelestin. Mit Vorliebe malt er den Heiligen in der Wildnis und im Umgang mit Tieren. Die Darstellungen in den Seitenschiffen erreichen die beträchtliche Höhe von 3 m; die Bilder zeigen z.B. wie Coelestin einen Bären zähmt, ein andermal bändigt er einen Büffel, dann erscheint er bei der Errettung einer Frau. Weitere Bilder befinden sich im Hauptchor hinter dem Altar. Auf der rechten Chorwand sieht man ein großes Schlachtenbild (4,00X 3,30 m), auf dem zu sehen ist, wie sich der Tyrann Braccio da Montone 1424 in erbittertem Gefecht der Stadt L'Aquila bemächtigen will. In diesem Kampf, dem schwersten, den die Abbruzzesen nach der Schlacht bei Tagliacozzo erlebten, wobei Braccio in Gefangenschaft geriet und nach wenigen Tagen starb, erscheint rettend der hl. Coelestin. Auf der gegenüberliegenden Seite ist auf einem Bild in gleichgroßem Format die Papstkrönung in der Collemaggio in Gegenwart Karls II. Anjou und seines Hofstaates dargestellt. Nach diesen beiden Historienbildern wendet sich Ruthart in einem kleineren Bildformat wieder dem Einsiedler Coelestin zu. Wir sehen ihn zwischen den Meuchelmördern, unter den Kranken, man erblickt das Wunder mit dem Meßgewand und den Traum des Heiligen. Der Gestalter des Bildprogramms, vielleicht Ruthatt selbst, hat bei der Ausarbeitung der Themen die Werke Coelestins und die Schriften über ihn verwertet. So ist z.B. der Traum seiner Autobiographie entnommen. Coelestin spricht dort von einer wunderbaren Vision. Er sah, als er todmüde in Schlaf gesunken war, so deutlich wie mit wachem Auge eine Schar von Engeln und Heiligen. Sie hielten rote Rosen im Mund, und ihren herrlichen Gesang hörte er noch eine Zeitlang nach seinem Erwachen. Auch die Geschichte vom Meßgewand kannte man schon im 14. Jahrhundett. Das Wunder vollzieht sich in einem Innenraum. Von links treten zwei Mönche an den Heiligen heran, um ihn zur Messe festlich einzukleiden. Eilends kommt von oben ein Engel herabgeflogen mit einem sehr einfachen Gewand aus weißem Leinen in der Hand, das Coelestin bevorzugte. Verwundert schauen im Hintergrund Mönche dem Geschehen zu.
Auch die Franziskanerkirche S. Bernardino in L'Aquila verehrte unseren Heiligen. Auf einem Ölbild des 18. Jh. am rechten vorderen Kuppelpfeiler erscheint er als Dreiviertelfigur in Frontalansicht; er ist mit einem weißen Untergewand und einem reichen Meßornat bekleidet. Auf dem Haupte trägt er die dreiteilige Tiara, in der Rechten hält er ein Buch und in der Linken das Stadtmodell von L'Aquila.
Für die Badia S. Spirito bei Sulmona arbeiteten zwei Künstler, Giovanni Conca und Anton Rafael Mengs. Von Conca stammt das signierte und 1750 datiette Bild des Coelestin, während Mengs den hl. Benedikt malte, der signiert und 1758 datiert ist. Beide Bilder sind heute Schmuckstücke des Museo Civico in Sulmona. Concas großes Gemälde zeigt Coelestin in himmlischen Gefilden über den Wolken kniend mit ausgebreiteten Armen und bekleidet mit einem weißen (S. 229) Hemd und einem prächtigen golddurchwirkten Meßgewand. Rechts neben ihm tragen zwei übereinander angeordnete Engel die Papstkrone mit drei Reifen und die Petrusschlüssel empor. Im unteren Bildteil schauen zwei Coelestinermönche verdutzt zum Heiligen auf. Auf der linken Seite erscheinen Putten und über ihnen schweben Cherubim.
Die neueste Zeit vergaß unseren Heiligen nicht. Im Gewölbe des einschiffigen Domes von L' Aquila zeigen Fresken die Stadtpatrone, die hll. Massimo, Bernhardin von Siena, Coelestin und Equizio, ein Werk der beiden Maler Annibale Brugnoli aus Perugia (1843-1911) und Gennaro Della Monica aus Teramo (1836-1917). Verwandt mit der Gefühlswelt D'Annunzios sind moderne Fresken in der Kathedrale von Sulmona. Auf einem Bild sehen wir den gebeugten auf einen Krückstock gestützten Coelestin, wie er den Sitzungssaal in Neapel verläßt, nachdem er seine Abdankung als Papst verkündet hat, auf dem anderen Bild verrichtet er ein Gebet in der wilden Landschaft des Morrone. Mißverstanden ist ein großes Bild des 20. Jh. in der Banca d'ltalia in Isernia. Zum Zeichen der Demut ritt unser Eremit immer nur auf einem Esel. Aus diesem Vierbeiner ist hier, wie es wohl einer Bank geziemt, ein prächtig aufgezäumter Schimmel geworden. Im Hintergrund erscheint ein zweites Pferd, auf dem König Karl 11. Anjou reitet. Coelestin ist von den Frauen Isernias umringt, von denen eine ihr Kind dem reitenden Papst entgegenstreckt und andere den Saum seines Mantels küssen.
Aus der Coelestinikonographie fällt ein schwer zu datierendes qualitätloses Fresko in der Pfarrkirche S. Celestino in S. Pio delle Camere heraus. Dort bietet eine weißgekleidete Matrone dem Papst feierlich die Tiara an. Mit dieser Frau kann doch nur die Ecclesia, die personifizierte Kirche, gemeint sein.
Später als in Miniatur und Malerei setzen die Darstellungen des Coelestin in der Plastik ein. Die Qualität der Werke ist durchweg mittelmäßig, wie etwa eine Holzstatue des Papstes vom Ende des 15. Jh. im Diözesanmuseum von L' Aquila. Zwei andere Figuren kamen erst in diesem Jahrhundert in das Museo Civico von Sulmona. Die eine ist eine 62 cm hohe Statuette aus dem 15. Jh., die in fast unzugänglichen Höhen am Morrone gefunden wurde, in dem Ortsteil S. Giovanni d'Orfente. Der Hang zur Weltflucht kann bei Coelestin gleichsam in Höhenmaßen abgelesen werden. Von den drei fast übereinanderliegenden Orten, an denen er sich aufhielt, war der berühmteste und meistbesuchte die Badia S. Spirito, in einer Meereshöhe von ca. 430 m, die Einsiedelei S.Onofrio (Tf.169), in der der Eremit seltener aufgesucht wurde, liegt 637 m hoch und S. Giovanni d'Orfente, wo ihn wohl niemand erreichen konnte, ist 1370 m hoch. Von der 1925 entdeckten Statuette gelangte zunächst nur der Kopf mit kleineren Beschädigungen an der Nase nach Sulmona, der Körper und der damit nicht im Verband stehende Sockel wurden erst 1954 nachgeliefert, so daß man die drei Teile wieder vereinigen konnte. Die aus lokalem Stein gearbeitete Figur ist sitzend dargestellt mit der dreiteiligen Tiara auf dem Kopf. In der linken Hand hält sie ein Buch, die rechte fehlt. Der Heilige erscheint würdig und selbstbewußt. Als demütiger Asket zeigt sich Coelestin in einer Reliefbüste des 15. oder 16. Jh. aus lokalem Stein. Sie wurde 1954 auf einem Heuboden bei Pratola Peligna gefunden und ins Museum von Sulmona gebracht. Wegen der Last der hohen Tiara scheint der Kopf des Heiligen zwischen seinen Schultern zu verschwinden. Die qualitätvollste Coelestinstatue kommt aus S. Maria di Collemaggio und ist heute im Nationalmuseum von L' Aquila zu sehen. Die Standfigur aus grauem lokalem Stein dürfte um 1500 in L'Aquila entstanden sein. In der realistischen Behandlung spiegelt sich der Renaissancestil von L' Aquila wider. Das Gewand ist plastisch gebildet, vor allem zeigt das Gesicht mit den auffallend breiten Backenknochen individuelle Züge, die aber sicherlich nicht auf Coelestin zurückgehen, sondern eher das Konterfei eines Zeitgenossen des Künstlers verraten. In seiner massigen und ausdrucksvollen linken Hand hält er das Stadtmodell von L'Aquila, und auf dem Kopf trägt er die Tiara. Wie in der Malerei sind auch in der Bildhauerei Darstellungen des Coelestin aus dem 17. Jahrhundert in unserer Region kaum erhalten. Aus dem folgenden Jahrhundert stammt eine Stuckstatue in der Chiesa della Concezione in L' Aquila, die man dem Umkreis des Agostino Cornacchini aus Pescia (gest. nach 1740) zugewiesen hat. In Isernia war vor der Zerstörung des angeblichen Geburtshauses Coelestins im letzten Weltkrieg an der Hauswand eine Ehrenstatue des 18. Jh. unter einem Baldachin angebracht. Weiterhin kennen wir noch einige ungelenk gearbeitete Holzskulpturen von dem Heiligen in der Pfarrkirche von Preturo, im Chor von S. Basilio in L' Aquila und in der Pfarrkirche von S. Angelo Limosano.
Das Bild des Coelestin ist in den verschiedensten künstlerischen Techniken und Aufgabenbereichen wiedergegeben worden. In S. Giusta in L' Aquila begegnen wir ihm am Chorgestühl des 15. Jh. als Relieffigur. Auf einem Glasfenster des 16. Jh. im Nationalmuseum von L'Aquila trägt der Papst das Stadtmodell. Kopf und Krone wurden neuerdings ergänzt. Ebendort wird das Stadtbanner vom Ende des 16. Jh. gezeigt mit dem Abbild Coelestins und dem Stadt modell. In den Statuten der Wollweberzunft von 1544 in L' Aquila erblickt man auf der ersten Seite den griesgrämig anmutenden, thronenden Papst mit der Tiara; der Kodex befindet sich in der Biblioteca Provinciale von L' Aquila und zeigt den Niedergang der Illustrationskunst in dieser Stadt.
Eine der frühesten Darstellungen des Papstes ist aus dem Jahr nach seiner Heiligsprechung erhalten. Auf der 1314 datierten Glocke in der Badia S. Spirito ist er in Reliefform im Mönchsgewand mit Heiligenschein abgebildet. In seiner rechten Hand hält er den Märtyrerzweig. Durch Münzprägungen von Sulmona und L' Aquila zu Zeiten der letzten Anjoukönige, Karil II. von Durazzo (1381-1386), König Ladislaus (1386-1414) und Johanna II. (1414-1435) wird das Coelestinbildnis im ganzen Königreich Neapel bekannt. Im 19. und 20. Jh. entstehen Coelestinmedaillen. Eine erschien zu Ehren seines 600jährigen Krönungstages am 29. August 1894 in L'Aquila. Anläßlich des 600jährigen Todestages (S. 230) brachte die um die Papsterinnerung bemühte Stadt Isernia eine Medaille in zweifacher Anfertigung heraus. Zur 700-Jahrfeier der Gründung der Diözese L'Aquila im Jahre 1956 schuf der dort ansässige Goldschmied Giuseppe Cardilli eine Erinnerungsmedaille mit den Darstellungen von S. Maria di Collemaggio, Coelestin und Johannes von Capestrano.
Franziskaner
Das schnelle Anwachsen und die Ausbreitung der Franziskanerbewegung stellte höchste Anforderungen an die Organisation des Ordens. Schon zu Lebzeiten des Franz von Assisi unterhielt die Kongregation drei Zweige. Die eigentliche Minoritengemeinschaft wurde 1223 bestätigt. Zuvor, im Jahre 1212, gründete die hl. Klara eine weibliche Abteilung, die in unserer Landschaft nicht besonders wirksam wurde. Das erste Klarissinnenkloster im Molise, S. Chiara in Isernia, entstand erst 1273, und aus dem Jahre 1279 ist eine Kirche der Franziskanerinnen in Agnone überliefert. 1221 stiftete der hl. Franz den »Dritten Orden«, die Tertiarier oder Tertiarierinnen, der für Weltliche eingerichtet wurde, die durch Alter und besondere Verhältnisse nicht den bei den ersten Gründungen beitreten konnten. Die Franziskaner lebten von Almosen und hatten das Recht, überall zu predigen und die Beichte abzunehmen, ohne die Erlaubnis der jeweiligen Pfarrei einholen zu müssen. Sie waren nicht der bischöflichen Gerichtsbarkeit unterworfen sondern dem Ordensgeneral, der direkt dem Papst unterstellt war.
Die Zunahme der Franziskanerniederlassungen machte die Aufteilung in Ordensprovinzen notwendig. Abruzzen und Molise gehörten anfänglich zur Provinz Terra di LaVOTO. Aber schon 1239 wurden die Abruzzen von dieser südlichen Landschaft abgetrennt und für sie die Franziskanerprovinz Penne geschaffen. Diese hieß seit dem Jahr 1457 auf Grund der Verdienste, die sich der hl. Bernhardin von Siena in den Abruzzen erworben hatte, Provinz des hl. Bernhardin. Die Abfolge der Ordensgründungen war sehr dicht. Noch zu Lebzeiten des Franz von Assisi entstanden sieben Niederlassungen, die älteste in Penne selbst, ein Ort, zu dem der Ordensgründer ganz persönliche Beziehungen unterhielt, dann folgten Klöster in Isola di Gran Sasso, in Montorio al Vomano, Guardiagrele, Palena, Castelvecchio Subequo und in Celano. Die Klostergründungen nahmen so rasch zu, daß auf dem Generalkapitel von Narbonne 1260 beschlossen wurde, die Provinzen in sog. Kustodien zu unterteilen. Die Provinz Penne wurde in sechs Kustodien gegliedert, L'Aquila, Penne, Chieti, Atri, Teramo und das Marserland.
Die Zugehörigkeit der einzelnen Klöster zu den Kustodien war im Jahre 1400 folgendermaßen aufgefächert. Der Kustodie von L'Aquila unterstanden sechs Konvente. Dazu gehören S. Francesco in Fontecchio, S. Giacomo Apostolo in Ofena und S. Francesco in Popoli, deren Gründungsdaten nicht überliefert sind. Das älteste Kloster in dieser Kustodie ist S. Francesco in Castelvecchio Subequo von 1216. Der Franziskanerkonvent in L'Aquila bestand seit 1254 und der in Sulmona seit 1267.
Die Kustodie von Penne umfaßte mindestens sieben Klöster, S. Francesco in Penne selbst, gegründet 1216, S. Lorenzo in Manoppello von 1300 und S.Francesco in Tocco da Casauria von 1317. Die Gründungsdaten von S. Franceso in Catignano, S. Ludovico in Alanno, S. Francesco in Loreto Aprutino und S. Antonio Abate in Cellino Attanasio, das 1345 erwähnt wird, sind unbekannt.
Der Kustodie von Chieti waren acht Konvente unterstellt. Die beiden ältesten in Palena und Guardiagrele gehen auf das Jahr 1216 zurück. 1239 erfolgte die Gründung von SS. Lorenzo e Francesco in Chieti, 1291 diejenige von S. Francesco in Bucchianico. S. Francesco in Lanciano wird in einer Urkunde von 1252 genannt, und die Entstehung der Niederlassungen von S. Francesco in Ortona, S. Lorenzo in Pescara und S. Francesco in Francavilla kennen wir nicht.
Der älteste Konvent der Kustodie von Atri ist SS. Annunziata in Isola di Gran Sasso vom Jahre 1216. Das Franziskanerkloster in Citta S. Angelo wird 1327 genannt, und S. Francesco in Atri existierte seit 1325. Nicht überliefert sind die Gründungsdaten der Konvente in Silvi und in Montesilvano.
Die frühesten Sitze in der Kustodie Teramo sind S. Giusta in Montorio al Vomano von 1216 und der Konvent von S. Francesco in Teramo, vielleicht ebenfalls 1216 gegründet. Das Kloster S. Francesco in Campli existiert seit 1306. Nicht festzustellen sind die Anfänge von S. Antonio Abate in S.Omero, von S. Francesco in Civitella del Tronto, von S. Antonio Abate in Morro d'Oro und von S. Francesco in Controguerra.
In der Kustodie des Marserlandes stammt S. Francesco in Celano noch aus der Lebenszeit des Ordensgründers, 1233 entstand S. Francesco in Tagliacozzo. 1310 übernahmen Franziskaner das berühmte Benediktinerkloster S. Pietro in Alba Fucense. Seit 1347 besteht S. Francesco in Pescina und seit 1363 .S.Francesco in Avezzano. Unbekannt sind die Gründungsdaten von S. Francesco in Corvara und von S. Francesco in Balsorano.
Mit Ausnahme der Frühzeit des Ordens, als der hl. Franz selbst im Molise und in den Abruzzen auftritt und Thomas von Celano seine erste Biographie verfaßt, spielt die Minoritenbewegung in den ersten beiden Jahrhunderten ihres Bestehens in unserer Region im Verhältnis zu anderen Franziskanerprovinzen keine außergewöhnliche Rolle. Wohl existieren viele Klöster, jedoch werden sie geschichtlich nicht besonders wirksam. Von erhaltenen Bauten wissen wir erst seit dem Ende des 13. Jahrhunderts. Es gab eine Anzahl von frommen Mönchen, die sogar seliggesprochen wurden, aber wir wissen nicht viel von ihren Taten und kennen kaum mehr als ihre Namen. Lokaltraditionen erinnern den sel. Francesco aus S. Omero, der in der Franziskanerkirche von Teramo sein Grab erhielt, den Andrea von Atri (gest. 1270), den sel. Migliorato aus der Stadt Penne (gest. 1270) oder den sel. Benedetto l'Idropico, gestorben 1270 in Bucchianico.
Der Franziskanerorden war schon seit seiner Gründung auf Dissonanzen angelegt. Die schnelle Ausbreitung hatte (S. 231) ganz natürlich eine Milderung der anfänglich strengen Regel zufolge, und der Kampf um eine striktere oder behutsamere Auslegung, besonders des Armutsgelübdes, zog sich durch viele Jahrhunderte hin. Bereits zu Lebzeiten des Stifters hatte der Generalvikar des Ordens, Elias von Cortona, 1224 versucht, die Armutsregel zu lockern. Diese Gegensätze wurden im Lauf der Zeit immer größer. Es ist für die Abruzzen höchst charakteristisch, daß sie solche Reformideen aufnahmen, die auf Erhaltung der strengen Regel hielten, auf Armut, Entsagung und Einfachheit des Lebens, Formen, die der Anspruchslosigkeit der Bewohner des Landes angemessen waren, wie als großes Beispiel der hl. Coelestin gezeigt hatte. Die Abruzzen wurden im 15. Jh. zum Zentrum der strengen Richtung des Franziskanerordens, der Observanten, die im Gegensatz zur gemäßigten Richtung, den Konventualen; standen. Die Aktivitäten, die in unserem Bergland stattfanden, sind nicht allein eine Angelegenheit der Abruzzesen selbst gewesen. Mit ihnen versammelten sich hier, aus der Toskana, aus Umbrien und den Marken kommend, die größten Geister, die dem italienischen Franziskanerorden zur Verfügung standen. Die Abruzzen waren nicht mehr wie in früheren Jahrhunderten sich selbst überlassen. Vom Süden drückten die dauernde Macht und Ausbeute der Fremddynastien, vom Norden empfingen sie friedliche und spirituelle Einwirkungen.
Der Bruch zwischen Observanten und Konventualen wurde 1415 auf dem Konzil von Konstanz sanktioniert. Dort erlaubte man den Observanten, ihren eigenen Provinzialvikar zu wählen. Trotzdem blieb ein gewisser Zusammenhang mit den Konventualen noch bis zum Jahre 1517 bestehen. Die in Konstanz erlangte Selbständigkeit hatte direkte Einflüsse auf die Abruzzen, wo im 15. Jh. die große Zeit der Observanten war. Unter ihnen kann man deutlich drei Generationen unterscheiden, eine erste wirkte bis etwa 1420, die zweite und bedeutendste bis 1479 und eine dritte bis 1504. Der gewichtigste Vertreter der ältesten Generation ist Giovanni aus Stroncone (gest. 1418), einem kleinen Ort in der Provinz Terni. Er ist der erste Generalvikar der Observanten in den Abruzzen und gründete S. Giuliano bei L'Aquila, das wirkungsreichste Observantenkloster in den Abruzzen. Giovanni brachte einige Erfahrungen aus Umbrien mit, wo er den 1390 verstorbenen Paulus Trinci aus Foligno kennengelernt hatte, der in dieser Gegend zwölf reformierte Franziskanerniederlassungen verwaltete. Ebenso wie Stroncone wurde der berühmte Redner und Wanderprediger Domenico aus Genua durch Ordensgründungen in den Abruzzen bekannt. Dieser Observant, der bald nach 1420 gestorben sein muß, wurde in S. Andrea in Chieti begraben, eine Kirche, die er selbst gegründet hatte.
Dieser bedachtsamen und ruhigen Generation folgte eine dynamische, die die Blütezeit der Observanten heraufführte und repräsentiert wird durch Bernhardin von Siena (gest. 1444), Johannes von Capestrano (gest. 1456), Giacomo della Marca (gest. 1476) und Marcus Fantuzzi aus Bologna (gest. 1479).
Bernhardin stammt aus der alten adeligen Familie der AIbiceschi und kam 1380 in Massa Carrara zur Welt. Während der Pest von 1400 in Siena betätigte er sich als Krankenpfleger und trat 1402. in den Franziskanerorden ein, wo er bald die Partei der Observanten ergriff. Diese zeichneten sich als Wanderprediger aus, deren kunstvolle Eloquenz außerordentlich enrwickelt war. Die lateinische Sprache wurde durch die italienische abgelöst und somit ein engerer Kontakt zum Volke hergestellt. Die Prediger zeichneten sich durch eine geschliffene Aussprache aus und begleiteten ihre Reden mit mimischen Kunstfertigkeiten. Der Zulauf zu derartigen Predigten gegen den Luxus, gegen Kriege und für die Armut war unerhört und ging in die Tausende. In Ober-und Mittelitalien fehlt kaum ein größerer On, an dem Bernhardin nicht das Volk begeistert und aufgerüttelt hätte, obwohl sich seine Ansprachen manchmal drei bis vier Stunden hinziehen konnten. 1424 zeigt er in Volterra zum Schluß seiner Predigt zum erstenmal eine von ihm selbst gemalte Tafel mit den Buchstaben JHS als Abkürzung für Jesus oder»Jesus hominum Salvator«, denn der Inhalt seiner Ausführungen bezog sich durchweg auf sein Vorbild Jesus. Diese Jesusstandarte, die zum Abzeichen Bernhardins wurde, war zu seiner Zeit heftig umstritten, begegnet aber in der Kunst immer wieder. Das Kürzel JHS erscheint inmitten einer Sonnenscheibe, von deren Rand zwölf gewellte Strahlen ausgehen. Dieses Signum bezieht sich auf die Worte Christi »Ich bin das Licht der Welt«. Bernhardin besuchte L'Aquila bereits 1438 und predigte auf dem großen Platz vor S. Maria di Collemaggio. Sechs Jahre später erscheint er von neuem in der Stadt. Bereits vom Tode gezeichnet, schleppt er sich von Perugia kommend über Cittaducale nach L'Aquila und stirbt dort am 20. Mai 1444.
Die Zuwendung zu den Observanten und die ihnen beiden gemeinsame Redegewalt waren die Grundlage der wahrscheinlich seit 1424 bestehenden Freundschaft zwischen Bernhardin und seinem abruzzesischen Gesinnungsgenossen Johannes von Capestrano. Dieser war ein Bewunderer und Förderer der Sache Bernhardins weit über dessen Tod hinaus. Die Todesnachricht erhielt er in Sizilien, worauf er seine Tätigkeit dort abbrach und nach L' Aquila eilte, wo er in der ersten Junihälfte eintraf. Der zweite große Freund und Verehrer Bernhardins war der ebenfalls in den Abruzzen wirksame Giacomo della Marca. Mitten in seiner Predigt in Todi hört er vom Tode Bernhardins, bricht seine Rede ab und begibt sich unverzüglich nach L' Aquila. Dem Capestrano wurde die Leitung des Kanonisierungsprozesses seines Freundes übertragen, und es ist sein Verdienst, daß Bernhardin im Jubiläumsjahr 1450 heiliggesprochen wurde. Bernhardin eröffnet die neue Reihe der Franziskanerheiligen, nachdem im 14. Jh. und in der ersten Hälfte des 15. Jh. keinem Franziskaner diese Auszeichnung zuteil wurde. Zu Heiligen wurden nach Bernhardin die Freunde Giacomo della Marca und Johannes Capestrano. 1472. wurden die Gebeine Bernhardins in L' Aquila aus der bescheidenen Franziskanerkirche in das neue Gotteshaus, das ihm geweiht wurde, übertragen. über 40000 Personen, die aus ganz Italien kamen, nahmen an dieser Translation teil. Dazu gehörte (S. 232) auch Katharina, Tochter Stephans V., des letzten Königs von Bosnien. Ein Augenzeuge berichtet: »Am 17. Mai ritt die Königin Katharina von Bosnien mit zwanzig Pferden ein, und es waren fünf Hofdamen mit ihr, und jeweils zwei Schildknappen an den Steigbügeln. Deren Haare hingen bis zu den Schultern herunter und waren blond wie Goldfäden. Und die Königin war schwarz gekleidet, weil der Türke ihren Gatten umgebracht hatte.«
Die Vorarbeiten zur Kirche S. Bernardino verdanken wir den fleißigen Taten Capestranos und des Giacomo della Marca. So ist S. Bernardino die schönste Renaissancekirche L'Aquilas, zunächst ein Denkmals des hl. Bernhardin, darüber hinaus ein Monument der Freundschaft und der größte zu Stein gewordene Ausdruck der franziskanischen Reformbewegung in unserer Landschaft. Es ist zu bedauern, daß die großartige, realistisch geformte Wachsmaske des Bernhardin im Diözesanmuseum von L'Aquila keine würdigere Aufstellung gefunden hat.
In den Kreis unserer großen Observantenprediger ist noch Marcus Fantuzzi aus Bologna (1409-1479) einzubeziehen. Im Jahr der Heiligsprechung Bernhardins predigte er 1450 in L'Aquila. Zwei Jahre später wurde er dort zum Generalvikar der Observanten ernannt, ein Amt, in welchem er nochmals 1464 und 1469 entsprechend der Ordensverfassung auf jeweils drei Jahre bestätigt wurde. Er predigte in Italien und gehört zu den Franziskanern, die auch im Ausland berühmt wurden. 1463 führte ihn eine Pilgerreise nach Palästina, und den Spuren des Capestrano folgend predigte er in Österreich, Deutschland, Polen und Rußland.
In der jüngeren Generation der Observanten treten in unserer Region gebürtige Abruzzesen in den Vordergrund. Der bedeutendste unter ihnen ist Bernhardin von Fossa (1420 bis 1503). Wie Bernhardin von Siena und Johannes von Capestrano stammte er aus vornehmer Familie. Er begann seine Studien in L' Aquila und vervollkommnete sie in Perugia. Sein Beitritt zu den Observanten in S. Giuliano bei L' Aquila erfolgte auf Anregung des Giacomo della Marca. Er bekleidete dreimal das Amt eines Provinzial vikars, predigte in vielen Städten Italiens, darüber hinaus in Dalmatien und in Ungarn. Das Grab des im Alter von 83 Jahren Verstorbenen befindet sich in S. Giuliano; Bernhardin von Fossa wurde erst im Jahre 1828 seliggesprochen. Die übrigen abruzzesischen Seligen der Observanten haben nur lokale Bedeutung, wie Vincenzo, der etwa 1430 in L'Aquila geboren wurde und um das Jahr 1444 in das Kloster von S. Giuliano eintrat. Dort wird seine kostbar ausgestattete Begräbnisstelle noch heute verehrt. Auch er wurde spät seliggesprochen, und zwar erst 1787. Im Observantenkloster von S. Angelo d'Ocre starb 1504 der sel. Timoteo aus Monticchio. Im Franziskanerkloster S. Nicola (heute S. Antonio) in Sulmona lebte als Mönch und Theologe der sel. Antonio von Sulmona (ca. 1440-1531).
Im 15. und 16. Jh. haben die Observanten in den Abruzzen, und teilweise auch im Molise, eine Vielzahl von Niederlassungen gegründet. Bis zum Jahre 1589 verwalteten sie mindestens 36 Konvente und Hospize. Ihr Zentrum lag in L' Aquila und in der nächsten Umgebung mit vier Stiftungen. Im allgemeinen zogen die Observanten kleinere Ortschaften den Städten vor. Promotor der jungen Gemeinschaft war Johannes Capestrano, der seine Heimat mit den Reformen des Franziskanerordens völlig durchtränkte. Er predigte in vielen Orten unseres Berglandes, und man schreibt ihm die Gründung von 13 Konventen zu. Seine Freunde und Verehrer, Giovanni aus Stroncone, Domenico aus Genua, Bernhardin von Siena und Giacomo della Marca unterstützten ihn bei seinen Gründungen. Dabei braucht es sich nicht immer um Neubauten gehandelt zu haben. Wir kennen etliche Fälle, wo die Observanten vorhandene Klöster anderer Orden übernahmen, die nicht mehr lebensfähig waren.
Das erste Observantenkloster in den Abruzzen gründete Giovanni aus Stroncone 1415 in S. Giuliano bei L'Aquila, von wo aus die ganze Reformbewegung in unserer Provinz gesteuert wurde. 14P fand hier eine Versammlung aller italienischer Observanten statt, an der 1500 Franziskaner teilnahmen. Das Kloster ist im Lauf der Zeit häufig umgebaut worden. Der einschiffige Barockraum enthält noch viele Ausstattungsstücke, die aus der großen Zeit der Observanten stammen. Gezeigt werden z. B. die Jesusstandarte, deren sich der hl. Bernhardin von Siena bei seiner Predigt in L' Aquila bediente, sowie das Holzkruzifix des 15. Jh. und das Schwert, womit Capestrano in der Schlacht bei Belgrad gegen die Türken vorging. Der 1421 von Stroncone gegründete Konvent S. Giovanni Battista in Roccamontepiano in der Diözese Chieti existierte bis zur Ordensauflösung im Jahre 1866. Auf Stroncone geht auch die Gründung von S. Giovanni dei Gelsi zurück, eine über einer Einsiedelei gebaute Kirche am Stadtrand von Campobasso, die 1845 bis 1853 vergrößert wurde.
Domenico aus Genua, Freund des Stroncone, errichtete 1420 den 1866 aufgelösten Observantenkonvent in S. Andrea in Chieti und im selben Jahr das Kloster S. Cristoforo in Penne, das sich an dem Ort seiner Gründung nur 80 Jahre hielt. Man verließ es wegen der schlechten Luft und baute einen anderen Konvent vor der Stadt auf einem bewaldeten Hügel, S. Maria in Colleromano, wo sich noch heute eine Statue des hl. Bernhardin befindet.
Die erste Observantengründung des Capestrano erfolgte 1430 in Lanciano. Dort war er schon früher als Friedensstifter zwischen den beiden verfeindeten Städten Lanciano und Ortona tätig gewesen. Die Vertreter der dankbaren Stadt errichteten ihm vor den Mauern ein Kloster unter dem Namen S. Angelo della Pace. Im Jahre 1434 predigte Capestrano in Agnone. Nach einer Inschrift in der Sakristei von S. Croce ist die Gründung dieser Kirche 1434 von ihm veranlaßt worden. Gleichzeitig entstand in S. Croce eine Bruderschaft vornehmer Bürger unter dem Namen »Confraternita dei Morti«. Wahrscheinlich geht auch das Hospital von S. Croce auf Capesrrano zurück. Auf seine und auf des hl. Bernhardins Anregung soll in Agnone auch die Kirche S.Maria degli Angioli entstanden sein, die 1451 zu Ehren des hl. Bernhardin umgeweiht wurde. Eine zweite Friedenskirche S. Angelo della Pace, oder auch S. Francesco genannt, (S. 233) stiftete Capestrano 1440 in Ortona. Ähnlich wie in Penne verließ man den Platz des schlechten Klimas wegen am 28. Januar 1508 und siedelte nach S.Maria delle Grazie über, einstmals im Besitz der Augustiner. Mit seinen Bemühungen um den Frieden in den Städten erwarb Capestrano auch die Gunst der Bürger von Sulmona. Sie überließen ihm den von ihnen 1443 gebauten Konvent S.Nicola di Bari. Eine Stiftung, auf die Capestrano viel Sorgfalt und Liebe verwandte, war das Klarissinnenkloster S. Chi ara in L'Aquila. Die erste Äbtissin, Antonia von Florenz (gest. 1472), wurde von Pius IX. (1846-1878) seliggesprochen. 1448 gründete Johannes den Convento dell'Annunciata di Poggio, auch Ritiro genannt, außerhalb des Ortes Orsogna und noch im selben Jahr den Franziskanerkonvent in Caramanico, der 1706 durch Erdbeben zerstört und dann von den Bürgern der Stadt wiederaufgebaut wurde. Am 25· Juli 1449 unterzeichnet Johannes in Ofena einen Arbeitsvertrag für den Bau des berühmten und noch erhaltenen Observantenkonvents in seinem Heimatort Capestrano. In dasselbe Jahr fällt die Gründung der Observanz von Campli, die man später dem Bernhardin von Siena weihte. Im Konvent zeigt man noch den Reisemantel Capestranos und die Zelle, in der er wohnte. Eine seiner letzten Schöpfungen war das Hospital S. Salvarore in L' Aquila (heute Scuola Elementare E. De Amicis) vom Jahre 1455. Aus der ersten Bauzeit ist das datierte Eingangsportal von 1457 erhalten sowie weitere Türen im Atrium und im Hof. Es wird überliefert, die ganze Bürgerschaft habe am Bau mitgearbeitet, und man habe Capestrano immer wieder gesehen, wie er auf seinen Schultern Erde und Kalk herbeischleppte. Verhandlungen über einen Observantenkonvent in Celano wurden sicherlich schon 1455 von Capestrano mit dem Grafen von Celano geführt. Die Vorbereitungen zur dortigen Gründung von S.Maria di Valverde müssen sich jedoch hingezogen haben. Das Baugelände wurde erst 1503 erworben, die Fundamentarbeiten begannen 1505, und das Portal ist im Architrav Is08 datiert.
Der rührige Mitarbeiter Capestranos, Giacomo della Marca, studierte wie dieser die Jurisprudenz in Perugia und trat 1416 den Observanten bei. Er gründete 1448 den Observantenkonvent S. Maria delle Grazie in Teramo. Der Bau existierte schon im 12. Jh. und wurde einst von Benediktinerinnen bewohnt und hieß S. Angelo delle Donne. Giacomo vergrößerte die Kirche, die im 19. und 20. Jh. radikal umgebaut wurde. Wegen der vielen Verpflichtungen, die den Capestrano weitweg von L' Aquila führten, überließ er den Neubau von S. Bernardino in L' Aquila seinem Freund Giacorno della Marca. Die Bauarbeiten begannen 1454. In der dortigen Kapelle S. Giacomo della Marca weist heute noch ein Ölbild des Gerolamo Cenatiempo von 1713 auf den Initiator des Baus hin. Giacomo erhält von einem auf ihn zufliegenden Engel die Architekturzeichnung, nach der er den Bau ausführen soll. Hinter ihm ist Bruder Venanzio aus Fabriano sichtbar, Wegbegleiter des Giacomo von 1463 bis 1476 und sein Biograph. Die Madonna beobachtet vom Himmel wohlgefällig das Geschehen.
Von allen übrigen Observantenklöstern sind die Gründer unbekannt. Es entstanden 1430 der Konvent S. Maria del Gesu in Francavilla a Mare, 1445 außerhalb der Stadt Atri das Kloster S. Leonardo, 1460 S. Nicola bei Arischia, im selben Jahr, oder nach anderen Quellen 1472, der Konvent S. Bernardino in Citta S. Angelo, 1466 S. Maria dei Lumi bei Civitella del Tronto, 1470 S. Maria dei Paradiso bei Tocco da Casauria, eine Gründung der Gemeinde. 1480 übernahmen Observanten den alten Konvent der Benediktinerinnen in S. Angelo d'Ocre. 1500 gründete man den Konvent S. Maria della Pied in Loreto Aprutino, 1501 S. Maria della Cona in Tossiccia, 1535 S. Maria della Pieta in Ripa Teatina, 1537 S.Antonio da Padova am Fuße des Monte Coccia bei Palena, 1568 S. Maria degli Angeli bei Montorio al Vomano, 1577 S.Chiara bei Bucchianico, 1580 S.Maria del Crognale in Propezzano, 1580 S. Antonio Abate in Atri, 1583 Santi Sette Fratelli in Mosciano S.Angelo, 1589 SS. Concezione 0 dell'Immacolata in Pacentro.
In einer Bulle von 1517 vollzog Leo X. die Trennung von Observanten und Konventualen. Der strengere Zweig bildete nunmehr in unserem Bergland eine eigene Provinz und nannte sich »Minori Osservanti di S. Bernardino negli Abruzzi«. Auf der Provinzial versammlung von 1518 wurde der Anordnung des Papstes gefolgt und für die Observanten eine eigene Ordensregel aufgestellt. Innerhalb der Observanten gab es 1592 eine neue Spaltung. Wieder einmal entstand eine strengere Richtung mit eigener Hierarchie, und diese neue Gruppe der reformierten Observanten bezeichnete sich als die Reformaten. Unter ihre Obhut gelangten viele Klöster der Observanten, z.B. 1592 S. Giuliano bei L' Aquila, 1593 S. Angelo d'Ocre und 1596 S. Maria Valverde in Celano und S. Nicola in Sulmona, 1597 S. Maria della Pieta in Lorero Aprutino, 1606 S. Francesco in Capestrano, 1627 S. Bernardino in Citta S. Angelo und S. Maria in Colleromann bei Penne. Zu neuen Gründungen der Reformaten gehören die Konvente S. Martino in Magliano de' Marsi 1608, S. Onofrio in Raiano 1611 und der Konvent Gesu in Pescocostanzo ebenfalls von 1611.
Am 7. Juli 1866 beschloß der junge italienische Staat die Auflösung sämtlicher Mönchsorden in Italien. Die Vertreibung der Mönche und die Besitzergreifung des Ordensgutes mußte innerhalb von sechs Monaten geschehen. Damit erlosch vorläufig die Franziskanerbewegung in den Abruzzen. Die Spaltung von Observanten und Konventualen innerhalb der gesamten Bewegung dauerte bis 1897, als die .Einheit wiederhergestellt wurde.
Die großartigste Persönlichkeit der abruzzesischen Franziskanerbewegung ist Johannes von Capestrano. Er und der hl. Coelestin sind die profiliertesten Gestalten in der abruzzesischen Kirchengeschichte des späteren Mittelalters. Obwohl beide mit ihrer Heimat innig verwachsen waren, gibt es keine größeren Gegensätze als diese beiden Heiligen. Weltflucht und das Ausweichen vor der Vita activa auf der einen Seite, und auf der anderen Seite ein Mensch, der sich allen Aktivitäten, die ein Leben nur bieten kann, völlig hingibt, beseelt von reformatorischen Ideen, deren Ausführung (S. 234) er mit allen Mitteln sucht. So war Capestrano ein Streiter im Geist und in weltlichen Angelegenheiten, Mönch und Soldat, der beste Vertreter des »miles christianus«. Er war enger Freund aller Päpste, die während seiner Mannesjahre amtierten, Freund des Kaisers, der Könige, Fürsten und Landesherren, Freund der großen Geister seiner Zeit. Er wurde 1386 in Capestrano geboren, in dem Ort, wo schon ein anderer Streiter zu Hause war, der »Krieger von Capestrano«. Auch der Vater des Johannes war ein Kriegsmann gewesen. Er diente im Heere Ludwigs I. Anjou (1339-1384), der, von Clemens VII. in A vignon 1381 zum König von Neapel gekrönt, vergeblich den Gegenkönig Karl 111. von Durazzo im Königreich Neapel bekämpfte. Nach dem Zusammenbruch der französischen Streitmacht suchte der Vater sein Glück als Landedelmann und ließ sich in den Abruzzen nieder. Sicherlich stammte er aus dem Gebiet nördlich der Alpen. Manche Forscher halten ihn für einen Franzosen, andere für einen Deutschen. In seinem Elternhaus hat der junge Johannes kein deutsch gesprochen. Bei seinem Aufenthalt in Deutschland bediente er sich immer der Dolmetscher, und er wurde auf seinen Wanderpredigten oft wegen seiner südländischen Gestikulation und Mimik verhöhnt. Zunächst wandte sich Johannes dem weltlichen Leben zu. Seine erste Ausbildung erhielt er in Capestrano, und um 1400 sehen wir ihn als Studenten der Jurisprudenz in Perugia. Da er der Welt noch nicht entsagt harte, ehelichte er eine Dame aus dem Hause der Grafen von S. Valentino in Abruzzo Citeriore. Nach Abschluß seines Studiums war er im königlichen Gerichtsdienst in Neapel beschäftigt. Als Kenner juristischer Detailfragen fungierte er häufig als Schiedsrichter bei Streitigkeiten zwischen Familien und zwischen Städten. So wirkt er ausgleichend und Frieden stiftend in Lanciano, Ortona und Sulmona, in Orten, wo später die Gründung seiner Observantenniederlassungen begünstigt wurde. 14 1 5 trat er in Perugia in den Franziskanerorden ein. Nachdem sich Capestrano vergeblich für die Wiedervereinigung von Konventualen und Observanten ausgesprochen hatte, widmete er sich schließlich völlig den Reformideen der Observanz. Dazu gehört das Predigen, wobei er sich zunächst auf Italien beschränkte. Er verkündigt das Wort Gottes in der Lombardei und in Venetien und dringt mit seinen zündenden Reden nach Süditalien vor, nach Apulien, Kalabrien und Sizilien. Darüber hinaus erweist er sich als gründlicher Kenner der Abruzzen, er weilt z. B. in Agnone, in Castel di Sangro und in der zweiten Hälfte des Jahres 1446 und Anfang 1447 in seiner Lieblingsstadt L'Aquila. Inzwischen erfolgten auch die ersten Auslandsreisen. 1439 besuchte er Palästina. Eine entscheidende Wendung erhielt sein Leben durch die Bekanntschaft mit Enea Silvio Piccolomini, damals noch Berater Kaiser Friedrichs III., später als Papst Pius 11. (1458'1464) weltberühmt. Capestranos Ruhm als Prediger war an den kaiserlichen Hof in Wien gedrungen, wohin er von Piccolomini berufen wurde. Seine Wanderjahre führen ihn nach Burgund, nach Flandern und 1443 in die Niederlande. In Wien war er geehrt und gefeiert, ebenso z. B. in Regensburg, Freiberg in Sachsen, Chemnitz, Meißen, Nürnberg, Bamberg, Erfurt, Halle, Leipzig und Breslau. Schwerpunkte seiner Predigten bildeten die Kampfansage an die Hussiten und die Türken. So predigte er in Mähren und in Polen. Sein Denkmal setzte er sich selbst als Sieger über die Türken in der Schlacht bei Belgrad. Hier zeigte er sich nicht nur als Prediger, der den Christen Zuspruch gegen die Ungläubigen gab, sondern auch als Anführer im Kampf. Die militärische Situation war höchst kritisch und ungünstig. Der ungarische König als Befehlshaber der christlichen Armee hatte schon alle Chancen für einen Sieg aufgegeben. Daß dennoch die Schlacht gewonnen wurde, ist allein dem Einsatz des Capestrano zu verdanken, der mit einem militärisch nicht ausgebildeten Haufen von Christen am 22. Juli 1456 sehr klug die Entscheidung zu seinen Gunsten erzwang. Dieser Zenit seines Lebens war nur von kurzer Dauer. Nach dem Sieg kam eine Seuche über das christliche Heer, von der auch Capesrrano angesteckt wurde. Krank zog er sich in das unweit gelegene Observantenkloster Ilok zurück und starb dort am 23. Oktober 1456.
Der zum Europäer gewordene Abruzzese Capestrano hat auch in fremden Ländern seine Heimat nicht vergessen. Seine Erinnerungen und seine Freundschaften, die ihn mit dieser verbinden, verstärken sich an seinem Lebensende wohl in der Ahnung, daß er seine Abruzzen nicht wiedersehen sollte. Sein sprühendes Temperament kommt in einem Brief vom 12. Mai 1454 an die Stadtväter von L' Aquila zum Ausdruck. Mit ungeheurer Tatkraft hatte Johannes die Kanonisierung seines Freundes Bernhardin betrieben. Die Verehrung des Heiligen sollte in L'Aquila möglichst bald durch einen monumentalen Bau zu dessen Ehren zum Ausdruck kommen, um der Konkurrenz der Stadt Siena zu begegnen, die die Gebeine des Bernhardin zu gern in ihren eigenen Mauern beherbergt hätte. Mit einem Neubau aber zeigte die Stadt L'Aquila keine Eile. Die Derbheit des Briefes ist unglaublich. Um seine Erregtheit über die Handlungsunfähigkeit der Aquilaner am besten zum Ausdruck zu bringen, bedient er sich der italienischen Sprache, was er in Briefen nur selten tut. Er empfindet es als Schande, daß man den guten Bernhardin nur in einer Kapelle in S. Francesco auf billige Weise beigesetzt hat. Er stellt der Lässigkeit der Bürger seine eigenen Leistungen und die Betriebsamkeit anderer Städte gegenüber. Er selbst habe vierzehn Klöster gegründet und davon acht dem Bernhardin geweiht. Verona besäße einen der schönsten Bernhardinkonvente, und Padua habe ohne weiteres zu zwei bereits vorhandenen Franziskanerklöstern noch ein drittes zu Ehren seines Freundes gebaut. Dagegen begnügten sich die Aquilaner mit einer Kapelle. Die Bürger sollten sich schämen, und der Beschluß, sich nur mit einer Kapelle zufrieden zu geben, stinke durch ganz Italien. Alle Wasser des Po und der Donau könnten diesen Makel nicht reinigen. Capestrano drohte mit der Strafe Gottes: »Eure Stadt ist groß geworden durch Bernhardin. Ihr tut also gut daran, Gott nicht herauszufordern, daß er durch neue Heimsuchungen eure Gesichter wieder abmagern lasse« (übersetzung nach Hofer). Er weist auf den Vorteil der Stadt hin und stellt urbanistische überlegungen an, daß (S. 235) der Schmuck einer Stadt nicht zuletzt auf dem Bau von schönen Klöstern und Kirchen beruhe. Das Schreiben Capestranos hatte gezündet. Der Brief wurde in der Stadt öffentlich vorgelesen. Am 28. Juli 1454 beginnen die Arbeiten am Neubau von S. Bernardino. Der Bauleiter Giacomo della Marca berichtet an Capestrano die unglaubliche Freude der Bevölkerung, die nicht zu beschreiben sei, denn dazu reiche kaum die Beredsamkeit eines Cicero oder Homer aus. Der Observant und Bauaufseher Giacomo war bei seinem Unternehmen frei von Geldsorgen. Ihm wurden von den Stadtvätern auf zehn Jahre die Steuereinnahmen aus dem wichtigen Safranhandel zugesprochen.
Von Krakau aus ersucht Capestrano, daß man ihm zwei Abruzzesen zur Unterstützung in seinen tausend Geschäften geben möge. Er bittet um die Freistellung von Ambrosius aus L'Aquila und Johannes von Tagliacozzo. Er wünschte sich, sie sollten ihm einst in der Fremde die Augen zudrücken und seine Briefe, Bücher, Urkunden und Requisiten nach seinem Tod in die Abruzzen zurückführen. Die beiden Franziskanermönche wurden nach Norden geschickt und erreichten 1454 den Capestrano in Frankfurt am Main. Johannes von Tagliacozzo wurde einer der treuesten Freunde des Türkenkriegers. Er war sein Wegbegleiter auf dem Feldzug in Ungarn, spendete ihm die Sterbesakramente in Ilok und führte Bücher und Schriften des Capestrano über Budapest, Wien, Venedig in dessen Geburtsort Capestrano zuriick. Von der obersten Leitung der Observanten wurde Johannes von Tagliacozzo beauftragt, für den anstehenden Kanonisierungsprozeß Material über das Wirken Capestranos nördlich der Alpen zu sammeln. So zog der gute Mönch aus Tagliacozzo wieder über die Alpen, gelangte aber über Ungarn nicht hinaus. Wie der getreue Eckermann Goethes zeichnete Tagliacozzo auf Anregung des Giacomo della Marca ausführlich die Begebenheiten der letzten Lebensjahre Capestranos auf. Die Niederschrift entstand zwischen 1460 und 1462 und ist als Augenzeugenbericht eine vorzügliche Quelle für die Vorgänge in Belgrad und für die Krankengeschichte Capestranos geworden.
1455 nahm Capestrano von Ungarn aus den seit 1451 unterbrochenen Briefwechsel mit seinen Verwandten in seinem Geburtsort wieder auf. In seinem ersten Brief steht, sie sollten nicht denken, er hätte sie vergessen, immerhin habe er sie ja oft durch seine Mitbrüder grüßen lassen. Wieder plagt ihn die Todesahnung, und er weiß nicht, ob dieser Brief möglicherweise sein letzter ist. Seine Gedanken beschäftigen sich mit dem von ihm gegriindeten Franziskanerkloster in Capestrano. Die Brüder dort empfiehlt er seinen Verwandten, die reich seien und jene mit Wohltaten bedenken sollten. »Nach den geistlichen Gütern«, schreibt der Türkenstreiter, »gibt es nichts mehr in diesem Leben, was mir teurer ist als dieses Kloster.«
Von Ungarn aus kümmert sich Capestrano 1455 auch um die Gründung eines Observanten klosters in Celano. Leonello Acclozzamora, Feudalherr von Celano, gibt am 6. August 1455 seine Zustimmung. Er und seine Frau schreiben wegen des Unternehmens mehrere Briefe nach Ungarn. Auf seinem Siechenbett in Ilok erhielt Capestrano einen Brief vom Provinzialvikar der Abruzzen, dem schon erwähnten Bernhardin von Fossa (gest. 1503), mit guten Nachrichten aus der Heimat, in denen auch die Rede ist vom »schönen« Tod des Franziskaners Philipp von L'Aquila. Dieser war, überwältigt von den Predigten Capestranos, als sechzehnjähriger in den Observantenorden eingetreten. über diesen Brief war Capestrano äußerst erfreut, er studierte ihn immer wieder von neuern, küßte das Schreiben, ließ es in der Observantenkirche von Ilok vorlesen und sandte Abschriften davon an seine Freunde. Im Vertrauen bedeutete er dem anwesenden Johannes von Tagliacozzo, der gute verstorbene Philipp habe unaufhörlich mit dem Gebet der Keuschheit zu kämpfen gehabt. Noch am Tage vor seinem Tod gedachte der Türkensieger seiner Landsleute, der Bürger von L' Aquila und seiner Lieblingsgründung, des Klarissinnenkonvents daselbst.
Papst Nikolaus V. (1447-1455) war ein vertrauter Freund Capestranos. Im gutmütigen Sinn witzelte er über den Observanten und nannte ihn im Wortspiel einen »capo strano«, frei übersetzt, einen seltsamen Kauz. Anläßlich der Kanonisierung des hl. Bernhardin fragte der Papst eines Tages den Abruzzesen: »Wer wird sich einst um deine Heiligsprechung kümmern?« Nikolaus hatte sich allen Ernstes vorgenommen, Capestrano heiligzusprechen, falls er ihn überleben sollte. Er starb aber ein gutes Jahr früher als jener. In der Besorgnis um die Kanonisation Capestranos hatte der Papst eine richtige Vorahnung gehabt. Der Prozeß dauerte 234 Jahre, und die Heiligsprechung erfolgte erst am 16. Oktober 1690. Mit der Aufnahme in die himmlische Hierarchie hat man sich überhaupt Zeit gelassen. Giacomo della Marca wurde erst 1624 zum Seligen erklärt und 1726 heiliggesprochen. Vincenzo von L' Aquila erlangte seine Seligsprechung im Jahre 1787 und Bernhardin von Fossa im Jahre 1828. Capestrano wurden aber bereits vor seiner Heiligsprechung kirchliche Ehren zuteil. Leo X., der die endgültige Trennung von Observanten und Konventualen vornahm, gestattete am 31. Dezember 1514 der Diözese Sulmona, zu der der Ort Capestrano gehörte, den Türkensieger zu feiern, und Gregor XV. erlaubte am 10. September 1622, das Fest des Capestrano auf den gesamten Franziskanerorden auszudehnen. Die Heiligsprechung löste im Ort Capestrano große Freude und große Feste aus. Er wurde das Ziel zahlreicher Wallfahrten, und mehr als 30000 Hostien wurden bei der Kommunion verteilt. Lobreden wurden auf den Heiligen gehalten, man bot ein Feuerwerk und ausgezeichnete Musik, und es fehlten auch nicht die Beiträge literarischer Akademien. Den Glanz der Feiern erhöhte die Anwesenheit des Großherzogs der Toskana, Cosimo III. Medici (1670-1723), der eigens mit seiner Familie in dem kleinen Abruzzenort erschienen war.
Die bildliche Verehrung des Giovanni Capestrano ist über ganz Europa verbreitet, und als außerhalb der Abruzzen entstandenes Beispiel sei nur das Bild von Bartolomeo Vivarini (gest. nach 1491) im Louvre in Paris genannt. Die frühesten Fresken unseres Berglandes, die den Capestrano dar (S. 236) stellen, entstanden in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Das großartigste bildliehe Zeugnis von ihm ist eine in Tempera gemalte Altartafel, wahrscheinlich zwischen 1480 und 1485 von einem unbekannten Maler verfertigt. Das Bild war einstmals in S. Bernardino in L' Aquila und befindet sich heute im dortigen Nationalmuseum als eine der Zimelien dieser Sammlung. Capestrano ist als Ganzfigur in Franziskanertracht dargestellt. Sein edelgeformtes Gesicht ist leicht zur Seite geneigt. In seiner Linken hält er ein Buch, und seine Rechte umfaßt die Siegesfahne von Belgrad, auf der die bernhardinische Jesusinsignie erscheint. An den Seiten sind Szenen seines Wirkens dargestellt, oben rechts eine Predigt vor einer typisch aquilanischen Kirche, gegenüber die Messe vor den Kriegern vor der Schlacht bei Belgrad, darunter das Schlachtgetümmel selbst und unten rechts der Tod in Ilok. 1488 datiert ist das Fresko in der Portallünette von S. Francesco in Capestrano, das im 18. Jh. übermalt wurde. Dort ist die Madonna mit Kind zwischen Franz von Assisi und dem Capestrano dargestellt. Zusammen mit Heiligen ist Johannes auf einem Fresko vom Ende des 15. Jh. in der Chiesa della B. Antonia in L'Aquila abgebildet. Die Provinzialbibliothek Melchiorre Delfico in Teramo besitzt ein Psalterium aus dem von Giacomo della Marca gegründeten Observantenkloster S. Maria delle Grazie in Teramo. Von den elf Miniaturen aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. stellt eine den hl. Bernhardin vor, umgeben von Capestrano und Giacorno della Marca.
Im 16. Jh. hat Capestrano auf der Vorderseite des 1505 datierten Mausoleums des hl. Bernhardin in L'Aquila einen vornehmen Platz als Relieffigur gefunden. In der Lünette des 1508 datierten Portals in S. Maria Valverde in Celano erblickt man ihn als Halbfigur auf einem Fresko zusammen mit Franz von Assisi neben der Madonna mit Kind. In einer Terrakottafigur aus dem Anfang des 16. Jh. wird Johannes in S. Francesco in Capestrano in der zweiten rechten Kapelle verehrt.
Ähnlich wie bei Coelestin V. ist die Darstellung unseres Heiligen im 17. Jh. selten. Wenig beachtet ist das große Leinwandbild eines anonymen aquilanischen Malers aus der Kirche S. Apollonia in L'Aquila, heute im dortigen Nationalmuseum. Der Heilige in der Franziskanerkutte nimmt die ganze Bildhöhe ein, in seiner Linken trägt er die Siegesfahne und in der erhobenen Rechten ein Kruzifix. Im Hintergrund wütet die Schlacht bei Belgrad. Im 1737 datierten Bild des Vincenzo Damini am zweiten Altar rechts in S. Giuliano bei L' Aquila tritt er wieder in der Schlacht bei Belgrad vor den Beschauer. Unpubliziert ist die Holzstatue des Heiligen, die wegen der mäßigen Ausführung eines neapolitanisch beeinflußten Künstlers aus der zweiten Hälfte des 18. Jh. im Depot des Nationalmuseums in L' Aquila abgestellt ist. Die Kirche S. Bernardino in L'Aquila hat den Heiligen unter die zahlreichen Darstellungen in den Deckengemälden des 18. Jh. aufgenommen. In derselben Kirche erscheint er noch einmal im 20. Jh. im Glasgemälde in der Apsis, und ebenfalls im 20. Jh. tritt er in den von S. Ciotti gemalten Apsisfresken von S. Maria delle Grazie in Ortona auf.
Dominikaner
Der Predigerorden der Dominikaner wurde von dem Spanier Dominikus (gest. 1221 in Bologna, 1233 heiliggesprochen) gegründet und 1216 vom Papst Honorius III. sanktioniert. Wie die Franziskaner sind die Dominikaner Bettelbrüder, und eine ihrer Hauptaufgaben bestand in der Missionstätigkeit unter den Ungläubigen. Innerhalb der Kirche förderte die Mönchsgesellschaft die Predigt und die Pflege der kirchlichen Wissenschaften, welch letztere später weitgehend von den Jesuiten übernommen wurde. 1232 übertrug Papst Gregor IX. den Dominikanern die Inquisition. Papst Martin V. hob 1425 das Verbot des Erwerbs weltlicher Güter auf, und so durften die Mönche fortan Schenkungen annehmen und kamen später in den Besitz wertvoller Pfründen.
Im Verhältnis zu Coelestinern und Franziskanern war der Dominikanerorden in den Abruzzen weniger wirksam. Die Anzahl seiner Niederlassungen war geringer, und in der Mitte des 14. Jh. verfügte er in unserer Region nur über etwa vierzehn Konvente. Das frühe und rasche Anwachsen der Gemeinschaft im übrigen Italien fand in den Abruzzen nur einen späten Niederschlag. Auch als Inhaber von Bischofssitzen finden wir im 13. Jh. nur vereinzelt Vertreter dieses Ordens. Der erste Dominikanerbischof scheint Nikolaus gewesen zu sein, der 1256 in Trivento amtiert. Andere Dominikanerbischöfe sind Jacobus aus Orvieto, Bischof von Sulmona 1263-1273, Nikolaus von Castrocello, Bischof von L'Aquila 1294-1303, Reinaldus II., Bischof von Chieti seit 1295, Jacobus Buschi, Bischof des Marserlandes, ebenfalls seit 1295. Mit einer frühen Ausnahme in L'Aquila erfolgen die Gründungen des Ordens erst am Ende des 13. Jh., begünstigt durch das Wohlwollen des Königshauses Anjou. Der Schwerpunkt der Dominikanersiedlungen lag in den nördlichen Abruzzen, besonders längs der Adriaküste. Nach Süden werden die Niederlassungen seltener, in Lanciano z.B. gab es kein Dominikanerkloster, und im Molise sind fast gar keine Ausstrahlungen festzustellen.
Unbekannt ist mir das Gründungsdatum des Konvents in Guardiagrele, der in der zweiten Hälfte des 16. Jh. genannt wird. Die frühesten Nachrichten von Dominikanern begegnen uns in der Stadt L' Aquila. Aus historischen Quellen hören wir von ihrer dortigen Anwesenheit im Jahr 1257. Ein Konvent in Sulmona erscheint bereits 1279 vorhanden gewesen zu sein, während der Bau der Dominikanerkirche daselbst erst aus dem Jahre 1290 überliefert ist. Um 1280 entstanden S. Domenico in Penne und S. Domenico in Chieti, letztere Kirche wurde 1916 bei der Neugestaltung des Stadtkerns zerstört. Das Dominikanerkloster S. Giovanni Battista in Atri geht auf das Jahr 1283 zurück, wurde aber bereits am Anfang des 18. Jh. aufgelöst; in den Baulichkeiten richtete man eine Fabrik zur Herstellung von Lakritze ein. In Atessa ist eine erste Niederlassung von Dominikanern, S. Maria di Mercato, für das Jahr 1287 bezeugt, diese wurde aber schon 1293 nach Ortona a Mare verlegt. Von neuem hören wir von ihnen in Atessa im Jahr 1313. Das Kloster in Ortona wurde 1653 aus Mangel an Mönchen (S. 237) aufgegeben, 1661 reaktiviert und 1867 aufgelöst, während die Kirche im Zweiten Weltkrieg bis auf die Fassade zerstört wurde.
Der größte Dominikanerbau in den Abruzzen war die von Karl II. Anjou 1309 gegründete Kirche S. Domenico in L' Aquila. An Schönheit sollte sie mit S. Maria di Collemaggio wetteifern. Aber die Fassade ist nie vollendet worden, und das Erdbeben von 1703 hatte im Innern eine radikale Barockisierung zur Folge. Der Bau ist seit langer Zeit seiner kirchlichen Funktion enthoben. Links neben der Kirche ist im ehemaligen Klostergebäude mit dem alten Kreuzgang heute ein Gefängnis untergebracht. In L'Aquila siedelten seit 1325 auch Dominikanerinnen.
Das Gründungsdatum der Dominikanerniederlassung in Teramo ist ungesichert. Diese wurde von Rom aus bereits im Jahr 1287 betrieben, in Teramo ist sie durch historische Quellen indessen erst am Anfang des 14. Jh. bezeugt. Die noch erhaltene Kirche S. Domenico geht auf das Jahr 1327 zurück. Von einem Dominikanerkonvent in Magliano de' Marsi, S. Maria Maddalena, wissen wir seit dem 14. Jahrhundert. Vorher war das Kloster im Besitz von Augustinerinnen, die von Moscufo dorthin gekommen waren.
Spätere Dominikanergemeinschaften entstanden im 15. Jahrhundert. Eine Ansiedlung in Caramanico scheint im Jahr 1400 erfolgt zu sein. Von ihrer Kirche S. Tommaso ist noch ein Seitenportal aus der Mitte des 15 .Jh. übriggeblieben. Der vor 1430 gegründete Dominikanerkonvent in Castel di Sangro wurde nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut. Das 1809 aufgelöste Kloster der Dominikaner in Pianella stammt aus dem Jahre 1430.
Wie sooft entstanden in den Abruzzen Ordenskirchen an Orten, wo vorher Wanderprediger aufgetreten waren, die sicherlich auch gewisse Missionsziele verfolgten. So predigte ein Dominikaner aus Chieti, Giovanni Battista, 1520 in Vasto. Seine Ausführungen fanden ein so starkes Echo, daß man beschloß, diesem Predigerorden eine Niederlassung anzubieten. Zur Verfügung standen ein Hospital und der Bau der dazugehörigen Bruderschaft SS. Annunziata. Dieser Besitz mit sämtlichem Hausrat wurde in einem Schenkungsvertrag von 1523 den Dominikanern übereignet. Bruder Giovanni Battista verwandelte das Hospital in einen Konvent, und dann ging es an den Umbau der Kirche, die 1553 geweiht wurde. Die Türken überfielen Vasto 1566. Dabei brannte die Kirche SS. Annunziata mit ihrem Archiv völlig ab, und ein großer Teil des Konventsgebäudes wurde zerstört. Diese Gemeinschaft in Vasto ist 1809 aufgehoben worden.
Das Portal der Dominikanerkirche in Tocco da Casauria trägt das Datum 1595; die Niederlassung wurde wahrscheinlich einige Jahre früher gegründet. Im 17. Jh. blühte in Anversa d'Abruzzo ein Dominikanerkonvent, der ein kulturelles Zentrum bildete; er wurde 1649 aufgelöst. Seit 1675 haben wir Kenntnis von einem Kloster der Dominikanerinnen in Avezzano. Eine der letzten Gründungen dürfte in Montorio al Vomano entstanden sein. Das dortige Dominikanerkloster S. Gregorio Nanzianzeno wurde 1702. testamentarisch von einem Bürger aus Montorio, Gregorio Falchini, gestiftet.
Augustiner
Die eigentliche Geschichte der Augustinereremiten beginnt im Jahr 1256. Innozenz IV. hatte 1244 sich ähnelnde Gemeinschaften, die sich in Mittelitalien gebildet hatten, zu einer Einheit zusammengefaßt mit dem Namen Augustiner auf Grund der sogenannten Regel des K(rchenvaters Augustino Dieser Bettelorden erhielt 1256 durch Alexander IV. eine hierarchische Organisation mit einem Generalprior an der Spitze und wurde aufgegliedert in Augustinerprovinzen in Italien, Deutschland, Frankreich und Spanien, die durch das rasche Anwachsen später wieder unterteilt wurden. Der Orden verbreitete sich auch in den Abruzzen, ohne die Bedeutung der Franziskaner oder Coelestiner zu erreichen. Im 14. Jh. erlangten die Augustiner Bischofssitze in Venafro von 1301-1306, in L'Aquila von 1312-1327 und wiederum in Venafro von 1396-1399. Auch in späteren Jahrhunderten sind Vertreter des Ordens als Bischöfe in den Abruzzen anzutreffen. Jacobus, Bischof von Valva (1252-1261), förderte die Ansiedlung von Augustinereremiten in seiner Diözese, ähnlich gab Matthäus von Bellante, Bischof von Teramo, 1255 die Erlaubnis zu Niederlassungen in seinem Gebiet. Beraldus, Bischof von Penne (1252-1263), erteilte anläßlich der Weihe von S. Onofrio in Campli den dortigen Augustinern einen Ablaß.
Das Zentrum der Augustinerbewegung in den Abruzzen scheint L'Aquila und seine Umgebung gewesen zu sein. Der älteste Konvent dort entstand zur Zeit der Anjou im 13. Jh., und die Initiative zur Gründung ging vom Bischof Sinizzo aus L'Aquila (1267-1294) aus. Die Mönche besaßen schon vorher eine Niederlassung in der Gegend von Collebrincioni, einem Dörfchen nördlich von L' Aquila, und übersiedelten in die junge Stadt, wo am 21. März 1282. der Grundstein zu ihrer Kirche S. Agostino gelegt wurde. Das Kloster war aufwendig ausgestattet und bestand einschließlich der Gemeinschaftszimmer und des Refektoriums aus 56 Räumen. Dazu gesellte sich ein großer Kreuzgang, mit dessen Ausmalung 1622 der Magistrat der Stadt den Maler Francesco Antonio Sette aus L' Aquila beauftragte. Die Kirche wurde beim Erdbeben von 1703 zerstört und danach mit verändertem Grundriß in elliptischer Form und einer großen Kuppel wiederaufgebaut. Die Bedeutung der Niederlassung erhellt durch die Abhaltung eines Generalkapitels des Gesamtordens in dieser Kirche, und 1769/1770 entstand die Ordensprovinz L' Aquila mit Sitz in S. Agostino. 1809 wurden die Augustiner aus L' Aquila vertrieben, konnten aber schon in den 30er Jahren des 19. Jh. zurückkehren. Inzwischen war ihr alter Sitz anderweitig verwendet worden, und so wurde ihnen die Kirche und der Konvent von S. Bernardo, auch Madonna del Rifugio genannt, zugewiesen.
Einige Frauen aus Arischia stifteten 1351 in L' Aquila ein Augustinerinnenkloster zu Ehren der hl. Lucia. Ihr Konvent wurde in den Abruzzen zu einer der größten weiblichen Niederlassungen und beherbergte in seiner Blütezeit etwa 80 (S. 238) Nonnen. Im 15. Jh. standen S. Agostino und S. Lucia unter der Obhut des sel. Antonio Turriani, auch Torriani genannt (1424-1494), Augustinermönch aus Mailand. In beiden Klöstern führte er die strenge Observanz ein. Achtzehn Jahre lang mühte er sich in L'Aquila um die gen aue Einhaltung der Ordensregel. Nach seinem Tod wurde er zunächst in S. Agostino begraben, dann wurden nach der Ordensaufhebung seine Gebeine nach S. Maria di Collemaggio und 1838 schließlich nach S. Bernardo in L' Aquila überführt.
Seit alter Zeit bestand in S. Vittorino bei Amiternum ein Kloster der Augustinerinnen. Die Nonnen dieses Katharinenklosters starben alle bei der Pest von 1348. 1350 wurde der Konvent reaktiviert und 1368 von S. Vittorino nach L' Aquila verlegt. Das dortige Gebäude fiel dem Erdbeben von 1703 zum Opfer, und man errichtete an anderer Stelle einen Neubau, der 1752 geweiht wurde. Seit 1934 ist die Kirche Sitz des Diözesanmuseums. Die Nonnen müssen sich in L' Aquila wohl gefühlt haben. Wir kennen in dieser Stadt ein drittes Kloster der Augustinerinnen, S. Amico. Kirche und Konvent wurden 1735 gegründet. Hierher verlegte man 1908 das Grab der sel. Cristina aus Lucoli.
Einige Bedeutung erlangten die Augustiner in Montereale, einem nördlich von L'Aquila gelegenen Ort. Dort bestand der Konvent und das Sanktuarium des sel. Andreas (1397 bis 1480). Er stammte aus Mascioni, einem Ortsteil von Campotosto, und verbrachte sein mönchisches Leben zum größten Teil in Montereale, wo er auch begraben ist. Als Augustinermönch bekleidete er in seinem Orden hohe Posten. Sein Kult wurde 1764 eingeführt. Das Gebäude in Montereale erlitt 1691 und 1703 Schäden durch Erdbeben. Der Wiederaufbau ist für die Jahre 1726 und 1727 bezeugt. Nach zeitweiliger Aufhebung steht das Kloster seit 1941 wieder unter der Obhut der Augustiner.
Andere Klöster sind in allen Teilen der Abruzzen anzutreffen. Sie begegnen uns in Atri, Penne, Moscufo und in Magliano de' Marsi. Eine Augustinerniederlassung in Citta S. Angelo bestand vom Jahre 1314 bis 1809. Vor dem Jahre 1315 sind die Ordensbrüder in Sulmona nachweisbar. Das Portal ihrer Kirche S. Agostino ist 13 I 5 datiert, und nach Abbruch des Gotteshauses wurde es 1885 in die Fassade von S. Filippo in Sulmona eingelassen. Kirche und Konvent von S. Agostino in Chieti wurden 13 16 gegründet. Der Gebäudekomplex nahm 1562 durch Feuer Schaden. Die Gestaltung des Innenraumes erfolgte im I 8. Jahrhundert. In die bescheidene Fassade von 1836 ist ein datiertes Portal von 1751 eingebaut. Überreste des 14. Jh. sind noch an der rechten Langhausseite zu sehen. Seit der zweiten Hälfte des 13. Jh. bis zum Jahre 1808 finden wir Augustinereremiten in Vasto. In dem dortigen Kloster lebte der sel. Angelo da Furci (1246 bis 1327). Er trat 1266 in den Augustinerkonvent in Vasto ein und begab sich im Alter von 25 Jahren zum Studium an die Sorbonne in Paris, wo er sich fünf Jahre aufhielt. Nach seiner Rückkehr nach Italien lehrte er im Auftrag der Augustiner. Er wurde im Konvent von S. Agostino alla Zecca in Neapel begraben, und 1808 wurden seine Gebeine in seinen abruzzesischen Heimatort Furci überführt.
Kapuziner
Die Kapuziner bildeten zunächst einen Zweig der Franziskanerobservanten, gestiftet 1525 von Matteo da Bascio (heute Baschi, Provo Terni). Diese Gemeinschaft wurde 1528 von Papst Clemens VII. bestätigt und bildete seit 1619 einen selbständigen Orden. Auf Grund der strengen Einhaltung des Armutsgelübdes führten die Kapuziner ein karges Leben, und durch ihre berühmten Volkspredigten fanden sie Kontakt zu der einfachen Bevölkerung. In den Abruzzen haben die bärtigen Brüder keine überragende Rolle gespielt. Ihre Niederlassungen ziehen sich meistens längs der Adriaküste hin. Konvente sind noch erhalten in Campli und Giulianova, in Teramo in S. Benedetto, in Montorio al Vomano und in Loreto Aprutino. In Catignano scheinen die Mönche mit der Chiesa dei Cappuccini einen älteren Bau aus dem 14. Jh. mit Säulen aus Ziegel im Innenraum übernommen zu haben, während die Fresken in der Apsis aus der ersten Hälfte des 15. Jh. stammen. In Chieti wurde S.Giovanni dei Cappuccini 1586 begonnen, 1605 geweiht und im 18. Jh. umgebaut. Neben der Kirche, die mit Ausstattungsstücken von Künstlern des Ordens versehen ist, liegt der ehemalige Konvent. Seit 1658 lebten die Kapuziner in Sulmona und seit 1581 in Vasto, wo ihre Kirche S.Maria degli Angeli, die landläufig auch als S. Anna bezeichnet wird, noch heute vorhanden ist. Etwa zwei Kilometer außerhalb von Avezzano sieht man noch am Alten Friedhof Spuren eines Kirchenportals, das zu einer Niederlassung der Kapuziner gehörte.
Im Gegensatz zu den übrigen Orden betätigten sich die Kapuziner intensiv mit neuen Gründungen im Molise, das der Kapuzinerprovinz von Foggia zugerechnet wurde. Zu den Schülern des Matteo da Bascio gehörten die Brüder Ludovico und Raffaele Tenaglia aus Fossombrone (Prov. Pesaro/Urbino), Mitbegründer der Kapuzinergemeinschaft. Vor allem Ludovico Tenaglia organisierte die Mission im Molise, und schon zwei Jahre nach der Konstituierung der Kongregation entsteht 1530 der erste Kapuzinerkonvent in Castelmauro, der aber nach einigen Jahren wieder verlassen wurde. Heute sind dort noch einige Räume der Niederlassung und ein Teil des Kreuzgangs zu sehen. Seit 1535 siedelten die Kapuziner am Stadtrand von Larino, 1545 kamen sie nach Termoli, gaben aber ihren Sitz beim Einfall der Türken wieder auf. Der Kapuzinerkonvent in Trivento, S. Maria delle Grazie, entstand 1570. Dort hielt sich 1575 der hl. Camillo de Lellis auf, und man zeigt heute noch die Zelle, in der er wohnte. Bürger der Stadt Venafro stifteten 1573 das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Kloster S. Nicandro, und Niederlassungen der Kapuziner entstanden 1577 in Isernia, 1580 in Frosolone, 1589 in Campobasso, 1604 in S.Elia a Pianisi und 1605 in Agnone. Der dortige Bau wurde 1623 vom Bischof aus Trivento geweiht. 1656 starben dort alle Mönche an der Pest. Die alte Kirche wurde 1925 abgerissen, um an dieser Stelle einen Platz mit einem Kriegerdenkmal anzulegen. Späte Gründungen erfolgten 1622 in Montefalcone de! Sangro, 1628 in Guglionesi und 1681 in Riccia.
(S. 239)Jesuiten
Die Gesellschaft Jesu oder der Jesuitenorden wurde 1534 von dem Spanier Ignatius von Loyola gestiftet und 1540 vom Papst bestätigt. Das Gelübde des Gehorsams wurde strenger gehandhabt als in anderen Mönchsgemeinschaften. Zu den Aufgaben der Jesuiten gehörten die Seelsorge, die Heidenrnission und dann vor allem das gründliche Unterrichten auf eigenen Schulen. Der Orden war oft politisch wirksam und hatte seine Hände in den Staatsgeschäften europäischer Fürstenhöfe.
Mit Ausnahme ihrer Schulen ist die Bewegung in den Abruzzen nicht recht heimisch geworden, und im Molise ist sie überhaupt nicht anzutreffen. Wir können die Jesuiten in unserem Bergland nur an fünf Orten nachweisen, in L'Aquila und Sulmona, in Teramo, Atri und Chieti. Die Anzahl der Zöglinge hielt sich in engen Grenzen. Um 1640 zählte man im Kolleg von L' Aquila 15, in Chieti 12 und in Atri nur 8 Schüler. Auf Drängen des aufgeklärten Ministers Tanucci wurde der Jesuitenorden 1767 im Königreich Neapel aufgelöst, 1773 dann in ganz Italien.
Nur in wenigen Fällen ist es in den Abruzzen zu großen Bauten der Jesuiten gekommen. Ihrer Wirksamkeit mangelte in unserem Gebiet die Dauerhaftigkeit. So wurde die Niederlassung in Teramo schon bald nach der Gründung im Anfang der 70er Jahre des 16. Jh. wieder aufgegeben. Dann hören wir von den Jesuiten in dieser Stadt aufs neue 1615, als man ihnen Geld für die Errichtung eines Kollegs überläßt, und erst 1644 wird über einen zu erbauenden Kirchenraum verhandelt. 1593 ließen sich Jesuiten in Chieti nieder. Sie hatten ihre Gebäude unweit des Teatro Marrucino in der Via Camillo de Lollis an der Stelle des Palazzo Martinelli Bianchi. Ihre Kirche wurde 1798 aufgehoben. Mit großen Feierlichkeiten eröffnete man 1606 das Jesuitenkolleg in Atri. Zu dieser Zeit war Ordensgeneral Claudio Acquaviva, 1543 in Atri als Bruder des regierenden Herzogs Giosia II. von Atri geboren. Nachdem Claudio das Amt eines Jesuitenprovinzials in Neapel innehatte, wurde er 1581 als erster Italiener in die Reihe der Ordensgenerale berufen, die höchste Stelle, die die Gesellschaft Jesu zu besetzen hatte. Bis zum Jahre 1615 dauerte seine lange Regierungszeit, während der er dem Orden zu größtem internationalem Ansehen verhalf. Trotz der Protektion brachte es die Niederlassung in Atri zu keiner besonderen Blüte und mußte 1773 aufgelöst werden. Kärglich sind die Nachrichten über Sulmona. Das dortige Jesuitenkolleg lag an der Stelle des heutigen Ovidgymnasiums. Es wurde weitgehend aus einer Geldstiftung des Historikers Emilio Oe Matteis (1631-1681) errichtet. Die Jesuitenkirche ist nicht mehr vorhanden.
Schwierigkeiten hatten die Jesuiten auch in L'Aquila. Verhandlungen über eine Repräsentanz beginnen bereits im Jahr 1562. Wie Atri genoß auch L'Aquila eine Hilfestellung durch einflußreiche Persönlichkeiten des Ordens. Dank des Einsatzes von Roberto Bellarmin (gest. 1621) konnte schließlich 1596 das Jesuitenkolleg eröffnet werden. Dieser gelehrte Jesuit war einer der bedeutendsten Verfechter der Gegenreformation, Professor an der Universität Löwen, 1592 Rektor des Collegium Germanicum in Rom, 1599 Kardinal und 1602 Erzbischof von Capua. Als Kardinal besuchte er 1612 die Stadt L'Aquila. Die Seligsprechung des Ordensgründers Ignatius von Loyola durch Paul V. im Jahr 1609 wurde in L' Aquila festlich begangen. Der Bericht über die Feierlichkeiten ist in einem Traktat festgehalten, den Giovanni Carlo Pica (gest. 1633) verfaßte und 1611 in Bologna im Druck erscheinen ließ. Zwischen 1596 und 1601 verfügten die Jesuiten in L'Aquila über keine eigene Kirche. Danach überließ man ihnen die bereits bestehende Kirche S. Margherita della Forcella, und erst 1634-1636 errichtete man über diesem alten Gotteshaus einen Neubau, der teilweise heute noch erhalten ist. Beschädigungen entstanden durch die Erdbeben von 1703 und 1915. Weiterhin litt die Kirche im Ersten Weltkrieg, als sie als Kaserne diente.
Die Räume für die Lehrveranstaltungen der Jesuiten in L' Aquila müssen gewechselt haben. Zum einen fanden sie im Palast des Magistrats statt, dem Palazzo Camponeschi in unmittelbarer Nähe von S. Margherita. Einstmals hatte man diesen Palast als Residenz für Margarethe von Österreich hergerichtet, später wurde er Eigentum des Magistrats, als die Stadt die Schulden des damaligen Besitzers an die Stadt Venedig übernommen hatte. Zum andern diente der Exkonvent von S. Francesco als Jesuitenkolleg, die Stätte, an der 1444 Bernhardin von Siena gestorben war. Der Jesuit Giannantonio Caprini wurde 1614 in L'Aquila geboren und erzogen. Er lebte in Rom am Collegio Romano, war Rektor des Collegio Germanico und starb im Alter von 80 Jahren.
Theatiner
Obwohl sich der Name Theatiner von der antiken Stadt Teate, dem heutigen Chieti, ableitet, hat der Orden nur wenig mit den Abruzzen zu tun. Hier wie im Molise ist er durch keine Niederlassungen bekannt geworden. Die Gemeinschaft wurde 1524 von Gian Pietro Carafa, der zur Zeit der Gründung Bischof von Chieti war, zusammen mit Gaetano von Thiene (1480-1547) und anderen gestiftet. Nach dem Ort Chieti nannten sich die Ordensbrüder auch Chietiner. Sie wurden 1540 von Paul III. und 1568 von Pius V. bestätigt. Der Mitgründer Carafa, Bischof von Chieti und Brindisi, ist später als Papst Paul IV. berühmt geworden. Seine Bindungen an Chieti scheinen nicht ausgeprägt gewesen zu sein. Der Kathedrale hinterließ er nur ein Pluviale aus Damast und für die Konventualmesse einige weiße Meßgewänder. Die Theatiner waren kein Bettelorden sondern sollten sich mit dem begnügen, was ihnen unaufgefordert gespendet würde. Eines der Hauptziele ihrer Bewegung war die religiöse Erneuerung des Klerus. Beim Tod Pauls IV. verfügten die Chietiner nur über drei Niederlassungen, in Venedig, Neapel und Verona. Dann wuchs die Gemeinschaft rasch an, und am Ende des 17. Jh. zählte man in Italien über fünfzig Konvente.
Für das Molise und die Abruzzen ist der Orden allein durch die Besetzung der Bistümer mit Theatinern interessant. Einflüsse aus Mittel-und Oberitalien, wie sie die Coelestiner, Franziskaner, Dominikaner und Augustiner auf (S. 240) nehmen, sind bei den Chietinern nicht zu finden. Sie orientierten sich nach Süden, besonders nach Neapel und Umgebung. Die Theatinerbischöfe in unserer Region sind meistens gebürtige Neapolitaner, wie der Ordensgründer Carafa selbst. Basilius Pignatelli, Theatiner und Bischof von L'Aquila 1593-1599, wurde in Neapel geboren. In L'Aquila kümmerte er sich um die Ansiedlung der Jesuiten und um die Heiligsprechung des Johannes Capestrano. 1599 zog er sich wieder nach Neapel zurück, wo er im Umkreis der Theatiner lebte und 1605 starb. Der Neapolitaner Paulus Tolosa war der einzige Theatinerbischof in Chieti (1616 bis 1618). Er ließ den erzbischöflichen Palast mit der Reihe seiner Vorgänger ausmalen. Bei den Theatinern in Neapel lebte Clemens del Pozzo. Dieser Gelehrte war 1641-1 651 Bischof von L'Aquila und wurde später Bischof von Castellammare di Stabia. Aus einer adeligen Familie in Neapel stammte der Theatiner Vincenzo Lanfranchi. 1660-1665 war er Bischof von Trivento im Molise, außerdem noch Bischof in Acerenza in der Provinz Potenza und in Matera in der Basilicata. Der neapolitanische Patrizier und Theatiner Francesco Antonio Carafa (gest. 1692), ein berühmter Theologe, amtierte 1675-1687 als Erzbischof in Lanciano, später treffen wir ihn als Erzbischof von Catania an. Über dreißig Jahre regierte der Patrizier Giovanni Vespoli (Vespula) das Bistum Ortona a Mare (1675-1716), wo er Anteil an der Verschönerung der Kirchen hatte. Der Theatiner Miehele Bologna gehörte zum Herzogshaus der Palma im heutigen Palma Campania (Prov. Neapel). Er übernahm 1690 bis 1698 das Bistum Isernia und später das Erzbistum Amalfi. Die Diözese Trivento verwaltete 1754-1756 der aus Nola stammende Theatiner Giuseppe Maria Carafa, später Bischof von Mileto. Das Bistum Teramo regierte von 1777 bis 1804 Ludovicus Mar. Pirelli.
Weitere Persönlichkeiten des kirchlichen Lebens
Die Intensität des religiösen Lebens gab unserer Landschaft geistige Reichtümer, die der Staat nicht bieten konnte. Durch Jahrhunderte bildeten verschiedenste Mönchsgemeinschaften eine lockere Vereinigung, in der sich das Eigenleben des Landes und der Austausch mit außerabruzzesisehern Gedankengut frei entfalten konnten. Ihre Siedlungen hatten feinmaschig Täler und Hügel durchsetzt, viel dichter als im frühen Mittelalter. Neben den ausführlicher behandelten Orden waren noch kleinere Gründungen anderer Orden wirksam, wie z. B. die Kamaldulenser, Karmeliten und Passionisten, auf die wir nicht näher eingehen wollen. Die Bistümer, Pfarrkirchen und Klöster verfügten über einen gebildeten Stand an Geistlichen, von denen die meisten fromme, nach innen gekehrte Persönlichkeiten waren, nicht nach einem weltaufgeschlossenen Leben trachtend. Diese stellen eine wichtige, aber historisch schwer faßbare Grundsubstanz im geistigen Leben des Landes dar.
Seit den Anfängen des Christentums waren die Abruzzen das Land der Heiligen und Seligen. Auch in der Neuzeit treten sie auf und finden in der Bevölkerung glühende Verehrung. Ein Heiliger von europäischer Resonanz war Camillus de Lellis. Er wurde 1550 in Bucchianico südlich von Chieti geboren. Auffallend war sein hoher Wuchs von 2,10 m. Anfänglich war er völlig dem weltlichen Leben ergeben, ein Kriegsmann, wie so viele Abruzzesen, und 1569 bis 1574 stand er im Dienste Venedigs. Nach Verlust von Hab und Gut durch Glücksspiele erscheint er 1575 als einfacher Handlanger am Bau des Kapuzinerklosters in Manfredonia. Dort erlebte er seine Bekehrung und wurde Mönch. Von einem grausamen Fußleiden erfuhr er Heilung in Rom in dem noch heute bestehenden Hospital S. Giacomo degli Incurabili. Dort verdingte er sich als Krankenwärter und stieg zum Spital meister auf. Unter dem Einfluß des hl. Filippo Neri gereift, erlangte er 1584 die Priesterweihe. 1582 gründete er eine religiöse Gemeinschaft der Krankenpfleger. Diese begründete die moderne Krankenpflege, und aus ihr entwickelte sich der Orden der Kamillianer, dessen Generaloberer Camillus bis zum Jahre 1607 blieb. Er starb 1614 in Rom, wurde 1747 unter die Seligen aufgenommen und 1746 heiliggesprochen. 1886 erhob man ihn zum Schutzheiligen der Kranken und 1930 zum Patron der Krankenpflege. In den Abruzzen gründete er Niederlassungen in Chieti und in seinem Geburtsort Bucchianico. Camillus de Lellis wird häufig zu Füßen des Kruzifixes abgebildet. Die früheste Darstellung dieser Art befindet sich auf dem Altarbild der Kapelle, die man in Bucchianico über dem Stall errichtet hat, in dem er geboren wurde. Auf dem Gemälde kniet Camillus zu Füßen Christi, der ihm vom Kreuz die ausgebreiteten Arme entgegenstreckt. Das Werk ist 1716 datiert und von einem unbekannten, etwas rückständigen Künstler gemalt. In dem von de Lellis erbauten Sanktuarium in Bucchianico ist eine hölzerne vergoldete Büste zu sehen, die im Jahr seiner Heiligsprechung 1746 ausgeführt wurde.
Der größte Pilgerort in den Abruzzen ist Isola dei Gran Sasso. Dorthin wallfahren noch heute jährlich etwa 750000 Andächtige zur Verehrung des hl. Gabriele dell'Addolorata. Wie es zu dieser Hochschätzung gekommen ist, bleibt ein Wunder, da der Heilige nicht mehr zu bieten hat als viele andere auch. Manches verbindet ihn äußerlich mit dem hl. Franz von Assisi. Auch Gabriele hieß mit bürgerlichem Vornamen Franz und wurde ebenfalls in Assisi geboren, und zwar 1838. Die Stätte seiner Einkehr war Isola del Gran Sasso, wo das ehemalige Franziskanerkloster auf Initiative des hl. Franz gegründet worden sein soll. Der Vater Gabrieles war der Advokat Sante Possenti, Gouverneur von Assisi. 1841 siedelte die Familie nach Spoleto über, wo der junge Franz bis 1856 seine Erziehung erhielt. Er fühlte sich dem mönchischen Leben verpflichtet und trat 1856 in das Passionistenkloster in Morrovalle in der Provinz Macerata ein und nannte sich aus Verbundenheit zur Muttergottes Gabriele dell'Addolorata. Der von frühauf kränkelnde Gabriele vertauschte seinen Aufenthaltsort 1859 mit Isola del Gran Sasso und seinem gesünderen Bergklima. Trotz der Luftveränderung wurde seine Krankheit schlimmer, und er starb 1862 im Alter von 24 Jahren. Papst Piusx. nahm ihn 1908 in die Schar der Seligen auf, und 1920 erfolgte die (S. 241) Heiligsprechung durch Benedikt XV. Nach der Vertreibung der Franziskaner im Jahr 1806 zogen die Passionisten 1847 in das Kloster ein. Die zunehmende Verehrung des Heiligen erforderte bald Neubauten. Man begann damit 1897, und die Kirche wurde 1908, im Jahr der Seligsprechung, geweiht. Die heutige Fassade des Convento dei Passionisti o di S. Gabriele entstand 1927.
Wie stark die Verehrung der abruzzesischen Bewohner für ihre Schutzpatrone ist, kann man heute noch zur Genüge beobachten. Lokale Initiativen streben die Seligsprechung des ehrwürdigen Nunzio an, zu dessen Ehren sich seine Mitbürger von Pescosansonesco in der Pfarrkirche versammeln. In der rechten Seitenkapelle von S. Maria in Arabona ruht in einem aufwendigen Sarkophag der jugendliche Dino Zambra (1922-1944), der im Geruch der Heiligkeit starb. Seine Seligsprechung wird von der Familie Zambra angestrebt, der Eigentümerin dieser alten Zisterzienserkirche.
Das höchste Amt, das die katholische Kirche zu vergeben hat, erlangte nach Coelestin V. nur noch einmal ein Abruzzese, Cosimo Migliorati (Meliorati) als Papst Innozenz VII. (1404-1406). Er wurde um 1336 in Sulmona geboren. Von seiner Jugend wissen wir nur wenig. Wahrscheinlich studierte er, wie so viele aus Sulmona, in Bologna. 1370 gehört er zu den Rektoren der Kirche SS. Annunziata in Sulmona und erscheint als Kanonikus der Kathedrale von Valva. Später noch erinnerte er sich seines Heimatortes, und wir erfahren von kostbaren Gegenständen des Kunsthandwerks, die er SS. Annunziata und der Kathedrale schenkte. Sein Aufstieg in kirchlichen Ämtern vollzog sich rasch, 1387 war er Erzbischof von Ravenna, 1389 Erzbischof von Bologna, dann wurde er päpstlicher Schatzmeister, und 1404 wurde er vom Konklave einstimmig zum Papst gewählt. Seine Bedeutung als Kirchenfürst lag in seinen geistesgeschichtlichen Interessen, die ja so früh in Sulmona gepflegt wurden. Cosimo war der erste, der den Vatikan mit dem Humanismus der Frührenaissance in Berührung brachte. Zu seinen Sekretären gehörten Poggio Bracciolini, Pietro Paolo Vergerio und Leonardo Bruni. An die neu zu belebende Universität Rom berief er die besten Humanisten seiner Zeit und förderte das Studium der griechischen Sprache. Innozenz VII. war bemüht, Mitglieder seiner Familie in hohe Stellungen einzuschleusen. Der Sohn seines Bruders war Giovanni Migliorati, um 1350 in Sulmona geboren, Professor an der Universität Bologna, Erzbischof von Ravenna und von seinem Onkel 1405 zum Kardinal erhoben. Er starb in Bologna am 15. September 1410. Ein zweiter Neffe, Bruder des Kardinals, war Ludovico. Innozenz erhob diesen zum Militärgeneral der Römischen Kirche, ernannte ihn zum Marchese der Mark Ancona, zum Herrn von Ascoli Piceno und zum Fürsten von Fermo. In zweiter Ehe heiratete Ludovico 1418 Taddea, Tochter des mächtigen Pandolfo Malatesta.
Den Kontakt zu den Geschehnissen in der großen Welt vermittelten Abruzzesen, die den Kardinalshut erlangten. Aus der großen Anzahl kann nur ein kleiner Kreis genannt werden. Ein Zweig der römischen Familie Orsini entwickelte sich in den Abruzzen durch die Heirat des Napoleone Orsini mit Maria, Tochter der Tommasa, Erbin des Grafen Palearia und Manoppello. Aus dieser Ehe ging Tommaso hervor, der 1381 von Urban VI. die Kardinalswürde erhielt. Tommaso unterstützte die Belange des Papstes Urban, der heftige Auseinandersetzungen mit dem Gegenpapst Clemens VII. hatte. Thomas starb 1390 und wurde in der Peterskirche beigesetzt. Der in Corcumello geborene Giovanni De Ponte schlug die Laufbahn des Klerikers ein und wurde 1421 Erzbischof von Tarent. Auf dem Konzil von Basel verteidigte er die Partei des Papstes Eugen N. (1431-1447). Sein mutiges Auftreten dort belohnte der Papst 1439 durch Verleihung der Kardinalswürde. De Ponte war im Konklave anwesend, das 1447 NikolausV. zum Papst wählte. Zwei Reden auf dem Konzil von Basel und eine andere vor Kaiser Sigismund sind überliefert. De Ponte starb im Januar 1449.
Befreundet mit den Päpsten der Frührenaissance war Amico Agnifili. Das Licht der Welt erblickte er 1398 in Rocca di Mezzo bei L' Aquila. In Rom wurde er am 4. Mai 1431 zum Bischof von L'Aquila geweiht und hielt am 12. Mai mit Festen und Ansprachen seinen Einzug in die Stadt, deren Bürgern er als Kanonikus an der dortigen Kathedrale schon längst bekannt war. Papst Eugen IV. schätzte ihn sehr und sandte ihn zur Vorbereitung der Kaiserkrönung Sigismunds nach Mailand. Agnifili saß zusammen mit Giovanni aus Palena, Bischof von Penne, in der Kommission zur Heiligsprechung des Bernhardin von Siena. Unter Nikolaus v. war er Gouverneur von Spoleto und Orvieto, und auch die Aragonenkönige von Neapel, Alfonso I. und Ferdinand I. bedienten sich seiner in Regierungsgeschäften. Agnifilis Freund Papst Paul 11. erhob ihn 1467 zum Kardinal. Die Nachricht von diesem Ereignis wurde in L' Aquila durch Feuerwerk und Glockengeläute gefeiert, wobei auch die Glocke des Magistrats kräftig mitschlug. Als Kardinal erhielt er Aufträge zur Sicherung und Befestigung der Verteidigungsanlagen des Kirchenstaates. So ist er in Nepi und in Civitavecchia tätig. Auf die Nachricht vom Tode Pauls 11. eilte er von L'Aquila n'ach Rom und nahm an der Papstwahl Sixtus IV. della Rovere teil. In L' Aquila bemühte er sich um die Verschönerung seiner Stadt. Den Bischofspalast ließ er mit Bildern seiner Amtsvorgänger ausmalen. Er veranlaßte die Erneuerung des Chors der Kathedrale und beauftragte den berühmtesten Goldschmied der Abruzzen, Nicola da Guardiagrele, mit der Herstellung eines silbernen Prozessionskreuzes. Agnifili starb 1476. Man errichtete ihm im Chor des Domes ein Grabmal, das ein glänzendes Zeugnis der Bildhauerkunst in L' Aquila ist. Es hielt dem Erdbeben von 1703 teilweise stand und wurde 1887 wieder an anderer Stelle in der Kathedrale aufgestellt.
In Pescina am östlichen Rand des Fuciner Sees kam Giulio Mazzarino, später unter dem Namen Mazarin bekannt, zur Welt. Von Haus aus war er eigentlich kein Abruzzese. Sein Vater, ein sizilianischer Landedelmann, kam aus Palermo, und der Name Mazzarino erinnert an sizilianische Ortschaften wie Mazara del Vallo, Mazzarino oder Mazzarra Sant'Andrea. Trotz der Zerstörungen Pescinas durch das Erdbeben von 1915 und durch Schäden des Zweiten Welt (S. 242) krieges sind noch Reste des Geburtshauses vorhanden. Der Vater Piero Mazzarino heiratete Hortensia Bufalini aus römischem Adel. Um der Sommerhitze Roms zu entgehen, besuchte Hortensia 1602 ihren Bruder, den Abate Bufalini, in Pescina, wo dieser eine Pfründe hatte. Während dieses Aufenthalts gebar sie ihren ältesten Sohn. Getauft wurde der Sproß in der dortigen Kirche S. Maria delle Grazie, die Taufurkunde ist noch vorhanden. Die erste Erziehung erhielt Mazarin in Rom, dann studierte er an spanischen Universitäten die Rechte. Im Alter von dreißig Jahren trat er in den geistlichen Stand. Der Papst schickte ihn schon 1634 als Nuntius an den französischen Hof, wo Mazarin 1639 voll in den Dienst König Ludwigs XIII. trat. Auf Verwendung von Richelieu erhielt er 1641 den Kardinalshut, und LudwigXIII. ernannte ihn zum Staatsrat sowie zum Mitglied des Regentschaftsrates. Auf dem Höhepunkt seines Lebens war Mazarin der ungekrönte Herrscher Frankreichs. Er ließ die Kinder seiner Geschwister aus Italien nachziehen. Sie bildeten eine gesellschaftliche Dynastie ersten Ranges. 1661 starb Mazarin in Vincennes.
Im 19. und 20. Jh. empfingen weitere Abruzzesen die Kardinalswürde. Der 1827 in L'Aquila geborene Raffaele Monaco trug seit 1868 den Kardinalshut und starb 1896. Poggio Cinolfo, ein Ortsteil von Carsoli, ist der Geburtsort des 1836 geborenen Francesco Segna, der 1894 Kardinal wurde. Berühmt als Präfekt des Vatikanischen Archivs starb er 1911. Aus einfachen Verhältnissen stammte Angelo Raffaele Falconio, geboren 1842 in Pescocostanzo. Unter dem Namen Diomede Falconio trat er in den Franziskanerorden ein. Nach Auflösung der Kongregation durch den italienischen Staat lebte er abwechselnd in Nordamerika und in den Abruzzen. Dort fand er eine Wirkungsstätte in S. Giuliano bei L' Aquila. 1911 erhielt er den Kardinalshut, er starb 1917. Seine Gebeine wurden von Rom in die Franziskanerkirche von Pescocostanzo überführt. Sein ganzes Leben lang beschäftigte ihn die Geschichte des Franziskanerordens in den Abruzzen, die er in drei stattlichen Bänden veröffentlichte.
Auch außerabruzzesische Persönlichkeiten hatten in unserer Region hohe Kirchenämter inne. So nahm z. B. ein Patrizier aus Lucca, Bartholomäus Guidiccioni, 1539 das Bischofsamt von Teramo ein und stieg 1549 zum Kardinal auf. Ferner war der aus römischem Geschlecht stammende Marcello Crescenzi 1533 Bischof des Marserlandes und seit 1542 Kardinal. Der 1509 geborene Dominikaner Leonardo de Marinis stammt von der Insel Chios. 1552 war er Nuntius in Madrid, kam dann mit Calvin in Genf zusammen, war seit 1560 Bischof von Lanciano; zwei Jahre später erscheint er in Trient, und 1573 stirbt er in Rom. Der in Rom geborene Marcus Antonius Maffeus ist 1553-1567 Erzbischof von Chieti, wird 1570 Kardinal und stirbt 1583. Octavius Acquaviva, 1560 in Neapel geboren und seit 1591 Kardinal, war sehr rührig in seinem Stammland in und um Atri. Er verwaltete kirchliche Pfründen, die die Acquaviva z.B. in S. Angelo in Mosciano und in S. Maria di Propezzano innehatten. In Mosciano und Atri baute er Konvente für die Franziskanerobservanten. Der Neapolitaner Ladislaus de Aquino regierte die Diözese Venafro und wurde 1618 Kardinal. Paul v. schickte ihn als Nuntius in die Schweiz. In Polignano a Mare kam 1627 Nicolo Rodolovich (Radolovicus, Radulovicus) zur Welt. Seine Eltern stammten aus Bosnien, flohen vor den Türken zuerst nach Ragusa und ließen sich später im Königreich Neapel nieder. Rodolovich erhielt 1659 das Erzbistum Chieti, wurde 1700 Kardinal und starb 1702.
Während der Missionstätigkeit der verschiedenen Mönchsorden gelangten erstaunlich viele Abruzzesen nach Osteuropa und in den nahen und fernen Osten. Viele fanden dabei den Märtyrertod. Ein Freund des Johannes Capestrano, der Abruzzese Thomas von Fara, fungierte im 15. Jh. als apostolischer Legat in Bosnien. Der berühmteste abruzzesische Missionar in Ostasien ist Rodolfo Acquaviva, geboren 1550 in Atri. Er trat in den Jesuitenorden ein. Von Lissabon aus schiffte er sich am 24. März 1578 nach Indien ein und kam am 13. September im portugiesischen Goa an. Am dortigen Kolleg S. Paolo lehrte er für die Dauer eines Jahres Philosophie und wurde danach an den Hof des Großmoguls Schah Akbar d. Gr. eingeladen, der zur Evangelisation seines Landes Missionare angefordert hatte. 1580 erreichte Rodolfo den Schah und wohnte in dessen Palast, wo ihm eine Kapelle eingerichtet wurde, die eine Marienikone enthielt, eine Kopie des Marienbildes in der Borghesekapelle in S. Maria Maggiore in Rom. In der Chester Beatty Library in Dublin existiert ein Manuskript mit der von Abul-Fazb verfaßten Geschichte der Regierungszeit des Akbar. Die IHandschrift enthält eine Miniatur. Darauf ist dargestellt, wie Rodolfo Acquaviva und ein anderer Jesuit in einer Kapelle vor Schah Akbar sitzen; die beiden tragen die Evangelienbücher in der Hand und sind bereit, in ein offenes Feuer zu treten, falls es ihnen mohammedanische Theologen mit dem Koran gleichtäten. Die Mission im Reich des Akbar hatte keine dauernden Erfolge, und Rodolfo kehrte nach Goa zurück. Von dort aus wurde er auf die Halbinsel Salsette geschickt, unweit von Goa, wo eine portugiesenfeindliche Partei auch gegen die Missionare eingestellt war. Am 13. Juli 1583 fanden sich Acquaviva und andere Missionare in dem Ort Orlim bei Cuncolim ein, wo man eine Jesuitenniederlassung errichten wollte. Am Vormittag des 15. Juli wurde die Bevölkerung von einem fanatischen Hexenmeister aufgewiegelt; haßerfüllt wandte man sich gegen die Missionare, und der erste, der ums Leben kam, war Rodolfo Acquaviva. Den eingehenden Bericht über das Martyrium verdanken wir einem anderen abruzzesischen Jesuiten, Alessandro Valignani. 1539 in Chieti geboren, wurde er Kanoniker an der dortigen Kathedrale; mit 27 Jahren trat er in den Jesuitenorden ein und zog nach Indien, Japan und China. Er verbreitete im Orient die Kultur des Westens und gründete Musik-und Malerschulen. Ein großer Teil seiner Schriften ist noch nicht ediert. Er starb 1606 in Macao an der Südküste Chinas. Zufällig wurde Valignani, der in Cuncolim weilte, Augenzeuge des Schicksals des Acquaviva. Der Bericht des Valignani über das Martyrium in Cuncolim wurde (S. 243) gedruckt und erschien schon 1585 in Mailand. Auf Umwegen gelangten die Gebeine des Acquaviva in die Kathedrale von Goa. Ausgerechnet die Stadt Cuncolim wandte sich 1647 an Papst Innozenz X. und setzte sich für die Seligsprechung des Märtyrers ein. Der Prozeß zog sich lange hin und wurde erst am 6. Januar 1893 von Leo XIII. mit Erfolg abgeschlossen.
Aus der Jesuitenschule in L'Aquila ging der in dieser Stadt 1586 geborene Ces are Margico hervor (gest. 1630). Ein hoher Beamter der Philippinen erkannte die Tüchtigkeit des Margico und ernannte ihn zum Botschafter beim König in Siam. Der Franziskanerpater Ambrogio von Raiano (gest. 1641) war Leiter des Salvatorklosters in Jerusalem und Missionar in Ägypten. Ein anderer Franziskaner, Giovanni dell'Aquila, wurde 1644 zum Präfekten von Äthiopien ernannt, wo er 1669-1670 den Märtyrertod erlitt. Missionsfahrten in den Fernen Osten wurden von Abruzzesen noch im 19. Jh. unternommen. 1852 begab sich der 1828 in Penne geborene Dominikaner Luigi Gentile nach China.
Städte
Vorbemerkung
Die Stadtkulturen in Ober- und Unteritalien sind grundverschieden. Die lombardischen Städte blicken auf eine längere Tradition zurück. Friedrich I. Barbarossa setzte in ihnen Vögte ein, die die Interessen des Kaisers wahrzunehmen hatten, doch bald gewannen die Gemeinwesen solche Selbständigkeit, daß sie sich nach demokratischen Grundsätzen ihre Stadtoberhäupter selbst wählten. Der Podesta, was etwa dem Bürgermeister entspricht, wurde im Zeitvertrag aus anderen Städten geholt. Man versprach sich davon eine gewisse Unparteilichkeit, um den Wirren und Familienfehden in den einzelnen Städten entgegenzuwirken. Es entstanden Stadtrepubliken, an deren Verwaltung besonders die Zünfte beteiligt waren. Derartige Signorien waren auf das Wohl ihrer Bürger bedacht, sie waren Gesetzgeber und Förderer der geistigen und künstlerischen Angelegenheiten in ihren Gemeinwesen. In diesem Sinn ist die Obrigkeit in den Stadtrepubliken in Süditalien nicht wirksam geworden. Eine Ausnahme bildet L'Aquila. Die Geschicke der abruzzesischen und molisanischen Städte wurden zentral von Neapel aus gesteuert. Ihre Entwicklung erfuhr Hemmungen durch das unselige Feudalsystem, indem die Siedlungen an Adelige abgetreten wurden, denen sich die Monarchen verpflichtet fühlten. Der Eigenwille der Städte kam besonders stark zum Erliegen, wenn sie ohne ihr Einverständnis verkauft wurden. So erwarb z. B. Antonio Acquaviva, Graf von S. Flaviano, 1399 von König Ladislaus die Stadt Teramo für 35 000 Dukaten. Ein anderes Beispiel bietet der Ort Capestrano. Er war im Besitz der Acquaviva, und am Ende des 14. Jh. überließ König Karl III. Durazzo das Städtchen dem Pietro von Celano. 1465 wird die Kommune von Ferdinand von Aragon an Antonio Piccolomini verschenkt. Dessen Nachfolger verkaufen den Ort an die Medici, Großherzöge der Toskana. Die meisten Städte der Abruzzen erleiden ähnliche Schicksale, und ihre relative Freiheit hängt davon ab, wieviel Unabhängigkeit ihnen die übergeordnete Macht gewährte. Aber auch dann besaß die Stadtverwaltung keine gestaltende Kraft. Wenn z. B. Chieti im 16. Jh. befestigt wird, ist das eine Sicherungsmaßnahme der Regierung in Neapel und nicht der Stadt selbst. Und wenn Alfonso I. il Magnanimo (1442-1458) die Hauptstadt der Abruzzen von L'Aquila nach Chieti verlegt, so ist das keine Maßnahme der Stadtväter von L'Aquila und Chieti, sondern wiederum eine Entscheidung der Regierung in Neapel, wobei lediglich der Beamtenapparat verlagert wird, mit dem die Stadt selbst kaum in Berührung gerät. Ähnlich erging es den Städten, in denen der Adel regierte. Atri z. B. unterstand 1395-1755 der Familie Acquaviva, und das Aufblühen der Stadt war weniger eine Angelegenheit der Bürger als des regierenden Herzogshauses. Popo li war eine Stadt, die von der Familie Cantelmo geprägt wurde, Vasto gestalteten die D'Avalos wie Celano die Grafen von Celano und die nachfolgenden Feudalen, die Piccolomini, Peretti, Savelli und Sforza. Natürlich sind umgekehrt auch Ansätze von städtischer Freiheit zu beobachten, die jedoch nie von langer Dauer war. So kannte z. B. die Stadt Teramo in der zweiten Hälfte des 14. Jh. eine gewisse Blütezeit, die aber bereits am Ende des Jahrhunderts durch die Machtkämpfe zwischen den Familien Melatini und De Valle, in welche die Acquaviva eingriffen, erschüttert wurde. 1436-1442 gehörte der Ort dem Francesco Sforza, und später wurde er direkt der Regierung in Neapel unterstellt. Die Stadt Campli muß eine Zeitlang frei von überlagernden Einflüssen gewesen sein. Wir finden als seltenes Beispiel in den Abruzzen hier ein Rathaus aus dem 15. Jh., das noch erhalten ist. Später geriet die Stadt unter verschiedene Feudalherren und 153 8 in den Besitz der Margarethe von Österreich. Städte konnten zuweilen zur freien Stadt erklärt werden, wie es 1519 mit Isernia geschah, freilich nur auf kurze Zeit.
Trotz des Feudalsystems kam es in den Städten zu Ansätzen einer urbanen Kultur. Die Bevölkerung schloß sich zu Korporationen zusammen, die man in Italien als »universitates« bezeichnet. Sie regeln die notwendigsten Angelegenheiten des Zusammenlebens in der Gemeinschaft. Sie konnten sich gelegentlich gegen die Landesherren auflehnen, erlangten aber nur selten hinreichenden Einfluß, um ihre Wünsche und Vorstellungen durchsetzen zu können. Mit den Statuten der Universitates entstand im späteren Mittel (S. 244) alter eine neue historische Quellengattung. Darin kommt der Wille zur Formierung eines städtischen Geistes zum Ausdruck. Die Verordnungen bedurften jedoch stets der Zustimmung der übergeordneten Instanz, und ihre Anerkennung war immer nur ein Gnadenbeweis des jeweiligen Landesherren. Die gesetzgeberische Tätigkeit der Städte gewinnt unter den verschiedenen Fremddynastien unterschiedliche Bedeutung. Zur Zeit Kaiser Friedrichs II., zwischen 1225 und 1250, gibt es in den Abruzzen überhaupt keine Stadtstatuten oder Erlasse. Die relativ größte Freiheit erhielt unsere Region in der Zeit der Anjou. Besonders wirksam wurde die städtische Gesetzgebung seit dem Ende des 13. Jh., und vom 14. bis zum 16. Jh. entstehen zahlreiche Statuten nicht nur in den großen Städten, sondern auch in den kleinsten Gemeinden. Die Anzahl der Erlasse nimmt bis etwa 1500 ständig zu. Einen Rückgang beobachten wir im 17. und 18. Jh., als sich die Nachteile des Feudalismus unter den spanischen Vizekönigen am stärksten auswirkten.
Im Lauf der Zeit gerät die städtische Gesetzgebung unter den Einfluß der Bruderschaften, die unabhängiger von den Landesherren waren als die Städte. Sie übernahmen die Interessen einer Stadt, und im 17. und 18. Jh. gehen die Erlasse fast ausschließlich von diesen religiösen Korporationen aus.
Trotz der Beschränkung durch das Lehnswesen bildete sich in den Stadtgemeinschaften allmählich ein Denken heraus, das sich der staatlichen Oberhoheit entzog und sich zu einem städtischen Gemeinsinn entwickelte. Diesen Vorgang förderte die stetige Zunahme der Bevölkerung, die ihr Eigenleben immer stärker zum Ausdruck bringen wollte. Das Anwachsen der Einwohnerzahl brachte einen gewissen Wohlstand mit sich. Aus einer anfänglich armen Volksschicht entwickelte sich der Handwerkerstand, der sich in Zünften organisierte; dazu kam im Lauf der Zeit der Kaufmannsstand und darüber hinaus eine gebildete Bürgerschicht. Wir haben es hier mit einem Prozeß zu tun, der inneren Gesetzen folgt und sich vollziehen muß, gleichgültig, ob er dem Staat zuträglich ist oder nicht. Im Zuge dieser Entwicklung haben die Abruzzen Persönlichkeiten hervorgebracht, die das Geschehen der Städte beeinflußt und das abruzzesische Selbstgefühl unerhört gestärkt haben. Die in den einzelnen Städten entstehende Bildungsschicht tritt miteinander in Verbindung. Die Fäden zwischen L'Aquila, Teramo, Atri, Penne, Chieti, Sulmona und Vasto laufen hin und her wie ein Weberschiffchen, und trotz der verschiedenen Feudalherren mit ihren unterschiedlichen Zielsetzungen entsteht eine abruzzesische Gemeinsamkeit. Die Bildung der Bewohner und die Verbindungen der Handelsleute schlagen auch Brücken zum übrigen Italien. Im 14. und 15. Jh. ist die Auswanderung der Abruzzesen und die Einwanderung in ihr Land besonders stark. In allen Städten entstehen Kolonien von Bewohnern, die aus der Fremde kommen. Lombardische Kaufleute, besonders Mailänder, finden wir seit früher Zeit in L'Aquila; am Ende des 15. Jh. kommen erstmals Lombarden nach Pescocostanzo und Bolognesen nach Sulmona. Die bolognesische Familie Malvezzi unterhielt seit 1462 Besitzungen in den Abruzzen; die Sabatini aus Bologna wohnten seit 1501 in Anversa d'Abruzzo und seit 1653 in Pescocostanzo. Darüber hinaus dringen Angehörige fremder Nationen ein. Deutsche Kaufleute kommen in Scharen nach Teramo, L'Aquila und nach Chieti. Diese Einwanderungen sind generell noch nicht erforscht worden. Wertvolle Aufschlüsse würden sich z. B. für die Stadt Chieti ergeben. Unter den vielen deutschstämmigen Kaufleuten, die sich hier niederließen, war auch die Familie Sterlich, die zwischen Chieti und Penne mancherlei Besitz ihr eigen nannte. Vorher hatte sie in Apulien gesiedelt und war nach Chieti gezogen, nachdem die Türken 1480 Otranto erobert hatten. Die Patrizierfamilie Paini war aus Oberitalien nach Chieti eingewandett, die Familie Taultino kam aus Brescia. Am Anfang des 17. Jh. langte in Chieti die Familie Tasca aus der Provinz Bergamo an, und ebenso ist dort ein Zweig der Familie Gozzi aus Bologna anzutreffen, alles Bürger, die in der Geschichte der Stadt eine hervorragende Rolle spielten. Franzosen und Deutsche unterhielten in L'Aquila eigene Kirchen und Kapellen.
Die Fremddynastien siedeln ihre Landsleute in dem Gebirgsland mit dem gesunden Klima an. Nach den Oberitalienern dominieren in L'Aquila die Spanier. Beträchtlich war zur Zeit der Anjou die Einwanderung von Franzosen, viele von ihnen haben sich in den Abruzzen assimiliert, und aus ihren Reihen sind bedeutende Persönlichkeiten hervorgegangen.
Der soziale Stand der zugewanderten Italiener veränderte sich im Lauf der Zeit. Anfänglich tauchen Arbeiter und Handwerker auf, im 18. Jh. sind es viele reiche Kaufleute. Die gewaltige Immigration war eine Gefahr für die Selbständigkeit der Abruzzen. In der bildenden Kunst werden Importwaren und fremde Einflüsse immer stärker. Ein Beispiel, das für viele stehen kann, bietet Sulmona. Dort baute 1484 der Venezianer Giovanni dalle Palle, der das Bürgerrecht der Stadt erworben hatte, einen stattlichen Palast, welcher durch das Erdbeben von 1706 erheblich in Mitleidenschaft gezogen wurde. An den noch erhaltenen Portalen tritt der gotisch geschwungene Kielbogen auf, eine Hausmarke der venezianischen Architektur. Venezianische Einströmungen sind in Agnone schon seit dem II. Jh. festzustellen. Man übernahm dort den Markuskult der Seerepublik. Venezianische Familien zeigten an ihren Häusern in Agnone das venezianische Wappen, den Markuslöwen. Der weitverbreitete Einfluß Venedigs zeigt sich in einem sonderbaren Fall an dem kleinen Ort Senarica, der heute ein Ortsteil von Crognaleto in der Provinz Teramo ist. Da die Bürger in Kriegszeiten treulich die Partei der Königin Johanna I. von Neapel unterstützt hatten, erhielten sie von dieser die Selbständigkeit zuerkannt. So wurde Senarica zur Republik und nahm sich für seine Stadtverfassung das demokratische Venedig zum Vorbild. Die Bevölkerung wählte als Oberhaupt einen Dogen, erließ eigene Gesetze und gab sich ein Stadt siegel. Man schloß einen Freundschaftsvertrag mit Venedig und wurde von dort mit »serenissima sorella« tituliert. Dieses Bündnis kostete die Bürger von Senarica jährlich zehn Karline Tribut. Kein unnütz ausgegebenes Geld, denn dafür ver (S. 245) pflichtete sich der venezianische Senat, im Kriegsfall zwei Soldaten nach Senarica abzukommandieren. Die Freiheit dieses Ortes dauerte weit über dreihundert Jahre, und erst 1701 kam die Gemeinde unter die Herrschaft eines Feudalherren.
Die Stadt L'Aquila
Unter den Städten des Königreichs Neapel ist L'Aquila das einzige Gemeinwesen, das eine konsequente Sonderentwicklung genommen und unter den Siedlungen der Abruzzen und des Molise über Jahrhunderte hin die bedeutsamste städtische Kultur hervorgebracht hat. Herzog Karl von Kalabrien, vorzeitig vor seinem Vater König Robert von Neapel 1328 gestorben, war begeistert von L'Aquila. Er erklärte, er wolle zukünftig nur im Winter in Neapel, im Sommer jedoch in L'Aquila residieren. Die Stadt erschien ihm selbst schöner als Rom. Auch von den Humanisten der Metropole Neapel wurde L'Aquila hoch geschätzt. Giovanni Pontano (gest. 1503), ein Humanist, der die Kultur Neapels wesentlich prägte, bewunderte die Abruzzenstadt und rühmte den Gewerbefleiß sowie die trotzige Entschlossenheit ihrer Bürger. Der Mathematiker und Geograph Ieronimo Pico Fonticulano, geboren in Fontecchio um 1540 und 1596 gestorben, verfaßte ein Buch über sieben berühmte Städte Italiens, das 1582 bei Dagano in L'Aquila erschien. In dieser Schrift wird L'Aquila neben Rom, Neapel, Mailand, Venedig, Florenz und Bologna vorgeführt. In der Literatur wird oft der Vergleich mit Neapel gezogen, wie es auch bei der Stadt Vasto geschieht, die im 16. Jh. »una picciola Napoli« genannt wird.
Die Kontroversen über die Entstehung von L'Aquila sind noch nicht abgeschlossen. Sicherlich haben wir es mit einer Gründung des 13. Jh. zu tun. Lange Zeit glaubte man, die Entstehung der Stadt gehe auf Friedrich II. zurück, und der Name Aquila = Adler bezöge sich auf das Reichswappen. Diese Meinung fußt auf einer undatierten und unsignierten Urkunde, die von der Gründung Friedrichs II. spricht und erstmals 1556 in Basel publiziert wurde. Die neuere Forschung neigt immer mehr dazu, dieses Schriftstück als eine Fälschung anzusehen, weil die vortrefflich dokumentierte Geschichte der Frühzeit L'Aquilas von einer Griindung durch Friedrich II. nichts weiß. Darüber hinaus kennt man weitere authentische Quellen, die dem Gründungsmythos durch den Hohenstaufenkaiser ebenfalls widersprechen. Der Name Aquila ist eine Ableitung von Accula oder Acquille, das heißt eine wasserreiche Örtlichkeit, die bereits vor der Stadtgründung genannt wird und an der Stelle gelegen haben muß, wo sich heute der berühmte Brunnen mit den 99 Wasserspeiern befindet.
Ökonomische und politische Gegebenheiten waren der Anlaß zur Gründung von L'Aquila. In den Städten Forcone und Amiternum unweit von L'Aquila hatte sich die Lebenskraft erschöpft. Die schlechten Lebensbedingungen veranlaßten die Bewohner, im Umland an den Ufern des Aterno zu siedeln und sich der Bestellung des Bodens zu widmen. Sie lebten unzufrieden unter der Herrschaft mehr oder minder mächtiger Feudalherren und waren begierig, ihre Freiheit in einer neuen Stadt wiederzuerlangen. Derartige Spannungen zwischen einer nach Freiheit drängenden Landbevölkerung und dem Adel sind im 13. Jh. auch im übrigen Italien anzutreffen. Indessen kam bei der Stadtgründung L'Aquilas noch eine besondere politische Situation ins Spiel. Die Abruzzen waren nach Norden hin militärisch kaum abgesichert. Die Anwartschaft auf einen Stützpunkt in dieser Gegend machten sich zwei feindliche Parteien streitig. Einmal meldete sich der Kirchenstaat zu Wort, der glaubte, hier alte Besitzrechte geltend machen zu können, zum anderen beanspruchten die jeweiligen Herrscher im Südreich das Gebiet als Bollwerk gegen den Kirchenstaat und überhaupt als militärische Absicherung gegen die Einfälle aus dem Norden. Die erste Initiative zur Stadtgründung ging von päpstlicher Seite aus. Um den Landadel zu schwächen, der dem exkommunizierten Hohenstaufenkaiser Friedrich II. in dieser Gegend ergeben war, gestattete Papst Gregor IX. in einem Schreiben vom 7. September 1229 die Gründung der Stadt Accula. Mit der Anlage einer städtischen Siedlung (»ordinatio civitatis constituendae«) beauftragte der Papst seinen Kaplan Pandulf von Anagni und den Bischof Thomas von Forcone (1225-1229). Dieser neue Ort sollte als Stützpunkt für die Einfälle in das Stauferreich in Süditalien dienen. Das päpstliche Vorhaben scheiterte an den raschen Erfolgen Kaiser Friedrichs II. in Unteritalien nach seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land im Jahre 1229. Trotz des Mißlingens blieb der Gedanke einer Stadtgründung lebendig. Der Hohenstaufe Konrad IV. drehte den Spieß um und vollzog 1254 die Stadtgründung als strategischen Ausgangspunkt gegen den Kirchenstaat. Die Einwohnerschaft der jungen Stadt nahm rasch zu, und schon 1257 wurde der Bischofssitz von dem halbverlassenen Forcone nach L'Aquila verlegt. Der freien, sich selbst verwaltenden Stadt war keine lange Lebensdauer beschieden. Die modern organisierte Bürgerschaft glaubte, in Allianz mit dem Papst unabhängiger leben zu können als unter dem Druck der weltlichen Macht. Dieser Umschwung im Denken der Bürgerveranlaßte den Hohenstaufen Manfred, L'Aquila als feindliche Stadt anzusehen mit der Folge, daß er sie 1259 völlig zerstörte. Mindestens sechs Jahre blieb die junge Stadt verödet. Nach der Schlacht bei Benevent (1266), in der Manfred ums Leben kam, schlossen sich die Aquilaner dem Sieger Karl I. Anjou an, der dann der neue Stadtgründer von L'Aquila wurde. Freies Bürger-und Zuzugsrecht erhielten alle Vasallen, die aus der Umgebung einwandern wollten. Dieses Privileg wurde auch denen zuerkannt, die das Umland nach Abschaffung der Feudalherrschaft nicht verlassen wollten, ein geschickter Schachzug, denn somit waren der Friede und die ökonomische Verbindung zwischen Stadt und Land gesichert.
Der ursprüngliche Bebauungsplan der Stadt und die Straßenzüge haben sich trotz kriegerischer Zerstörungen und vieler Erdbeben nicht grundsätzlich verändert. Die Anlage entwickelte sich nicht, wie jede gewachsene Stadt, von ei (S. 246) nem Kern nach außen, sondern man hatte bei der Planung von L'Aquila zunächst den Umfang festgelegt, der heute noch in der an vielen Stellen erhaltenen Stadtmauer erkennbar ist. Es war eine kühne und weitschauende Tat, zuerst die Ausdehnung zu bestimmen, denn bis in das 20. Jh. fand die Bevölkerung innerhalb der Mauern genügend Raum. Der regelmäßige Verlauf der Straßenzüge, die die ganze Stadt, abgesehen vom stark abfallenden Gelände zur Fonte della Rivera, in Längs-und Querrichtung durchlaufen, erinnert an die Anlage römischer Militärsiedlungen, die aus Decumanus und Cardo maximus mit ihren Parallelstraßen bestehen. Auf diese Weise entstanden in L'Aquila gleichmäßig aufgeteilte Wohnviertel, die die Zuwanderer aus den umliegenden Ortschaften nach einem bestimmten Plan aufnehmen sollten. Denn ein Neusiedler konnte nicht wohnen, wo er wollte, sondern er mußte sich je nach seinem Herkunftsort in einem entsprechenden Stadtteil niederlassen. So gab es Wohnblöcke für die Einwanderer aus Bazzano, Paganica, Roio oder Sassa, und zwar an der Stelle der Stadt, die in Richtung dieser Dörfer lag. Der überlieferung nach waren in L'Aquila Immigranten aus 99 Kastellen des Umlandes vertreten. Diese Zahl genießt hier eine besondere Verehrung. Noch heute gibt die Stadtglocke allabendlich 99 Schläge ab, und die Fontana delle 99 cannelle hat, wie der Name sagt, 99 Wasserspeier. Dann hat man in der Stadt 99 Kirchen zählen wollen, eine Zahl, die sicherlich zu hoch gegriffen ist, wenn auch die Wirklichkeit nicht allzu weit davon entfernt sein dürfte.
Es sind Bauverordnungen des 13. Jh. überliefert, die Höhe und Breite der zu errichtenden Wohnhäuser betreffen. Jeder Stadtteil verfügte über eine eigene Kirche mit einem Platz davor; S. Maria di Paganica, S. Maria di Roio, S. Pietro di Coppito, S. Pietro di Sassa und andere Gotteshäuser lassen noch jetzt diese Planung deutlich erkennen. Im Zentrum der Stadt errichtete man Bauten, die den Institutionen des Gemeinwesens dienten. Man schuf zwei große Plätze, an dem einen befand sich der Bischofspalast mit der Kathedrale, an dem anderen hatte die weltliche Verwaltung ihren Sitz. Letzterer Platz ist heute durch Neubauten entstellt und heißt Piazza del Palazzo. Erhalten ist dort der Uhrturm von 1374, der einst zum Justizpalast gehörte. Dieser Glockenturm ist nach Florenz und Ferrara der drittälteste seiner Art in Italien. Er war ursprünglich 42. m hoch; nach der Beschädigung durch das Erdbeben von 1703 wurde der obere Teil verunziert.
Das rasche Anwachsen der Stadt stellte höchste Anforderungen an das soziale Gewissen der Bürger, die überall mit eigenen Händen zupacken mußten. Zur gleichen Zeit wurde an verschiedenen Kirchen gebaut. Im 14. Jh. entstand die städtische Wasserleitung. Man entnahm das Wasser einem Quellgebiet nördlich der Stadt in der Nähe von Santanza. Die gesamte Bevölkerung arbeitete unter Anweisung des Frate Giovanni an dem Unternehmen mit, und Buccio di Ranallo berichtet darüber in seiner Chronik mit gewohnter Frische. Dieses Gemeinschaftswerk wurde 1308 zum Abschluß gebracht. Auch bei der Errichtung des großen Hospitals, das Giovanni da Capestrano baute, ist die Mithilfe der Bürger überliefert.
Im 14. und 15. Jh. spiegelt sich die fast freie Bürgerschaft in ihrer Verfassung wider. 1355 kamen in L'Aquila die Zünfte an die Macht und bestimmten bis zur spanischen Regierungszeit die kommunale Verwaltung. Die städtische Leitung bestand aus einem Kämmerer (camerlengo) und aus Vertretern der fünf großen Korporationen; dazu gehörten die Gebildeten (Ierterati), die Kaufleute, die Lederzunft, die Metallzunft sowie Adelige und das Militär, die eine gemeinsame Gruppe bildeten. Aus jeder Vereinigung wählte die Bürgerschaft zwei Vertreter, also im ganzen zehn, von denen fünf der Stadtverwaltung angehörten, während die anderen die Interessen der einzelnen Körperschaften wahrnahmen. Der König von Neapel entsandte zur Kontrolle einen Hauptmann (capitano). Dieser wurde auf Vorschlag der Stadtväter für sechs Monate gewählt. Natürlich ergaben sich Reibereien zwischen den Stadtvätern und den königlichen Abgesandten. Am wenigsten hatte sich L'Aquila über das Haus Anjou zu beklagen, von dem die Stadt sogar manche Privilegien erhielt. Schwieriger tat sich die Bürgerschaft unter dem Hause Aragon. Alfonso Magnanimo (1442.-1458) bevorzugte die traditionsreiche Grafschaft Chieti und proklamierte Chieti zur Hauptstadt der Abruzzen. Trotzdem konnte L'Aquila die Freiheit bewahren, und die alte Verfassung wurde nicht angetastet. Die Unabhängigkeit erlosch während der Regierungszeit Kaiser Karls V. Die Spanier trennten L'Aquila vom Umland ab und führten dort das alte Feudalsystem wieder ein, wobei die neuen Herren zumeist aus dem Militärstand hervorgegangen sind. Damit verlor die Stadt das fruchtbare Hinterland. Auch die demokratische Verfassung wurde eingeschränkt. Die Zünfte wurden ausgeschaltet, und nur noch Adelige durften in die Stadtverwaltung gewählt werden. Ebenso fanden Zugang zur städtischen Regierung die Barone, die von den Spaniern Güter in der Umgebung der Stadt erhalten hatten.
Der Niedergang L'Aquilas war nicht eine Folge der inneren Entwicklung sondern kam durch den Ansturm von außen. 1529 mußte sich die Stadt den Spaniern ergeben. Handlungsunfähigkeit und ökonomische Rückschritte waren die Folge. Das äußere Wahrzeichen für die Unfreiheit ist der Bau des spanischen Kastells, das nicht nur gegen fremde Eindringlinge sondern vor allem gegen die Bürger der Stadt selbst dienen sollte.
Die Blütezeit der Stadt im 14. und 15. Jh. war das Ergebnis einer unglaublichen Kraftanstrengung der Bürger. Das goldene Zeitalter fiel ihnen nicht in den Schoß. Die städtische Freiheit war bedroht durch Naturgewalten. Hungersnöte und Seuchen reduzierten oftmals die aufstrebende Bevölkerung. Noch mehr Unheil richteten die Erdbeben an. Die rege Bautätigkeit in der Stadt wurde durch das Erdbeben von 1315 empfindlich getroffen. Nach zähem Wiederaufbau machte der Erdstoß von 1349 vieles aufs neue zunichte. Die überforderte Bevölkerung hatte die Absicht, wieder in das Umland zurückzusiedeln, das sie vor zwei Generationen verlassen hatte. Nur die Überredungskunst des ein (S. 247) flußreichen Lalle I. Camponeschi konnte die Bürger vor der Resignation bewahren. Das schlimmste Erdbeben erfolgte im Jahre 1703, bei dem die Hälfte der Einwohner ums Leben kam und kaum ein Gebäude unbeschädigt blieb. Weiteres Unheil verschafften sich die Menschen selbst. L'Aquila wurde oft zum Kriegsschauplatz durch die Einfälle fremder Heerführer vom Norden, die den Thron von Neapel beanspruchten. Auch viele Fehden in der Stadt selbst brachten Gefahren für die Entwicklung des Gemeinwesens. Um ein Haar hätte sich der Tyrann Braccio da Montone 1424 der Stadt bemächtigt. Zu schaffen machten auch einflußreiche Familien, die untereinander im Streit lagen, wie z. B. die Camponeschi und die Pretatti. Trotz all dieser Bedrohungen waren die Leistungen der Bürger einzigartig.
Die Bauvorhaben der schnell an Bedeutung gewinnenden Stadt waren am Ende des 13. Jh. und im q.]h. gewaltig. Im Kirchenbau empfindet man deutlich das rationale Moment einer geplanten Stadt und spürt eine innere Verwandtschaft mit den kühl durchdachten französisierenden Bauten der Anjou in Süditalien. Es fehlen die eigenständige Phantasie und der persönliche Gestaltungswille, welche die vielen Landkirchen der Abruzzen aus früherer Zeit auszeichnen. Wir haben es in L'Aquila mit berechneten und klug durchdachten Standardlösungen zu tun. Eine Kirche gleicht damit der anderen, vor allem im Portalbau. Aus abruzzesischen Vorbildern wird die rechteckige Fassade entwickelt. Für kleine Kirchen genügen einschiffige Räume mit oder ohne Apsis. Bei Kirchen mittlerer Größe wird das einschiffige Langhaus mit Quertrakt und rechteckigem oder rundem Chorabschluß bevorzugt. Einen dritten Typ bilden die großen dreischiffigen Gotteshäuser mit Querhaus und meist gewölbten Polygonalapsiden.
Die während der spanischen Dynastie verlangsamte Bautätigkeit erfuhr nach der Katastrophe von 1703 eine zeitweilige Belebung. Das Erdbeben stellte die Stadt vor riesige neue Aufgaben. Die Bevölkerungslücke konnte nur durch Einwanderung aus Oberitalien geschlossen werden, und die zerstörte Stadt mußte wiederaufgebaut werden, so daß der Barock in den Abruzzen nirgends besser zu studieren ist als in L'Aquila. Die Holzschnitzerei blühte, es entstand die Barockdecke von S. Bernardino, Ferdinando Mosca aus Pescocostanzo fertigte das Chorgestühl und die Holzdecke in der Collemaggio sowie rokokohafte Arbeiten im Oratorium S. Antonio di Padova. Der Einfluß auswärtiger Künstler prägt die einheimische Kunsrtätigkeit. Wenn der in Florenz geborene Ferdinando Fuga auch kaum der ausführende Architekt einiger Barockkirchen in L'Aquila war, so bediente man sich doch zumindest seiner Pläne beim Bau von S. Agostino und S. Caterina Martire. Die Einwirkung außerabruzzesischer Künstler ist noch bis ins 19. ]h. zu verfolgen. Die Kuppel der im 18. ]h. von Lorenzo Bucci aus Pescocostanzo begonnenen Chiesa del Suffragio wurde von Giuseppe Valadier 1805 errichtet. Besonders bemerkenswert sind die Neubauten der Paläste. Man hielt sich an das Schema, das man bereits bei den Patrizierhäusern des 15. und 16. Jh. in L'Aquila benutzt hatte. Der Palast entstand um einen quadratischen Innenhof, der von einer doppelgeschossigen Loggia eingeschlossen wird. Diesen »cortile« erreichte man von der Straße aus durch einen langen Durchgang. In der Renaissance dienten die Räume im Erdgeschoß zwischen Straße und Binnenhof als Stapelräume für Waren und als Kontore für die Abwicklung der Geschäfte. Infolge des Niedergangs des Handels konnte der adelige Barockpalast derartiger Nutzräume entbehren. Man gestaltete die Durchfahrt nun als prächtigen Säulengang, von dem kunstvoll angelegte Treppenläufe in die oberen Etagen führen. Der Magazinbau der Renaissance entwickelte sich zum Wohnbau. Die Front zur Straße ist meist schlicht gehalten, das Schwingende der Barockfassaden ist L'Aquila fast fremd. Es verlohnt sich der Mühe, in die zahlreichen Paläste, die heute noch das Stadtbild bestimmen, und die von außen nicht besonders sehenswert erscheinen, einzutreten.
Das goldene Zeitalter der Kultur erlebt L'Aquila unter dem humanistischen Bischof und Kardinal Amico Agnifili. Einer der profiliertesten Meister während des künstlerischen Aufschwungs im 15. Jh. ist der Bildhauer Silvester von L'Aquila, der sich unter dem Einfluß der Florentiner Renaissance entwickelte. Nikolaus von Guardiagrele, der bedeutendste Goldschmied der Abruzzen und Schüler von Ghiberti, arbeitete für die Kirchen L'Aquilas. Florentiner Miniatoren standen im Dienst des Kaufmanns und Kunstmäzens ]acopo di Notar Nanni. Neben Einflüssen aus Oberitalien, Florenz und Rom sind auch solche aus Deutschland zu spüren. Schon 1432 schuf Gualterius de Alemania für die mächtigste Familie der Stadt, die Camponeschi, ein Grabmal in S. Giuseppe. In einem Vertrag vom 3. November 1481 bewilligte der Magistrat der Stadt dem Adam von Rottweil das Recht, die erste und einzige Buchdruckerei in L'Aquila einzurichten, die eine nicht unbeträchtliche Produktion hervorbrachte. Auftraggeber für die Kirchenbauten waren zunächst die Bewohner der einzelnen Stadtteile. Später kamen die Zünfte hinzu. Diese bestellten auch das Grabmal von Coelestin V.
Das Beispiel von L'Aquila zeigt, daß sich hier durch die Gunst der sozialen Verhältnisse eine Renaissancekultur herausbilden konnte, die in den Abruzzen einzigartig ist. Sie entwickelte sich ohne Feudalherren und ohne benediktinische Tradition und wurde getragen von einem angesehenen freien Kaufmannsstand, der aus einer anfänglich armen Bevölkerung hervorgegangen war. Der gesellschaftliche Aufstieg sei nur an einem Beispiel illustriert. Vittoria Camponeschi war die Tochter des Pietro Lalle Camponeschi. Aus ihrer Ehe mit Giovanni Antonio Carafa ging Giovanni Pietro Carafa hervor, später berühmt als der strenge Papst Paul IV. Pietro Lalle Camponeschi gelang es, noch andere Töchter günstig zu verheiraten. Diana ehelichte Restaino Cantelmo, Graf von Popoli, Ginevra ging eine Ehe mit Luigi di Capua, Graf von Altavilla, ein. Eine weitere Tochter vermählte sich mit Restaino Caldora, Graf von Archi.
Keine Stadt der Abruzzen übertraf L'Aquila an Bedeutung von Handel und Gewerbe. Hier fanden große Messen statt, auf denen Verbindungen zur ganzen Welt geknüpft wurden, (S. 248) u. a. zu Nürnberg und Augsburg. Aufschlußreich ist ein Vermus, die vom Handwerker-und Kaufmannsstand getragen gleich mit der Messestadt Lanciano, wo man gleichfalls inwurde. L'Aquila ist die einzige Stadt in den Abruzzen, die ternationale Beziehungen pflegte. Wegen der anders gearteein historisches Bewußtsein für ihre Geschichte entwickelt ten soziologischen Bedingungen spielte dort die Renaissance hat, welche die Humanisten der Stadt aufgezeichnet haben. keine Rolle. In L'Aquila kam es zu einer Blüte des Humanismus, die vom Handwerker- und Kaufmannsstand getragen wurde. L'Aquila ist die einzige Stadt in den Abruzzen, die ein historisches Bewußtsein für ihre Geschichte entwickelt hat, welche die Humanisten der Stadt aufgezeichnet haben.
Handel, Verkehr, Bevölkerung
Handel
Bis in die neueste Zeit bestimmten die Land-und Vieh wirtschaft die Tätigkeit der Abruzzesen. Von der arbeitenden Bevölkerung waren 1956 noch 59,6 Prozent in diesem Wirtschaftsbereich tätig, während in der Industrie sowie im Transportwesen 25,2 Prozent und im Handel nur 15,2 Prozent beschäftigt waren. Einmalig innerhalb Italiens ist in unserer Region der Viehtrieb über lange Strecken, auf Wegen, die sich noch heute abseits von den modernen Straßen durch die Landschaft ziehen. Man trieb das Vieh in die römische Campagna bis vor die Tore Roms. Ein besseres Ziel fand man jedoch in dem fruchtbaren Apulien. Im November zogen die Herden aus dem abruzzesischen Hochland dorthin und wanderten im Mai zurück. Der Weg führte durch das Molise. Das Netz der Weidewege betrug mehr als 350 km. Zu den größeren Marschrouten gehören die Trakte von L'Aquila nach Foggia, vom Fuciner See nach Foggia, von Pescasseroli nach Candela in der Provinz Foggia, von dem Ponte della Zittola, zwischen Castel di Sangro und Alfedena nach Lucera, von S. Maria di Centurelle (Prov. Chieti) nach Montesecco (Prov. Foggia), von Pietra Canale (Prov. Chieti) zum Ponte Rotto (Prov. Foggia). Schon in der Römerzeit ist der Viehtrieb nach Apulien überliefert. Aus dem Verkauf der Weiderechte entstand dort ein gewisser Wohlstand, an dem die Feudalherren einen beträchtlichen Anteil hatten, wahrscheinlich bereits zur Zeit der Normannen, ganz sicher aber profitierten davon die Hohenstaufen unter Friedrich II. Eine entscheidende Wendung erfolgte um die Mitte des 15. Jahrhunderts. 1443 wurde das traditionsreiche Gewerbe in ein Staatsmonopol umgewandelt. König Alfons von Neapel (1442-1458) schuf eine Organisation, die die Weiderechte unter die Kontrolle des Königs brachte. Die eingesetzten Kommissare hatten in Foggia ihr Weidezollamt, das bis zum Jahre 1806 bestand. Den Landbesitzern in Apulien wurde verboten, direkt mit den abruzzesisehen Vieh treibern zu verhandeln; jene mußten ihre angestammten Rechte an die Kommissare abtreten, die dann ihrerseits eine von der Krone festgesetzte Summe an die Landeigentümer auszahlten. Um die Staatskasse zu füllen, erzwang man die Umwandlung von Ackerland in Weideland. Die Steuern wurden von den zahlungsfähigen Viehhaltern im voraus bezahlt. Sie erhielten damit das Recht, sich an den ärmeren nicht liquiden Arbeitskollegen schadlos zu halten, denen sie gegen übertriebenen Zins die Summe für die Weiderechte vorstreckten. So wurden die Unbemittelten Schuldner der Reichen.
1444/1445 wurden in Foggia 424642 Schafe und 9169 Stück Großvieh registriert. Einen Rekord brachte das folgende Jahr mit 1019821 Schafen und 13503 Stück Großvieh. Für je 100 Schafe verlangte der Fiskus acht Dukaten und für je 100 Stück Großvieh 25 Dukaten. Ein Gesetz von 1549 bestimmte, daß die Weidewege 60 Schritt breit sein mußten. Ihnen kam, ähnlich wie den Aquädukten der Antike, eine sakrosankte Bedeutung zu. Sie durften keine Beschädigungen erfahren. Die Gemeinden in den Abruzzen kümmerten sich um das Wohl ihrer Viehtreiber in der Fremde. So ließ die Gemeinde Pescocostanzo vor dem Jahre 1616 in Torremaggiore in der Provinz Foggia, wo viele ihrer Einwohner als Hirten tätig waren, eine Kapelle in der Kirche S. Maria della Strada errichten.
In größeren Städten, besonders in L'Aquila, wo anfänglich der Viehhandel beträchtliche Einnahmen brachte, bildete bald der Tuchhandel die Hauptquelle des Wohlstands. Ein großer Teil der Produktion wurde ins Ausland verkauft. Unter den Zünften, die dort bereits 1320 Bedeutung hatten, waren die Wollweber und Kaufleute weitaus am reichsten. In den Zollregistern von Ragusa aus dem 15. Jh. werden verschiedene Sorten von Tuch aufgezählt, die man aus L'Aquila bezog. Eine wichtige Stadt für die Wollweberei war T aranta Peligna, schon seit dem 14. Jh. bekannt. Die Erzeugnisse waren in Mittel-und Süditalien verbreitet und wurden als »tarante« bezeichnet. Besonders waren die dort hergestellten großen buntfarbigen Decken mit dekorativen Mustern begehrt.
Der Safran wächst in verschiedenen Gegenden Italiens, aber nirgends erlangte er die kommerzielle Bedeutung wie in den Abruzzen und besonders in L'Aquila. Die Blüten dienen zum Färben und als Gewürz für Speisen. Der im Herbst in gelblicher Farbe blühende Safran wurde in Ballen verkauft, und zwar sehr teuer, da eine große Menge von Blüten nötig ist, um ein Pfund davon zu erhalten. Der Anbau verlangt viel Pflege und ist riskant, da Regen die Gewächse in der Reifezeit äußerst gefährdet. Große Safrankulturen gab es in der Gegend von Navelli und S. Demetrio nei Vestini, andere in der Gegend von Sulmona und bei Magliano de'Marsi. Der älteste Hinweis auf den Safranhandel in L'Aquila stammt von 1317. Dieses Geschäft hat sich, obwohl die Produktion (S. 249) auch im übrigen Europa abgesetzt wurde, vor allem mit Deutschland entwickelt. Die Ware wurde über venezianische Kontore an deutsche Kaufleute vermittelt, doch seit 1455 sind direkte Einkäufe der Deutschen zu belegen. Auf den neun Safranmärkten des Jahres waren die Städte Nürnberg und Augsburg die Hauptabnehmer, und die Geschäftsbriefe zwischen diesen Handelszentren und dem Magistrat von L'Aquila gehen besonders im 16. Jh. hin und her. Unter den Kaufleuten begegnet öfter ein Marcus Relinger aus Augsburg, der auch zur Messe von Lanciano Beziehungen unterhielt. Zwei deutsche Safranhändler sind in die Geschichte von L'Aquila eingegangen. Im Kampf zwischen Franzosen und Spaniern mußte sich 1528 die Stadt der spanischen Krone unterwerfen. Die Folge war nicht nur der Bau des spanischen Kastells, sondern auch eine Geldbuße von 100000 Dukaten, die die Bürgerschaft dem spanischen Vizekönig Filiberto von Chälons-Orange (1529-1530) zu zahlen hatte. Da das Strafgeld nicht aufzubringen war, boten sich zwei deutsche Kaufleute an, die Summe unter der Bedingung vorzustrecken, daß die Stadtväter ihnen die nächste Safranernte zu einem Preis verkauften, den sie festsetzen würden. In der Not war man gezwungen, auf diesen nicht sehr fairen Vorschlag einzugehen, und es versteht sich, daß die Deutschen einen Spottpreis boten. Zu den fremdländischen Safranaufkäufern gehörten im 15. Jh. auch die Albanier, die in L'Aquila ihre Kontore betrieben. 1476 schenkte die Stadt ihre Erträge auf zehn Jahre an die Bauhütte von S. Bernardino in L'Aquila und stellte sie auf ein Jahr für Neubauten am Dom zur Verfügung.
Der wichtigste Rohstoff in den Abruzzen ist sicherlich der Stein, der in der Architektur eine so meisterhafte und liebevolle Behandlung erfahren hat. Das Gebirgsland ist übersät mit Steinbrüchen, die aber jeweils nur für die nächste Umgebung Bedeutung hatten. In einem weiteren Umkreis in den Abruzzen war die Steinbearbeitung von Lettomanoppello von Wichtigkeit. Im Groß-und Fernhandel erlangten die abruzzesischen Brüche nie die Bedeutung wie z. B. diejenigen von Carrara, Verona oder Vicenza. Ausfuhren in größerem Umfang sind kaum überliefert.
Die Metallindustrie ist in unserem Lande nie recht heimisch geworden. Der Rohstoff war nur spärlich an Ort und Stelle zu finden und mußte überwiegend von weither eingeführt werden. Dadurch entstanden Beziehungen zu Kaufleuten in der Fremde. In L'Aquila gab es seit den Anfängen der Stadt Unternehmen, die den Bedarf an Rüstungen deckten. Abnehmer war z. B. die Stadt Penne. Der dortige Magistrat bestellte zu wiederholten Malen Panzerhemden und Helme, allein im Jahre 1480 waren es je fünfzig Stück. Das Rohmaterial hierzu bezogen die Aquilaner vorzugsweise aus Ferrara. Silber verschaffte man sich in erster Linie aus Deutschland und verarbeitete es zu den berühmten Prozessionskreuzen und zu anderen Gegenständen des kirchlichen Gebrauchs. An der Metallverarbeitung hatte auch das Molise Anteil. Seit dem Mittelalter florierte in Agnone vor allem die Kupferindustrie. Die dortige Glockengießerei Fondazione Pontificia Marinelli war berühmt, und ihre Erzeugnisse wurden in ganz Süditalien verkauft. Hinzu kam noch die Fabrikation von Uhren mit einem Höhepunkt des Absatzes im 18. Jahrhundert. Die Eisen-und Stahlproduktion in Campobasso war wahrscheinlich bereits im 14. Jh. im Gange und erlebte eine Blütezeit im darauffolgenden Jahrhundert. In alten Zeiten fabrizierte man dort Schwerter, Degen und den metallenen Zubehör für die Ausrüstung von Fuß-und Reitertruppen. Im 18. Jh. beschäftigte man sich mit der Herstellung von Feuerwaffen. Als König Kar! von Neapel (1734 bis 1759) die Fertigung von Gegenständen für das Kriegshandwerk verbot, begnügte man sich fortan mit der Produktion von Löffeln, Federmessern, Scheren und anderem. Diese Waren wurden weit über das Königreich Neapel hinaus abgesetzt. Bis zum Jahre 1860 konnte sich Campobasso, in Analogie mit englischen Metallindustrien, das Sheffield des Königsreiches bei der Sizilien nennen.
Im 15. Jh. waren in Teramo Deutsche ansässig, die im Kupfer-und Messinghandwerk tätig waren. Sie fertigten große Metallteller, die »piatti abruzzesi«, die heute im Antiquitätenhandel so gesucht sind. Die Ornamente und die ikonographische Behandlung der Darstellungen verraten die deutsche Abkunft der Handwerker. Die Umschriften am Tellerrand sind immer in deutscher Sprache abgefaßt. Daneben finden sich ähnliche Teller, die vielleicht direkt aus Deutschland kamen, vor allem aus Nürnberg. Sie wurden in den abruzzesischen Messestädten umgesetzt und fanden bis nach Kalabrien starke Verbreitung.
Im 18. Jh. entstanden in L'Aquila und Sulmona Kleinindustrien, die auf die Herstellung von Saiten für Musikinstrumente spezialisiert waren. Der Verkauf erstreckte sich auf ganz Italien, und die Exporte gingen bis nach Frankreich. In Bisegna, im heutigen Nationalpark der Abruzzen, befand sich im 19. Jh. eine Eisengießerei in französischer Regie, die jedoch ständig von Existenzsorgen bedroht war. Immerhin beschäftigte das Werk zeitweilig 200 Arbeiter.
Natürlich sind auch moderne Industrien in die Abruzzen eingezogen mit der üblichen Verschandelung des Landschaftsbildes. Sie befinden sich u. a. in Scafa, Piano d'Orta und vor allem bei Bussi sul Tirino. Unterhalb dieses Ortes hat man einen Wasserfall zur Erzeugung elektrischer Energie benutzt, um die umliegenden Industrieanlagen zu versorgen. Dort kommt der Bauxit vor, und es werden Karbid und Kalziumkarbid produziert.
Im Verhältnis zu anderen italienischen Landschaften haben die Abruzzen in der Herstellung von Papier keine rühmliche Rolle gespielt. Trotz des reichlich vorkommenden Wassers, das zur Papieranfertigung nötig ist, kennen wir in früheren Zeiten in der Provinz L'Aquila nur vier Produktionsorte. Einer befand sich in der Gemeinde Pile, etwa 4 km von L'Aquila entfernt, wo sich das Flüßchen Vetoio mit dem Aterno vereinigt. Das früheste überlieferte Dokument, das dort die Papierherstellung bezeugt, stammt von 1483 j darin wird die Fabrik »valcheria« genannt, was mit dem deutschen Wort Walkerei zusammenhängt. Der Betrieb am Vetoio arbeitete unter wechselnden Besitzern noch im 19. Jh. und wurde etwa 1800 auf maschinelle Fertigung umgestellt, (S. 250) wobei man die erforderlichen Maschinen aus Holland bezog. Die älteste Nachricht von einer Papierherstellung in dem Ort Tempera, östlich von L'Aquila, stammt von 1512; die Fabrik war noch im vorigen Jahrhundert aktiv und arbeitete wie die am Vetoio mit Maschinen. In Celano bestand eine Papiermühle, die nicht modernisiert wurde. Bedeutender war die Produktion in Sulmona, wo wir sie vom Ende des 14. Jh. bis zum 19. Jh. verfolgen können. Verschiedene Unternehmen lagen nebeneinander am Flußlauf des Gizio. Ein gewisser Vannes Cartarius war im 15. Jh. Eigentümer gleich zweier Betriebe. Nicht weit entfernt davon unterhielt die SS. Annunziata ein eigenes Unternehmen, ein anderes gehörte dem vornehmen Stefano Tabassi aus Sulmona. Außerhalb der Stadtmauern existierte eine Papierfabrik mit Namen S. Ippolito.
Von den alten Handelserzeugnissen Sulmonas hat nur die Produktion der in den Abruzzen hochgeschätzten Mandelbonbons überlebt, die mindestens seit dem 16. Jh. zu belegen ist. Man setzt bunt glasierte Mandeln zu den verschiedensten Formen zusammen, und so entstehen Ketten, Karren, Körbe, Blumensträuße, Weintrauben und viele andere Gebilde mehr. Ähnlich beliebt war die Mandelindustrie in Agnone im Molise.
Die Produktion von Handelswaren brachte eine überregionale und internationale Kaufmannschaft in die Abruzzen. In L'Aquila und Sulmona unterhielten bereits im 14. Jh. bekannte Florentiner Bankhäuser wie die Acciaiuoli, Bardi und Peruzzi Filialen. Dann war in L'Aquila eine kleine Kolonie von venezianischen Kaufleuten ansässig. Auch ein Händler aus Verona, Tommaso Alferi, ist dort bezeugt, der sich vor 1489 in dieser Stadt niedergelassen hatte. In der 1282. gegründeten und 1703 durch Erdbeben zerstörten Kirche S. Agostino in L'Aquila wurde 1462. eine »Cappella Alemannorum Aquila degentium« geweiht, erbaut von deutschen Kaufleuten, die seit 1445 als Handelsleute dort tätig waren. In derselben Kirche befand sich eine 1480 gegründete Wohlfahrtseinrichtung unter dem Namen »S. Barbara dei Teutonici«. Ebenso gab es in der Stadt eine Bruderschaft, die sich aus französischen Händlern zusammensetzte.
Eine Hilfsquelle für die Wirtschaftsgeschichte bietet oft das Studium der Straßennamen. Viele erinnern an Städte oder Nationen, die in L'Aquila ihre Kontore aufgeschlagen hatten, Z. B. die Via dei Milanesi, Via dei Ferraresi und die Via dei Veneziani. Der Straßenname Via degli Alemanni bestand bis zum Ersten Weltkrieg 1915. Als die Italiener den Deutschen den Krieg erklärten, wandelte man den Namen in Via dei Belgi um, um das Volk der Belgier zu ehren, die von den Deutschen militärisch überrannt worden waren. In Chieti hieß die zur Kathedrale führende heutige Via Pollione einst Via dei Mercatanti oder auch Via dei Germanesi. Dort lagen die Verkaufsläden von Händlern aus Tirol, der Obleeher, Planer und Sannoner, Familien, die in Chieti zu hohem Ansehen gelangten. Im 16. Jh. intensivierten sich die Handelsbeziehungen zur gegenüberliegenden adriatischen Küste. Die Republik Ragusa verfügte über Handelsniederlassungen in den Abruzzen, z. B. im Jahr 1500 in Lanciano, und fünfzig Jahre später sind konsularische Vertretungen in Ortona und Vasto bezeugt.
Die größte Bedeutung erlangte der Handel in den Messestädten der Abruzzen. Während auf den Märkten die heimischen Erzeugnisse für den Eigenbedarf feilgeboten wurden, harten die Messen umfassendere Aufgaben zu bewältigen. Auch auf ihnen kamen die Güter des eigenen Landes zum Verkauf, darüber hinaus jedoch waren sie ein Umschlagplatz für Waren, die aus ganz Italien und gelegentlich auch aus dem Ausland kamen. Bedeutung als Messestädte erlangten Sulmona, L'Aquila und Lanciano. Sulmona unterhielt die einzige Messe, die durch königliches Dekret ins Leben gerufen worden war. 1233 hatte Kaiser Friedrich Ii. von Messina aus in seinem Südreich in fünf Städten Messen eingerichtet, dazu gehört Sulmona als einzige Stadt in den Abruzzen. Die dortige Messe fand alljährlich vom 23. April bis zum 8. Mai statt. Die eingeführten Waren blieben frei von königlichen Steuern. Die Blüte der Messe im 14. Jh. fiel mit der großen Zeit der Goldschmiedekunst in Sulmona zusammen. Die Messe von L'Aquila florierte am besten, als die Safranproduktion auf ihrem Höhepunkt war. Die Frühjahrs-und Herbstmessen waren dort mit großen Festen verbunden.
Eingehend sind wir über die internationale Messe von Lanciano unterrichtet, die im 16. Jh. die Handelsmärkte von Sulmona und L'Aquila an Bedeutung ablöste. Dieses »Emporium Frentanorum« wurde zur wichtigsten Messestadt im Königreich Neapel. Lanciano macht die Verschiebung der kulturgeographischen Schwerpunkte in den Abruzzen deutlich. Die Stadt entwickelte sich zur volkreichsten in Abruzzo Citra und übertraf an Einwohnerzahl Vasto und Chieti. Wurden früher die Verkehrswege des Binnenlandes bevorzugt, so erlangte nun die Küstenstraße von Ancona über Pescara nach Bari eine bis dahin nicht gekannte Geltung. Die Nähe des Meeres erschloß neue Verkehrswege zu Wasser. Venedig und Dalmatien wurden in die Interessensphäre der Abruzzen einbezogen. Unter dem Schutz Venedigs waren die Wasserstraßen auf der Adria sicherer als die durch Banditen gefährdeten Binnenwege. Zum Schaden des weiter entfernten Hafenortes Ortona bevorzugte man in Lanciano als Umschlagplatz das näher gelegene S. Vita, ein Hafen, auf den die Venezianer große Hoffnungen setzten.
Im Gegensatz zu anderen Messestädten, wo die Geschäfte in Kontoren, auf Straßen oder auf Plätzen vor einer Kirche abgewickelt wurden, schuf man in Lanciano ein eigenes Messegelände an der Stelle der heutigen Neustadt. Der riesige Platz war Eigentum der Gemeinde, und die Stände wurden an die Aussteller vermietet. Die Stelle war von der Altstadt durch ein enges, tiefes Tal getrennt, Valle Petrosa genannt, das heute zum Teil aufgeschüttet ist. Die Verbindung zum Messegelände stellte eine antike Brücke her, deren grandiose Anlage von der Talsohle aus noch gut zu erkennen ist. Darauf stand seit alters her ein Gotteshaus, das 1515 zur Bischofskirche und 1562, in der Blütezeit der Messe von Lanciano, zum Sitz des Erzbistums erhoben wurde.
Ähnlich wie in L'Aquila wurde auch in Lanciano für die (S. 251) Zeit der Messe ein Messerneister (magister nundinarum) mit eigenen Vollmachten eingesetzt. Die Stadt garantiert in dieser Zeit den Frieden, stellt Tag und Nacht Wachkommandos auf dem Messeplatz auf und kontrolliert zur Sicherung die Anfahrtswege nach Lanciano. Besondere Vergünstigungen erhielten Kaufleute, die im allgemeinen im Königreich unerwünscht waren. So konnten sich hier die Juden, die z. B. auf der Messe von Bari nicht in Erscheinung treten durften, frei bewegen. Man erlaubte sogar den verhaßten Türken, während der Messezeit ihren Geschäften nachgehen zu können. Bei Meinungsverschiedenheiten fanden die Ausländer Rechtsbeistand durch die Konsuln ihrer Länder. Wir begegnen dem Konsul von Ragusa, und auch die Juden besaßen eine eigene Vertretung.
Da es aus Sicherheits-und Verwaltungsgründen untunlich war, die Handelsabschlüsse in barem Geld zu tätigen, war die Stadt überschwemmt von Bankiers, die Einnahmen und Ausgaben der Händler durch ihre Institute bargeldlos regelten. Bankhäuser aus Genua, Florenz, Neapel und der Lombardei unterhielten hier ihre Filialen. Kaufleute aus allen Teilen Italiens boten ihre Waren feil. Sie kamen aus Sizilien, aus der Toskana und den Marken, aus Genua, Mailand, Monza, Bergamo, Cremona, Brescia, Salb und vor allem aus Venedig. Unter den Kaufleuten begegnet 1585 Marcus Relinger aus Augsburg, den wir schon als Safrankäufer auf der Messe von L'Aquila kennen lernten. In Lanciano läßt er sich durch einen gewissen Battista Miller vertreten.
Umgesetzt wurden alle nur denkbaren Erzeugnisse, Seide, deutsches Gewebe, Korn, Öl, Wein. Die Mailänder vertrieben Metallegierungen. Großen Umsatz harte die Glasindustrie von Venedig und Murano. Im Jahre 1580 wickelt der Glashändler Paulo de Luno seine Geschäfte in Lanciano ab. Selbst Kunstwerke wurden umgesetzt. Ein Käufer suchte ein Bild von bestimmter Größe und mit einem bestimmten Sujet bei den »maestri« Filippo aus Paris und Battista Tomasii aus Venedig; beide garantierten, das Gewünschte auf der Augustmesse 1541 zu liefern. Eine besondere Rolle spielte der Büchermarkt. 1575 erscheint in Lanciano Serafino Razzi, der um die Reform des Dominikanerordens in den Abruzzen bemüht war. Er kaufte für 60 Dukaten für den Orden ein. Die Hälfte der Ausgaben bezog sich auf Tuche und andere Dinge für den Lebensunterhalt der Mönche, die andere Hälfte diente zum Kauf von Büchern. Auf der Messe erstand er die Werke des Kirchenvaters Augustin, die Werke des Johannes Chrysostomus, die Werke Gregor des Großen und Bernhards von Clairvaux. Er treibt sogar die nicht sehr verbreitete »Summa theologica« des hl. Antoninus, eines Dominikaners, auf. Dieser war 1446 Erzbischof von Florenz und starb 1459. Die gesammelten Werke des Thomas von Aquin waren nicht vorrätig, aber Razzi erhielt das Versprechen, daß ihm die Bücher dieses Kirchenvaters auf der nächsten Messe im September nachgeliefert würden. Auf der Messe von 1598 ist der venezianische Buchdrucker Marco Varisco vertreten, dessen berühmtes Buchdruckerzeichen die Sirene darstellt.
Verkehr
Das Straßennetz der Römer genügte den Bedürfnissen des Mittelalters und der Neuzeit. Die Geschichte der Verkehrswege besteht im allgemeinen nur in der Instandhaltung und Ausbesserung schon vorhandener Anlagen. Der Tiefstand des Straßenbaus fiel mit dem Niedergang des Ackerbaus und des Handels im 18. Jh. zusammen. Die Reisenden in dieser Zeit beklagen sich immer wieder über den miserablen Zustand der Marschrouten, besonders im Hochland der Abruzzen. Im Mittelalter muß das Verkehrsnetz den Anforderungen einigermaßen entsprochen haben. König Manfred z. B. benötigte 1262. für die Strecke von Barletta über Lucera, Sansevero, Gambatesa, Campobasso, Boiano, Isernia nach Montecassino die Zeit vom 23. August bis zum 1. September. Bei einer Gesamtlänge von 250 km konnte der König im Durchschnitt täglich 25-30 km zurücklegen. Vom Ausbau des Traktes Sulmona-Isernia durch Karl II. Anjou hören wir aus dem Jahre 1302. Um diese vielbenutzte Straße kümmert sich sein Sohn Robert Anjou im Jahr 1328. Er bemüht sich um eine bessere Belieferung von Lebensmitteln für Sulmona mit der Begründung, daß der tägliche Zustrom von Reisenden zunähme. In Winterzeiten war der Weg über die Hochebene der Cinquemiglia besonders gefährlich, und wir kennen die Mühen Kaiser Karls V., dieses Hochtal zwischen Sulmona und Castel di Sangro verkehrstechnisch zu sichern.
Die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Neapel und Florenz seit dem 14. Jh. hatte eine starke Belastung der Straßen zur Folge. Die Aragonier dehnten den Handel nach Mailand, Ferrara und Bologna aus. Die Küstenstraße längs der Adria wurde immer wichtiger als Verbindungsweg zwischen den oberitalienischen Städten und Lanciano sowie Apulien, dann aber auch als Zulieferungsstraße für die Waren, die über das Adriatische Meer verschifft wurden. Serafino Razzi berichtet 1576, der venezianische Senat beabsichtige, die Hafenstelle Punta della Penna bei Vasto für bare Zechinen zu kaufen, so wichtig erschien der Platz an der adriatischen Küstenstraße für den venezianischen Handel. Das Hauptproblern in der Neuzeit bestand darin, daß die Lasten, die früher meistens von Tieren getragen wurden, auf zwei-oder vierrädrigen Ziehwagen mit größerer Kapazität befördert wurden. Damit wurde der moderne Straßenbau eingeleitet.
Zunehmende Bedeutung erhielten die Fernstraßen in der Neuzeit. Die moderne Kriegführung seit dem 16. Jh. mit der Bewegung schwerer Kanonen und Pioniergeräte erforderte ein wohlausgebautes Wegenetz, ebenso die wachsende Bevölkerungszahl und der steigende Handel.
Das Königreich Neapel bemühte sich erst während der französischen Zwischenherrschaft unter Murat um einen planmäßigen Ausbau der Straßen in unserer Region, der jedoch wegen der Kürze der französischen Hegemonie in den Anfängen stecken blieb. 1809 wurde die Neugestaltung des Traktes von Benevent nach Campobasso beschlossen, 1812. der Umbau der Strecke von Roccaraso nach Lanciano, (S. 252) 1813 die Neuanlage der Verbindung von Campobasso nach Guardia Sanframondi in der Provinz Benevent. 1814 sollte die Straße von L'Aquila über Rocca di Mezzo zum Fuciner See wiederhergestellt werden und im selben Jahr der Abschnitt von L'Aquila nach Popoli. 1815 begann die Modernisierung am Piano delle Cinquemiglia und am Trakt Giulianova-Teramo. Im reaktionären Europa von 1815 war jedoch wenig Raum für liberale Ideen, die Murat mit diesen Unternehmungen verband. Der nach Murats Sturz nach Neapel heimkehrende König Ferdinand I. konnte sich der Maßnahmen des Franzosen nicht ganz verschließen. Noch 1815 ordnete er den Ausbau der Straßen von Popoli nach L'Aquila und von L'Aquila nach Rieti an. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten die Abruzzen und das Molise ein vorzügliches Verkehrsnetz mit Asphaltstraßen, neuen Überlandwegen und Autobahnen. Die Bevorzugung des Straßenverkehrs erübrigte die Modernisierung des Eisenbahnnetzes, das seit dem 19. Jh. keine grundlegende Veränderung erfahren hat.
Bevölkerung
Die Bewohner der Abruzzen und des Molise haben sich seit ungefähr 1800 bis zur Volkszählung im Jahre 1971 verdoppelt auf 1486501 Menschen. Die Zunahme erfolgte in den größeren Städten, während die Zahl der Landbevölkerung ungefähr auf dem gleichen Stand geblieben ist. Dieser Unterschied ist mit dem Auge leicht zu fassen. Die dörflichen Siedlungen haben ihr Aussehen und ihre Ausdehnung kaum verändert, während wir in den Städten ausgedehnte Viertel des 19. Jh. und die modernsten Bauten des 20. Jh. finden, teilweise Hochhäuser, die unschön den Stadtkern umschließen. Ein plötzlicher Bevölkerungsanstieg erfolgte in den Jahren 1830 bis 1850. Bei der ersten Volkszählung im geeinigten Italien 1861 kam unsere Region auf 1212835 Bewohner, davon lebten 866828 in den Abruzzen und 346007 im Molise. Die Zunahme ist gegenüber den übrigen Landschaften Italiens, wo sich die Einwohnerzahl zwischen 1861 und 1971 fast verdoppelte, relativ gering. In diesem Zeitraum stieg in den Abruzzen die Zahl um 299866 Menschen an, während sie im Molise fast unverändert blieb, sogar eine geringfügige Abnahme von 26200 Bewohnern aufweist. Beobachten wir einen geringen Anstieg bis 1951, so folgt darauf ein rasanter Abstieg durch die Massenflucht der Landarbeiter aus den Abruzzen in andere italienische Landschaften und ins Ausland. So verloren die Abruzzen zwischen 1951 und 1961 etwa 71000 Einwohner, etwa 5,5 Prozent, und das Molise 49000, etwa 12 Prozent. Zwischen 1961 und 1971 kam es zu einem neuen Schwund, in den Abruzzen von 3,5 Prozent und im Molise von 10,7 Prozent. Auf Grund der Volkszählung von 1971 haben die Abruzzen und das Molise zusammen etwas weniger Einwohner als Ligurien mit 1 853 578 und nur etwas mehr als Sardinien mit 1473 800. Nimmt man das Molise allein, so hat es nach der Valle d'Aosta die geringste Einwohnerzahl in Italien. 1961 kamen in den Abruzzen durchschnittlich 112 Menschen auf einen Quadratkilometer und 84 im Molise, während der Durchschnitt in Italien 168 ist.
Wie die meisten Süditaliener leben auch die Menschen in unserer Landschaft in geschlossenen Ortschaften, im Molise sind es 79 Prozent, in den Abruzzen 63 Prozent. Innerhalb der Abruzzen sind die Ballungen in Siedlungsgebieten im Hochland stärker als im adriatischen Küstengebiet. Dieser Unterschied ist besonders augenfällig, wenn man von L'Aquila oder Sulmona kommend das Engtal von Popoli passiert, wo dann plötzlich die Streusiedlungen zur Adria hin beginnen. Die Zerklüftung des Hochlandes brachte verschiedene Lebensbedingungen mit sich, und so ist keine eigentliche Hauptstadt entstanden, deren Kultur auf das gesamte Gebiet ausstrahlte. In der Einwohnerzahl rangiert an erster Stelle die erst in diesem Jahrhundert schnell gewachsene Stadt Pescara. Mit nur halb soviel Einwohnern muß sich L'Aquila begnügen, dann folgen Chieti, Teramo, Campobasso und Avezzano.
Jährlich verlassen ungefähr 25000 Menschen die Abruzzen und das Molise, um sich in anderen Landschaften italiens Arbeit zu suchen. Die Abruzzesen bevorzugen Rom und Oberitalien, während die Molisaner noch aus alter Tradition sich gern nach Neapel absetzen. Darüber hinaus gehen jährlich 37000 Menschen ins Ausland. Ein großer Teil von ihnen sieht die Heimat nicht wieder. In den kleinsten Geschäften und in allen Orten fällt das Angebot der großen grünen Koffer für die Auswanderer auf. Die eigentliche Emigration begann 1866 und hatte gewaltige Auswirkungen auf die soziale und ökonomische Struktur des Landes. Das Ziel der Aussiedler waren anfänglich die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Brasilien und Argentinien. Bis 1899 verlor das Land jährlich im Durchschnitt 21000 Bewohner. Einen Höhepunkt erreichte die Emigration 1913, und, mit Ausnahme der Jahre des Ersten Weltkrieges, hielt sie sich auf diesem Höchststand bis zum Jahre 1927. Der Faschismus schränkte die Auswanderungen erheblich ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg war zunächst Venezuela das Hauptziel, neuerdings sind es die Schweiz und Deutschland.
Die Städte der Abruzzen waren durchsetzt von jüdischen Familien, die oft größere Kolonien bildeten. In Lanciano gab es 1447 ungefähr 638 Juden bei einer Einwohnerschaft, die 973 Familien zählte. 1520 treffen wir in Sulmona eine ansehnliche israelitische Gemeinde an. Die Stadt war ein Zentrum jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in Italien. Zahlreich waren die Juden im 16. Jh. in L'Aquila vertreten. Noch heute findet man dort neben der Kirche S. Flaviano die Judengasse (Via degli Ebrei). 1518 hält sich der berühmte jüdische Buchdrucker Girolamo Soncino, dessen Vorfahren im 15. Jh. von Speyer nach Soncino in der Provinz Cremona eingewandert waren, eine Weile in Ortona auf und hatte die Absicht, sich auf die Dauer in Chieti niederzulassen. Seine hervorragend gedruckten Bücher fanden aber zu geringen Absatz, und darum verließ er bald wieder die Abruzzen.
Das Wohlergehen der Juden hing vom Wohlwollen der Regierung in Neapel ab. Einiges über sie erfahren wir aus der Zeit der Anjou. König Robert (1304-1343) hatte die (S. 253) überkommenen Gesetze gegen die Juden noch streng im Griff. Als Kennzeichen mußten die Männer den Judenstern und die Frauen einen blauen Schleier tragen. Eine Erleichterung der Lebensbedingungen erfolgte unter Ladislaus (1386-1414). Die Israeliten erhielten die bis dahin größten Freiheiten. Der König gab ihnen die Erlaubnis, in Sulmona, L'Aquila, Lanciano und anderen Städten Schulen zu unterhalten und eigene Friedhöfe zu errichten. Die Gleichstellung mit den übrigen Bürgern hatte die Abschaffung der jüdischen Erkennungszeichen zur Folge. Königin Johanna II. (1414-1435) bestätigte und erweiterte die Privilegien ihres Vorgängers, sie förderte die Immigration der Juden und stellte jüdischen Finanzleuten in L'Aquila, Sulmona, Venafro und anderswo Schutzbriefe aus.
Gegen diese Stärkung und Zunahme der Juden in den Abruzzen richtete sich von religiöser Seite eine Bewegung der Franziskanerobservanten, die damit z. T. gegen die Staatsinteressen handelte. Protagonisten dieser Strömung sind die uns schon bekannten Bernhardin von Siena, Johannes von Capestrano und Giacomo della Marca. Auf ihren berühmten Wanderpredigten rüttelten sie die Bevölkerung gegen die Juden auf. Der Judenhaß ist z. T. Gegenstand der Predigten des hl. Bernhardin in L'Aquila und Chieti. Johannes Capestrano hielt in L'Aquila 1438 einen Zyklus von zwölf Reden gegen die Juden. Bei seinem Aufenthalt in Lanciano wiederholt er seine Kampagne, nötigt die Juden, in einer eigenen Straße zu wohnen, zwingt sie zum Tragen des Judensterns und beschneidet ihre ökonomischen Möglichkeiten. Das Ziel derartiger Schmähreden war, die arme Bevölkerung vor der Ausbeutung durch die Juden mit ihren übertrieben hohen Zinsforderungen zu schützen. Als Gegenmaßnahme richteten die Franziskaner ihre »Monti di Pieta« ein, Institute, die das Geld zinslos ausleihen sollten. Die notwendigen Mittel kamen aus Spenden und Almosen zusammen, weiterhin brachten Aktionen der Bruderschaften Unterstützung. Zeitweilig waren die Observanten verschiedener Meinung. Einige wollten das Geld umsonst verleihen, andere gegen eine geringe Gebühr. Die ersten Banken dieser Art finden sich in den Abruzzen in L'Aquila und Sulmona. Die Statuten des Monte di Pieta in L'Aquila stammen von 1466 und gehen auf Giacomo della Marca zurück. Die Verbindung dieses Bankhauses mit den Franziskanern ist hier leicht zu erkennen. Die Schlüssel für den Zugang zum Geldinstitut waren beim Aufseher der Franziskanerkirche S. Bernardino hinterlegt. Das Durchgreifen der Franziskaner veranlaßte Johanna II., ihre früheren Privilegien zugunsten der Juden zu widerrufen. Auf die Dauer hatten die Maßnahmen der Franziskaner freilich wenig Erfolg. Der Sinneswandcl der Königin war unter dem Druck der Verhältnisse nur von kurzer Dauer, und später erfuhr die Tätigkeit jüdischer Bankiers keine Beschränkung mehr.
Seit Jahrhunderten ließen sich die Zigeuner in unserer Region nieder, weniger in den Abruzzen als im Molise, wo sie Jelsi bevorzugten. Von dort aus zerstreuten sie sich und siedelten zwischen den Flüssen Fortore und Biferno. Heute noch lebt eine ansehnliche Kolonie von Zigeunern in Isernia.
Bemerkenswerter sind die Einwanderungen aus dem Balkan von Griechen, Serben, Kroaten, Dalmatinern und Albaniern. Der Grund ihrer Emigration war das Vordringen der osmanischen Völker in Osteuropa. Da deren Eroberungen im großen und ganzen von Osten nach Westen erfolgten, sind dementsprechend die Einwanderungen von Kroaten und Serben in der Regel früher als die der Dalmatiner und Albanier. Ein erster Einstrom findet nach 1389 statt, nach der Schlacht auf dem Amselfeld in Serbien. Der türkische Sultan Murad I. (1359-1389) verlegte als erster den Schwerpunkt des türkischen Reiches nach Europa und residierte in Adrianopel. Er fiel als Sieger auf dem Amselfeld in der von den Serben erzwungenen Entscheidungsschlacht. Die zweite Auswanderungswelle erfolgte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Der aragonische König Alfons I. (1435-1458) unterstützte Skanderbeg, mit christlichem Namen Georg Kastriota und albanischer Fürst, im Kampf gegen die Türken. Nach einer schweren Niederlage kam Skanderbeg 1461/1462 in das Königreich Neapel, diente dort der aragonischen Partei als Söldnerführer im Kampf gegen die Anjou und starb 1468. Die balkanische Immigration dauerte bis zum 18. Jahrhundert. Ihre neuen Siedlungsgebiete lagen in unserer Region in der Provinz Campobasso; spärlicher und meist später ließen sie sich in den Abruzzen nieder. über die genaue Herkunft der Einwanderer und über den Zeitpunkt ihrer Ankunft sind wir schlecht unterrichtet. Zu einer älteren Gruppe von Serben und Kroaten, die auch als »Schiavoni« bezeichnet werden, gehören im Molise die Einwohner von S. Felice del Molise. In diesem Ort, der vor dem Faschismus S. Felice Slavo hieß, wird heute noch ein kroatischer Dialekt gesprochen, während das Slawische als Schriftsprache nicht mehr üblich ist. Frühe Einwanderer siedelten in Montemitro und in Acquaviva Collecroce. Dort verwahrt man in der Kirche S. Maria noch kroatische Altarbilder des 17. Jh., u. a. das Gemälde mit dem Tod des Märtyrers Blasius, das aus Agram stammt. Siedlungen von Slawen begegnen wir in Mafalda, einer Gemeinde, die früher Ripalta dei Trigno genannt wurde. Dort ließen sie sich 1483 nieder, etwas später in Montelongo, S. Biase und Morrone del Sannio, wo heute noch ein Ortsteil »Schiavonia« heißt. Von der slawischen Siedlung S. Giacorno degli Schiavoni erfahren wir aus dem Jahre 1561.
Die eingewanderten Albanier behielten ihren griechischen Ritus in der Gegend von Larino bis 1650 in folgenden Orten bei: Rossi, S. Elena, Corneto, Torretta, Colle di Lauro und Ururi, sowie bis zum Jahre 1720 in Portocannone und Campomarino. Ururi besiedelten die Albanier 1456. Von dort gingen sie in die Gegend zwischen den Flüssen Biferno und Fortore und ließen sich nieder in Montecilfone (1461), Portocannone (1466), Campomarino und S. Croce di Magliano. Im letztgenannten Ort scheidet man ein Gebiet der »Griechen« von dem Bezirk der »Lateiner«. In Portocannone feiert man noch am Dienstag nach Pfingsten das Fest der Madonna di Costantinopoli. Sie war Patronin des Ortes, den die Albanier zehn Jahre nach dem Erdbeben von 1456 wiederaufbauten. Am Festtage werden von Ochsen gezo (S. 254) gene Karren vorgeführt in Erinnerung an die Legende, nach der die Schutzheilige auf ähnliche Weise vor den Türken geflohen war. Der schon öfter genannte Serafino Razzi hielt sich 1576 in Campomarino auf und bemerkt, wie dort die griechische Sprache neben der italienischen geläufig ist. Ein Schulmeister aus Kreta, Fra Domenico, unterrichtete die griechisch sprechenden Buben in italienischer Sprache.
In den Abruzzen kennen wir albanische Niederlassungen aus dem 1 8. Jahrhundert. Flüchtlinge siedelten in dieser Zeit in Abbateggio, einem Ort, der früher zum Hause Farnese gehörte. 1774 zählte man in Pianella 23 albanische Familien, die sich selbst verwalteten. Villa Badessa, ein Ortsteil von Rosciano, ist die jüngste albanische Kolonie Italiens. Die Einwanderer kamen aus der Gegend von Himara in Südalbanien. Sie flüchteten 1774 aus ihrer Heimat und erreichten zwei Jahre später, nach einem Zwischenaufenthalt in Korfu, den abruzzesischen Ort.
Konnte man vor einer Generation noch den balkanischen Sprachen und Gewohnheiten begegnen, so wird in der Gegenwart die Eigenheit dieser Bevölkerungsgruppe immer weniger greifbar, bedingt durch die italienische Sprache als Pflichtfach in den Schulen, durch Radio und Fernsehen. Moderne Verkehrsmirtel bringen die Bevölkerung, die bis vor kurzem fast abgeschnitten lebte und nur auf kümmerlichen Wegen zu erreichen war, in Kontakt mit der italienischen Umwelt. Gegen diese Gleichschaltung werden Bemühungen um Pflege der Diaspora, die vor allem in Montemitro, S. Felice und Acquaviva Collecroce betrieben werden, kaum ankommen. Die Anstrengungen sind rührend. 1976 weihte Kardinal Seper, Erzbischof von Zagreb, den neuen Kirchturm von Acquaviva Collecroce. Bei einem italienischen Staatsbesuch hat man den jugoslavischen Staatschef Tito gebeten, ein gutes Wort für die Minderheiten im Molise einzulegen. Schließlich ist man mit ähnlichen Bitten an Papst Johannes Paul II. herangetreten, im Glauben, als Slawe könne er Hilfe bringen. Aus dem Molise ausgewanderte Personen balkanischer Herkunft bemühen sich in Toronto in Kanada um die Erstellung einer serbo-kroatisch-molisanisehen Grammatik und eines Wörterbuches.
Große Adelsfamilien
Vorbemerkung
Die Feudalaristokratie wurde am Anfang des 19. Jh. abgeschafft. Bis dahin unterstanden ihr in den Abruzzen und im Molise die meisten Siedlungen und Ländereien. Die Feudalherren waren abhängig vom Wohlwollen des Königshauses in Neapel. Da die verschiedenen Nationen angehörenden Anwärter auf den Thron ständig wechselten, war die Entscheidung für die richtige Partei oft ein Hasardspiel. Hatte man auf die falsche Karte gesetzt, drohte eine Einziehung der Lehnsgüter, während im umgekehrten Fall eine Mehrung erfolgen konnte. Der Hochadel versuchte, seine besten Vertreter als Beamte oder Kriegsmänner in den Staatsapparat einzuschleusen, und da der jeweilige König auf ihre Mithilfe angewiesen war, erlangten sie häufig eine große Selbständigkeit und konnten so erfolgreich werden, daß sie die politischen und militärischen Geschicke des Königreiches selbst entschieden. Dessen internationale Verflechtung hatte zur Folge, daß die abruzzesischen Feudalherren in ganz Europa bekannt wurden. Sie saßen in Neapel, Rom, Paris, London, Madrid und in vielen anderen Städten Europas. Sie lieferten seit dem 15. Jh. die besten Kondottieri, die Italien zu bieten hatte. Im Okzident und Orient führten sie ihre Truppen an. Gelegentlich vermied man den Weg über Neapel in die große Welt. Man paktierte mit den Gegnern des Königshauses. So entstand z. B. zur Zeit der französischen Ansprüche auf Neapel in Paris eine Kolonie von Ausgewiesenen und in der Heimat Unzufriedenen, zu denen auch Abruzzesen gehörten, die auf diese Weise im Ausland zu hohem Ansehen gelangten. Es gibt eine Anzahl von Abruzzesen, die in der Fremde bekannter geworden sind als im eigenen Lande.
Wer heute die Abruzzen bereist, hat den Eindruck, daß die einsamen und unentwickelten Siedlungen des Berglandes Relikte vergangener Zeiten sind, in denen sich wenig verändert hat. Jedoch trifft das durchaus nicht zu, sondern der Wandel ist in der Tat sehr groß. Die Entwicklung zur geistigen und materiellen Armut ist eine Angelegenheit des späteren 18. und des 19. Jh., teilweise verursacht durch die Abschaffung geistig reger Signorien. Die bescheidensten Dörfer in unserem Gebirgsland haben häufig eine Geschichte, die nicht nur von lokaler Bedeutung ist sondern auch auf die Kultur Italiens und darüber hinaus ausgestrahlt hat. Das Anliegen der nächsten Kapitel ist zu zeigen, wie einstmals die Abruzzen eine ganz andere Geschichte hatten als es heute erscheinen mag.
Das Verhältnis der Granden zu den Abruzzen bleibt bis zum 19. Jh. zwiespältig. Wir kennen Familien, die ihren Besitz als willkommene Pfründe ausnutzten und lieber in Neapel oder Rom residierten als im kargen Hochland. Daneben gibt es Geschlechter, die trotz internationaler Verflechtungen immer auf das Wohl ihres Landes bedacht waren. Zu ihnen gehören vornehmlich die Grafen von Celano, die Cantelmi, Caldora, D'Avalos, die Colonna von Tagliacozzo und die Farnese. Insbesondere ist eine Geschichte der Abruzzen gar nicht zu schreiben, ohne auf die Bedeutung des Hauses Acquaviva einzugehen.
(S. 255)Die Grafen von Celano
Die große Zeit des Hauses Celano lag im Mittelalter. Die Wirksamkeit dieses Geschlechts zog sich bis in die Anfänge der Renaissance hin. Bis zum 15. Jh. beherrschten die Grafen das Marserland und die Gegend von Gagliano und Castelvecchio Subequo. Diesen letzteren Ort bevorzugte Roger II. von Celano (gest. 1393), der sich 1379 in das dortige Franziskanerkloster zurückzog. Auf seine Veranlassung entstanden hier die bekannten Fresken mit Darstellungen aus der Legende des hl. Franz von Assisi. Sein Enkel Nikolaus baute in Castelvecchio Subequo das neue Kastell, und ihm verdanken wir Aufträge für Goldschmiedearbeiten in S. Francesco, für die »Pasquarella« und andere Reliquiare. Er hatte nur eine Tochter, Iacobella, die bald nach ihrer Heirat mit einem Caldora etwa 1439 starb. Mit ihr endete die Geschichte des Hauses Celano.
Die Familie Cantelmo
Trotz ihrer weitgestreuten Besitzungen in den Abruzzen suchten die Cantelmi die Erfüllung ihrer Wünsche vorzugsweise außerhalb des Landes. Die Familie kam aus Frankreich und wurde von Kar! I. Anjou mit großen Ländereien in unserer Region bedacht. Als Stammvater in den Abruzzen gilt der Provenzale Giacomo Cantelmo. Der König von Neapel bediente sich seiner für seine politischen Vorhaben. Giacorno vertritt Kar! I. als Senator von Rom, in der Capitanata verwaltet er die konfiszierten Güter des in der Schlacht bei Benevent gefallenen Königs Manfred und befehligt Truppen im Kampf bei Tagliacozzo gegen Konradin. In königlichen Diensten ist er in der Lombardei und der Provence tätig. Auf dem Konzil von Lyon vertritt er 1275 die Interessen seines königlichen Gönners. 1284 erscheint er als Justitiar in Abruzzo Citeriore. Belohnt wird Giacomo mit Ländereien in den Abruzzen. Er erhält u. a. Popoli, Caramanico, Navelli, Pretoro, Pratola Peligna, La Torre di Rocca Evandro, Pizzoli. Der 1288 verstorbene Giacomo setzte seinen Sohn Restaino zum Erben ein. Dieser hatte zunächst seinen Vater in die Lombardei und Provence begleitet. Später ruft ihn Papst Bonifaz VIII. in den Kirchenstaat zur Erledigung militärischer Aufgaben, und danach sehen wir ihn als Justitiar in den Abruzzen wieder. Hier erweitette er seinen Landbesitz beträchtlich, und durch eine zweite Heirat erwarb er noch andere Güter hinzu. Die Häufung von Reichtümern band ihn nicht an die Abruzzen, vielmehr errichtete er in Neapel an der Piazza d'Arco einen Palast als seine Residenz, der heute verschwunden ist. Nach seinem Tod 1310 folgte ihm sein Sohn Giacomo (gest. 1333). Dieser war oberster Militär in Abruzzo Citeriore und wirkte in Sizilien, der Toskana und in der Provence. Die Schicksale der Nachkommen vollziehen sich in ähnlicher Weise. Sie sind Verwalter ihres abruzzesischen Besitzes und sind meist als tapfere Krieger tätig mit höchsten Ämtern im neapolitanischen Staatsapparat. Unter diesen ragt Giovanni hervor, Graf von Popoli, erzogen von seiner Mutter Giovanella Carafa und seinem Onkel, dem Kardinal Carafa, dem späteren Papst Paul IV. Als Kriegsmann begleitete er Kaiser Kar! V. auf dem Feldzug nach Tunis, trat 1555 in päpstliche Dienste ein und befehligte das Heer des Kirchenstaates. 1557 wurde er zum Herzog von Popoli ernannt. Er war den Wissenschaften zugeneigt, ein freigebiger Mäzen und Autor zahlreicher, zum größten Teil verlorener Gedichte. überkommen ist sein Werk »La Psiehe«, das 1566 postum in L'Aquila gedruckt wurde. Giovanni starb 1560. In Pettorano sul Gizio kam 1598 Andrea Cantelmo zur Welt. Er diente u. a. im Heer des Kaisers Ferdinand H. von Österreich (1619-1 637) und befehligte im dreißigjährigen Krieg zwei Kavalleriekompanien in Böhmen, Mähren, Schlesien und Westfalen. Nach einem Aufenthalt in Oberitalien kämpft er 163 I in Flandern und Luxemburg, dann in Deutschland gegen Gustaf Adolf von Schweden. Andrea ist an der Befreiung von Frankenthai und an der Eroberung von Speyer beteiligt, 1633 wirkt er mit an der Befestigung von Kleve, und 1635 verteidigt er sich mit seinen Truppen in den Niederlanden gegen die französische Invasion. In der Gegenoffensive wirkte er erfolgreich in Frankreich, wurde Artilleriegeneral im Elsaß und 1638 Generalgouverneur von Flandern. Als Sieger zog er in Antwerpen ein. Nach weiteren Erfolgen in Frankreich berief man ihn 1644 als hohen Militär nach Spanien, wo er ein Jahr später starb. Andrea war ein Erfinder von Feuerwaffen, er klügelte besondere Arten von Bomben aus und eine Pistole, die 25 Schüsse nacheinander abgeben konnte. Er verfaßte einen Traktat über die Kriegskunst und schrieb seine Kriegserinnerungen, die heute verloren sind.
Sohn des Fabrizio, Herzog von Popoli und Fürst von Pettorano, ist der 1640 in Neapel geborene Giacomo Cantelmo. Er schlug die geistliche Laufbahn ein und gilt als der glänzendste in der Reihe der neapolitanischen Erzbischöfe im 17. Jahrhundert. Er starb 1702. Sein Bruder Restaino Cantelmo, geboren 1653 in Neapel, übernahm 1693 das Herzogtum Popoli. Er war Politiker und einer der besten Vertreter der aristokratischen Gesellschaft in Süditalien. Als Diplomat betätigte er sich in Spanien, erhielt 1714 den Orden vom Goldenen Vlies und starb 1723 in Madrid.
Die Familie Caldora
Ähnliche Bedeutung wie die Cantelmi erreichten im 14. und 15. Jh. die Caldora. Die wichtigsten Vertreter waren die Nachkommen des Giovan Antonio Caldora, der ausgedehnte Ländereien in den Abruzzen besaß. Aus seiner Ehe mit Rita Cantelmo gingen drei Söhne hervor, der früh verstorbene Restaino, Giacomo und Raimondo. Giacomo kam 1369 in Castel dei Giudice im Tal des Sangro zur Welt. Er heiratete Medea von Eboli, die ihm als Hochzeitsgabe Besitzungen im Molise in der Gegend von Trivento zuführte. Giacomo schlug die Militärlaufbahn ein und erlangte hohe Stellungen im Dienst des Königs Ladislaus und der Königin Johanna II. Treulich hielt er zur Partei der Anjou und vermittelte häufig als Schiedsrichter zwischen den streitenden Kronprätendenten der Anjou und der Aragonier. Johanna II. (S. 256) ernannte ihn 1424 zum obersten Heerführer des Königreichs. Für seine Verdienste wurde er reichlich belohnt; er konnte seinen Besitz weit über die Abruzzen hinaus ausdehnen. 1430 erhielt er von der Königin das Herzogtum Bari. Damit gehörte er zu den mächtigsten Persönlichkeiten des Südreichs. Ruhm erlangte er als Kondottiere im Kirchenstaat und durch den Sieg über Braccio di Montone, den Usurpator der Stadt L'Aquila. Stets war er auf die Mehrung seiner Hausmacht bedacht. Er starb im Herbst 1439 an einem Gehirnschlag. Sein Sohn Antonio sorgte für seine Beisetzung in der Familienkapelle in der Kirche der Coelestiner S. Spirito bei Sulmona.
Der jüngere Bruder Giacomos, Raimondo, vermählte sich mit einer Verwandten, Maria Caldora, Witwe des Berlingiere Cantelmo, die ihm als Mitgift viele Güter in Abruzzo Citeriore einbrachte: Civita Luparella, Quadri, Pizzoferrato, Montemiglio, Fallo, Pilo, Rosello, Civita Borella, Pesco Pignataro und Santangelo. In seiner politischen Haltung war Raimondo ungeschickter als sein Bruder. Durch zwiespältiges Taktieren erreichte er kaum dauernde Erfolge. Die letzten Nachrichten von ihm stammen aus dem Jahr 1442. Nach dem Tode seiner Frau Maria 1449 wurden die von ihr in die Ehe eingebrachten und andere von Raimondo zusätzlich erworbene Güter vom Staate eingezogen.
Die Glanzzeit der Caldora endet mit Antonio, der 1439 Hab und Gut seines Vaters Giacomo geerbt hat. Am Hofe von Neapel bewegte er sich unentschieden zwischen den Fraktionen der Anjou und der Aragonier. Glück und Unglück begleiteten seine Militärlaufbahn. In entscheidenden Augenblicken konnte er jedoch die Geschicke des Königreichs wesentlich beeinflussen. Nach seinem Tod, nach 1477, wurden seine Besitzungen aufgeteilt und gerieten an andere Feudalherren.
Das Haus Tagliacozzo
Die Familie Celano, die das Marserland durch Jahrhunderte vorzüglich verwaltet hatte, erlosch im 15. Jahrhundert. Um das Gebiet stritten sich hartnäckig ursprünglich aus Rom stammende Familien, die Orsini und Colonna. Nach ingrimmigen Kämpfen erlangten schließlich die Colonna die Oberhand. Seit 1497 war Fabrizio Colonna (gest. 1520) Herr im Marserland und nannte sich Herzog von Tagliacozzo oder Herzog der Marser. Die Anwesenheit der Colonna in diesem Gebiet endete mit der Aufhebung des Feudalsystems im Jahr 1806. Unter Fabrizio erlebte die Stadt Avezzano eine erste Blütezeit. Ferdinand, König von Neapel (1503-1516),setzte ihn als Gouverneur der Abruzzen ein. Machiavelli rühmt diesen Kriegsmann in seinem Werk »Arte della guerra«. Der auch außerhalb der Abruzzen zahlreiche Güter besitzende Fabrizio heiratete Agnese von Montefeltro. Aus dieser Ehe ging die berühmte Dichterin Vittoria Colonna (1490 bis 1547) hervor, Gemahlin des Ferrante D'Avalos, Marchese von Pescara. Drei Söhne des Fabrizio starben vor dem Vater, so daß der einzige männliche Nachkomme Ascanio (gest. 1555) Herzog von Tagliacozzo wurde. Berühmter als er wurde sein Sohn Marcantonio. Durch Einheirat in das Haus Orsini beendete er die immer noch schwelenden Rivalitäten zwischen beiden Adelshäusern. Felice Orsini wurde seine Frau. Marcantonio wählte Avezzano zur Residenz, verschönerte die Stadt durch bessere Straßen und Brunnenanlagen und modernisierte das Kastell, das einstmals im Besitz der Orsini war. Berühmt wurde er als Admiral der päpstlichen Flotte in der Türkenschlacht bei Lepanto. Er starb 1584 als Vizekönig von Sizilien. Zu den angesehenen Vertretern des Hauses gehören u. a. Federico (gest. 1641), der sich als Offizier in Spanien auszeichnete, und Lorenzo Onofrio Colonna, Herzog von Tagliacozzo, 1687-1688 kurze Zeit Vizekönig von Neapel. Zu seiner Bekanntheit trug auch seine Gemahlin Maria Mancini bei. Sie war eine Nichte Mazarins, und wie so viele andere Nichten des Kardinals fiel sie durch einen ungeordneten Lebenswandel auf.
Das Haus D'Avalos
Der Aragonier Alfonso I. Magnanimo, König von Neapel, verpflanzte einen Zweig der spanischen Familie Avalos (D'Avalos) nach Neapel. Die Abkömmlinge, die Spanien immer treu ergeben blieben, gehörten zu den angesehensten Persönlichkeiten des Königreichs mit hohen Staats stellungen und vornehmen Palästen in der Hauptstadt. Seit dem 16. Jh. residierte ein Familienzweig der Fürsten von Avalos in Montesarchio in der Provinz Benevent. Folgenreichere Bedeutung erlangten die Avalos jedoch auf ihren Besitzungen in den Abruzzen. Die ersten Landgüter dort erwarb Innigo D'Avalos durch Heirat mit Antonella D'Aquino, Marchesa von Pescara, Gräfin von Loreto Aprutino und Monteodorisio. Mit diesem Kriegsmann beginnt der Ruhm der Familie. Sein erstgeborener Sohn Alfons kämpfte gegen Karl VIII. von Frankreich und wurde 1495 durch Verrat getötet. 1496 überließ König Ferdinand II. von Neapel dem Rodrigo, Graf von Monteodorisio, die Grafschaft Vasto, die bis 1798 im Familienbesitz blieb.
Der ruhmreichste Vertreter ist Ferdinando (Ferrante) Francesco D'Avalos, in der Geschichte auch schlicht unter dem Namen Pescara bekannt. 1490 in Neapel geboren, lebte er in den Abruzzen und verwaltete seine Güter in Vasto und Pescara. Anfänglich als Feldherr seinem Kaiser Karl V. zur Seite stehend, erfocht er in Oberitalien großartige Siege gegen die Franzosen. Er brachte Mailand und Genua in die Gewalt des Kaisers, und in der größten Schlacht des Jahrhunderts besiegte er am 24. April 1525 König Franz I. von Frankreich entscheidend bei Pavia. Dort wurde er zum zweitenmal verwundet und starb an den Folgen am 4. November desselben Jahres in Mailand. Seinen Leichnam überfühne man nach Neapel, wo seine Grabstätte noch heute in der Kirche S. Domenico Maggiore zu sehen ist. Die Schlacht bei Pavia ist wahrheitsgetreu und lebensfrisch auf sieben großen Bildteppichen festgehalten, die nach Entwürfen der Bernart von Orley in Brüssel gewebt und von Kaufleuten dieser Stadt Karl V. geschenkt wurden. Aus Dankbarkeit für die Taten des Marchese Pescara vermachte der Kaiser die (S. 257) Kunstwerke dem Hause Avalos. Aus diesem Familienbesitz kamen sie 1862 als Stiftung in das Nationalmuseum von Neapel und sind heute ein Schmuckstück der Sammlung in Capodimonte.
Ferdinando Francesco D'Avalos heiratete 1509 eine der geistvollsten Frauengestalten ihrer Zeit in Italien, die gleichaltrige Vittoria Colonna. Der Palast in Vasto war zeitweilig ihre Residenz. Sie suchte Kontakte zu einflußreichen italienern, die eine durchgreifende Reform der katholischen Kirche anstrebten. Mit Michelangelo verband sie innige Freundschaft. Nach dem Tode ihres Gatten verfaßte sie die berühmten »Rime«, die zu ihren Lebzeiten viermal im Druck erschienen. Im ersten Teil dieser Gedichte gedenkt sie des verstorbenen Gatten, und im zweiten gibt sie sich völlig religiösen Meditationen hin. Der große Humanist Paolo Giovio aus Corno, der sich 1535 bei der Rückkehr Karls V. aus Tunis in Neapel aufhielt, verfertigte eine Lebensbeschreibung des Ferdinando Francesco D'Avalos. Kurz vor seinem Tode wurde der Markgraf von Pescara in eine Verschwörung gegen die kaiserliche Partei hineingezogen, auf die er scheinbar einging, um den ganzen Plan Karl V. zu eröffnen. Diese Vorgänge gaben Conrad Ferdinand Meyer den Stoff zu seiner Novelle »Die Versuchung des Pescara«, die 1887 in Leipzig erschien.
Die Ehe des Pescara mit Vittoria Colonna blieb kinderlos. So kamen die Besitzungen in den Abruzzen an seinen Vetter Alfonso (1502-1546), Markgraf von Vasto. Auch dieser stand in Diensten Karls V. gegen die Franzosen. Von seinen Söhnen wurde Ferdinando Francesco (gest. 1571) sein Nachfolger. Philipp II. ernannte ihn zum königlichen Prokurator in Neapel. Er begleitete Philipp II. zu dessen Hochzeit nach Winchester, wo der König sich am 26. Juli 1554 mit Maria I. Tudor, Königin von England, genannt Maria die Katholische, vermählte. Von 1568 bis zu seinem Tod war Ferdinando Francesco Vizekönig von Sizilien. Sein Sohn AIfonso D'Avalos kämpfte auf kaiserlicher Seite als General der Kavallerie in Flandern und wurde in den Orden vorn Goldenen Vlies aufgenommen.
Die Familie Acquaviva
Am innigsten mit der Geschichte der Abruzzen verwachsen ist die Familie Acquaviva. Sie war differenzierter als alle anderen Feudalaristokratien, und ihre Mitglieder zeichneten sich nicht nur als Krieger aus sondern auch als Staatsmänner, Geistliche und Gelehrte. Die Acquaviva brachten fünf Kardinäle hervor, von denen Giulio (gest. 1574) schon mit 14 Jahren den Purpur erhielt, einen Jesuitengeneral, einen Märtyrer und Heiligen, Erzbischöfe und Bischöfe. Als Krieger gegen die Türken standen sie häufig der bedrängten Regierung treu zur Seite und schufen sich, nicht immer als bequemste Untertanen, eine selbständige Hausmacht. Die Anfänge und die Herkunft des Geschlechts liegen im Dunkeln. Schon im 12. Jh. werden Ländereien in den Abruzzen von Kaiser Heinrich VI. bestätigt. Die Nachkommen mehren ihre Güter und werden mächtig in Atri, Giulianova und Teramo, sie erlangen Latifundien außerhalb des Stammlandes, und ihre Besitzungen enrwickeln sich zu den mächtigsten Baronien in Süditalien. Das Herzogtum der Acquaviva entstand in Atri, wo von 1395 bis 1755 neunzehn vortreffliche Herzöge die Geschicke lenkten. Die Familie wurde bald so zahlreich, daß es zu Teilungen kam und sich selbständige Zweige bildeten. Seit dem 14. Jh. residierten die Acquaviva in S. Valentino in Abruzzo Citeriore, als eigene Feudalherren regierten die Markgrafen von Bellante und Conversano, die Fürsten von Caserta (bis 1635), und ein Familienzweig, die Grafen und Herzöge von Nardo in der Provinz Lecce, hielt sich bis zum Jahre 1516. Die Acquaviva von Conversano in Apulien gehörten bis zum 16. Jh. zum Herzogtum Atri und stellten dann bis zur Auflösung des Feudalsystems im 19. Jh. eine bedeutende Hausmacht dar. Außer den Residenzen auf ihren Ländereien unterhielten die Acquaviva Wohnpaläste in Neapel und Rom.
Über den Besitz der Acquaviva in den Abruzzen sind wir seit dem Ende des 14. Jh. gut unterrichtet. König Ladislaus förderte den Antonio Acquaviva und ernannte ihn 1383 zum Justitiar in den Abruzzen. Später erhielt er vom König die Lehen von S. Flaviano und Montorio, und 1393 wurden ihm die Besitzungen in Atri und Teramo bestätigt. Seinen Sohn Andrea Matteo (gest. 1407) verheiratet er mit Caterina Tomacelli, einer Nichte des Papstes Bonifaz IX., und anläßlich dieser Verbindung vermehrte sich der Grundbesitz um S. Omero, Canzano und Corropoli. Dieser Sohn erhielt als erster den Titel eines Herzogs von Atri. Als Vertrauter des Königs Ladislaus begleitet er 1402 dessen Schwester Giovanna von Durazzo, die spätere Königin Johanna II., nach Zara in Dalmatien, um dort den ihr zugedachten Gatten, Wilhelm, Herzog von Österreich, in Empfang zu nehmen. Das Wappen des Andrea Matteo ist an dem schönen 1397 errichteten Stadtturm von Mosciano S. Angelo zu sehen, der sich links vor der Fassade der Pfarrkirche erhebt.
In der zweiten Hälfte des 15. Jh. dehnen die Acquaviva ihren Machtbereich über die Grenzen der Abruzzen aus. 1456 vermählt sich Giulio Antonio mit Caterina Orsini, die ihm als Mitgift Güter in Apulien einbringt, vor allem die Stadt Conversano. Giulio Antonio schloß sich anfänglich der Politik seines Schwiegervaters Giovanni Antonio Orsini (gest. 1463) an, der mit anderen Baronen die Machtstellung des Königs Ferdinand I. von Neapel (1458-1494) zu erschüttern versuchte. Nach dem Tode des Orsini ergriff Giulio Antonio die Partei des Königs, dem er dann bis zu seinem Tode treu blieb. Dieser Herzog von Atri war der Erbauer von Giulianova, einer Stadtgründung der Renaissance, der man in der Forschung noch viel zu wenig Beachtung geschenkt hat. Am 27. Juli 1460 wurde durch Kriegswirren das berühmte Castrum Divi Flaviani zerstört. Die Vernichtung des Ortes, Sumpfbildungen und ungünstige klimatische Verhältnisse veranlaßten Giulio Antonio, eine neue Stadt unweit der alten landeinwärts auf den ersten fruchtbaren Hügeln anzulegen. Dem neuen Ort verlieh er seinen eigenen Namen. Die Siedlung wurde über einem viereckigen Grundriß errichtet und besaß eine starke Stadtmauer mit acht Befe (S. 258) stigungstürmen, von denen noch einer erhalten ist. Ungefähr in der Mitte der neuen Stadt errichtete er an einem weiten Platz seinen herzoglichen Palast und diesem gegenüber den schönsten Zentralbau der Abruzzen, die Kirche des hl. Flavianus, dessen Reliquien einst im alten Castrum die höchste Verehrung erfahren hatten.
Die dem Aragonier erwiesenen Dienste waren so groß, daß Ferdinand I. den Giulio Antonio in seine Familie aufnahm und ihm und seinen Nachkommen gestattete, den Namen Aragona an den Namen Acquaviva anzuhängen und das aragonische Wappen seinem Hauswappen einzufügen. Der König freute sich, diese Ehren auf den Sohn des Giulio Antonio, auf den 1457 geborenen Andrea Matteo Acquaviva, übergehen zu sehen, der schon Markgraf von Bitonto war und vom König als »noster alumnus«, unser Zögling, bezeichnet wird. Seit dieser Zeit spricht man von den Acquaviva d'Aragona. Im Dienste des Königs kämpfte Giulio Antonio gegen die Türken, die 1480 die Stadt Otranto in Apulien erobert hatten. In einem erbitterten Gefecht fiel er im Februar 148 I, sein Haupt wurde vom Rumpf abgeschlagen und als Trophäe in Konstantinopel gezeigt. Alle Bemühungen, die Siegesbeute, auch gegen Geld, zurückzuerhalten, blieben erfolglos. Am Anfang des 16. Jh. errichtete Andrea Matteo seinem Vater ein großes Grabmal aus weißem Marmor in S. Maria dell'Isola bei Conversano. Vier personifizierte Kardinaltugenden, Stärke, Gerechtigkeit, Klugheit und Mäßigkeit, stützen den Steinsarg, auf dem Giulio Antonio und seine Frau Caterina Orsini im Franziskanerhabit liegend dargestellt sind. Darüber thront die Madonna in einer Nische, und zu ihren Seiten stehen die christlichen Tugenden Glaube und Liebe. Den oberen Abschluß bilden Blumengewinde, Putten und das Familienwappen. An den Seiten der Grabkapelle knien in ewiger Anbetung Andrea Matteo und seine Frau.
Die glanzvollste Erscheinung der Familie ist der bereits genannte Andrea Matteo Acquaviva d'Aragona (1457 bis 1529). Die Hoffnungen, die Ferdinand I. auf ihn als Parteigänger der Aragonier gesetzt hatte, gingen nicht ganz in Erfüllung, da der Herzog im Grunde seines Herzens eher der französischen Partei zugeneigt war. Seine unentschiedene Haltung als Kriegsmann und Politiker brachten ihm manches Ungemach, Aufenthalt in Gefängnissen und zeitweilige Einziehung seiner Güter. Andrea Matteo war seit 1464 Markgraf von Bitonto, von der Mutter erbte er die Besitzungen in Apulien und von seinem Vater die Ländereien in den Abruzzen. Er residierte in Atri, in Conversano und in Neapel, wo er sich einen eigenen Palast baute. In erster Ehe heiratete er 1477 Isabella Piccolomini d'Aragona, eine Nichte König Ferdinands I. Sie starb zwischen 1503 und 1505, als ihr Mann in Manfredonia und in Neapel in Castelnuovo im Gefängnis saß. In der Haft tat Andrea Matteo das Gelübde, die von Isabella im Dom von Atri begonnene Kapelle der Jungfrau Maria und der hl. Anna zu vollenden. Sie ist heute noch im rechten Seitenschiff erhalten, 1503 datiert und von Paolo de Garviis aus Mailand ausgeführt. Die Gebeine seiner Frau Isabella ließ Andrea Matteo von Ripatransone nach Atri überführen. In zweiter Ehe verband sich Andrea Matteo mit Caterina della Ratta (gest. nach 1511), Gräfin von Caserta. Als Mitgift brachte sie außer Caserta noch reiche Besitzungen in Kampanien, Lukanien und Kalabrien mit.
Andrea Matteo wurde durch seine Aufträge für Grabbauten bekannt. Caterina erhielt ein aufwendiges Denkmal in der Kirche S. Francesco in Neapel. Sein und der Isabella Sohn, Giovanni Battista Acquaviva, starb 1496 im Alter von 14 Jahren. Der Vater gab ihm die letzte Ruhestätte am Stammsitz in Cellino Attanasio in der Kirche S. Maria la Nova, wo das Grab heute noch erhalten ist. Auf die Bedeutung des Herzogs Andrea Matteo als ersten Humanisten unter den Fürsten des Aragonierreiches werden wir noch öfter zurückkommen. Er starb in Conversano am 19. Januar 1529.
Nicht so profiliert wie Andrea Matteo war sein um 1464 geborener Bruder Belisario. Schon im Alter von zwanzig Jahren verteidigte er Apulien gegen die Venezianer. Im Gegensatz zu Andrea Matteo hielt er aufrichtig zur Partei der Aragonier und später zu den Spaniern. Für seine Verdienste erhielt er vom König Friedrich von Neapel 1497 den Besitz von Nardo im Salento mit dem Titel eines Grafen. In seinem späteren Leben zog er sich von der Politik zurück, residierte in Nardo und in Neapel, widmete sich den Wissenschaften und starb 1528 in Neapel an der Pest. Sein Leichnam wurde nach Nardo überführt, und er wurde dort in der Kirche S. Antonio de'Zoccoli neben seiner Frau Sveva Sanseverino beigesetzt. Unter Belisario entsteht in Nardo ein kulturelles Zentrum mit einer eigenen Akademie (1506) und einer Bildungsanstalt für Literatur und Philosophie.
Nachfolger seines Vaters Andrea Matteo als Hetzog von Atri wurde Giovanni Antonio Donato, 1485 in Cellino Attanasio geboren und 1554 gestorben. Von seinem Vater hatte er den Hang zur musischen Betätigung geerbt. Er war bekannt als Musiker, als Dichter in der lateinischen Sprache und als Kommentator der väterlichen Werke. Aus seiner Ehe mit Isabella Spinelli di Cariati gingen 13 Kinder hervor. Von diesen wurde sein Nachfolger Giangirolamo (1521-1592). Auch er war Gelehrter und Kriegsmann zugleich. Er kämpfte auf Seiten Karls V. in den Religionskriegen gegen den Landgrafen von Hessen und den Kurfürsten von Sachsen und beteiligte sich heldenhaft an der Türkenschlacht bei Lepanto.
Der schon genannte jugendliche Kardinal Giulio Acquaviva d'Aragona (1546-1574) war Vertrauter des Papstes Pius V. (1566-1572), der ihn noch in seiner letzten Stunde an sein Totenbett rief. Der Papst schickte ihn 1568 als Nuntius nach Madrid. Während des dortigen Aufenthalts lernte er den spanischen Dichter Miguel de Cervantes kennen, den Verfasser des Don Quichote. Dieser begleitete Giulio als Kämmerer nach Italien und soll sich auch in L'Aquila aufgehalten haben. 1571 war Cervantes Freiwilliger an Bord der Maquesa in der Seeschlacht bei Lepanto. Zwei Jahrhunderte später sehen wir wieder eine berühmte Persönlichkeit im Haushalt eines Kardinals der Acquaviva. In der römischen (S. 259) Residenz des 1644 in Atri geborenen Kardinals Troiano Acquaviva, der ein aufwendiges Gesellschaftsleben führte, fand der Abenteurer Casanova für kurze Zeit Aufnahme.
Am Hofe von Paris gab es eine von den Neapolitanern ausgestoßene Gesellschaft, die den Franzosen in ihren Unternehmungen gegen die Spanier hilfreich zur Seite stand. Zu ihr gehörte Giovan Francesco Acquaviva d'Aragona (gest. 1569 in Paris), der von der französischen Hauptstadt aus seine Ansprüche auf das Herzogtum Atri geltend machte und sich immer Herzog von Atri nannte. Berühmter wurde seine in Paris geborene Tochter Anna, allgemein bekannt unter dem Namen »Mademoiselle d'Atrie«. Am französischen Hof erzogen, war sie besonders mit Katharina von Medici (gest. 1589) vertraut, der Gemahlin Heinrichs II. von Frankreich. Eine tiefe Freundschaft verband sie mit Margarethe von Navarra (1492-1549), vermählt mit König Heinrich II. d'Albret von Navarra. Sie war die Schwester des französischen Königs Franz I. und hielt sich häufig in Paris auf. Wegen ihrer Bildung und Schönheit eroberte sich das» Fräulein von Atri« einen bevorzugten Platz in der Pariser Welt und wurde von Poeten besungen. Zur höchsten Gunst stieg sie auf, als der Sohn der Katharina von Medici, König Karl IX. von Frankreich (1560-1574), sich ihr in inniger Liebe zuwandte. Nach 1583 verlieren sich die Spuren der geistreichen Anna.
Ausgeprägte Persönlichkeiten der Acquaviva begegnen noch im 17. und 18. Jahrhundert. Bemerkenswert ist Giovan Girolamo, geboren 1663 in Giulianova, gestorben 1709. In ihm lebte die Freude an Gelehrsamkeit, welche die Ahnen besessen hatten, wieder auf; er war bewandert in Geographie, Mathematik, Geschichte, Philosophie und versuchte sich in Versen. Seine Bildung trug ihm 1691 die Aufnahme in die Accademia Arcadia in Rom ein, wo er unter dem Namen Idalmo Trigonio auftritt. Als Parteigänger der Spanier nahm er während des Spanischen Erbfolgekrieges hohe Stellungen in den Abruzzen ein und wurde 1702 Mitglied des Ordens vom Goldenen Vlies. 1707 wurde er als Verteidiger von Pescara berühmt, als er dem österreichischen Feldmarschall Wierich von Daun heldenhaften Widerstand leistete. Am Anfang des 18. Jh. beauftragte Giovan Girolamo den Maler Giacomo Farelli (1624-1706) aus Rom, verschiedene Säle im Herzogspalast in Atri auszumalen, Fresken, von denen noch Reste am Ende des vorigen Jahrhunderts zu sehen waren, die aber heute fast vollständig zerstört sind. Im großen Saal war die Schlacht des Zeus mit den Giganten zu sehen; in einem anderen Raum befanden sich die Taten des Herkules an der Decke, bei deren Einsturz jedoch die Malereien vernichtet wurden. Im Audienzsaal waren in Medaillonrahmung und in natürlicher Größe die Herzöge von Atri dargestellt mit den Herzoginnen sowie anderen berühmten Vertretern der Familie von den Anfängen des Hauses Acquaviva bis zu den Zeiten des Giovan Girolamo. Die Freunde des Herzogs kamen von weit her, um diese Malereien zu bewundern.
Der Orden vom Goldenen Vlies wurde sozusagen zum Hausorden der Acquaviva. Ihn erhielten der Sohn des Giovan Girolamo, Giosia, 16. Herzog von Atri, sich in Kämpfen in Flandern auszeichnend und gestorben 1710 in Lyon, der in Spanien kämpfende 17. Herzog von Atri, Domenico, gestorben 1745 in Madrid und endlich noch der letzte Herzog von Atri, Rodolfo, gestorben 1755.
Der Farnesische Staat in den Abruzzen
Als Farnesischen Staat bezeichnet man in den Abruzzen die Besitzungen, die die Herzöge Farnese von Parma und Piacenza in unserem Bergland innehatten. Mit dem letzten Sproß, Antonio Farnese, der kinderlos starb, erlosch das Haus im Jahr 1731, und die abruzzesischen Güter gelangten bald darauf in den Staatsbesitz der Bourbonen. Für unsere Belange ist Margarethe von Parma, auch Margarethe von Österreich genannt, die wichtigste Persönlichkeit des Herzogshauses. Sie wurde 1522 als natürliche Tochter Kaiser Karls V. und der Johanna van der Gheenst geboren. Seit 1559 vertrat sie als Generalstatthalterin in den Niederlanden die spanischen Interessen. Unter ihrer Regierung kam es dort zu den ersten Wirren, die schließlich zum Abfall der Niederlande von Spanien führten. Weil Margarethe in diese Schwierigkeiten nicht entscheidend eingriff, schickte ihr Halbbruder, Philipp II., König von Spanien, 1567 den Herzog Alba, der mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet war, mit spanischen Soldaten in die Niederlande, um dort die Ruhe wiederherzustellen. Damit war die Statthalterin weitgehend ihrer Befugnisse enthoben, und noch im Dezember desselben Jahres legte sie ihr Amt nieder und zog sich auf ihre Güter in den Abruzzen zurück. Karl V. war sehr rührig in der Ehepolitik für seine Tochter. 1536 hatte sie Alessandro Medici geheiratet, der schon ein Jahr darauf, am 5. Januar, ermordet wurde. Kurze Zeit später, 1538, ehelichte sie Ottavio Farnese (1520-1586), Herzog von Parma und Piacenza, Enkel des Papstes Paul III. Margarethe erbte in den Abruzzen die Besitzungen ihres ersten Gemahls. Bereits 1522 hatte Karl V. an Alessandro Medici die Stadt Penne geschenkt, ferner Campli, Cittaducale und kleinere Orte. Zum Farnesischen Besitz gehörten z. B. Leonessa, Montereale, Borbona, Posta, Abbateggio, Pianella, Arsita, S. Valentino in Abruzzo Citeriore, Besitztümer, die zum großen Teil vom Kaiser direkt an die Farnese übertragen wurden. Auch außerhalb der Abruzzen mehrte der Kaiser die Habe der Farnese, z. B. mit Altamura in Apulien und 1541 mit Castellammare di Stabia bei Neapel. Das größte Geschenk erhielt das Herzogshaus mit der Stadt L'Aquila, deren Besitz 1572 von Philipp II. bestätigt wurde. Ortona, die alte Stadt der Frentaner, wurde käuflich hinzuerworben.
Margarethe bemühte sich tatkräftig, ihre Güter in den Abruzzen zu verwalten, obwohl ihre Maßnahmen meistens in den Anfängen stecken blieben. Während eines fast zwanzigjährigen Aufenthaltes in unserem Hochland versuchte sie, wie von Unrast getrieben, Residenzen zu gründen, zunächst 1571 in Cittaducale. In L'Aquila plante sie mit einigem Geldaufwand den Bau einer Villa in einer Örtlichkeit, die Cascina genannt wurde. Als Hofhaltung diente ihr in der 260 (S. 260) Stadt der ehemalige Palast des Capitano della Giustizia aus dem 14. Jahrhundert. Für ihre Bedürfnisse wurde dieses Gebäude 1573 von dem Architekten Battista Marchirolo aus Neapel völlig umgebaut. Auch in Penne hatte Margarethe Bauvorhaben, die jedoch über die Planung nicht hinauskamen. Sie nahm dort in einem bereits bestehenden Palast Wohnung; er liegt am heutigen Corso dei Vestini Nr. 36. Die meisten Anstrengungen verwandte sie auf die Errichtung des Farnesischen Palastes in Ortona. Der Grundstein dazu wurde im März 1584 gelegt, aber nach ihrem bald darauf eingetretenen Tod wurden die Arbeiten eingestellt. Die Statthalterin beabsichtigte, Ortona zur Winterresidenz zu gestalten, während sie vorzog, den Sommer in L'Aquila zu verbringen.
Margarethe war in den Abruzzen hochgeehrt und der Bevölkerung sehr verbunden. Als Beispiel mögen ihre Einzüge in Campli und in L'Aquila dienen. In Campli hatten die Abgeordneten der Stadt in der Nähe des östlichen Stadttores einen mächtigen Triumphbogen aus Ziegelsteinen aufführen lassen, der meisterhaft mit Malereien ausgestattet war. Ein Augenzeuge beschreibt die Vorbereitungen für den Festzug folgendermaßen: »Um den Durchzug der vornehmen Gäste durch die Straßen zu erleichtern, wurden die Außentreppen der Wohnhäuser weggeschlagen, ebenso die Wetterdächer über den Eingängen der Kaufläden. Längs der Hauptstraße und auf beiden Plätzen postierte man Weinkrüge und Trinkbecher, damit die Flamen, die Ihre Hoheit begleiteten, nach ihrem Gutdünken und zwanglos trinken konnten.«
Feste fanden auch in der Stadt L'Aquila statt, wo Margarethe, von Flamen und niederländischen Künstlern umgeben, gerne weilte. Ihren ersten Besuch stattete sie dort am 18. Mai 1568 ab, als Gouverneurin der Stadt betrat sie diese am 16. Dezember desselben Jahres. Angelo Leosini hat 1848 in seinem Buch über die Geschichte und Monumente von L'Aquila einen Auszug aus einer bis dahin unpublizierten Beschreibung der Stadt abgedruckt, die 1617 von einem Marino Caprucci geschrieben wurde. Darin schildert Caprucci die Triumphbogen und ihre Ausstattung, die man anläßlich des Einzuges der Margarethe von Österreich am 18. Mai 1569 errichtete. Caprucci bezieht sich seinerseits auf den ausführlichen Bericht des Massimo Camelo (Camello), der vielleicht das Programm der Festdekoration entwarf. Diese ist eine Fundgrube zur Erforschung der Emblematik des 16. Jahrhunderts. Man hatte in L'Aquila gleich mehrere Triumphbogen aufgestellt, die der Festzug zu durchschreiten hatte. Die wichtigsten waren der erste Bogen in der Nähe des Kastells und der letzte an der Piazza S. Francesco. Der erste war auf allen vier Seiten mit Grotesken, Festons und Wappen geschmückt, wobei natürlich viele Anspielungen auf die Gouverneurin und die Stadt gezeigt wurden. So sah man z. B. die Personifikation der Aurora mit dem Sinnspruch »Te reversa fruor« (Ich genieße Deine Rückkehr). Mit der Aurora ist zweifellos die in die Stadt einziehende Statthalterin gemeint. An anderer Stelle dieses Bogens war der wiedergeborene Adler dargestellt, von dem der Kirchenvater Hieronymus sagt, er habe sich an den Sonnenstrahlen die Federn verbrannt und sich dann ins Wasser geworfen, um verjüngt daraus wieder aufzusteigen. Genau so brennt die Stadt L'Aquila aus Liebe zu Margarethe und verjüngt sich bei ihrem Einzug. Die Triumphbogen inmitten der Feststraße zeigen die Devisen Philipps II. von Spanien, der Margarethe und des Hauses Farnese. Die größte und prächtigste Dekoration hatte man am Eingang zur Piazza S. Francesco in Form eines römischen Triumphbogens errichtet. Im Bogendurchgang waren zu beiden Seiten vier Säulen aufgestellt, die einen Architrav trugen. In den Zwischenräumen standen Statuen. Die darüberliegende Zone war durch Obelisken unterteilt und zeigte in den einzelnen Feldern Allegorien. Aus Zeitmangel kam man nicht dazu, die geplanten Personifizierungen der Mildtätigkeit, der Barmherzigkeit, der Schamhaftigkeit und der Freigebigkeit auszuführen. Unter den Darstellungen sah man Götter wie Satum mit der Sichel, als Gott des Ackerbaus zwei Ochsen vor sich hertreibend, dann waren die Tugenden reich vertreten. Auch Friedrich II. von Hohenstaufen erscheint als Stadtgründer, wie er die Bevölkerung von Amitemo in L'Aquila ansiedelt. Man konnte die Taten der Margarethe in flandern bestaunen sowie ihren Sohn Alessandro F arnese (1545 bis 1592) mit dem Lilienwappen und auf einem Pegasus reitend. Weiterhin findet man die Personifizierung zweier Flüsse, des Aterno und des Rheins, die beide mit Margarethe in Verbindung gebracht werden. Frohgemut zieht der Atemo seine mit Safran bedeckte Krone vom Kopf und überreicht sie der Gouverneurin. Der Rhein verkörpert das Land Flandern und schaut traurig drein, weil die Statthalterin dieses Gebiet verlassen hat. Auf einem anderen Bild standen im Hintergrund auf einem Berge zwei miteinander verbundene Tempel, der der Ehre und der der Tugend. Die beiden Gebäude besaßen nur einen Eingang. Den Ehrentempel konnte man nur durch die Pforte des Tugendtempels erreichen. Im Vordergrund führen drei Wege auf diese seltsame Anlage hin, auf dem linken schreitet Alexander der Große mit dem Blitz in der Hand, auf dem rechten Caesar, und auf dem Mittelweg bewegt sich Herkules dem Tempeleingang zu, nachdem er soeben den Cacus erschlagen hat, der ihm auf seinem Zug durch Italien einen Teil seiner Rinder geraubt hatte. Am interessantesten sind in dem Bogendurchgang verschiedene Personengruppen aus L'Aquila, die die Gouverneurin huldvoll willkommen heißen. Begrüßt wird sie nicht nur von den Zeitgenossen. Auch längst verstorbene Berühmtheiten der Stadt werden in die Gegenwart einbezogen. Und so entsteht ein Geschichtsbuch der Stadt L'Aquila, das zeigt, daß man um 1569 die Leistungen der Vergangenheit nicht vergessen hatte. Auf einer Darstellung erscheint Amico Agnifili, Kardinal in L'Aquila während der Blütezeit der Renaissance, weiterhin treten auf zwei Kardinäle aus der Zeit Coelestins V. und Bischöfe der Stadt. Dann sieht man die Kondottieri und Giacomo Sinizzo, der die Stadt unter den Anjou wiederaufbaute. Auf einem anderen Gruppenbild erscheinen die Gelehrten. Zu ihnen gehören Sallust und Buccio di Ranallo (gest. 1363), Geschichtsschreiber von L'Aquila, sowie der gelehrte Mariangelo Ac (S. 261) cursio (gest. 1548) aus L'Aquila. Dieser war dem Vater der Margarethe treu ergeben, und als L'Aquila 1528 als Parteigängerin der Franzosen zum Feind des spanischen Herrscherhauses erklärt wurde, verwandte sich Accursio bei Kar! V. zugunsten der Stadt. Zu den Gelehrten rechneten auch berühmte Mediziner. Auf einer anderen Darstellung huldigten die Künstler. Als Architekt, Bildhauer und Maler war der angesehene Renaissancekünstler Silvester von L'Aquila mit Zirkel, Meißel und Pinsel wiedergegeben. Zu dieser Gruppe zählten natürlich auch die Musiker, und so sah man Marco dell'Aquila mit seiner Laute im Arm, der zu seiner Zeit dieses Zupfinstrument am besten beherrschte.
Die ausführenden Künstler dieser Festdekoration werden auch genannt. Zu ihnen gehörte der Maler und Bildhauer Pompeo Cesura aus L'Aquila, der seine Arbeiten am Triumphbogen nicht lange überlebte, ferner sein Schüler Giovan Paolo Cardone. Dieser war später noch einmal zu Ehren von Margarethe von Österreich beschäftigt. 1586 führte er die malerischen Arbeiten am Katafalk der Statthalterin im Dom von L'Aquila aus. Margarethe starb am 18. Januar 1586 in Ortona. Ihr Leichnam wurde einbalsamiert und in einem gläsernen Sarg nach Piacenza überführt.
Ein großes Ereignis in der Zeit der Margarethe von Österreich war die Schlacht bei Lepanto gegen die Türken am 7. 0ktober 1571. An dem Sieg, der in ganz Italien gefeiert wurde, hatten auch Abruzzesen und Verwandte der Margarethe beachtlichen Anteil. Die große Tat des Pontifikats von Pius V. (1566-1572) war das Bündnis, die Heilige Liga, in der sich der Papst mit Spanien und Venedig gegen die Türken vereinigte. Den Oberbefehl erhielt Johann von Österreich (Juan d'Austria), Befehlshaber der päpstlichen Streitkrlifte war Marcantonio Colonna, und die venezianische Flotte führte der Admiral Sebastiano Vernier an. Die Osmanen verloren in dieser Seeschlacht am nördlichen Ufer des Golfes von Korinth etwa 130 Kriegsschiffe und ungefähr 30000 Soldaten durch Tod und Gefangenschaft. Die türkische Macht zur See war für immer gebrochen.
Der spanische König Philipp II. und Johann von Österreich waren Halbbrüder der Margarethe von Parma. Als Sieger von Lepanto wurde Johann 1573 feierlich in L'Aquila empfangen. Er weilte gerne in dieser Stadt und machte auf dem Hin-und Rückweg seiner Reise nach Loreto in den Marken zwischen 1576 und 1577 dort halt. Als natürlicher Sohn Karls V. wurde Johann 1547 von der schönen Regensburger Bürgermeisterstochter Barbara BIomberg in Regensburg geboren und 1554 von seinem Vater offiziell anerkannt. Vor der Seeschlacht erhielt Johann Verstärkungen aus den Abruzzen. 200 Soldaten lieferte Chieti, 26 Guardiagrele, und weitere 300 kamen aus anderen Orten des Gebirgslandes. Sie kämpften auf venezianischen Schiffen. Die Teilnahme an der Schlacht war für die Familie Acquaviva d'Aragona Ehrensache. Sich des Todes ihres Ahnen Giulio Antonio erinnernd, der 1481 bei Otranto von den Türken getötet worden war, zog Giangirolamo (gest. 1592.), zehnter Herzog von Atri, mit seinen drei Söhnen gegen den Erzfeind an, mit Alberto, dem zukünftigen Herzog von Atri, Orazio, der 1617 als Bischof von Caiazzo starb, und Adriano. Auch an der Vorbereitung zur Schlacht hatten Abruzzesen ihren Anteil. Paolo Odescalchi, Bischof von Penne, diente dem Papst als Verbindungsmann zu Johann von Österreich. Die beiden trafen sich am 16. September 1571 in Messina. In Neapel erhielt Johann vor der Schlacht geistlichen Zuspruch von Giovanni Battista De Luca aus Guardiagrele. Dieser war Coelestinermönch im Kloster 5. Pietro a Maiella in Neapel. In einem Oratorium neben dem Kloster befand sich ein hochverehrtes und wundertätiges Bild der »Madonna del Soccorso«. Der fromme Mönch aus Guardiagrele ließ davon eine Kopie anfertigen, die er Johann von Österreich schenkte, damit die Wunderkraft dieses Madonnenbildes ihn in der Schlacht bei Lepanto stärken möge.
Unter dem Oberbefehl des Johann zeichnete sich auf dem Kampfplatz auch der Sohn der Margarethe von Österreich aus, Alessandro Farnese. Sohn und Enkel Karls V. hatten sich bereits während ihres gemeinsamen Studiums in Spanien auf der Hochschule von Alcala kennen gelernt, und Johann rühmte die Tüchtigkeit des Alessandro.
Der zweite Feldherr von Lepanto, Marcantonio Colonna (gest. 1584) stammt aus dem Familienzweig der Colonna von Tagliacozzo. Er gestaltete 1565 die Orsiniresidenz in Avezzano von einem Kastell zu einem Baronalpalast um, und nach dem Siege von Lepanto wurde dieser sein ständiger Wohnsitz. Er ließ die Innenräume neu herrichten und Decken sowie Wände mit kostbaren Gemälden verzieren. Die Inhalte der Darstellungen bezogen sich teils auf seinen Triumphzug, der in Rom gefeiert wurde, teils betrafen sie Taten Karls V. Den großen Saal schmückten die Bilder zweier vornehmer Türken, die er als Gefangene porträtieren ließ. Sie waren Verwandte des Großsultans und ihre Namen wurden inschriftlich festgehalten. Der Stolz auf vornehme gefangene Türken war allgemein. In dem Palast, den Raffael in Rom für die Familie Branconio aus L'Aquila entworfen hatte, wurden gefangene Türken untergebracht.
Weil die Türkeneinfälle in den Abruzzen, vor allem in der adriatischen Küstengegend, das Leben der Bewohner dauernd bedrohten, blieb die Erinnerung an den Sieg von Lepanto im Bewußtsein vieler lebendig. Die Vernichtung des Feindes fand auch in der gelehrten Welt ein Echo. Der Kardinal Silvio Antoniano (1540-1603), dessen Vater aus Castelli in der Provinz Teramo stammte, verfaßte eine lange und geschliffene Lobrede auf den Seesieg des Herzogs von Österreich. Der gelehrte Pier Leone Casella (um 1540 bis um 1620) aus L'Aquila veröffentlichte 1572. in Neapel eine »Elegia«, in der er die Niederlage der Türken bei Lepanto besingt. Auch die aquilanischen Buchdrucker nehmen an der Siegesfreude teil. Giuseppe Cacchio, der berühmte Verleger in L'Aquila, veröffentlichte, nachdem er nach Neapel übergesiedelt war, zwei Werke, die sich auf Johann von Österreich beziehen. Das eine, mit dem Titel »Orazione militare«, erschien 1573 und hatte den Giov. Battista Attendolo aus Capua zum Verfasser, der den Bruder der Margarethe von Parma verherrlicht. Das zweite, ein Drama in fünf Akten von Cesare Tomeo aus Tropea, erschien zwei Jahre später (S. 262) und nannte sich »Trionfo della Lega«. 1602 druckte Facio Facii in L'Aquila ein Buch des Neapolitaners Scipione Pisanelli Ghevara mit dem Titel »Le giornate aquilane« (Aquilanische Tage). Im Kapitel des Siebenten Tages des heute seltenen Werkes, das dem Kardinal Ascanio Colonna gewidmet ist, beschreibt er die Taten von dessen Vater Marcantonio, dem Sieger von Lepanto.
Zum Dank für den Seesieg stiftete Papst Pius V. das Fest Unserer Lieben Frau vom Siege. Gregor XIII. änderte 1573 den Namen und nannte es Rosenkranzfest, das am 1. Oktober überall dort gefeiert werden sollte, wo sich eine Kirche oder ein Altar der Maria befände. Nach dem Siege über die Türken bei Peterwardein am 5. August 1716 erhob Clemens XI. das Fest zu einer Feier aller Kirchen. Diese päpstlichen Verordnungen haben auch in der abruzzesischen Kunst ihren Niederschlag gefunden. Dort sind die Siegeskirchen recht verbreitet. Dann hat die Malerei das Thema aufgegriffen. Auf einem Gemälde in der Kirche S. Pietro di Sassa in L'Aquila ist Papst Pius V. dargestellt, der in Rom in einer Vision den triumphalen Sieg über die Türken voraussieht. Die Darstellung des Rosenkranzfestes ist vor allem in L'Aquila und in der nächsten Umgebung heimisch. In Aragno, einer kleinen Ortschaft nordöstlich von L'Aquila, befindet sich neben der Pfarrkirche ein kleines Tabernakel, das Madonna della Vittoria genannt wird. Auf einem Fresko erscheint die Maria des Rosenkranzes und preßt den Halbmond zwischen ihren Händen als Anspielung auf die Türken. Das Rosenkranzbild und Maria mit den fünfzehn Mysterien des Rosenkranzes malen aquilanische Maler wie Giovan Paolo Cardone und Pasquale Ricci aus Montereale. Giovan Paolo di Pietro Donati fertigt 1576 eine Madonna mit den fünfzehn Mysterien des Rosenkranzes für die Kirche S. Stefano in Pizzoli bei L'Aquila. Pompeo Mausonio aus L'Aquila schuf 1596 ein Rosenkranzbild in Paganica. In der Pfarrkirche S. Felice Martire in Poggio Picenze befindet sich über dem zweiten Altar rechts ein Bildwerk vom Ende des 16. Jahrhunderts. In der Mitte erscheint eine Madonna mit Kind aus farbiger und vergoldeter Terrakotta. Sie ist von fünfzehn holzgeschnitzten Täfelchen umgeben, die ebenfalls vergoldet und bemalt sind und die Mysterien des Rosenkranzes zeigen. Nicht weit von Poggio Picenze liegt die kleine Ortschaft Tussio. Für den Altar der dortigen Pfarrkirche malte Bernardino Michetti ein 1613 datiertes und signiertes Gemälde mit den fünfzehn Mysterien des Rosenkranzes.
Bildung
Schulen
Das Lernen und Sichbilden war in den Abruzzen und im Molise immer von Schwierigkeiten begleitet. Die Streuung und Abgelegenheit der Siedlungen haben hier die Zahl der Analphabeten höher bleiben lassen als in vielen anderen Landschaften Italiens. An Hand der Unterlagen der Standesämter wissen wir, daß noch 1866 in unserer Region Heiraten von 76,2 Prozent männlichen und 95,4 Prozent weiblichen Analphabeten geschlossen wurden. Der Anteil ging bis 1925 kräftig zurück. Die männliche Quote betrug nur noch 14,7 Prozent und die weibliche 30,9 Prozent. Der Elementarunterricht war mehr auf praktisches Wissen und lebensnahes Verhalten als auf Bildung ausgerichtet. Serafino Razzi fand 1576 in Farindola bei Penne eine Schule mit drei Klassen vor. In der einen lernte man den Ringkampf, um sich Angreifer zu erwehren. In der zweiten übte man die Fertigkeit, auf dem Horn zu blasen. Razzi erklärt, daß man mit diesem Instrument den Gemeinderat zusammenzurufen pflegte, und daß vorher die Tore der Ortschaft geschlossen werden mußten, damit während der Sitzung nicht die unbeaufsichtigten Schweine von den Weiden in die Stadt eindringen konnten. In der dritten Klasse lernte man Verhaltensmaßregeln gegenüber den Bären.
Die Verständigung unter den Bewohnern erfolgte im jeweiligen Dialekt, die italienische Hochsprache war eine Fremdsprache. Erst 1764 wurde Italienisch zur Gerichtssprache und wurde seitdem auch auf Schulen gelehrt. Noch in diesem Jahrhundert berichtet der Schriftsteller Silone, wie die Buben am Fuciner See bei Schuleintritt zum erstenmal Italienisch hörten. Die einfache wie die gebildete Bevölkerung bedient sich noch heute des Dialekts, und es dürfte sogar einem Italiener, der nicht aus der Gegend stammt, schwerfallen, die Sprache zu verstehen. Bei der Verschiedenheit der Mundarten ist auch die Verständigung der Einheimischen von einem Ort zum anderen nicht ganz einfach.
Der Unterricht an höheren Lehranstalten oder gar an Universitäten wurde von städtischer oder staatlicher Seite bis zum 18. Jh. kaum gefördert. Gelegentliche Unterstützungen waren nie von Dauer, und es gibt in der ganzen Region keine Schule, die etwa vor 1800 auf eine Tradition oder längere Wirksamkeit zurückschauen könnte. Vereinzelte Förderungen erfuhren nur die Städte Sulmona und L'Aquila. Die Gründung einer Lehranstalt für kanonisches Recht in Sulmona geht auf Kaiser Friedrich von Hohenstaufen zurück. Dieses Bildungsinstitut hatte wie Neapel Universitätscharakter und durfte von allen Untertanen des Südreichs besucht werden, hielt sich aber nur ein halbes Jahrhundert. Mit Dekret vom 23. Oktober 1309 löste König Robert die Lehranstalt auf und gestattete fortan in den Abruzzen nur noch den Elementarunterricht. Dieser Zustand dauerte fast zweihundert Jahre und schloß die Zeit der Frührenaissance (S. 263) und des Frühhumanismus ein, in der im übrigen Italien die Wissenschaften einen enormen Aufschwung erfuhren. Ferdinand I. von Aragon, König von Neapel, setzte am II.November 1490 die Reform des Studium Generale in der Landeshauptstadt fest und verbot die Errichtung einer ähnlichen Anstalt in seinem Königreich mit Ausnahme einer Schule in L' Aquila. Von diesem Gunstbeweis für die Abruzzen ist aber kaum etwas wirksam geworden, und wir können schwerlich positive Leistungen finden, die hier gereift wären. Unbedeutende Spuren des Studium Generale verfolgen wir Jahrhunderte später in den Jahren 1684, 1738 und 1765 in L'Aquila. Dort wurde 1785 ein Collegio Aquilano reformiert. Den Fächern für Grammatik wurden drei Lehrstühle angegliedert, einer für Naturwissenschaften und Geographie, ein anderer für die Jurisprudenz und ein dritter für Chemie, Anatomie sowie theoretische und praktische Medizin. Das Hospital S. Salvatore erhielt ein Theater für Anatomie und eine medizinische Akademie. Sieben Jahre später, 1792, kam ein Lehrstuhl für Chirurgie und Geburtshilfe hinzu. Neue Ansätze beobachten wir erst im 19. Jahrhundert. Auf königliche Anordnung wurden 1817 im Königreich Neapel vier Lyzeen oder kleinere Universitäten errichtet, eine davon in L'Aquila, die aber bereits 1836 ihre Pforten wieder schloß. In dieser kurzen Zeit gab es in L' Aquila acht Lehrstühle, nämlich für Zivilrecht, für Strafrecht, für Anatomie und Physiologie, einen vierten für Pathologie, Chirurgie und Geburtshilfe, einen fünften für praktische Medizin, weitere für anorganische Chemie, für Pharmakologie und für Naturwissenschaften. In L'Aquila legte man Examina ab und konnte akademische Grade erlangen.
Das Fehlen von Unterrichtsstätten hatte für die Abruzzen schlimme Folgen. Die nach Bildung strebende Bevölkerung war oft gezwungen, ihre Erziehung außer halb des Landes zu suchen. Aus Mangel an Universitäten oder größeren Lehrinstituten konnten erfolgreiche Absolventen als Lehrende kaum in die Heimat zurückkehren. Die wissenschaftlichen Leistungen der Bewohner der Abruzzen und des Molise sind deshalb im übrigen Italien und im Ausland oft besser zu belegen als im eigenen Land, ein Thema, das uns später noch eingehender beschäftigen wird.
Einen schwachen Ersatz für die staatlichen Schulen bildeten die kirchlichen Lehranstalten, die jedoch in erster Linie der Erziehung der Kleriker dienten und nur gelegentlich von Angehörigen des weltlichen Standes besucht werden konnten. Bildungsmöglichkeiten boten vornehmlich die Schulen der Dominikaner und Jesuiten sowie die Lehrseminare an den Kathedralen. Auch diese Anstalten hatten Existenzsorgen und bestanden nur kurze Zeit. Sie waren nur in Städten zu finden und wurden auf dem Lande, wo der größere Teil der Bevölkerung siedelte, nicht wirksam. Schon aus dem Jahre 1288 hören wir von der Unterrichtstätigkeit der Dominikaner in Atri. Der Dominikanerkonvent in Sulmona unterhielt eine Schule für Philosophie und Theologie, an der auch Laien studieren durften. 1663 existierte eine Dominikanerschule in L'Aquila mit Namen »Real Collegio di S. Tommaso d'Aquino«. In den Religionswissenschaften konnten hier auch Nichtdominikaner akademische Grade erwerben, die im ganzen Königreich Gültigkeit hatten.
Zu den berühmten Jesuitenschulen gehört eine Lehranstalt in L' Aquila, die mit gewaltigen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Die Verhandlungen über die Konstituierung zogen sich von 1562 bis 1594 hin, und die Schule eröffnete den Lehrbetrieb erst 1596. Man unterrichtete dort in mehreren Klassen Theologie, Philosophie, Mathematik, Griechisch, Geschichte, Rhetorik und Grammatik. 1767 wurde die Anstalt aufgelöst und durch andere Schulen ersetzt. Zu Lehrzwecken kehrten die Jesuiten 1839 in die Stadt zurück und blieben dort bis 1848. Eine neuerliche Aufnahme ihrer Tätigkeit erfolgte 1926. Weit schlimmer erging es den Jesuiten in Teramo. Kurz nach ihrem Auftreten wurde ihre Schule bereits 1570 wieder geschlossen. Auch die Augustiner versuchten sich im Unterricht und unterhielten in Vasto eine öffentliche Schule.
Die nach dem Tridentinischen Konzil aufkommenden Kathedralseminare dienten vornehmlich der Ausbildung von Klerikern. Zwischen 1549 und 1553 errichtete man in Chieti ein Seminar. Aus späterer Zeit erfahren wir einmal, . daß diese Anstalt, an der man Theologie, Philosophie und die Humaniora lehrte, von 120 Schülern besucht wurde. Bekannt ist auch das Kathedralseminar, das der Dominikanerbischof Vincentius de Monte Santo von Teramo (1592 bis 1609) an seinem Bischofssitz einrichtete. Die Bildung der Kathedralkanoniker war nicht zu unterschätzen. Razzi erwähnt 1575 den Dom von Atri und sagt, die dortigen zwanzig Kanoniker seien reich und zum größten Teil Doktoren. Dort wurde auch die Musik gepflegt, es bestand ein Kirchenchor, und man legte Wert auf gutes Orgelspiel.
. Erst nach 1800 entwickelte sich langsam und unter vielen Mühen ein normales Schulwesen, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg war endlich der Zustand erreicht, daß fast jeder Familie die Möglichkeit zur Ausbildung ihrer Kinder gegeben wurde.
Bibliotheken
Von größeren Bibliotheksbeständen in den Abruzzen und im Molise hören wir bis zum 19. Jh. nur sehr wenig. Büchersammler waren die Geistlichen und die Klöster. Darüber hinaus verfügten Adelshäuser und gebildete Familien zuweilen über eigene Büchereien. Öffentliche Bibliotheken im modernen Sinn entstanden erst im vorigen Jahrhundert mit den Stadt-und Provinzialbibliotheken. 1831 richtete man in Penne eine kleine öffentliche Bibliothek ein, die 507 Bücher umfaßte. Die Provinzialbibliothek in L'Aquila, heute die wichtigste in den Abruzzen, wurde 1848 gegründet, und ein Jahr später wurde die Bibliothek in Teramo eröffnet.
Natürlich waren die Klöster, die Schulen der Augustiner, Dominikaner und Jesuiten, die Seminare an den Kathedralen mehr oder minder mit Bibliotheken ausgestattet, und die Bücher waren nicht nur geistlichen Inhalts. Bischof Bartolomeo De Scalis schenkte 1491 seine Bücher an den Dom von (S. 264) Sulmona, um eine Bibliothek zum Nutzen der Kanoniker einzurichten. Eine Sammlung wertvoller Handschriften im Dom ist schon aus dem Jahre 1333 überliefert.
Als fleißige Manuskripten-und Büchersammler traten in den Abruzzen die franziskanischen Observanten auf. Der hl. Bernhardin von Siena war ein eifriger Sammler von Handschriften, die er z.T. illuminieren ließ. Johannes von Capestrano soll über 400 Bände verfügt haben, ebenso hatte Giacomo della Marca eine eigene Bibliothek. Im Besitz des sel. Bernhardin von Fossa (1420-1503) befanden sich mehr als 200 Einheiten. Bereits zwischen 1460 und 1470 stellte er ein handgeschriebenes Inventar auf und verzeichnete darin 19 Titel. Viele Bestände der Observanten gingen in den Besitz der Franziskanerklöster über, gut zu beobachten im Konvent von S. Giovanni in Capestrano, wo verschiedene Besitzeintragungen auf Johannes von Capestrano hinweisen. Dort wird z. B. eine illuminierte Bibel verwahrt, die der Heilige mit Anmerkungen versah, sowie ein 1449 in Florenz gekauftes mit Miniaturen ausgestattetes Werk des Franziskaners Francesco di Mayronnes, ein »Liber sententiarum«. Das Observantenkloster S. Nicolo in Sulmona besaß erwa 40 Schriften. Bekannt und erhalten sind noch 31 Handschriften aus S. Maria delle Grazie in Teramo, 27 aus S. Giuliano bei L' Aquila, 23 aus S. Angelo D'Ocre. Büchersammlungen sind überliefert ausS.Andrea in Chieti,S.Mariain Colleromano in Penne, S. Bernardino in Campli und S. Bernardino in Agnone. Die Bibliothek von S. Francesco in Caramanico war gut dotiert und wurde häufig aufgesucht.
Nur einmal erfahren wir etwas von einem Bibliotheksbau, und zwar aus L'Aquila, wo er 1471 in S. Bernardino errichtet wurde. Hierher gelangten 1472 durch Erbschaft die Bücher des Nicolo di Bazzano.
Andere Büchereien oder kleinere Bibliotheken waren in weltlichem Besitz. Die Grafen Cantelmi in Popoli verfügten 1494 über eine heute verlorene Sammlung, von der 34 Titel bekannt wurden. Darunter befanden sich gängige Werke wie die Göttliche Komödie von Dante, der Canzoniere des Petrarca und die Fiammetta des Boccaccio. In seinem Palast in Atri besaß Andrea Matteo Acquaviva eine hervorragende Bibliothek, die er unermüdlich benutzte. In bezug auf die Bibliothek und ihre Konsultation äußerte sich im 16. Jh. der geistreiche Humanist Jacopo Sannazzaro in Neapel. Scherzend meint er, daß man in Atri schon fleißiger sei als in der Hauptstadt des Königreichs selbst.
Virgilio Caprioli (1548-1608) gehörte einer vornehmen Familie in Vasto an. Er stellte dort eine angesehene Privatbibliothek zusammen, deren Bestände Werke griechischer, lateinischer und italienischer Autoren umfaßten. Diese Bücherei wurde von den Herren D'Avalos in Vasto konsultiert, denen Caprioli ein wertvoller Ratgeber war.
Der Marchese von Cermignano, Romoaldo de Sterlich, besaß in der zweiten Hälfte des 18. Jh. in seiner Residenz in Chieti eine beachtliche Bibliothek, in deren Bänden sich die gesamte europäische Kultur spiegelt. Sein Haus war ein kultureller Mittelpunkt für die Gebildeten. Sterlich war Skeptiker und überwertete die Bibliothek und den in seiner Heimat gepflegten Humanismus in keiner Weise. Schon vor Aufhebung des Feudalsystems ahnte er den Niedergang der Aristokratie in den Abruzzen. Seinen Pessimismus äußert er in einem Brief von 1790. Er glaubte das Land verlassen zu müssen, nachdem man soviel Hoffnung auf eine Erneuerung innerhalb der Provinz gesetzt hatte, und er sagt, daß der miserable Zustand des Landes daher rühre, daß die Hauptstadt Neapel ein Wasserkopf sei, der das Leben in der Provinz unmöglich mache.
Akademien
In der Neuzeit entstanden unter dem Einfluß des Humanismus in ganz Italien wissenschaftliche und literarische Ver!!inigungen, in denen sich bewährte Gelehrte zwanglos trafen. Derartige Organisationen nannte man Akademien. Die älteste konstituierte sich 1442 in Neapel, unmittelbar nach dem Regierungsantritt von Alfonso I. Magnanimo gegründet und nach ihm als Accademia Alfonsina bezeichnet. Die von den Medici geschaffene gelehrte Gesellschaft in Florenz stammt aus dem Jahre 1460, und zehn Jahre später hören wir von der von Bessarion eröffneten Akademie in Rom. Derartige Gesellschaften waren mit Statuten ausgestattet. Sie gaben sich meist einen ausgefallenen Namen, der gelegentlich scherzhaft gemeint war, und sie wählten sich Devisen und Wappen.
Im Königreich Neapel fanden die gelehrten Organisationen eine große Verbreitung, und man hat von ihnen mehr als 94 gezählt, mit einer Blütezeit im 17. und 18. Jahrhundert. Sie standen oft untereinander in geistigem Austausch. Ähnlich wie die kurzlebigen Schulen hatten auch diese Vereine keine lange Dauer, sie waren abhängig von gestaltenden Persönlichkeiten und wurden von der Regierung in Neapel nicht gern gesehen. Nur zu oft sah man die Zusammenkünfte als Brutstätte der Opposition an. Zur Vermeidung dieses Verdachts übernahm den Vorsitz häufig der nicht so suspekte geistliche Stand, der in den Akademien rührig mitarbeitete. Mit Zunahme der polizeilichen überwachung des Landes unter den Bourbonen verloren die Akademien indessen oft schon am Ende des 18. Jh. und besonders im 19. Jh. ihre Wirksamkeit. Geistig orientierten sich die gelehrten Gesellschaften in den Abruzzen an Neapel und an anderen Bildungsstätten des Königreichs, nur gelegentlich an Rom. Beziehungen zu Mittel-oder Oberitalien sind nur selten festzustellen.
Die früheste wissenschaftliche Vereinigung in unserer Region entstand in L'Aquila. Von der dortigen Accademia dei Fortunati hören wir das erste Mall 566. Ihre Devise war ein Bein auf einem Anker mit dem Motto ),Stat fortuna«. Wir erfahren von Dramen, die dort aufgeführt wurden, aber schon am Ende des Jahrhunderts erlosch das Ansehen dieser Vereinigung. Unter dem Namen Accademia dei Velati wurde die Gesellschaft reorganisiert. Ihr Neugründer war Sertorio Caputi (geb. 1566), ein Jesuit aus Kalabrien und tätig an der Jesuitenschule in L'Aquila; wegen seiner Erfolge ist er in die Geschichte der Staat eingegangen. Seine neue (S. 265) Akademie wurde 1598 konstituiert und 1601 feierlich eröffnet; sie war ein Unternehmen, das für das kulturelle Leben der Stadt Bedeutung erlangte. Caputi starb 1608. Man begrub ihn in L' Aquila in der Kirche S. Margherita di Forcella und überführte seine Gebeine 1634 in die neu errichtete Jesuitenkirche. Er wurde etwa 1624 heiliggesprochen. Diese Accademia dei Velati reformierte man 1719 und änderte ihren Namen in Accademia Aternina. Sie erlosch im Jahr 1828 und war eine der letzten Akademien des Königreiches. Gleich nach seinem Amtsantritt als Bischof von L'Aquila gründete 1743 Giuseppe Coppola eine neue Gesellschaft, die Accademia dell'Oratorio, die er nach der gleichnamigen Akademie in Neapel gestaltete. Diese Gesellschaft hatte durchaus theologischen Charakter.
Der Gründungseifer ließ nicht nach. Der in Penne geborene Humanist Muzio Pansa eröffnete 1590 in seiner Heimatstadt die Accademia degli Impensati, und unter den musischen Feudalherren Belprato entstand am Ende des 16. Jh. die Accademia degli Addormentati in Anversa degli Abruzzi, die bis zum Aussterben des Hauses im Jahr 1631 rühmlich bekannt war. Die Accademia degli Agghiacciati in Sulmona erreichte ihre größte Bedeutung im 17. Jahrhundert. Man pflegte dort besonders die lateinische und italienische Poesie.
Verhältnismäßig spät kamen die Akademien in Chieti auf. Um die Mitte des 17. Jh. hören wir von der Accademia dei Disuniti, die die lateinische und italienische Literatur mit dem Schwerpunkt auf der Poesie pflegte. Dieses Unternehmen erlosch bald nach der Gründung, weil die Bevölkerung der Stadt durch die verheerende Pest von 1656 fast ausstarb. Kurze Zeit nach diesem Unglück entstand eine neue Gesellschaft, die Accademia dei Riformati, der auch nur kurze Lebensdauer beschieden war. Erst zu Beginn des 18. Jh. hören wir von einer neuen Vereinigung, der Accademia degli Alcensi, die wenig bekannt wurde. 1720 verband sich Federigo Valignani (ca. 1700-1754), Graf von Cepagatti, mit anderen literarischen Gesinnungsgenossen und gründete in Chieti die Accademia Tegea, genannt nach der antiken Bezeichnung für Chieti, die der Geograph Strabo eingeführt hatte. Zur gleichen Zeit existierte noch die Accademia degli Incitati, die ihre Versammlungen 1725 in den Kollegräumen der Theatiner abhielt.
Eine Accademia degli Inculti bestand in Agnone. Sie wurde 1691 von Carmine Caracciolo di Santobono gegründet mit dem Motto »Ferendum et sperandum«. Ihr Abzeichen war eine Rose mit Dornen und ohne Blüten. Diese Vereinigung stand völlig unter dem Einfluß ihres Stifters und erlosch, als dieser als ständiger Botschafter Philipps V. von Spanien (1700-1713) nach Venedig beordert wurde. 1717 stiftete Pietro Antonio Corsignani aus Celano, später Bischof von Venosa und von Sulmona, eine Accademia Vehna in Celano. In Pescocostanzo blühte im 18. Jh. die Accademia Atomistica Peripatetica. Unterrichts kurse erteilte man im Konvent der dortigen Franziskaner. Anton Ludovico Antinori, seit 1745 Erzbischof von Lanciano, begründet in dieser Stadt eine Akademie für Moraltheologie. Am Ende des 18. Jh. erfahren wir von einer Akademie in Termoli. Sie nannte sich Arcadia Reale und unterstand der Akademie gleichen Namens in Neapel. Nach der Auflösung der letzteren war auch der Filiale in Termoli kein langes Leben mehr beschieden. Einen ganz anderen Charakter hatte eine Vereinigung in Castellone al Volturno, heute ein Ortsteil von Castel S. Vincenzo, die Accademia delle Conferenze Ecclesiastiche. Sie wurde 1853 von Abt Michelangelo Celesia von Montecassino (1850-1858) ins Leben gerufen mit dem Zweck, die katholische Religion gegen alle Häresien zu verteidigen.
Humanisten und Spezialisten
Aus den Abruzzen ging vom 14. bis zum 19. Jh. eine Reihe von Gelehrten hervor, die in der Heimat keinen ständigen Wirkungsbereich fanden und zur Auswanderung gezwungen waren. Innerhalb dieser Zeitspanne kennen wir 96 abruzzesische Professoren, die an der Universität Neapel lehrten, 77 an der Universität Bologna, 48 in Padua, 42 an der Sapienza in Rom, 12 in Perugia, 7 in Siena und 5 in Pavia. Dazu gesellt sich noch eine weitere Anzahl an kleineren italienischen Hochschulen. Meistens waren sie Professoren des Römischen Rechts, der Medizin und der Naturwissenschaften. Sie wanderten aus allen Teilen der Abruzzen aus, die meisten kamen aus L' Aquila und Sulmona, andere stammen aus Penne, Pizzoli, Tagliacozzo und so fort.
Manche Wissenschaftler hielten sich als Professoren an der Universität Paris auf. Dort lehrten u.a. der Minoritenmönch Andrea di Gagliano Aterno im 14. Jh., Enrico aus L'Aquila 1343 und Bartolomeo De Scalis 1401. Der berühmteste war der Franziskaner Pietro dell'Aquila, genannt »Scotellus«, geboren 1275 in Tornimparte bei L'Aquila. 1310 erwarb er den Doktorhut in Paris. Seine besonderen Studien galten dem Scholastiker Petrus Lombardus (gest. 1164) aus Novara, der seine Bildung in Reims und Paris erhalten hatte und 1159 Bischof von Paris wurde. Scotellus versah das klassische Werk »Sententiarum libri IV« des Petrus Lombardus mit Kommentaren. Es erschien 1480 in Buchform bei Peter Drach in Speyer und erfuhr viele Nachdrucke. Die Aristotelesforschungen des Scotellus sind noch unpubliziert. Seinen Kommentar zur aristotelischen Ethik verwahrt die Biblioteca Augusta in Perugia als Ms. 654, und seine Exposition zu dem Werk »De anima« des Aristoteles besitzt das All Souls College in Oxford unter der Nummer LXXXVII, ff. 222-236. Als Lehrender kam Scotellus nach L'Aquila zurück, 1347 wurde er Bischof von S. Angelo dei Lombardi und 1348 Bischof von Trivento. Er starb 1361 in Agnone und wurde in der dortigen Franziskanerkirche begraben.
Der Frühhumanismus in den Abruzzen wird zuerst in der Stadt des Ovid, in Sulmona, greifbar. Man orientiert sich an Neapel, besonders an den Strömungen, die dorthin aus der Toskana eindrangen. Ein glänzender Vertreter dieser Richtung ist Barbato aus Sulmona, geboren um 1300. In Neapel bildete er sich zum Notar aus und betätigte sich im Dienst (S. 266) der Anjou. Mit königlichen Aufträgen kam er 1327 nach Florenz und ein Jahr später nach Siena. 1337 ist er in der Kanzlei in Neapel für die Finanzen der Königin zuständig, dann ist er als Jurist in den Abruzzen und im Molise tätig, und 1342 finden wir ihn als Sekretär des Königs Robert und der Königin Johanna I. Später scheint Barbato seinen Dienst in Neapel aufgegeben zu haben, und seit 1352 lebte er wahrscheinlich in Sulmona. Sein Tod erfolgte bald nach Aufsetzung seines Testaments vom 18. September 1363, worin er seiner Verwandten in Sulmona gedenkt. Er wünschte sich, in seinem Geburtsort in der Kirche des hl. Dominikus beigesetzt zu werden, wo in einer ausgemalten Kapelle eine Familiengruft bestand. Barbato, der stets Verbindung zu Sulmona hielt, war in den Kreisen der neapolitanischen Humanisten kein Unbekannter. Berühmt wurde er durch seine Freundschaft mit Petrarca, die ihn seit 1341 mit diesem verband. Aus der Korrespondenz des Dichterfürsten sind 22 Schreiben an Barbato bekannt geworden. Dazu kommen noch zahlreiche Erwähnungen in Briefen an andere. Petrarca nennt ihn den zweiten Ovid in Sulmona. Am selben Tag, an dem er den berühmten Brief über seine Dichterkrönung am Ostertag 1341 auf dem Kapitol in Rom an König Robert von Neapel sandte, teilte er das Ereignis, allerdings in kürzerer Form, seinem Freund Barbato mit. Umgekehrt kennen wir auch Briefe Barbatos an Petrarca, aus denen hervorgeht, wie sehr er bemüht war, den Ruhm des großen Dichters zu verbreiten. Durch Vermittlung seines Freundes oder auch durch persönliche Bekanntschaft hatte Barbato eine genaue Vorstellung von den Ideen des römischen Volkstribuns Cola di Rienzo, auf den Petrarca so große Hoffnungen gesetzt hatte. In einem Brief schlägt Barbato vor, das vom Untergang bedrohte Rom solle einer Zweierherrschaft unterstellt werden. Petrarca möge mit seinem poetischen Geist der Ratgeber und Cola der ausführende Arm seiner Pläne sein: »ut scilicet quecumque Laureatus [Petrarca] consulit, Tribunus [Cola] exequatur«. Nach seinem Sturz und seiner Vertreibung aus Rom floh Cola in die Einsamkeit und hielt sich im Coelestinerkloster S. Spirito auf, unweit vom Wohnsitz des Barbato, der ihm möglicherweise zu diesem Unterschlupf geraten hat.
Einen anderen Briefwechsel führt Barbato mit Boccaccio, und die Freundschaft zwischen beiden scheint im Jahr 1344 ihren Anfang genommen zu haben. Ein Jahr vor Barbatos Tod hielt sich Boccaccio auf der Rückreise von Neapel nach der Toskana, die »via degli Abruzzi« benutzend, einen Tag zum Besuch des Freundes in Sulmona auf, wie wir einem Brief Boccaccios an Francesco Nelli entnehmen.
Zum Frühhumanismus in Sulmona zählt auch Giovanni Quatrario, 1356 in Sulmona geboren und daselbst 1402 gestorben. Wie Barbato stand auch er in Gedankenaustausch mit Petrarca und Boccaccio. Auf den Tod Petrarcas 1374 verfaßte er ein .Carmen funerum«. Als Sekretär am Vatikan und als Schreiber apostolischer Briefe bewegte er sich 1390 im römischen Humanistenkreis und wurde dort mit dem gelehrten Coluccio Salutati bekannt. Quatrario besaß in Sulmona eine eigene Bibliothek. Von seinem literarisehen CEuvre sind sechs bukolische Gedichte, neunzehn Oden, etwa fünfzig Gedichte und mehr als zehn Grabinschriften bekannt geworden.
Die Bedeutung der abruzzesischen Bischöfe für den Humanismus des 15. Jh. hat man bislang nicht im Zusammenhang untersucht. Man könnte z.B. die Wirksamkeit des Bischofs Bartolomeo Scala aufzeigen, der ein ausgezeichneter Wissenschaftler und 1463 Bischof von Sulmona war. Größeres Ansehen erlangte der schon oft erwähnte Amico Agnifili aus Rocca di Mezzo, 1431 Bischof von L' Aquila. Er studierte zunächst in L'Aquila, dann in Bologna, wo er 1426 im kanonischen Recht doktorierte. Seit dieser Zeit war er gut bekannt mit dem Humanisten Äneas Piccolomini, dem späteren Papst Pius 11. Nach Aufenthalten in L'Aquila und Rom kehrte er als Dozent für Kirchenrecht nach Bologna zurück, wo sein Schüler Pietro Barbo war, der zukünftige Papst Paul II.
Zu wenig Beachtung hat man dem Humanisten Giovanni Antonio Campana, seit 1463 Bischof von Teramo, geschenkt. Auf einem Gehöft namens Cavelle, das zum Ort Galluccio in der Provinz Caserta gehörte, wurde er 1427 geboren. Seine erste Bildung erhielt er in Neapel und war dort Schüler von Laurentius Valla (gest. 1457). In Rom verkehrte er im Humanistenkreis des Kardinals Bessarion. Campana war Sekretär der Päpste Kalixt III. und Pius 11. Auf Kalixt hielt er die Totenrede, und er schrieb die Biographie seines Freundes Pius 11. Campana erlangte als Gelehrter Ruhm. Seine gesammelten Werke erschienen 1495 in Rom. Paulll. ernannte ihn zum Gouverneur von Todi und Sixtus IV. zum Statthalter von Foligno und Citta di Castello. Campana starb 1477 in Siena.
Im 16. Jh. brachte unsere Region Humanisten hervor, die über die Landesgrenzen bekannt wurden. Zu ihnen gehört vor allem Mariangelo Accursio, 1489 in L'Aquila geboren und dort 1546 gestorben. Seine erste Erziehung genoß er in seiner Vaterstadt und begab sich dann nach Rom, um seine Kenntnisse in der lateinischen und griechischen Sprache auszubauen. Dort fand er Aufnahme und humanistischen Umgang im Hause des gelehrten Johannes Goritz (gest. 1527) aus Luxemburg. Dieser war Jurist und Beamter in der päpstlichen Kanzlei. Die Gelehrten seiner Zeit trafen sich in seinem Haus, das von Reuchlin und Erasmus von Rotterdam geschätzt wurde. Bald darauf sehen wir Accursio in Deutschland und in Polen. Als Historiker betätigte er sich im Hause der Markgrafen von Brandenburg, denen er eine Stammtafel anfertigte. Später hielt er sich am Hof Karls V. auf, der ihm 1527 die Gunst erwies, seinem Wappen den kaiserlichen Adler hinzufügen zu dürfen. Seit 1532 ist er Mitglied (familiare) des kaiserlichen Hauses. Er verkehrte mit den Humanisten in Rom und Neapel und reiste 1541 und 1544 aufs neue nach Deutschland. Erhalten sind seine Briefe, die er 1541 aus Mainz, Speyer, Augsburg und Regensburg an seinen Freund Giovanbattista Lucentino in L'Aquila schrieb. In Rom ist Accursio von archäologischen Interessen beseelt. Dort restaurierte er antike Funde und verhalf dem Museum auf dem Kapitol zu mancher Neuer (S. 267) werbung. Berühmt wurde er als Sammler und Kommentator römischer Inschriften. Theodor Mommsen rühmt ihn als einen der besten Epigraphiker des 16. Jahrhunderts. In L'Aquila förderte Accursio den Buchdruck, der dort 1482 von Adam von Rottweil eingeführt worden war. Bald nach diesem Zeitpunkt entstand 1493 in L'Aquila ein Verbund von Buchdruckern, zu denen Eusanio de Stella, Jean Picard und Louis de Masson gehörten.
Im 16. Jh. melden sich als Humanisten auch die Molisaner zu Wort, die im Verhältnis zu den Abruzzensen eine weit geringere Rolle spielten. 1502 wird in Isernia Onorato Fascitelli geboren, der 1564 in Rom starb. Als Benediktiner zog er sich zunächst nach Montecassino zurück und gelangte danach in den Kreis der Humanisten am päpstlichen Hof in Rom. 1546 besorgte er eine Edition der Werke Petrarcas, weiterhin schrieb er Gedichte über berühmte Männer, die sich im Kriegswesen und in der Literatur ausgezeichnet hatten, und verfaßte eine Elegie auf Scipione Capece (gest. 1551), Baron von Attignano, der Humanist, Literat und Princeps der Accademia Pontaniana in Neapel war. Berühmt wurde Fascitelli durch ein Poem, worin er in lateinischer Sprache die Taten des Alfonso D'Avalos (1502-1546), Marchese von Vasto, besang. In Neapel verband ihn innige Freundschaft mit dem Humanisten Paolo Giovio aus Como.
Ein Nachfahre aus der Familie des Bischofs Giovanni Antonio Campana von Teramo (gest. 1477) war der Literat und Historiker Cesare Campana, 1532 in L'Aquila geboren und 1606 in Vicenza gestorben. Nach ausgedehnten Reisen in Europa ließ er sich in Vicenza nieder, versäumte aber nicht, seine Geburtsstadt wieder aufzusuchen. Der Magistrat von L' Aquila machte ihm Geschenke und ehrte ihn durch Aufnahme in das Patriziat. Aus Dankbarkeit dedizierte er den Stadtvätern den zweiten Teil seiner Geschichte von Flandern, die die Jahre 1587 bis 1593 um faßt. Dem spanischen Königshaus sehr verbunden, verfertigte er eine ausführliche Lebensbeschreibung Philipps 11. (gest. 1598). Campanas Tod verhinderte die Vollendung des Werkes, das von seinem Sohn Agostino zum Abschluß gebracht wurde. Ces are gehörte zum Hofstaat Philipps 11., ebenso zur Haushaltung der Halbschwester des Königs, Margarethe von Österreich, der Besitzerin der Farnesischen Güter in den Abruzzen. Cesare bewährte sich auch als Meister in der Seiden stickerei. Eine Madonna von seiner Hand besaß Philipp II.
Eine imponierende Persönlichkeit im Humanismus der Abruzzen ist Muzius Pansa, am 2. April 1565 in Penne geboren und daselbst am 28. Juli 1628 gestorben. Mit 17 Jahren begab er sich zum Studium nach Perugia und hatte dort in Logik und Philosophie den Kardinal Sarnano zum Lehrer. Im jugendlichen Alter verfaßte er Gedichte und besang die Schönheit seiner Heimat, die Flüsse Tavo und Fino. Seit 1585 studierte er in Rom und legte dort zwei Jahre später seine Examina in Philosophie und Medizin ab. Bekannt wurde er, als 1588 bei Hieronimo Francini in Rom seine Reime über die Ruhmestaten des Papstes Sixtus V. erschienen (Delle glorie di Sisto Quinto, rime di Mutio Pansa da Civita di Penne). In Gegenwart der Kardinäle, zu denen auch sein Erzieher Sarnano gehörte, und des Vatikanischen Hofstaates überreichte er dem Papst feierlich sein Werk. Erfreut und gerührt versprach dieser dem jugendlichen Humanisten eine ansehnliche Pension, von der Pansa aber keinen Pfennig gesehen hat. Andere literarische Erzeugnisse widmete er Kardinälen und Mitgliedern des Hauses Farnese, die ja in seiner Vaterstadt das Regiment führten. Angesehen im Humanistenkreis Roms, betätigte er sich dort in den gelehrten Gesellschaften. In der gerade gegründeten .Accademia degli Aggirati« hielt er im Beisein des Torquato Tasso im Palast des Kardinals Muti eine Art Antrirtsvorlesung. Von der .Accademia degli Ardenti« wurde Pansa einstimmig zum Rektor und Princeps gewählt. An der Einführungsfeier nahm auch ein Arzt, Cesare Scarnato aus Tocco da Casauria teil. Bei Giovanni Martinelli in Rom erschien 1590 in vier Teilen ein Buch von Pansa über die von Sixtus V. neu geordnete Vatikanische Bibliothek, in dem auch längere Ausführungen über die Bauten des Papstes in Rom enthalten sind. Wir kennen die Beweggründe nicht, die den im römischen Gesellschaftskreis so integrierten Muzio veranlaßten, nach Penne zurückzukehren. Das geschah im Sommer 1588, und in seiner Vaterstadt übte er seinen Beruf als Arzt aus. Nach römischen Vorbildern gründete er hier 1590 die .Accademia degli Impensati«. Vier Jahre später wirkte er als Mediziner in Bucchianico und heiratete dort, setzte sich aber bereits 1595 als Arzt in das größere Chieti ab. Hier ist er literarisch äußerst fleißig. 1596 erschien bei Isidoro Facii in Chieti ein Gedichtband in lateinischen und italienischen Versen, und in anderen Dichtungen betrauert er den Tod des Königs Philipp 11. In Chieti kamen 1601 zwei fundamentale philosophische Werke heraus, das»Theatrum coeli et terrae« in vier Bänden und .De osculo ethnicae et cristianae philosophiae«, worin er versucht, die Naturphilosophie und die christliche Lehre in Einklang zu bringen. In diesen Veröffentlichungen zeichnet er sich als Philosoph, Theologe und begabter Literat aus. Durch seine Publikationen berühmt geworden, kam er 1602 als Arzt nach Penne zurück und tat viel zum Wohle seiner Heimatstadt. In S. Domenico wurde er Mitglied der Bruderschaft des Rosenkranzes, war 1613 Prior dieser Vereinigung, erneuerte ihre Statuten und setzte sich für die Wiederherstellung des Oratoriums ein. Im Kreuzgang von S. Francesco ließ er die Begegnung des Bischofs Anastasius von Penne mit dem hl. Franz von Assisi malen.
Die großen Gelehrten des 18. und 19. Jh., die in den Abruzzen geboren wurden, deren Wirkungsbereich sich aber außerhalb ihres Landes entfaltete, können hier nur kurz und auswahlsweise gestreift werden. Zu ihnen gehört einer der bizzaren Europäer des 18. Jh., Ferdinando Galiano, 1728 in Chieti geboren und 1787 in Neapel gestorben. Die Erziehung übernahm in Neapel sein berühmter Onkel Celestino Galiani, Ordensgeneral der Coelestiner, Abt von S. Spirito bei Sulmona, Erzbischof von Tarent und Saloniki. Ferdinando verfaßte Gedichte, betätigte sich als Verfasser von Textbüchern für Opern, war bekannt mit dem Komponisten Paisiello und berühmt als Historiker und Na (S. 268) tionalökonom. Sein »Dialog über den Getreidehandel« wurde mehrfach ins Deutsche übersetzt. Er stand im Dienste der Regierung in Neapel, und es verband ihn ein reger Gedankenaustausch mit dem dortigen geistvollen Innenminister Tanucci. Als Legationssekretär in Paris wurde er eine der bekanntesten Figuren in der französichen Gesellschaft, vertraut mit Madame d'Epinay, mit dem Baron de Grimm, Diderot und anderen.
Ein anderer Abruzzese, der seine Erfolge im Ausland erntete, ist der Dichter und Literat Gabriele Rossetti aus Vasto, 1783 von einfachen Eltern geboren. Sein Vater (gest. 1800) war Eisenschmied und seine Mutter (gest. 1821) Tochter eines Schuhmachers. Es ist aufschlußreich zu beobachten, welche Bildungschancen Kindern einfacher Herkunft in der zweiten Hälfte des 18. Jh. beschieden sein konnten. Gabriele war der jüngste von vier Brüdern. Der älteste, Andrea, war Theologe und Kanoniker von S. Maria Maggiore in Vasto, der zweite, Antonio, wurde Barbier und betätigte sich dazu als Poet, der dritte Bruder, Domenico (1772-1816), bewährte sich als Advokat, reiste in Europa und entdeckte die Höhle von Monte Calvo bei Nizza. Gabriele erhielt den ersten Unterricht in Vasto, tat sich im Zeichnen hervor, in der Gestaltung von Versen und im Gesang. Auf seine Begabung wurde der Marchese Tommaso D'Avalos von Vasto aufmerksam, der ihm das Studium in Neapel ermöglichte. Dort wurde er als Autor von Textbüchern für das Opernhaus San Carlo berühmt, was ihm die Freundschaft der Komponisten in Neapel eintrug, besonders von Zingarelli und Paisiello. Von freiheitlichen patriotischen Ideen erfüllt, fand er schnell Zugang zu den Vertretern der französischen Zwischenregierung in Neapel. Von Murat erhielt er die Stelle eines Konservators am Museum in Neapel. Mit seiner Sympathie für die Franzosen kam er natürlich in Konflikt mit den Bourbonen, die 1815 wieder die Regierung übernommen hatten. So mußte er 1822 die Hauptstadt verlassen, weilte zwei Jahre auf der Insel Malta und floh von dort 1824 nach London, wo er Professor für italienische Sprache und Literatur wurde und 1854 starb. Über seine Dichtungen hinaus erreichte er Ruhm als Danteforscher und verfaßte 1840 ein fünfbändiges Werk über das Mysterium der Platonischen Liebe im Mittelalter. Sein Sohn ist der berühmte 1828 in London geborene Maler Dante Gabriele Rossetti. Die Mutter des Malers war Maria Francesca Lavinia, Tochter des Gaetano Polidori, Sekretär des italienischen Dichters Alfieri. Polidori lebte seit 1789 in England.
Die deutsche Philosophie des ausgehenden 18. und des 19. Jh. fand in Süditalien einen starken Widerhall. An der Verbreitung der Lehren Kants und Hegels hatten die Abruzzesen beträchtlichen Anteil. Zu den profundesten Kennern dieser aus dem Norden einströmenden Weltanschauungen gehörte Ottavio Colecchi. Er wurde am I 8. September 1773 in Pescocostanzo geboren. Sein bewegtes Leben war die Folge der restaurativen Politik der Bourbonen, mit der er sich nicht zufrieden gab. Im Alter von 21 Jahren trat er in Ortona a Mare in den Dominikanerorden ein, doktorierte in Theologie und unterrichtete in Philosophie und Mathematik. Nach Aufhebung der Kongregation verließ er 1810 den Konvent, kleidete sich aber weiter in seine Dominikanerkutte und lehrte Mathematik am Militärkolleg in Neapel. Nach dem Sturz Murats war er 1815 der bourbonischen Regierung verdächtig, wanderte nach Petersburg aus, dozierte dort an der Universität in Mathematik und Philosophie und trat gleichzeitig als Erzieher am Zarenhof auf. Reisen führten in darauf nach Österreich, Deutschland, Frankreich, England und Schweden, und 1818 kehrte er nach Italien zurück, wo er ein Jahr später zum Professor für Physik und Mathematik am Königlichen Lyzeum in L'Aquila ernannt wurde. Bereits 1821 stand Colecchi wieder in Verdacht, zu stark atheistischen und liberalen Ideen anzuhängen. Gezwungen, seinen Posten in L' Aquila aufzugeben, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich vorläufig in seine Geburtsstadt Pescocostanzo zurückzuziehen, wo er eine Schule eröffnete, die ihr Leben bis zum Jahre 1827 fristete. Des engen Lebens in der Kleinstadt überdrüssig, kam er 1830 von neuem nach Neapel und verdiente dort seinen Lebensunterhalt mit Privatunterricht, nachdem ihm das Lehren an öffentlichen Schulen untersagt wurde. Trotz peinlicher Überwachung verschaffte er sich in Neapel einen ausgezeichneten Hörerkreis und erregte die Bewunderung der Gelehrten. Er starb im August 1847 und wurde auf dem städtischen Friedhof im Bereich der .Uomini Illustri« beigesetzt. Seine Schüler, die ihn zur letzten Ruhe begleiteten, benutzten die Gelegenheit zu einer politischen Demonstration.
Unter dem Einfluß Colecchis standen zwei Brüder, der Philosoph Bertrando Spaventa (1817-1883), der einen Nachruf auf Colecchi verfaßte, sowie der Politiker und Freiheitskämpfer Silvio Spaventa (1822-1893). Beide wurden in Bomba geboren. Der mehr philosophischem Denken zugewandte Bertrando empfing 1840 die Priesterweihe. Mit seinem Bruder Silvio eröffnete er 1846 in Neapel eine Privatschule für Philosophie, die aber bereits im folgenden Jahr von der bourbonischen Polizei geschlossen wurde. Bis zur Auflösung des Königreiches führte Bertrando ein unstetes Leben als Emigrant. In Turin verdingte er sich kümmerlich als Privatlehrer und Zeitungsschreiber, 1859 lehrte er an der Universität Modena, kurz darauf in Bologna. 1860 endlich konnte er als Professor für Philosophie seine Tätigkeit in der nunmehrigen Provinzstadt Neapel aufnehmen. Er bekleidete dort hohe Stellungen in der Provinzialverwaltung. Zahlreiche Publikationen befassen sich mit deutschen Philosophen, vor allem mit Kant und Hegel. Darüber hinaus machte er die Philosophen Herbart, Schelling und Gustav Teichmüller in Italien bekannt.
Zu den beiden Spaventa gesellte sich ein anderer Hegelianer, Angelo Camillo De Meis, 1817 in Bucchianico geboren. Er hatte zusammen mit den zwei Brüdern die Schule im nahen Chieti besucht und blieb mit ihnen sein ganzes Leben in Freundschaft verbunden. In Neapel bildete er sich zum Mediziner aus, geriet aber bald in Konflikt mit den Bourbonen. Er mußte fliehen und hielt sich in vielen Städten des Inund Auslandes auf. Seit 1863 lehrte er Geschichte der Medi (S. 269) zin an der Universität Bologna. In seinen zahlreichen naturwissenschaftlichen Werken hält er mit fast religiöser Gläubigkeit am Idealismus Hegels fest und gerät in Gegensatz zu dem sich immer mehr ausbreitenden empirischen Darwinismus.
Im Hause seiner Verwandten Spaventa erfuhr Benedetto Croce eine gründliche Erziehung. Hier wurde er mit der Hegelschen Gedankenwelt vertraut, die ihn sein ganzes Leben begleitete. Der eng mit der österreichischen und deutschen Kultur verbundene Croce wurde am 25. Februar 1866 in Pescasseroli geboren. Als Historiker hat er sich ausführlich mit den Abruzzen beschäftigt. Wie sein Onkel Silvio Spaventa zog es ihn oft in die Wissenschaftspolitik. So war er 1920/1921 Unterrichtsminister in Italien. Nach dem Untergang des Faschismus 1944 erlangte er das Amt eines Staatsministers. Er starb am 20. November 1952 in Neapel.
Neben der mehr oder minder vom Bürgertum getragenen Bildungswelt in den Abruzzen kann man eine bestimmte wissenschaftliche Tätigkeit feststellen, die ausschließlich von klerikaler Seite ausging. Die Missionsbestrebungen der Mönchsorden in Asien und Afrika weckten das Interesse für die Sprachen in diesen Ländern. Einen Namen als Orientalist machte sich Mario aus Calascio, der 1520 als Observant starb. Noch in seiner Todesstunde soll er Psalmen auf hebräisch vor sich hingesprochen haben. Antonio aus L'Aquila gehörte zu den franziskanischen Reformaten. Er studierte die Sprachen des Orients und arbeitete seit 1646 an der Edition einer Bibel in arabischer Sprache, die 1671 bei den Jesuiten in Rom erschien. Bartolomeo Lancia (gest. 1682) aus Pettorano bei Sulmona lehrte in Rom an der Sapienza Griechisch, Hebräisch und Arabisch. Im Kloster S. Agostino in L' Aquila lebte lange Zeit der Orientalist Giorgi, berühmt wegen seiner Kenntnisse in der griechischen und hebräischen Sprache. Außerdem verstand er die Sprache der Chaldäer, Samariter und Syrer.
Für den Humanismus in den Abruzzen leisteten auch die Adeligen Beträchtliches. Durch ihre guten Beziehungen zu Neapel empfingen sie häufig von dort Bildungseinflüsse, umgekehrt konnten sie aber auch der gelehrten Welt der Großstadt humanistische Ideen vermitteln. Kennzeichnend für dieses Wechselspiel ist die oft genannte Familie Acquaviva. Andrea Matteo Acquaviva (1457-1529), Herzog von Atri, und sein Bruder Belisario (ca. 1464-1528) zählen zu den geachtetsten Vertretern des Humanismus in Süditalien. Der 1481 bei Otranto im Kampf gegen die Türken gefallene Vater Giulio Antonio legte großen Wert auf eine fundierte Erziehung seiner beiden Söhne. Durch sorgfältig ausgewählte Lehrer erhielten die beiden Kinder Andrea Matteo und Belisario im elterlichen Haus in Atri eine vortreffliche Ausbildung. Nach dem Grundsatz des Vaters war die Kenntnis der Philosophie die Voraussetzung für alle weiteren Studien. Ein vertieftes Studium erfolgte in Neapel, wo die Brüder den Giovanni Pontano (gest. 1503) zum Lehrer hatten, der als hervorragender Humanist die aragonische Kultur in Neapel wesentlich mitbestimmt hat. Die 1442 gegründete Accademia Alfonsina wandelte ihren Namen bald in Accademia Pontaniana um, die bis zum Jahre 1543 bestand. Beide Acquaviva gehörten dieser gelehrten Gesellschaft des Pontano an. Bei den Zusammenkünften führte Andrea Matteo häufig den Vorsitz. Er war mit Pontano innig befreundet. Der Meister widmete seinem gelehrigen Schüler sein Werk »De magnanimitate«. In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte sich der Herzog von Atri ausschließlich mit den Wissenschaften. Von Grund aus war er Aristoteliker, wie sich überhaupt der Humanismus in Neapel durch seinen Aristotelismus vom Platonismus in Florenz absetzte. Neben Arbeiten über das klassische Altertum widmete sich Andrea Matteo der Dichtung. Seine »Psalmodia« dedizierte er dem Grafen Michael Kalephates, dessen griechische Ahnen und deren Kriegstaten gegen die Türken er verherrlichte. Andrea Matteo hing mit Begeisterung dem Buchdruck an. In seinem Palast in Neapel errichtete er eine Druckerei, die 1525 von Antonio Frezza da Corinaldo geleitet wurde. Hier druckte man die Werke des Pontano, die Arbeiten des großen neapolitanischen Humanisten Sannazzaro, und 1526 erschienen Veröffentlichungen des Herzogs selbst. 1519 wurde ein» Officium de quatuor dominicis de adventu« (über den Gottesdienst an den vier Adventssonntagen) verlegt, eine Schrift, die vom Papst Leo x. gelesen wurde, der ein Freund und Bewunderer des Herzogs war. Eine andere Freundschaft verband Andrea Matteo mit dem abruzzesischen Dichter Epicuro (gest. 1555). Dieser war berühmt als Autor von Sinnsprüchen. Er lieferte für Karl V., der ihn schätzte, Verse für die Triumphbogen, mit denen die Einzüge des Kaisers gefeiert wurden. In der Pfarrkirche von Cellino Attanasio fand der als Kind verstorbene Sohn des Herzogs, Giovan Battista Acquaviva, seine letzte Ruhestätte. Zum Trost der Eltern verfaßte Epicuro sechs Distichen und das Epigramm an der Basis des Grabmonuments.
Der Bruder des Andrea Matteo, Belisario Acquaviva, glänzte als bedeutender Schriftsteller. 1519 schrieb er ein Buch »über die Erziehung des Prinzen«, weiterhin verfaßte er Schriften »über die Jagd« und »über die Herausforderung zum Zweikampf«. Von seinen religiösen Traktaten widmete er einen dem Papst Leo X. Belisario übersetzte aus dem Griechischen, mußte sich dabei aber zuweilen der Hilfe seines Bruders bedienen, der sich in den Feinheiten der Sprache besser auskannte.
Die Herzöge Cantelmi waren, wenn es das Kriegshandwerk zuließ, dem Humanismus aufgeschlossen. In Popoli besaßen sie eine kleine Bibliothek, und von Herzog Giovanni Cantelmo (gest. 1560) kennen wir ein heroisches Poem »La Psiche«, das 1556 in L'Aquila bei dem berühmten Verleger Cacchio erschien. Ein anderes Werk, »La Meteora«, ist nur als Manuskript erhalten.
Träger des kulturellen Lebens in Anversa degli Abruzzi waren die Grafen Belprato aus Neapel, die dort 1493 ansäßig wurden. In diesem kleinen Abruzzenort entstand ein nicht unbedeutender Humanistenkreis. Dorthin lud man Poeten, Akademiker und Literaten ein. Diese Gruppe erlangte am Ende des 16. Jh. eine solche Bedeutung, daß sich die Belprato erlauben konnten, den gefeierten Dichter Tasso (S. 270) einzuladen. Dieses Grafenhaus in Anversa starb 1651 aus, und damit endete auch das kulturelle Leben des Ortes.
Pflege des Altertums und der eigenen Geschichte
Das Wissen um die Geschichte der Abruzzen und des Molise ist nicht allein das Ergebnis der modernen Zeit. Die Bevölkerung war sich immer bewußt, am Gang der Geschichte teilzuhaben, im Mittelalter, in der Renaissance und im Zeitalter des Barock. In viel stärkerem Maß als in anderen Regionen des Königreiches bildete sich durch das Studium der Vergangenheit ein landschaftlich gebundenes Selbstbewußtsein heraus, das eines der anziehendsten Kapitel der abruzzesischen Geistesgeschichte darstellt. Unter gleichen Bedingungen lebend wie die anderen Gebiete des Südstaates, entstand in unserer Landschaft im Bereich der Geschichtsschreibung eine Sonderleistung mit eigenen Akzenten. Trotz Abwanderung der besten Gelehrten blieben viele Kräfte übrig, die sich kenntnisreich und geschickt mit der Vergangenheit ihres eigenen Landes auseinandersetzten. Ein Charakteristikum der abruzzesischen Geschichtsschreibung ist die Spontaneität. Zum Vergleich kann man innerhalb des Königreiches nur Neapel selbst heranziehen. Aber in der Hauptstadt entwickelten sich ganz andere Interessen. Die Autoren dort standen oft im Sold der Regierung oder verfaßten ihre Werke im Hinblick auf die regierende Oberschicht. Davon waren die abruzzesischen Historiker frei. Sie betätigten sich ungebundener, ungekünstelter, manchmal naiv, aber durchweg aus einem selbstgewählten Auftrag heraus, der nicht immer den Ruhm einbrachte, den eine Weltstadt verleihen konnte.
Nur selten ist sich der moderne Abruzzese der Vorarbeiten seiner Ahnen bewußt. Das Wissen über sie ist zur Domäne weniger Fachleute geworden. Kriege, Erdbeben und Erdrutsche haben das alte Landschaftsbild zum großen Teil zerstört, und die historische Dokumentation hat in ihren Originalen einen Schwund von ungeheuerem Ausmaß erlitten.
Um uns ein Bild zu machen, wie es gewesen ist, sind wir auf die alten wissenden Historiker angewiesen, die hier nur kompendienartig und unvollständig kaum über das Jahr 1800 hinaus verfolgt werden können. Wir erhalten Einblick, wie sich die Altvordern mit der Literatur des Altertums beschäftigten und seit dem 14. Jh. die Geschichte der Städte in Monographien erschlossen, und wie es im 17. und 18. Jh. zu den profunden Zusammenfassungen in Landesgeschichten kam.
Zu den frühesten Gebildeten, die sich in den Abruzzen gezielt über das Altertum äußerten, gehört der schon oft genannte Giovanni Antonio Campana, seit 1463 Bischof von Teramo. Er verfaßte einen Kommentar zur Römischen Geschichte des Titus Livius. Die eigentliche Beschäftigung mit dem Altertum in unserer Region entzündete sich aber an der hervorragendsten Gestalt der abruzzesischen Geschichte, an dem Dichter Ovid aus Sulmona. Der erste Gelehrte, der sich mit diesem Poeten auseinandersetzt, ist Paolo Marso aus Pescina am Fuciner See. Seine Untersuchungen erschienen 1482 in einer seltenen Inkunabel, die bei Battista Torti in Venedig gedruckt wurde, eine Schrift, die bis 1497 noch fünf weitere Auflagen erlebte. Arbeiten über die Metamorphosen veröffentlichte der aus L'Aquila stammende Mariangelo Accursio im Jahr 1524. Den Höhepunkt der Ovidforschung repräsentieren die Werke des Ercole Ciofano aus Sulmona. Unbekannt sind sein Geburts-und sein Todesjahr. Er studierte in Rom, Mailand und Padua. Seit etwa 1560 wohnte er in Rom und war dort Lehrer bei den Familien Orsini und Farnese. 1575 edierte er bei Aldus Manutius in Venedig die Metamorphosen, und drei Jahre später erschienen beim selben Verleger seine »Observationes«, Betrachtungen zum Gesamtwerk des Ovid. Die Freundschaft mit Manutius veranlaßte ihn, sich für einige Zeit in Venedig niederzulassen. Durch Vermittlung des großen spanischen Humanisten Benito Arias Montano (1527-1598) verlegte Ciofano 1583 bei Christoph Plantin (gest. 1589) in Antwerpen die Gesamtausgabe des Ovid, die lange Zeit als bester Text galt. Später kehrte Ciofano nach Sulmona zurück und kommentierte die Liebeselegien »Amores« des Dichters aus Sulmona. Neben Ovid befaßte er sich gründlich mit Cicero. 1584 gab er eine Blütenlese von Aussprüchen des römischen Redners heraus, und ein Jahr später kommentierte er die Schrift -De officiis«.
Ein wenig beachteter Forscher des 15. Jh. ist Pietro Marso da Cese aus Avezzano, Kanoniker an S. Lorenzo in Damaso in Rom, geachteter Literat und Professor in der Ewigen Stadt. Seinen Traktat über die Unsterblichkeit der Seele widmete er dem Kardinal Riario, Heiligenviten dem Papst Innozenz VIII. und Mitgliedern des königlichen Hofes in Neapel. Er war Mitglied der von Pomponius Letus in Rom gegründeten Akademie. Sein großes Interesse galt dem römischen Geschichtsschreiber Silvio Italico aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert, dessen episches Gedicht .Punica« den zweiten Punischen Krieg (218-201) behandelt. Weil Silvio in diesem Werk oft den Kriegsruhm der Soldaten des Marserlandes verherrlicht, ist man ohne nähere Gründe geneigt gewesen, den Autor für einen Abruzzesen aus dem Marserland zu halten. Eine erste Edition des Geschichtswerks kam schon 1471 in Rom in den Handel, und die Leistung des Pietro Marso da Cese besteht in der Kommentierung der »Punica«.
Andrea Matteo Acquaviva, Herzog von Atri (gest. 1529), befaßte sich eingehend mit dem Altertum, besonders mit dem griechischen Schriftsteller Plutarch (geb. etwa 46 n. Chr.). 1526 edierte er die »Moralia« des Plutarch in griechischer Sprache mit einer lateinischen übersetzung. Die Ausgabe versah er mit einem Sachverzeichnis und vor allem mit seinen eigenen Kommentaren. Diese sind in vier Bücher gegliedert, und in ihnen entwickelte er seine eigenen Theorien. Im ersten Buch »De materia prima et universale« erweist er sich u. a. als kenntnisreicher Theoretiker der Musik und läßt wissen, daß er selbst die Gitarre zu spielen verstehe. Im zweiten Buch handelt er über die Welt und deren Struktur. Darin äußert er sich über die fünf Sinnesorgane und entwickelt das System des Ptolomäus, des großen Geogra (S. 271) phen, Astronomen und Mathematikers in Alexandria im 2. Jh. n.Chr. Für sich und seine Frau Isabella Piccolomini ließ sich Andrea Matteo eigens eine Ptolomäushandschrift anfertigen. Im dritten Buch stellt er Überlegungen über die Prudentia und Sapientia an, im vierten über die Affekte. Als universaler Mensch zeigt er Kenntnisse auf vielen Gebieten und zeichnet sich aus als glänzender Gräzist und Latinist, als Philosoph, Moralist, Staatsmann und Historiker, er ist beschlagen in der Mythologie, Astronomie und Musik.
Aus der Reihe der Gelehrten des 16. Jh. ist nochmals Mariangelo Accursio hervorzuheben mit seiner Vorliebe für römische Schriftsteller aus spätantiker Zeit. In zahlreichen Publikationen beschäftigte er sich mit dem römischen Grammatiker Valerius Probus, mit Solinus (3 .Jh.), mit dem römischen Dichter Ausonius (geb. um 309), mit dem Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus (4. Jh.) und besonders mit den Briefen des Cassiodor, die die Schreiben Theoderichs d. Gr. und seiner Nachfolger überliefern.
Aus L'Aquila stammt der Gelehrte Pier Leone Casella (ca. 1540 - ca. 1620). In Anlehnung an Vorarbeiten des Dominikaners Annio da Viterbo schrieb er ein 1606 in Lyon erschienenes Buch über die ersten Kolonien Italiens (De primis Italiae coloniis).
Von den zahlreichen Gebildeten des r8. Jh. erinnere ich nur an den Nationalökonomen Ferdinando Galiano aus Chieti. Er befaßte sich mit Horaz, schrieb 1755 über den Vesuv, ein Jahr später über die Malerei der Alten und hatte Kenntnis von den Ausgrabungen seiner Zeit in Herculanum bei Pompeji. 1755 wurde die Königliche Accademia Ercolanese gegründet, die bis zum Jahre 1792. acht Bände über die dortigen Funde veröffentlichte. An der Herausgabe dieser Reihe hatte Galiano bedeutenden Anteil.
Mit den Arbeiten über das Altertum fühlten sich die Abruzzesen vornehmlich als Italiener und waren in eine Bildungswelt integriert, die das gesamte Italien umfaßte. Ein weit größerer Kreis beschränkte sich auf die Geschichtsdarstellung des Heimatlandes. Im Vordergrund standen die Stadtchroniken, und vor dem Jahre 1800 gibt es in unserer Region kaum einen bedeutenden Ort, der nicht durch eine eingehende Beschreibung bekanntgeworden wäre, wobei freilich in diesem Belang die Abruzzen auch wieder eine größere Aktivität zeigen als das Molise. Die Stadt, die sich ihrer Vergangenheit am meisten bewußt wurde, ist die jüngste in unserer Landschaft, die auf keine Geschichte in der Antike und im frühen Mittelalter zurückschauen konnte, die Bergstadt L' Aquila. Hier setzt bereits im 14. Jh. die Stadtgeschichtsschreibung auf breiter Grundlage ein, kaum hundert Jahre nach der Gründung, während gleichartige Erzeugnisse in anderen Städten erst zaghaft im 15. Jh. entstehen mit Glanzleistungen seit dem 16. Jh., wohingegen sich mit dem Ende dieses Säkulums die Bedeutung der Historiographie in L' Aquila erschöpft.
Ein Charakteristikum der aquilanischen Geschichtsschreibung ist eine außergewöhnliche Kohärenz. Die von den Historikern behandelten Zeitabschnitte überschneiden sich nur sehr selten, und jeder Autor knüpft an den vorhergehenden an. Es entsteht auf diese Weise eine Gesamtgeschichte der Stadt, die zumindest in Süditalien, mit Ausnahme von Neapel, einzigartig ist. Der erste Schreiber einer Stadtchronik in den Abruzzen ist Buccio di Ranallo, Bürger von L' Aquila. Seine umfassende Erzählung beginnt mit der Gründung der Stadt, und seine persönlichen Erinnerungen gehen bis zum Jahre 1320 zurück. An die Niederschrift machte er sich 1355 und verfolgte die Geschehnisse bis 1362., ein Jahr vor seinem Tod. Sein Werk blieb unvergessen, es wurde von späteren Historikern immer wieder benutzt und erlangte im 16. Jh. den Charakter eines Volksbuches. Die Abschriften seines Berichts sind in dieser Zeit zahlreich, man las ihn in den gebildeten Kreisen der Stadt und ergötzte sich an der großen Vergangenheit. Die Form, die Buccio seiner Schrift gegeben hat, ist in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung einmalig; sie ist ein Reimwerk in der Volkssprache im alexandrinischen Versmaß, das an einigen Stellen durch Einschübe von Sonetten aufgelockert wird. Typisch abruzzesisch ist sein Versuch, den simplen chronologischen Ablauf des Geschehens durch eine poetische Einkleidung zu überhöhen, die aber naiv und einfach bleibt, ohne Effekthascherei durch eine ausgeklügelte Ausdrucksweise. Reimchroniken in der Volkssprache sind in Italien keine Seltenheit. Man begegnet ihnen in Perugia, Urbino, Arezzo, Florenz, in Lucca, Venedig und anderswo. Aber keine ist älter als die des Buccio di Ranallo. Ohne eine bestimmte Vorlage nennen zu können, ist eine weitläufige Verwandtschaft mit den französischen und provenzalischen »Chansons de geste« festzustellen, die über die Anjou leicht im Königreich Neapel Verbreitung finden konnten.
In gleicher metrischer Form wurde die Chronik des Buccio di Ranallo von Antonio di Buccio di San Vittorino fortgesetzt, der die Ereignisse der Stadt von 1363 bis 1381 behandelt. Niccolo di Borbona führt die Geschichte des Antonio di Buccio weiter bis zum Jahre 1424 und bedient sich der Volkssprache in Prosa. Vorher erschienen ein Katalog der Bischöfe von L'Aquila von 1254 bis 1402 von anonymer Hand sowie die Tagebücher des Jacopo Donadei in lateinischer Prosa mit der Schilderung der Ereignisse in L' Aquila von 1407 bis 1414.
Ein großes Ereignis war die Belagerung der Stadt 1423/1424 durch den Tyrannen Braccio da Montone, der schließlich nach heldenhaftem Kampf von den Verteidigern der Stadt überwältigt werden konnte. In elf Reimgesängen schrieb Niccolo Ciminello di Bazzano »Sulla guerra braccesca«, und auch der bereits öfter erwähnte Giovanni Antonio Campana, Bischof von Teramo, beschrieb das Leben des Braccio da Montone in einem Werk, das in Übersetzungen aus dem Lateinischen in mehreren Auflagen verbreitet wurde.
Fortgesetzt wird die Stadtgeschichte durch Francesco d'Angeluccio di Bazzano, der in Prosa die Begebenheiten bis 1485 erzählt. Der erste Chronist in lateinischer Sprache ist der Franziskaner Alessandro de Ritiis, 1434 in der Nähe von L'Aquila geboren. Seine Studien betrieb er im Konvent von S.Giuliano bei L'Aquila. Das Werk des Francesco d'Ange (S. 272) luccio benutzend, beschrieb er die Vorgänge von 1370 bis 1495. Neues Material bot ihm das Klosterarchiv von S. Francesco in Capestrano, das er für seine Belange ausschöpfte. Den Anschluß an de Ritiis liefert Vincenzo di Basilio mit seiner Chronik, die von 1476 bis 1564 reicht.
Eine wichtige Stellung in der Geschichtsschreibung der Stadt nimmt der um 1532 in L'Aquila geborene Rechtsgelehrte Francesco Vivio ein. Er befaßte sich mit den aquilanisehen Lokalhistorikern und stellte, auf ihnen fußend, eine Auslese aus den Schriften verschiedener Autoren zusammen. Das Werk wurde 1567 in Venedig unter dem Titel »Sylva variarum opinionum« gedruckt. In dieser Arbeit stützte er sich auch auf die unpublizierte Stadtgeschichte von L'Aquila, die Crispo de'Monti verfaßt hatte, und die heute noch als Manuskript in der Provinzialbibliothek von L'Aquila vorhanden ist. Vivio stand im Gedankenaustausch mit Berardo Cirillo, der damals in Rom an seiner Geschichte L'Aquilas arbeitete, dem letzten großen Werk über die Stadt, worin er von den Spaniern spricht, die das Ende der Freiheit dieses Gemeinwesens besiegelten. Seine .Annali della citta dell'Aquila« publizierte der um 1500 in L'Aquila geborene Cirillo 1570 in Rom, wo er 1575 starb. In der Ewigen Stadt war er u. a. Kanoniker an S. Maria Maggiore, Protonotario und Commendatore des Hospitals S. Spirito in Sassia. In seiner Stadtgeschichte von L'Aquila trug Cirillo so viel neuen Stoff zusammen, daß Vivio, um sein Werk nicht veralten zu lassen, gezwungen war, an eine zweite Auflage seiner »Sylva« heranzugehen, die 1582 in L'Aquila erschien und großen Anklang fand. Vivio starb im Jahr 1616.
Der Mathematiker und Geograph Girolamo Pico (gest. 1596) veröffentlichte 1582 eine historisch-geographische Stadtbeschreibung von L'Aquila. Sein Zeitgenosse war Salvatore Massonio, 1559 in L'Aquila geboren und daselbst 1629 gestorben. Nach dem Medizinstudium in Rom kehrte er 1581 in seine Vaterstadt zurück und widmete sich ganz dem Studium der Geschichte L' Aquilas. Aus diesen Beschäftigungen entstand sein Hauptwerk,» Dialogo dell' origine della citta dell'Aquila«, 1594 in L'Aquila erschienen. Er ist der erste Historiker, der die Gründung der Stadt auf Friedrich 11. von Hohenstaufen zurückführt. Die Geschichte der naheliegenden Ortschaften Amiterno und Forcone werden mitbehandelt, und im Anhang fügt er Biographien von 28 berühmten Bürgern L'Aquilas hinzu. Neben seinen historischen Arbeiten war Massonio noch Poet dazu. Er schrieb Gedichte, Dramen und Komödien, 1614 verfaßte er einen Traktat über den hl. Bernhardin von Siena, und 1627 druckte man in Venedig seine Abhandlung über den Johannes von Capestrano. Er zeigte sich rührig in der Accademia de'Velati in L'Aquila und wurde siebenmal zum Princeps dieser Vereinigung gewählt.
Die späteren Chronisten der Stadt ändern das Geschichtsbild nicht wesentlich. In seinem letzten Lebensjahr brachte der 1584 in L' Aquila geborene Jesuit Vincenzo Mastareo in Neapel eine Anthologie über die Schutzpatrone der Stadt L'Aquila heraus. Nicht zu verwechseln mit Alessandro de Ritiis (gest. 1434) ist Giovanni Felice de Ritiis. Dieser lebte zwischen 1585 und 1663 und schrieb die »Monumenta civitatis Aquilae«.
Diese Fülle von Historikern wie in L'Aquila finden wir in anderen Orten der Abruzzen nicht wieder. Während sich in L'Aquila die Geschichtsschreibung zur Zeit der Renaissance eindringlich zu Wort meldete, vermissen wir im übrigen Gebiet im 15. Jh. große historische Leistungen mit Ausnahme von Teramo, wo Giovanni Antonio Campana (gest. 1477) als erster Historiograph eine kurzgefaßte Geschichte seiner Bischofsstadt schrieb, zuerst in seinen gesammelten Schriften 1495 in Rom veröffentlicht und später nochmals in verschiedenen Editionen erschienen. Weiterhin äußert sich der Bischof über den Zustand von Teramo 1475 in einem Brief an den Kardinal Ammanati in Pavia. Im übrigen ist die Lokalliteratur über Teramo recht dürftig. In einer Reihe von Dialogen, die postum 1612. in Chieti erschienen, schildert Mutio de Mutiis (1535-1602) die Geschichte der Stadt. 1766 verfaßte Alessio Turrio eine in Teramo gedruckte Schrift, die über berühmte Männer der Stadt unterrichtet.
Die Humanistenstadt Sulmona mit ihren geistigen Regungen im 14. Jh. ist nicht reich an Stadthistorikern. Von Giovan Battista Acuti, dem frühesten Geschichtsschreiber der Stadt, kennen wir kaum die Lebensdaten, die wahrscheinlich am Ende des 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jh. anzusetzen sind. Durch Fehlerhaftigkeit und zu große Ausschmückung mit Legenden wird der Quellenwert seiner Chronik sehr gemindert. Eine ausgezeichnete historische und geographische Beschreibung der Stadt verdanken wir dem Ovid-und Ciceroforscher Ercole Ciofano. Seine Arbeit erschien 1578 als Vorwort zu seinen Betrachtungen über die Metamorphosen des Ovid und im selben Jahr noch einmal als eigenes Buch in L'Aquila. Erst am Ende des 18. Jh. befaßten sich dann wieder Francescantonio und Luigi de Sanctis mit der Lokalgeschichte und veröffentlichten 1796 in Neapel ihre historischen und topographischen Notizen über die Stadt Sulmona.
Sehr viel später kümmerte sich Chieti um seine eigene Vergangenheit. Wertvolle Niederschriften sind teils verloren oder noch nicht veröffentlicht. Eine religionsgeschichtliche Abhandlung über Justinus, den ersten Bischof der Stadt, publizierte Aurelio Ricci 1604 in Chieti. Der früheste eigentliche Stadthistoriker ist aber Sinibaldo Baroncini. Er stammte aus Ca merino und kam im Gefolge des Erzbischofs Mattia Samminiati 1592 als sein Sekretär nach Chieti, wo er bis zu seinem Tode im Jahr 1614 verblieb. Als Kanoniker an der Kathedrale hatte er Gelegenheit, die dort verwahrten Dokumente zu studieren. Seine unveröffentlichte Chronologie der Bischöfe von Chieti gelangte in den Besitz des Girolamo Nicolini, der sie 1657 in seiner Geschichte von Chieti verwertete. Das Hauptwerk Baroncinis »De metropoli Teate ac Marrucinorum antiquitate et praestantia« ist noch unpubliziert.
Die Geschichtsschreibung in Chieti orientierte sich an dem Humanistenkreis um Muzio Pansa (1565-1628), der in dieser Stadt seine fundamentalen philosophischen Werke niederschrieb. Zu seinen Schülern zählt man Lucio Ca (S. 273) marra, Girolamo Nicolini und Niccolo Toppi. Der um 1596 in Chieti geborene und 1656 in Rom verstorbene Camarra war in der Verwaltung der Güter beschäftigt, die die Familie Colonna in den Abruzzen besaß. Von Pansa wurde er zum Studium der lateinischen und griechischen Sprache angehalten. Der Chietiner stand in Verbindung mit den großen Gelehrten seiner Zeit, u.a. mit Ferdinando Ughelli (1595 bis 1670) und mit dem zum Katholizismus konvertierten Lukas Holste (Holstenius) aus Hamburg, den er als Bibliothekar im Hause der Barberini in Rom kennengelernt hatte. Befreundet war er mit Giorgio Gualther, einem Antiquar aus Augsburg. Diesem schickte er von ihm gesammelte lateinische und griechische Inschriften aus den Abruzzen. 1651 erschien in Rom sein Werk »De Teate antiqua Marrucinorum in Italia metropoli«, das später in Leiden in Holland eine verbesserte Auflage erfuhr. Die umfassende Stadthistorie von Girolamo Nicolini (1604-1664), die »Historia della citta di Chieti metropoli delle provincie d' Abruzzo divisa in tre Iibri etc.« lag 1651 druckfertig in Neapel vor. Trotz vieler neuer Beiträge wurde der Verfasser von dem eifersüchtigen Niccolo Toppi des Plagiats bezichtigt. Auch Toppi war Schüler von Pansa und ist 1607 in Chieti geboren und 1681 in Neapel gestorben. Rastlos mit historischen Forschungen in den Archiven der Landeshauptstadt beschäftigt, ließ er dabei die Geschichte der Abruzzen nicht außer acht. Indessen ist man bisher kaum imstande, seine Untersuchungen zu beutteilen, da seine »Privilegia et monumenta omnia civitatis Theatinae« unveröffentlicht im Staatsarchiv von Neapel liegen; sechs Bände mit Schriften verschiedenen Inhalts bewahtt das dortige Archiv der »Societa Napoletana di Storia Patria«.
Die immense Tätigkeit der Chietiner Historiker drängte sich ungefähr auf ein halbes Jahrhundert zusammen. Danach hatte sich die Schule des Pansa erschöpft. Mit Ausnahme eines kurzen Berichts über verschiedene Monumente in der Stadt und in der Umgebung, die Giuseppe M. Allegrezza 1753 auf dreißig Druckseiten zusammendrängte, hatte im 18. Jh. die Bergstadt die Aussagekraft über sich selbst verloren.
Aus Mangel an Quellen können wir uns nur ein ungenügendes Bild der Historiographie über Penne machen. Auch hier spüren wir den Einfluß des Muzio Pansa. In seiner unedierten Schrift »De Pinna [Penne] Vestina vetustissima Samnitica civitate elogia« konnte er sich auf Vorarbeiten stützen. Wir wissen, daß im 16. Jh. Niccolo Gritti eine Geschichte von Penne schrieb und Nicola Giovanni Salconio um 1600 Dokumente zur Stadtgeschichte sammelte. Anläßlieh des Einzugs des neuen Bischofs Silvestro Andreozzi im Jahr 1621 verfaßte Pama ein Lob auf die Stadt Penne. Deren Ursprung erklärt er reichlicher mit mythologischen als mit historischen Argumenten.
1625 ließ Pansa das Grab des größten Bürgers der Stadt, des Juristen Luca von Penne, erneuern. Er errichtete ihm ein Mausoleum aus Marmor, wozu er selbst die Inschrift verfaßte. Luca (gest. um 1390) war einer der bedeutendsten Rechtsgelehtten seines Jahrhunderts. Er kommentierte die ersten drei Bücher des »Corpus iuris civilis«, der großen Sammlung des Römischen Rechts, die Kaiser Justinian 528 bis 534 erstellen ließ. Als ein französischer Verleger Werke unseres Luca publizierte, im Glauben, der Jurist sei in Frankreich geboren, stellte Muzio in einem flammenden Gedicht fest, daß Luca an den Ufern des T avo und nicht an der Seine geboren sei. Der Irrtum des Franzosen veranlaßte ihn, eine eigene, noch unediette Apologie auf den Sohn der Stadt zu schreiben. Pansa verfolgte auch archäologische Interessen. Er sammelte römische Inschriften des Vestinerlandes und beschäftigte sich mit Vitruv, der im achten Buch seines Werkes »De architectura« von den heilkräftigen Wassern in Penne spricht. Muzio geht diesen Angaben nach und erinnett sich an einen antiken Brunnen. Er bringt auch die Bezeichnungen der Kirchen S. Giovanni ad Balneum und S. Giovanni prope Balneum mit den Ausführungen des Vitruv in Verbindung. über derartige Beschäftigungen hinaus machte er sich Notizen über zerstörte oder profanierte Kirchen in der Stadt und in der Diözese.
Die Abruzzen wurden nach der Renaissance mit Lokalliteratur überschwemmt. Aus dem 16. Jh. nenne ich noch Giovanni Battista de Leeris, der sich 1577 mit dem Stadtheiligen von Ortona, dem Apostel Thomas, befaßte. In seinen Ausführungen behandelt der gelehrte Priester auch die Geschichte seiner Vaterstadt Ortona. 1583 veröffentlichte in Sulmona der kenntnisreiche Historiker und Dichter Marcantonio Lucchitti eine Geschichte von Corfinio. Er stammte aus Prezza bei Sulmona, war Kanoniker an der Bischofskirchevon Valva und starb 1584.
Zwischen 1740 und 1800 entstanden allenthalben Ortsgeschichten. Genauere Angaben über Autoren und Titel sind, wenn auch nicht ganz vollständig, der Bibliographie von D. V. Fucinese, Rom 1978, zu entnehmen, wobei die im folgenden eingeklammerten Zahlen auf die laufenden Nummern seines Verzeichnisses hinweisen. Ortsmonographien erhielten z.B. S. Vittorino bei L'Aquila durch Marangoni 1740, Bominaco 1756 (67), S. Maria della Vittoria bei Scurcola 1768 (69), S. Clemente a Casauria 1778 und 1781 (73, 74), S.Maria dei Bisognosi bei Pereto 1785 (79), Corfinio 1786 (80), das Sanktuarium S.Maria d'Oriente bei Tagliacozzo 1796 (89), Peltuino bei Ansidonia 1797 (90).
Zur Publizierung unedierter Geschichtsquellen geben die Abruzzen noch viel Gelegenheit. So verwahrt z.B. das Gabinetto Archeologico von Vasto eine Handschrift des 16. Jh. über die Altertümer dieser Stadt. Autor ist der Archäologe Virgilio Caprioli (1548-1608), der die Stadt und die Umgebung fleißig nach alten Funden absuchte. Mit dem Typographen Bernardino Coppetta führte er 1598 die Buchdruckerkunst in Vasto ein. Unediert ist die Geschichte von Lanciano von Jacopo Fella. Neben historischen Studien betätigte sich der gelehrte Arzt Fella aus dem 17. Jh. auch noch literarisch und verfaßte Gedichte. In S. Maria dello Splendore am Stadtrand von Giulianova sammelte der aus L'Aquila stammende Abt Pietro Capulo die Dokumente seines Klosters und erstellte auf Grund dieser eine Geschichte seiner Mönchsgemeinschaft für die Jahre 1657 bis 1674.
(S. 274)Wie gesagt, sind im Molise die Ortsgeschichten seltener als in den Abruzzen. Im 16. Jh. verfaßte der Kapuziner Michelangelo Ziccardi eine Geschichte seines Klosters in Campobasso, die 1876 einen Nachdruck in Campobasso erfuhr. Ein »Compendio istorico dell'antiqua Aquilonia« schrieb der 1570 in Agnone geborene Arzt Marcantonio Gualtieri. Das in der Antike oft genannte Aquilonia identifizierte er mit seiner Vaterstadt Agnone. Sich auf antike Inschriften stützend, veröffentlichte der Geistliche Giovanni Antonio Monachetti 1683 seine »Memorie dell'antichita di Venafro«, im selben Jahr publizierte der 1666 geborene Notar Francesco de Santis eine Geschichte seiner Heimatstadt Ferrazzano. Die Dokumente für diese Arbeit sammelte er in Neapel. Das Buch wurde 1695 noch einmal gedruckt und erschien 1741 in einer verbessetten Auflage.
Während die Ortsliteratur seit dem 14. Jh. zu belegen ist, kommt es erst in viel späteren Zeiten zu übergreifenderen geschichtlichen Zusammenfassungen. Zaghafte Anfänge sind schon im 16. Jh. zu beobachten, als der Rechtsgelehrte Celso Barozzini aus Vasto eine noch unpublizierte Geschichte der Abruzzen anfertigte, jedoch liegen die eigentlichen Höhepunkte im 17. und I 8. Jahrhundert. In der historischen Landschaftskunde ragt das Marserland hervor, als gälte es, ein Versäumnis nachzuholen, denn es hat wenig an Ortsmonographien aufzuweisen. In einem fundamentalen Werk, das großen Widerhall fand, veröffentlichte 1678 Muzio Febonio in drei Büchern eine Geschichte des Marserlandes mit einem Katalog der marsischen Bischöfe. Diese grundlegende Arbeit wurde postum von Febonios Bruder Asdrubale in Neapel herausgegeben, nachdem Diego Pietra, Bischof der Marser, das Manuskript überarbeitet hatte. Febonio wurde 1597 in Avezzano geboren. Den ersten Unterricht erhielt er in Rom im Hause seines Onkels, des berühmten Kirchenhistorikers und Kardinals Cesare Baronio (geb. 1538 in Sora), dessen Mutter gleichfalls aus Avezzano stammte. Als Geistlicher war Febonio in vielen Orten der Abruzzen tätig, u.a. 1631-1648 als Abt von S.Cesidio in Trasacco. 1663 fand er sein Grab in der Kathedrale von Pescina. Er stand im Briefwechsel mit großen Historikern, mit Lukas Holste (Holstenius) und Ferdinando Ughelli. Neben seiner Arbeit über das Marserland interessierten ihn die Lebensgeschichten der Heiligen der Marserdiözese, von denen er einige dem in Pescina geborenen Kardinal Mazarin widmete. Er versuchte sich auch in der Gestaltung religiöser Dramen. 1651 erschien in L' Aquila sein Schauspiel über das Martyrium des Apostels Bartholomäus.
Die Provinzialbibliothek in Pescara hütet ein wertvolles unediertes Manuskript, die »Istoria dei Peligni poi Corfiniesi edella citta di Corfinio« des Rechtsgelehrten und Historikers Emilio de Mateis (1631-1681) aus Sulmona. Darin behandelt er in drei Büchern die römische Zeit des Paelignerlandes, die Tätigkeit der Heiligen, die hier lebten, er berichtet über die wichtigsten religiösen Niederlassungen und erstellt einen Katalog der Bischöfe von Valva und Sulmona. Der Wert dieser Arbeit wurde späterhin von Corsignani und Antinori bestätigt.
Größere Bedeutung erlangte das stattliche zweibändige Werk »Reggia marsicana« von Pietro Antonio Corsignani, das 1738 in Neapel im Druck erschien. Heute noch lesenswert, behandelt es die Geschichte des Marserlandes von den Anfängen bis zur Zeit der Niederschrift. Es ist mit Dokumenten gespickt, und wir erhalten Nachrichten über Gründungen und Schicksale der Kirchen und Klöster, über wundertätige Bilder, das Leben der örtlichen Heiligen, die Bischofsabfolge im Marserland und über berühmte Persönlichkeiten. Daneben verfaßte Corsignani noch weitere historische Arbeiten, z.B. veröffentlichte er 1718 ein Buch über die Brücken des Aniene und über diejenigen an der Via Valeria. Corsignani wurde 1686 in Celano geboren. In Rom und Neapel bildete er sich in Literatur, Philosophie und in der Jurisprudenz aus. Als Geistlicher war er in Rom tätig, 1727 wurde er Bischof von Venosa und versah seit 1738 das Bischofsamt von Valva-Sulmona. Eine Inschrift und eine Marmorbüste in der Kirche S. Giovanni in Celano erinnern an den hier 1751 verstorbenen großen Sohn dieser Stadt.
Der verdienstvollste Historiker der Abruzzen, Anton Ludovico Antinori (1704-1778) aus L'Aquila hat bislang nicht die ihm zukommende Würdigung gefunden. Nach Studien in Neapel kehrte er 1729 in seine Vaterstadt zurück und trat dort im Alter von 35 Jahren in die Kongregation des hl. Filippo Neri ein. In seiner geistlichen Laufbahn war er Kanoniker an S. Silvestro in L' Aquila, 1745 Erzbischof von Lanciano, neun Jahre später Bischof von Matera und Acerenza, eine Stellung, die er 1757 aus Gesundheitsgründen aufgab. Fortan widmete er sich in L'Aquila völlig archäologischen Studien und der heimatlichen Geschichte. Nebenher verfaßte er Sonette, und fast vergessen ist seine in jüngeren Jahren betriebene Pflege der Musik, eine Kunst, von der wir in den Abruzzen so wenig wissen. Antinori war Textgestalter von Oratorien, die er in den verschiedensten Kirchen mit heimischen Musikern aufführen ließ. 1728 führte man ein von ihm verfaßtes Oratorium in der Jesuitenkirche S. Margherita in L'Aquila auf, ein anderes, »Die wahre Braut«, wurde zu Ehren der hl. Cäcilie 1731 in S. Filippo Neri gegeben mit Musikern, die man sich von der Kathedrale auslieh. Die Musik dazu setzte ein Crescenzo Pignataro, Kapellmeister am Dom. Antinoris »Triumph der Frömmigkeit« brachte man 1731 in der Karmeliterkirche in Penne zur Aufführung. Die musikalische Bearbeitung stammte von Antonio Petrini, einem Chordirigenten aus Citta S. Angelo. Antinoris Marienoratorium in der Vertonung von Saverio Sallecchia aus Chieti führte man 1738 in dieser Stadt auf, und sein Eliasoratorium -ebenfalls von Sallecchia komponiert hörte man 1733 in Penne und 1740 in Chieti. Antinoris »Heiliger Joseph« stand 1738 auf dem Spielplan in der Collegiata von Citta S. Angelo.
Der Historiker Antinori betätigte sich als Herausgeber abruzzesischer Geschichtsquellen, als gewissenhafter Sammler von Urkunden und als Schilderer der abruzzesischen Geschichte. Den Anstoß zu diesen Arbeiten erhielt er von seinem Freund Lodovico Muratori (1672-1750), dem Vater der italienischen Geschichtsforschung. Im sechsten Band der (S. 275) berühmten »Antiquitates italicae mediiaevi« des Muratori veröffentlichte Antinori 1742 zum erstenmal einige der frühen von uns erwähnten Quellen zur Stadtgeschichte von L' Aquila. Nach seinem Tod kamen 1781-1783 in vier Bänden seine »Raccolte di memorie istoriche delle tre provincie degli Abruzzi« in Druck, und 1790 erschien nur der erste Band seines Werkes »Antichita storico-critiche, sacre e profane, esaminate nella regione de'Frentani«.
Umfangreicher als die publizierten Schriften sind die unedierten Manuskripte. Ein großer Teil ging 1886 als Geschenk des Marchese Dragonetti an die Provinzialbibliothek in L'Aquila. Diese Sammlung ist in 53 stattlichen Bänden archiviert, von denen die Abschnitte 25-42 die wertvolle »Corografia storica degli Abruzzi« enthalten. Die Bemühungen des abruzzesischen Geschichtsvereins »Societa di Storia Patria Abruzzese Anton Ludovico Antinori« um eine Publikation in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift blieben in den Anfängen stecken. Von den im Manuskript in alphabetischer Reihenfolge aufgeführten Orten wurden zwischen 1913 und 1935 nur die Stichworte Abbateggio bis Atessa veröffentlicht. Heute ist die Handschrift durch Photokopien zugänglich gemacht worden. Die Archivbände 43 bis 47 enthalten die Sammlung der Inschriften auf Stein in den Abruzzen. Als Erzbischof von Lanciano hatte Antinori Gelegenheit, sich gründlich mit der Geschichte dieser Stadt zu befassen. Auf 344 Seiten sind seine Studien dazu in einer Handschrift in der Nationalbibliothek in Neapel erhalten. Andere wertvolle von Antinori gesammelte Dokumente, die Lanciano und die Erzdiözese betreffen, bewahrt das Kapitelarchiv in Lanciano. Das Leben dieses fleißigen und gewissenhaften Gelehrten, dessen Wissen die heutige Zeit noch längst nicht ausgeschöpft hat, endete am I. März 1778 in L'Aquila. Er fand sein Grab in der Kathedrale seiner Heimatstadt.
Sich auf frühere Geschichtswerke des Marserlandes beziehend, verfaßte Ferdinando Pistilli 1798 eine historisch-philologische Beschreibung der antiken und modernen Städte zwischen den Flußläufen des Liri und des Fibreno. Dieses Werk erfuhr 1824 eine zweite Auflage. Die Orte Pescina, Celano, Alba Fucense, Avezzano, Capistrello, der Fuciner See mit seinem Abzugskanal des Kaisers Claudius und berühmte Persönlichkeiten erfahren auf 288 Seiten eine Würdigung.
In zusammenfassenden Geschichtsdarstellungen blieb das Molise nicht ganz so untätig wie in der monographischen Ortsliteratur. Zu den besten historischen Arbeiten des 17. Jh. in Süditalien gehört das fundamentale Werk von Giovanni Vincenzo Ciarlanti, die »Memorie istoriche del Sannio etc.«. Der Autor stammte aus Isernia und erhielt seine Ausbildung in Neapel. Als Erzpriester seiner Vaterstadt ordnete er dort das bischöfliche Archiv und sammelte zunächst die Dokumente über Isernia und die Diözese, weitete aber bald seine Studien auf das ganze Gebiet der Samniter aus. Seine 1644 publizierten Ergebnisse sind in fünf Bücher unterteilt. Als ausgezeichneter Kenner des klassischen Altertums, besonders des Livius, schildert er die Auseinandersetzungen der Samniter mit den Römern. Oberflächlichkeiten hat man Ciarlanti in der Behandlung des Mittelalters vorgeworfen. Dennoch erhalten wir wertvolle Mitteilungen, namentlich von Orten, die das 17. Jh. nicht überlebt haben. Sein Werk wird abgerundet durch ein Verzeichnis der Feudalherren, und in einem anderen Kapitel berichtet er über namhafte Persönlichkeiten.
Genau hundert Jahre nach Erscheinen des Werkes von Ciarlanti veröffentlichte Giovanni Andrea Tria die »Memorie storiche, civili ed ecclesiastiche della cimi di Larino«. Tria war 1726-1741 Bischof dieser Stadt und zog sich später nach Rom zurück. Als Bischof sammelte er Dokumente und Nachrichten über Larino und die gesamte Diözese, heute zum großen Teil verlorene Zeugnisse, die nur durch den Fleiß dieses Mannes überliefert sind.
Am Ende des 18. Jh. befaßte sich noch einmal Giuseppe Maria Galanti, geboren 1743 in Santacroce dei Sannio, gestorben in Neapel 1806, mit dem Molise und publizierte eine »Descrizione dello stato antico ed attuale del contado del Molise«. In dieser Studie weist er auf übelstände hin, die das Land bedroht haben und noch bedrohen. Er sucht nach Heilmitteln für die Beseitigung der Schwierigkeiten.
Ärzte und Naturwissenschaftler
Der Nachweis einer weitverbreiteten Bildungsschicht in den Abruzzen könnte noch eindringlicher erbracht werden, wenn man die Leistungen innerhalb der einzelnen Berufsgruppen untersuchen würde. Die so oft erwähnten Juristen erreichten z. B. ein hohes Maß an Gelehrsamkeit, die zuweilen auch dem Staatsdenken des Königreichs zugute kam. Ebenfalls ist es nicht erstaunlich, auch unter den Naturwissenschaftlern und Ärzten Persönlichkeiten ausfindig zu machen, die vom 14. Jh. an weit über ihr Land hinaus in der Wissenschaft bekannt wurden. Die frühesten Mediziner traten zunächst als behandelnde Ärzte vornehmer Familien auf, z.B. Berardo di Bucclano, der 1308 das Testament des Philipp von Flandern unterzeichnete. Bekannter war um die Mitte des 14. Jh. Giovanni da Penne, der die Angehörigen des Königshauses Durazzo behandelte. Schon am Ende des Jahrhunderts bewähren sich die Ärzte als Praktiker und zugleich als Wissenschaftler, z.B. Antonio aus Sulmona. Er war Protege der Königin Johanna I. von Neapel (1343 bis 1382.) und der erste abruzzesische Professor, der an der Universität Bologna Medizin lehrte. Von 1391 bis 1393 hielt er dort Vorlesungen über Hippokrates und Galen. Danach kehrte er nach Sulmona zurück, wo er bis zum Jahre 1405 zu verfolgen ist. überhaupt lieferte Sulmona eine Reihe namhafter Professoren der Medizin für Bologna. In den Jahren 1431-1432 hatte dort Giovanni aus Sulmona den Lehrstuhl inne, ein Jahr später erwarb 1433 Nicola aus Sulmona den Doktorhut und lehrte danach dort praktische Medizin. Chieti ist Geburtsort von Nicoletto Vernia (geb. um 1420). Er studierte in Venedig und bestand 1458 sein medizinisches Examen in Padua. Von 1465 bis 1499 lehrte er an der dortigen Universität Physik, und zu seinen Hörern zählte der (S. 276) bekannte Humanist Giovanni Pico della Mirandola (gest. 1494). Neben naturwissenschaftlichen Interessen verfolgte er auch philosophische und schrieb über Aristoteles und Averroes. In einer Schrift von 1482 disputierte er, ob der Medizin oder dem Bürgerlichen Recht der Vorzug zu geben sei, ein Streitgespräch, das auch in anderen Disziplinen eine beliebte Form der Renaissancekonversation war. Vernia starb im Oktober 1499 in Vicenza.
Giovanni deli' Aquila (1440-um 1507) studierte in Padua und erwarb den Doktortitel in Ferrara. Später lebte er wieder in Padua und lehrte dort Medizin. Namhafter ist Sebastiano Foroli, geboren etwa 1440 in L'Aquila, Arzt und Professor in Pavia und später in Padua. Ercole I. Este (1433 bis 1505) berief ihn an die aufblühende Universität Ferrara. Foroli war spezialisiert auf venerische Krankheiten und publizierte schon 1506 einen Traktat»De morbo Gallico«. Im 16. Jh. ist die Lehrtätigkeit der Abruzzesen an oberitalienischen Hochschulen weiter zu verfolgen. So dozierte z. B. Cesare Odone aus Penne (gest. 1571) an der Universität Bologna, nachdem er dort 1542. doktoriert hatte, oder der in Chieti geborene Giambattista da Alati ist 1545 Medizinprofessor in Padua.
In Tagliacozzo lebte der Chirurg Gaspare Trigambi (1544 bis 1594), genannt »Il Tagliacozzo«. Er ist der erste Mediziner, der Schönheitsoperationen an deformierten Nasen durchführte.
Zu den bekannteren Ärzten des 17. Jh. ist der 1570 in Agnone geborene Marcantonio Gualtieri zu rechnen. Zwischen 1616 und 1620 war er als Protomedico Generale höchster Amtsarzt im Königreich Neapel. Später weilte er in Sizilien und nahm sich dott besonders der Pestkranken an. Zur Arztelite des 17. Jh. gehört der Abruzzese Giulio Cesare Benedetti Guelfaglione, betriebsam in der Accademia dei Velati in L'Aquila, Hausarzt der Päpste Innozenz X. und Alexander VII. Benedetti starb 1656 an der großen Pest in Rom. 1649 erschien dort seine Sammlung »Epistolarum medicinalium«.
Aus Tagliacozzo stammte Andrea Argoli (geb. 1570). Nach Beendigung seines Studiums der Geisteswissenschaften in Neapel beschäftigten ihn Medizin, Mathematik und besonders die Astronomie. Von 1627 bis 1632 lehrte er Mathematik an der Sapienza in Rom. Dort geriet er in Verdacht, sich in der Astronomie allzu sehr mit ketzerischen Gedanken eingelassen zu haben. Er mußte fliehen, und das liberalere Venedig verschaffte ihm die Möglichkeit, dort ungestört seine Studien fortzusetzen. Noch im Alter von 62 Jahren war er so rüstig, den Lehrstuhl in Padua einzunehmen, auf dem einst Galilei (1564-1642) seine modernen Theorien vorgetragen hatte. Argoli war vertraut mit den Werken des dänischen Astronomen Tycho Brahe (1546 bis 1601), der auch in Italien reiste, und dessen Name in ganz Europa bekannt war. In Padua starb der Bürger von Tagliacozzo am 27. September 1659. Sein Sohn war der 1609 in Tagliacozzo geborene Giovanni Argoli (gest. 1660), Literat und Jurist und Professor an der Universität Bologna.
Zu den großen abruzzesischen Naturwissenschaftlern des 18. Jh. zählt Giovanni Fortunato Bianchi, auch Bianchini genannt. Er kam 1719 in Chieti zur Welt. Nach einem Anfangsunterricht in seiner Heimatstadt und in Ortona a Mare studierte er 1740 Medizin an der Universität Neapel, wo er nach abgeschlossenem Studium vier Jahre praktische Medizin lehrte. Eine kurze Dozententätigkeit absolvierte er an der Hochschule Fermo. 1749 hielt er sich in Venedig auf und ein Jahr später in Udine, wo er 25 Jahre lang das Amt eines Protomedico versah. Ab 1776 lehrte er praktische Medizin an der Universität Padua und starb dort 1779. Neben seinen praktischen Berufserfahrungen zeigte Bianchi auch medizinhistorische Interessen und sammelte griechische und lateinische Notizen über die Asklepiaden, eine Gruppe von Ärzten in der Antike, die den Asklepios als ihren geistigen Stammvater betrachteten. Für seine Studenten in Padua verfaßte Bianchi eine Einführung in die praktische Medizin. Im Auftrag des venezianischen Senats und der Gesundheitsbehörde führte er 1769-1770 Pocken impfungen in Udine aus und berichtete über seine Experimente. Schon seit seinen Studienjahren in Neapel war Bianchi aufgeschlossen für die Physik. Als einer der ersten Italiener befaßte er sich mit der Elektrizität in der Atmosphäre, gleichzeitig mit Giovanni Battista Beccaria (1716-1781), dem Physiker an der Universität Turin, der von Versuchen des amerikanischen Staatsmannes und Physikers Benjamin Franklin (1706-1790) beeinflußt wurde. Bianchi ließ seine Ergebnisse auf dem Gebiet der Physik in Venedig, Paris und Udine verbreiten.
Die Tätigkeit des in Ancarano geborenen Giuseppe Flaiani (1739-1808) vollzog sich fast ausschließlich in Rom. Nach Erwerb des Doktorgrades an der Sapienza 1761 wirkte er als Arzt am Hospital von S. Spirito in Sassia. 1771 erhielt er den Auftrag, ein anatomisches und pathologisches Museum einzurichten, dessen Direktor er wurde. Zweimal in der Woche hatte er medizinische Vorlesungen zu halten, und seit 1775 ist Flaiani Chirurg am Vatikan unter Pius VI. 1800 erfand der Abruzzese eine neue Methode, durch operative Eingriffe Harnsteine zu entfernen. Zwei Jahre später entdeckte er ein Krankheitsbild, das sich durch anfallweise auftretende Beschleunigung der Herztätigkeit, durch Anschwellung der Schilddrüsen und Hervortreten der Augäpfel (Glotzaugen) ausdrückt. Dieses Symptom nannte man die Flaianische Krankheit. Später, nachdem der Merseburger Arzt Basedow 1840 ähnliche Zusammenhänge beobachtet hatte, sprach man von der Flaianisch-Basedowschen und zu guter Letzt nur noch von der Basedowschen Krankheit. Weiterhin bemühte sich Flaiani um die Reform der Irrenhäuser, indem er den Kranken eine menschliche Pflege zukommen lassen wollte. So wurde er auch Leiter der Irrenanstalt S. Maria della Piera in Rom. Flaiani war Mitglied vieler gelehrter Akademien in Italien und im Ausland, in Wien, Mannheim und Göttingen. In seinem Geburtsort Ancarano ist die Straße, in der noch sein Geburtshaus zu sehen ist, nach ihm benannt.
Auch in der Zahnmedizin entwickelte ein Abruzzese enorme Fähigkeiten. Giuseppangelo Fonzi kam 1768 in Spoltore zur Welt. Nach Anfangsstudien in Orsogna und (S. 277) Chieti fand er auf der Universität Neapel 1788 kein Weiterkommen und verdingte sich als Schiffsjunge auf einem Kriegsschiff, das nach Spanien auslief. Dort beschäftigte er sich mit der Zahnheilkunde. Von Unruhe und Abenteuerlust getrieben, zog es ihn nach Paris, wo er 1795 eine Zahnpraxis eröffnete. Bemühungen, in sein Vaterland zurückzukommen, scheiterten immer wieder, obwohl es ihm 1801 für kurze Zeit gelang, in Neapel als Zahnarzt am königlichen Hof zu wirken. Der Weg führte ihn wieder nach Paris, wo Dubois de Chemant 1786 die ersten Porzellanzähne verwendet hatte. Derartige Experimente setzte Fonzi fort, und 1807 entwickelte er Metallzähne, deren Kronen er mit einer dünnen Porzellanschicht umgab. Diese Entdeckung wurde von der französischen medizinischen Akademie 1808 anerkannt und gewürdigt. Auf Fonzis Ruhm wurde der König von Bayern aufmerksam, und als behandelnden Arzt der Königsfamilie sehen wir den Abruzzesen 1815 in München wieder. Ein Jahr darauf reist er nach London und nimmt dort eine Einladung des spanischen Königs nach Madrid an. Zahnschmerzen hatte man auch in Rußland. In Petersburg erscheint Fonzi 1823 und behandelt wahrscheinlich mit guten Erfolgen die Zarin, denn es wird ihm der Titel eines Zahnchirurgen am kaiserlichen Hof verliehen. Bald jedoch drängt es ihn nach Paris zurück, 1826 ist er wieder in Neapel, wo ihm die Bourbonen Paß schwierigkeiten bereiten. Nach einem Zwischenaufenthalt in Frankreich kommt er 1835 nach Madrid zurück. Von neuem wollte der Umgetriebene seine Heimat erreichen, aber auf der Rückreise erkrankte er schwer in Barcelona, wo er lange Zeit daniederlag und 1840 starb. Den Grimm der Bourbonen trug ihm wahrscheinlich auch seine franzosenfreundliche literarische Tätigkeit ein. Er verfaßte ein Reimgedicht auf LudwigXvm. und ein Sonert auf Napoleon. Seine unedierten Tragödien werden in zwei Bänden im Privatbesitz des D. Vincenzo Guerini in Neapel aufbewahrt.
Abwanderung von Künstlern
Ähnlich wie bei den Akademikern beobachten wir seit dem 14. Jh. auch eine Abwanderung von Künstlern, die in den Abruzzen keine geeigneten Aufträge erhielten oder aus Abenteuerlust das Land verließen. Bevorzugte Ziele bildeten natürlich die Landeshauptstadt Neapel und Rom. Abruzzesische Künstler sind aber auch im übrigen Italien aufzuspüren sowie im Ausland, wo Frankreich eine besondere Anziehungskraft ausübte. Die Zahl der ausgewanderten Künstler ist so groß, daß im Zusammenhang dieser Ausführungen nur wenige, aber charakteristische Beispiele behandelt werden können.
1298 schickte der französische König Philipp IV., der Schöne, den Maler Etienne d' Auxerre nach Rom, wahrscheinlich mit dem Auftrag, ein Bild des Papstes Bonifaz herzustellen. Der Franzose wurde aber noch mit anderen Aufgaben betraut (pro quibusdam negociis regis), die u.a. darauf hinzielten, geeignete italienische Künstler für den französischen Hof zu gewinnen. Etienne wurde auf den Maler Nicola de'Marsi aufmerksam, der mit ihm den Weg nach Paris in die Dienste des Königs beschritt.
Der Chietiner Niccolo Toppi (1607-1681) entdeckte bei Archivstudien in Neapel eine wenig beachtete Bemerkung des großen Juristen Lucas von Penne, der um 1345 in Neapel den Doktorhut erwarb und sich in den Künstlerkreisen der Stadt gut auskannte. Lucas äußert sich über den dortigen Aufenthalt Giottos. Diesem Meister habe in der Stadt ein anderer zur Seite gestanden, sein naher Landsmann, der Maler Luca d' Atri, und er sagt: »professores ut Jochtus [Giotto] Florentinus et Luca Atriensis, qui nostris temporibus caeteros excesserunt« (die Professoren Giotto aus Florenz und Luca aus Atri, die zu unseren Zeiten die übrigen Künstler weit übertrafen).
Um 1400 lebte in Sulmona der Maler Nardo di maestro Andrea. Er wurde an den königlichen Hof in Neapel berufen, und 1407 ernannte ihn König Ladislaus zum Mitglied seiner Hausgemeinschaft. In der Kirche S. Pietro a Maiella in Neapel entstanden Nardos heute nicht mehr vorhandene Fresken mit Darstellungen aus dem Leben des Papstes Coelestin V. Im selben Jahr 1407 arbeitete der Bildhauer magister Antonio aus Sulmona in Umbrien. Er schuf in Todi das heute noch erhaltene Grabmal des Nino Alberto Caroccio, der in dieser Stadt geboren wurde, 1385 Bürgermeister von Bologna war und 1407 starb. Das Monument steht in Todi im Kreuzgang eines alten Konvents, der heute von einer Schule, dem Liceo-Ginnasio J acopone di Todi benutzt wird; darauf ist eine lange Inschrift eingemeißelt, in der als Verfertiger des Kunstwerks Antonio da Sulmona genannt wird.
Seit 1452 errichtete man in Neapel für König Alfons den Großmütigen den monumentalen Triumphbogen zwischen den beiden Rundtürmen am Castel Nuovo. Für die Erstellung des Werkes, einer der schönsten weltlichen Renaissancebauten des 15. Jh. in Italien, rief man gewandte Künstler von überall zusammen. Sie kamen aus Ragusa in Dalmatien und aus Spanien, aus Rom, Florenz, Pisa und Genua. Um 1455-1456 tritt in diesen erlauchten Kreis ein Künstler aus L' Aquila ein, Andrea di Giovanni. Ober ihn berichtet der Gesandte der Stadt Siena in Neapel, Nicola Severino, in einem Brief vom 3. Juni 1458 an Cristoforo di Felice, der zu jener Zeit der Bauhütte am Dom von Siena vorstand. Er empfiehlt den Andrea aus L' Aquila und lobt ihn mit folgenden Worten: »Hier in Neapel hält sich ein Andreas auf, auch Meister Andreas von L'Aquila genannt. Wahrhaftig steht ihm der Meistername gut an. Er war Schüler des Donatello, bei dem er weilte, und dem er vertraut war, und viele Jahre brachte er im Hause des Cosimo [Medici] zu. Dieser Andrea ist ein einzigartiger Maler und noch Meister in der Bildhauerei dazu. Gegenwärtig arbeitet er am Triumphbogen des Königs mit. Seine Leistung ist ausgezeichnet und wird von allen Meistern über die Maßen gelobt. Das trug ihm den Neid der anderen ein. Die allgemeine Situation, Seuchen und Verdacht auf eine Krankheit des Königs bestärken ihn in dem Wunsch, Neapel zu verlassen.« Von dem bildhauerischen Können des Andreas kann man sich noch heute am Caste! Nuovo überzeugen.
(S. 278)König Karl VIII. von Frankreich hatte für die Abruzzen ein besonderes Interesse. Als er sich 149411495 auf kriegerischen Expeditionen in Süditalien aufhielt, besuchte er das Kloster S. Clemente a Casauria und ließ sich von den dortigen Mönchen die berühmte illuminierte Chronik von Casauria schenken. Über diesen »Kunstraub« hinaus führte er 1495 noch zwei abruzzesische Bildhauer nach Frankreich mit, Domenico di Ortona a Mare und Alfonso di Massa d'Albe.
Im ausgehenden 15. und im 16. Jh. entwickelte sich in Italien der Typ des Höflings, ein weltgewandter Mensch, von regierenden Familien begünstigt, sich nützlich erweisend, oft schmeichelhaft und immer bedacht auf reiche Geschenke und Pensionen. In diesen Personenkreis ist Giovanni Battista Branconi aus L' Aquila einzubeziehen, der seine Fortune in Rom machte. Aus vornehmer Familie stammend, wurde er 1473 geboren. Schon in jungen Jahren zog es ihn nach Rom, und dort bildete er sich in der Goldschmiedekunst aus, einem Handwerk, das in seiner Vaterstadt zu höchstem Ansehen gelangt war. Bald stand er als Gold-und Silberschmied in Diensten des Kardinals Galeotto Della Rovere, einem Verwandten des Papstes Julius JI. Durch Vermittlung und Hilfe seines am Vatikan als apostolischer Schreiber tätigen Vetters Fabiano Branconi gelang es Giovanni Battista bald, sich in den höchsten Kreisen des Vatikans frei zu bewegen. Als weltlicher Gesellschafter begleitete er 1513 seinen Gönner, Kardinal Della Rovere, zur Papstwahl. Branconi manövrierte geschickt und setzte sich für Giovanni Medici ein, der als Leo x. aus dem Konklave hervorging. Der neue Papst hat diesen Einsatz Branconis nie vergessen und ihm stets sein Wohlwollen bezeigt. 1514 wurde Branconi als »familiare« in den Hausstand des Papstes einbezogen und mit reichen Pfründen in Oberitalien und den Abruzzen belohnt. 1517 war er Kommendatarabt von S. Clemente in Pescara, 1520 erhielt er die Pfründe von S.Biagio in Amiterno und 1521 die von S.Maria in Bominaco. Alle diese Stellungen brachten wenig Arbeit und viel Geld. In L'Aquila und Rom konnte er sich eigene Paläste leisten. Als Kunstberater des Papstes bekam er rasch Kontakt zu den Künstlern am Vatikan. Besondere Freundschaft verband ihn mit Raffael. Bei ihm bestellte der Goldschmied und inzwischen zum päpstlichen Protonotar avancierte Giovanni Battista das Bild der Heimsuchung Mariä als Geschenk für seinen Vater Marino Branconi. Dieses vermutlich von dem Raffaelschüler Perin del Vaga ausgeführte Gemälde hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Zunächst wurde es in L'Aquila in S. Silvestro in der Familienkapelle Branconi am Ende des linken Seitenschiffes aufgestellt, wo heute nur noch eine Kopie davon zu sehen ist. Die Stadt hat das Bild eifersüchtig gehütet, und der Rat erließ am 2. April 1520 ein Dekret, daß es nicht kopiert werden dürfe. Doch war dieses Bemühen vergebens. Auf Befehl des Vizekönigs von Neapel, Don Garcia d'Avellaneda y Haro wurde das Gemälde aus der Kapelle entfernt, 1655 an Philipp von Spanien gesandt und in der Sakristei des Eskorial aufgestellt. 1813-1822 befand es sich in Paris, wo es von Holz auf Leinwand übertragen wurde. Ferdinand VII., König von Spanien, schenkte das Bild Lord Wellington, und schließlich gelangte es wieder nach Spanien zurück, wo es heute seinen Platz im Prado von Madrid hat. Raffaellieferte auch die Entwurfszeichnung für den Palast des Branconi am Borgo, einen der schönsten römischen Stadtpaläste der Renaissance, der 1600 beim Bau der Kolonnaden vor der Peterskirche abgerissen werden mußte. Branconi ehrte Raffael über dessen Tod hinaus und war auf Wunsch des Künstlers dessen Testamentsvollstrecker, eine Aufgabe, die er gewissenhaft ausführte.
Der Goldschmied aus L'Aquila geriet in den Mittelpunkt des römischen Stadtklatsches. König Manuel I. von Portugal schenkte 1514 dem Papst einen weißen Elefanten, den LeoX. der Obhut des Branconi anvertraute. Trotz pfleglicher Behandlung starb der Dickhäuter 1516. In lateinischer Sprache verfaßte Branconi die Aufschrift für das Denkmal dieses unglücklichen Tieres, und Raffael malte dessen Bild, das am Turm neben dem Eingang zum Vatikanischen Palast zu sehen war. Witze und Schmährufe der spottsüchtigen Römer begleiteten dieses Ereignis. Branconi wurde als Universalerbe des Papstes verhöhnt, und der bissige Pietro Aretino witzelte über ihn in seinem Lustspiel »Cortigiana,(.
Die Kenntnisse in der Goldschmiedekunst kamen Branconi noch lange zugute. Er verwahrte den päpstlichen Schatz und die Schmuckgegenstände seines Gönners und erstellte von all diesen Objekten ein Inventar. In einem Brief des Sebastiano del Piombo vom 15. Oktober 1520 an Michelangelo erzählt jener von einem Gespräch mit Leo X., der ihm die Ausführung von Fresken im Vatikan übertragen hatte. Der Papst könne sich in einigen offenen Fragen nicht schlüssig werden, bevor er nicht den Rat des Branconi eingeholt hätte. Leo x. starb am 1. Dezember 1521. Branconi überlebte den Tod seines Gönners nur ein Jahr und starb in den ersten Dezembertagen des Jahres 1522.
Der Florentiner Goldschmied und Bildhauer Benvenuto Cellini (1500-1571) teilt sein bewegtes Leben in einer Selbstbiographie mit, die durch Goerhes Übersetzung in Deutschland weit bekannt wurde. In diesen Memoiren erwähnt er häufig einen Kollegen in der Goldschmiedekunst, den Ascanio Mari (1524-um 1566), auch Ascanio da Tagliacozzo genannt. Seit 1537 war der Abruzzese Schüler Cellinis, und in seiner sprudelnden Beredsamkeit erzählt Benvenuto, daß die Freundschaft zwischen beiden nicht immer harmonisch verlief. Der Meister vertrieb den Ascanio aus seiner Werkstatt, konnte ihn aber auf die Dauer nicht entbehren. Während Cellini auf Grund von Verleumdungen im päpstlichen Gewahrsam in der Engelsburg saß, verstand es Ascanio, Zeichen-und Arbeitsmaterial für seinen Lehrer in das Gefängnis einzuschmuggeln. Benvenuto läßt wissen, daß der Brausekopf Ascanio mit anderen Berufsgenossen in Streit lag und ihnen so viel Übles zufügte, daß er gezwungen war, zeitweilig in seiner Heimatstadt Tagliacozzo Zuflucht zu suchen. Ascanio zog mit Cellini nach Paris, wo er seit 1545 im Dienste des französischen Königs stand. 1563 ist sein Aufenthalt (S. 279) in Flandern bezeugt. Gemeinsam mit dem römischen Goldschmied Paolo Romano (gest. nach 1552) führte er Arbeiten für König Heinrich II. (1547-1559) aus, und auch der Kardinal Ippolito d'Este betraute ihn mit Aufgaben. In Frankreich heiratete Ascanio die Costanza, Tochter des Girolamo Robbia di Andrea della Robbia, der aus der berühmten Florentiner Künstlerfamilie stammte. Auch der Schwiegervater betätigte sich am französischen Hof und starb 1566 in Paris, vier Tage nach dem Tode seiner Tochter Costanza. Um das Jahr 1566 nahm auch das Leben des Ascanio aus T agliacozzo ein Ende.
Zwischen 1568 und 1577 machte in Rom der Zeichner und Kupferstecher Orazio de Sanctis (de Santis, Santi) aus L'Aquila viel von sich reden. Er scheint kein sehr schöpferischer Geist gewesen zu sein und arbeitete wohl mehr nach Vorlagen und im Auftrag anderer Künstler.
Einer der führenden Architekten in der Ausbildung eines jesuitischen Baustils in Italien war der in L' Aquila geborene und 1572 in den Jesuitenorden eingetretene Giuseppe Valeriani (1542-1596), der mit eigentlichem Namen Fiammeri hieß. Wir kennen ihn als Gestalter großer Architekturprojekte. Obwohl man ihm die Ausführung mancher Fassaden zugeschrieben hat, ist sein eigentlicher künstlerischer Anteil noch nicht recht greifbar. Der Internationalität des Ordens entspricht der weite Wirkungsbereich des Architekten mit Aufenthalten in Portugal und Spanien, er war tätig in Deutschland, in Rom, Neapel, Genua und L'Aquila. In der Ewigen Stadt war er an der großen, seit 1568 im Bau befindlichen Jesuitenkirche Il Gesu beteiligt, die zum Prototyp wurde und im Barock eine so große Nachfolge hatte. Man nimmt an, daß der Entwurf der Fassade auf Valeriani zurückgeht. Gesichert scheint seine Autorschaft für die Kapelle S. Maria degli Astalli im Gesu, links neben dem Chorraum der einschiffigen Anlage. Ebenso wie an den Kirchen waren die Jesuiten an der Errichtung ihrer Lehrinstitute interessiert. So ist Valeriani auch am Bau des gewaltigen Collegio Romano in Rom tätig. Man weiß, daß der Baumeister Bartolomeo Ammanati (1511-1592) an diesem Projekt beteiligt war. Die neuere Forschung ist aber immer mehr geneigt, die eigentliche künstlerische Leistung Valeriani zuzuschreiben, der auch die Bauleitung hatte. So wird ihm die inschriftlich 1583 datierte Fassade glaubhaft zugeschrieben, wahrscheinlich geht jedoch die Gestaltung des Gesamtkomplexes auf Valeriani zurück. Im Gebäude der Pontificia Universita Gregoriana in Rom wird ein großes Bild eines unbekannten Meisters verwahrt. Dargestellt ist Papst GregorXIII. (1572 bis 1585) zu Pferde, der oberste Auftraggeber des Collegio Romano, von viel Volk umgeben, wie er dem Bau, an dem im Hintergrund schon fleißig gearbeitet wird, einen Besuch abstattet. Rechts vom Papst erscheint ein Mann, der ihm an Hand einer großen Entwurfszeichnung das Projekt erklärt. Dieser Interpret in den besten Mannesjahren kann nur Valeriani sein und nicht der greise Ammanati, wie man in der älteren Literatur nachlesen kann.
Spuren von Valerianis Wirken sind in Neapel weiter zu verfolgen. Die Bauplanung der großen Jesuitenkirche Gesu Nuovo, deren Grundstein 1584 gelegt wurde, verdanken wir dem Architekten aus L'Aquila. Seine Beteiligung am Bau des Jesuitenkollegs in Neapel ist auszuschließen, weil das Gebäude bereits um die Mitte des 16. Jh. errichtet wurde. Jedoch geht die 1606 begonnene Platzgestaltung vor dem Bau wahrscheinlich auf Pläne zurück, die Valeriani schon lange vorher ausgearbeitet hatte. Das Jesuitenkolleg ist seit 1777 Sitz der Universität. Zwischen 1589 und 1606 kam es in Genua zum Bau der Jesuitenkirche 55. Ambrogio e Andrea, deren Fassade sicherlich von Valeriani projektiert, aber nach der Originalzeichnung erst 1892 vollendet wurde.
Daß Valeriani überhaupt einen so bedeutenden Einfluß auf wichtige Bauten der Jesuiten nehmen konnte, verdankt er seinem Gönner und Landsmann Claudio Acquaviva aus Atri, der 1581 als erster Italiener Ordensgeneral der Jesuiten wurde. Im Auftrag dieses glänzenden Kirchenmannes, unter dem die Gesellschaft einen unerhörten Aufschwung nahm, begab sich Valeriani nach Deutschland, wo er die Arbeiten an der Jesuitenkirche St. Michael in München weitertreiben sollte. Hier hielt er sich von Mai 1591 bis zum Februar des darauffolgenden Jahres auf. Der unter dem Einfluß der Jesuiten stehende Herzog Wilhelm V. (1579-1597), der fromme, empfing ihn mit großen Ehren an seinem Hof und trug ihm neben seinen Verpflichtungen für St. Michael auf, die Militärbauren in Ingolstadt zu überprüfen.
Die letzte Tätigkeit des·Architekten betraf den Bau der Jesuitenkirche in seiner Vaterstadt L'Aquila. Zu dieser Zeit war aber der früh gealterte Valeriani schon von Krankheit bedroht. Auf ärztlichen Rat sollte er das allbekannt schlechte Klima der Stadt meiden, worauf er nach Neapel übersiedelte. Die Realisierung des Jesuitenbaus in L'Aquila erlebte er nicht mehr. Dieser wurde am 4. November 1596 einige Monate nach dem Tode des Valeriani gebilligt. Neben seiner Tätigkeit als Architekt zeichnete sich Valeriani auch als Maler aus. Zwischen 1588 und 1590 fertigte er Passionsbilder und Szenen aus dem Leben der Maria im Gesu in Rom an, weiterhin ist in der fünften Kapelle rechts in S. Spirito in Sassia in Rom noch sein Gemälde der Verklärung Christi zu sehen.
Ein wenig beachteter Künstler ist Giovanni Artusi aus Pescina. Rom verdankt ihm im 17. Jh. die besten Bronzegüsse, sorgfältig und geschickt ausgeführt, wie zwei bronzene Leuchter in S. Maria dei Popolo beweisen. Hohes Ansehen erlangte er als Mitarbeiter Berninis, der von Papst AlexanderVII. 1659 den Auftrag erhielt, die ehrwürdige Cathedra Petri in der Apsis der Peterskirche in Rom durch ein prunkvolles Beiwerk auszuschmücken. 1661 beendete Bernini das Tonmodell, das Artusi vier Jahre später, 1665, mit unglaublicher Kunstfertigkeit in Bronze ausführte. Sein anderer Auftraggeber war Pietro da Cortona (1596-1669), dessen Laufbahn als Architekt mit der von ihm gesrifteten Kirche SS. Luca e Martina begann. Für die Unterkirche S. Martina goß Artusi in technischer Vollendung den Bronzeahar. Pietro da Cortona hatte dafür die Vorzeichnung und das Modell geliefert und außerdem die Kosten für die Herstellung übernommen.
(S. 280)Gleichzeitig mit Artusi lebte in Rom der um 1603 in Penne geborene Maler Mario Nuzzi. Er ist unter dem Namen Mario de'Fiori bekannt geworden, da seine Spezialität das Malen von Blumen war. Sehr agil bewegte er sich in römischen Künstlerkreisen, war Mitglied der Kunstakademie von S.Luca und seit 1657 Angehöriger der Congregazione Pontificia dei Virtuosi al Panteon und 1665 deren Regent. Als bekanntester italienischer Blumenmaler seiner Zeit empfing er Einflüsse aus Holland, besonders von Daniel Seghers. Seine dekorative Begabung brachte ihm Aufträge aus ganz Europa ein. Er arbeitete für die Familie Chigi, und seine Kunstübung wurde in Neapel bekannt, wo Blumendarstellungen eine weite Verbreitung erfuhren. Nuzzis Bilder sind in der ganzen Welt zu finden, nur nicht in den Abruzzen. Sein Atelier schlug er in Rom zwischen der Piazza di Spagna und der Via del Corso auf in der Straße, die heute noch seinen Namen Mario de'Fiori trägt. Der Meister starb am 14. November 1673; sein Selbstbildnis ist in den Uffizien in Florenz zu sehen.
Ein Maler, dessen Oeuvre kunsthistorisch noch nicht bewertet wurde, ist Alessandro Salini, 1675 in Sulmona geboren. Ungesichert ist sein Todesdatum. Er starb in Rom entweder 1758 oder 1764. In der Ewigen Stadt bildete er sich zum Künstler aus und erhielt Aufträge vom Fürsten Borghese. Salini war Mitglied der Congregazione Pontificia dei Virtuosi al Panteon und 1744 Regent dieser Künstlergemeinschaft. Der König von Portugal ernannte ihn zum Hofmaler. Einige Frühwerke religiösen Inhalts befinden sich in Sulmona, in Rom dürfte noch das eine oder andere Bild von ihm ausfindig zu machen sein. Weitere Gemälde befinden sich in der Königlichen Kapelle in Lissabon und im dortigen Museum.
Die Geschicklichkeit, figürliche Darstellungen kleinen Formats in Edel-oder Halbedelsteinen in erhabener oder vertiefter Arbeit zu gestalten, stand schon im Altertum und in der Renaissance in hohem Ansehen. Durch die Zuwendung des Klassizismus zur Antike erhielt die Gemmenschneiderei und die Medaillenkunst am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jh. einen neuen Aufschwung. An dieser wieder zur Geltung gekommenen Kunstübung hatten zwei Abruzzesen Anteil, Giovanni Antonio Santarelli und Filippo Rega.
Dem 1758 in Manoppello geborenen Santarelli kostete es viel Mühe, sich den Wünschen seiner Eltern zu entziehen, die ihn am liebsten in der Landwirtschaft beschäftigt hätten. Nur kümmerlich konnte er sich zunächst in seiner Heimat bilden, 1778 war er in Guardiagrele Schüler des Malers Nicola Ranieri, zwei Jahre später lernte er das Steinschneiden in Chieti. Zur Perfektion gelangte er aber erst in Rom, wo diese Kunstübung in vittuoser Weise von seinem Lehrer Giovanni Pichler betrieben wurde. Dessen in der Gemmenschneiderei berühmte Familie stammte aus Südtirol. Der 1697 in Brixen geborene Vater Johann Anton Pichler lebte in Neapel und in Rom, wo er 1779 starb. Unter Anleitung seines Vaters setzte der in Rom geborene Sohn Johann (1734-1791) die Tradition fort. Kaiser Joseph II. (1765 bis 1790) erhob ihn in den Adelsstand und ernannte ihn zum Hofgraveur. Die gründliche Ausbildung im Hause Pichler befähigte Santarelli, 1797 in Florenz die Schule für Gemmenschneiderei zu leiten. Als Medailleur war er in den Münzstätten in Mailand und Parma tätig und starb 1826 in Florenz. Zu den Darstellungsinhalten seiner Werke gehörten neben religiösen Themen vornehmlich solche aus der Antike sowie Porträts berühmter Persönlichkeiten aus der italienischen Vergangenheit, Dante, Petrarca, Boccaccio, Machiavelli, Michelangela und Galilei. Diesem Umkreis fügte er berühmte Zeitgenossen hinzu. Er verfertigte eine Büste von Papst PiusVI. (1775-1799) und einen Ring für den Dichter Vittorio Alfieri (1749-1803). Eine Vorliebe zeigte er für französische Regenten. Napoleon und Ludwig XVIII. ließen ihm Auszeichnungen zukommen. Santarelli porträtierte die Verwandten Napoleons, vor allem den Bruder Lucian (1775-1840) und dessen Familie. Lucian lebte unweit von Rom, wo ihm Pius VII. das kleine Fürstentum Canino in der Provinz Viterbo geschenkt hatte. Bekannt wurden Santarellis Darstellungen der Alexandrine Laurence de Bleschamp, die Lucian in zweiter Ehe geheiratet hatte, sowie Bildnisse von deren Kindern. Santarelli porträtierte auch eine Schwester Napoleons, Maria Anna Bonaparte, später genannt Elisa, die von ihrem Bruder 1805 die Republik Lucca als Fürstentum erhielt.
Zeitgenosse Santarellis ist der Stein-und Gemmenschneider Filippo Rega, 1761 in Chieti geboren und 1833 in Neapel gestorben. Er gehört zu den wenigen Künstlern und Gelehrten, die ihr Auskommen und ihre Anerkennung zugleich unter den Bourbonen und der französischen Zwischenregierung in Neapel fanden. Zuvor aber lebte Rega seit 1776 in Rom, wo er acht Jahre Zeichenunterricht nahm. Danach treffen wir ihn, wie Santarelli, im Atelier der Familie Pichler an. Mit seiner Frau siedelte er 1798 nach Neapel über. Dort wirkte er unter den Bourbonen und Franzosen an der königlichen Münze, und Murat ernannte ihn zum Leiter des Kupferstichkabinetts, ein Posten, in dem ihn 1816 die aus Sizilien zurückkehrenden Bourbonen bestätigten. Rega unterrichtete an Kunstschulen der Landeshauptstadt und stand im Mittelpunkt der neapolitanischen Gesellschaft. In seinen »Erinnerungen von einer Reise aus Livland nach Rom und Neapel«, die 1805 in Berlin erschienen, widmet der Lustspieldichter August von Kotzebue (1761-1819) sehr anschaulich ein ganzes Kapitel dem Rega, das ich im Wortlaut beifüge: »Rega. So heißt ein vortrefflicher Steinschneider, ein würdiger Nebenbuhler Pichlers, der vorzüglichste, den vielleicht Europa jetzt aufzuweisen hat. Ich habe Pasten bei ihm gesehen, die einen Winckelmann täuschen könnten. Er schneidet auch Porträts, und man kann sich von ihm, um den mäßigen Preis von fünfzig Unzen (etwas mehr als fünfzig Dukaten) verewigen lassen. Die berühmte Lady Hamilton habe ich zweimal bei ihm gesehen; auch das Porträt des Landschaftsmalers Hackert. Beide lassen nichts zu wünschen übrig. Sein Vorrat von Köpfen in antikem Stile ist ansehnlich, und der Anblick eines jeden derselben zaubert in die schönsten Zeiten der griechischen Kunst zurück. Ist (S. 281) man so glücklich auch seiner Gattin vorgestellt zu werden, angenehmsten Stunden in Neapel zugebracht, denn sie ist und von ihrer Bescheidenheit zu erlangen, daß sie ein paar ihrer Kunst fast ebenso Meisterin als ihr Gatte der seinigen. « Sonaten auf der Harfe spiele, so hat man gewiß einige der angenehmen Stunden in Neapel zugebracht, denn sie ist ihrer Kunst fast ebenso Meisterin als ihr Gatte der seinigen.«
Architektur
Kirchen und Klöster
Bauten der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und des 14. Jahrhunderts
Bettelordenskirchen
Abb. 36: Castelvecchio Subequo, S. FrancescoHistorische Quellen berichten ausführlich von den Niederlassungen der Bettelmönche in den Abruzzen. Höchst kümmerlich ist dagegen die Ausbeute, wenn wir den erhaltenen Bestand an Baulichkeiten betrachten. Im 13. Jh. war die Architektur der Franziskaner noch uneinheitlich. Im Landesinnern ging man eigene Wege, ohne sich auf den Prototyp von S. Francesco in Assisi zu beziehen, der mit seiner Einschiffigkeit das Vorbild für Kirchen im adriatischen Hügelland abgab. Nur zwei Franziskanerkirchen sind in dieser frühen Zeit im Binnenland nachzuweisen, in Castelvecchio Subequo und in Sulmona. Im erstgenannten Ort steht die Kirche S. Francesco (Abb.36) mit ihrer Dreischiffigkeit und ihrer Art der Wölbung noch deutlich in der Tradition des Marserlandes. Die erste Baunachricht ist die Weihe vom 29. August 1288. Die Kirche besitzt einen Quertrakt, der nur auf der rechten Seite 1,40 m über die Flucht der Langhauswand hinausreicht. An das Querschiff schließt sich ein Chorquadrat an, das etwas tiefer ist als eine der vier gleichgroßen Arkadenöffnungen des Langhauses, deren Stützen durch achteckige Pfeiler in Haustein auf hohen Basen gebildet werden. Die Pfeiler des Querarms sind durch Halbsäulen zum Mittelschiff und durch Pfeilervorlagen zu den Seitenschiffen ver-· stärkt. Die Arkaden des Langhauses sind rundbogig, zugespitzt jedoch sind die drei transversalen Bogen, die sich zum Querhaus öffnen. Die Seitenschiffe zeigen Kreuzgratgewölbe, das Mittelschiff besitzt einen offenen Dachstuhl, der aber durch moderne Einwölbung dem Blick des Betrachters entzogen ist. Eine fortgeschrittenere Wölbungstechnik mit Rippen, die über Ecksäulen aufsteigen, beobachten wir im rechten Quertrakt und im Chorquadrat, dessen Scheitel etwas höher liegt. Die Kapitelle des Querschiffs sind z.T. zerstört, beachtlich ist jedoch das erhaltene an der Vorlage rechts vom Chor mit einer gemalten Weinranke, die an den Enden von zwei Händen gehalten wird, und worin auch das Wappen der Grafen von Celano erscheint. In der Abschlußwand des Chorquadrats öffnet sich in der Mitte ein hohes spitzbogiges Fenster mit einem eingefügten Dreipaßbogen. Die Eingangsfassade mit einer Barocktür und einem großen rechteckigen Fenster stammt laut Inschrift vom Jahre 1647. Das Portal ersetzt den Eingang des 13. Jh., von dem noch der untere Teil des Gewändes mit Kelchblüten erhalten ist. Wir sehen hier eines der seltenen Beispiele in den Abruzzen, wo der Barockkünstler in seinem etwas derben Portalschmuck die Disposition seines mittelalterlichen Vorgängers berücksichtigt hat. Dem ausgehenden 13. Jh. sind noch die Sockelzone der Fassade sowie die zwei Säulen auf vorkragenden Löwen und mit Blattkapitellen neben dem Barockfenster zuzurechnen. Der gotische Campanile wurde laut Inschrift 1641 erneuert. Sein heutiges Aussehen erhielt er nach einem Blitzschlag im Jahr 1864.
Abb. 37: Sulmona, S. Francesco della Scarpa, RuineDie Franziskanerkirche S. Francesco della Scarpa in Sulmona (Abb. 37) deutet mit ihrem Beinamen Scarpa (Schuh) (S. 282) auf die beschuhten Franziskaner hin, wie auch S. Francesco della Scarpa in Chieti. Das Gebäude war riesengroß und reichte von der Via Mazara im Westen, wo auch noch die heutige Eingangsfassade ist, bis zur Piazza del Carmine im Osten. Nach Süden schloß sich die große Klosteranlage an. Infolge der Erdbeben von 1456, 1706, 1915 und 1953 sind nur Trümmer die Zeugen einstiger Größe. Das Chorhaus, das man durch ein mächtiges Seitenportal vom Corso Ovidio betritt, ist, teilweise in moderne Häuser eingebaut, als Ruine erhalten geblieben. Das heutige Langhaus stellt sich mit Ausnahme des unteren Teils der Eingangsfassade als barocker Neubau nach dem Erdbeben von 1706 dar. In Höhe der westlichen Vierungspfeiler des Altbaus zog man eine neue gerade Abschlußwand, so daß die Ruinen des Chors außerhalb der Barockkirche liegen. Die Chorpartie war bereits beim Erdbeben von 1456 eingefallen. Sofort nach dem Unglück stützte man die übriggebliebenen Apsidenwände ab, und es entstand so das imposante Widerlager links von der Treppe, die zu dem großartigen Rundbogenportal führt. Für diesen Aufbau verwandte man die Steine des zusammengestürzten Teiles, und man bezog ihn auch künstlerisch ein, indem man das horizontale Profilband, das sich über die Apsiden zieht, in gleicher Höhe um die Abstützung herumführte. Funktionell erhielt das Widerlager durch Aufrichtung einer Glockenwand darüber zusätzliche Bedeutung. Die Ostfassade bestand aus drei polygonalen Apsiden, die zusammen etwas breiter waren (20 m) als das Langhaus (18,40 m), weshalb die äußeren Mauern der Seitenapsiden mit 5/8-Schluß schräg an den Langhauswänden ansetzen. An der linken Nebenapsis ist diese schrägverlaufende Mauer sichtbar, auf der rechten Seite ist der entsprechende Befund nachgewiesen. Die Ecken des polygonalen Chorabschlusses sind im Innern wie im Äußern durch Säulenvorlagen betont. Diejenigen im Innern der linken Apsis besitzen noch ihre Kapitelle, die durch Profilbänder horizontal verbunden sind. Unschwer lassen sich die Standorte der Vierungspfeiler erschließen, mit deren Hilfe man die Grunddisposition des dreischiffigen alten Langhauses errechnen kann. Funde haben sechs Arkadenschritte im Langhaus ergeben. Ungewiß bleibt, ob die Stützen Pfeiler oder Säulen waren. Das große erhaltene Seitenportal führte in den linken Querarm. Die Mittelachse des Portals entspricht dem Mittelpunkt des von den Vierungspfeilern gebildeten Quadrats.
Die subtile architektonische Gestaltung, die sich in der Lage des Portals ausdrückt ebenso wie in dem verbreiterten Chorhaus mit schrägzulaufenden Wänden, die die Verbindung zum Langhaus herstellen, und weiterhin in der Rhythmisierung der Chorwand durch den polygonalen Abschluß widerspricht den schlichten Baugewohnheiten der Abruzzen, zumal in den Bettelordenskirchen. Nach dem Erdbeben von 1706 baute man das Langhaus der Kirche wieder auf. Das frühere rechte Seitenschiff wurde vom Kirchenraum abgetrennt und für andere Zwecke verwendet, es enthält heute Diensträume der Stadtverwalrung. 1706 stürzte nur der obere Teil der Fassade ein, während ein spitzbogiges Portal erhalten blieb, das, in naher stilistischer Verwandtschaft zum Hauptportal der Kathedrale von Sulmona, bald nach 1391 entstanden sein dürfte.
Die massiven romanischen Kirchen hielten die Erdbeben besser aus als die leichteren Bauten der späteren jahrhunderte. Die bescheidenen einschiffigen Franziskanerkirchen zur Adria hin sind nur allzuoft zerstört und danach derart restauriert worden, daß die ursprüngliche Form nur aus architekturhistorischen überlegungen zu erschließen ist.
Die Reste der frühesten Minoritenkirche in den Abruzzen sind wahrscheinlich in Lanciano erhalten. Dort errichtete man 1258 die Kirche S. Francesco auf der Stelle einer ehemaligen Basilianeranlage, die dem Lokalheiligen Legonziano geweiht war. Der später veränderte Innenraum hat nur die ursprüngliche Einschiffigkeit beibehalten. Zum Altbau gehören die unteren Partien des Kirchturms, das Portal und der untere aus Quadersteinen bestehende Teil der Fassade. Ähnlich wie in S. Maria Maggiore in Lanciano setzt die rechteckige Fassadenwand auf einer Sockelzone an. An der rückwärtigen Turmseite, die dem nahegelegenen Dom zugewandt ist, verläuft zwischen den Fenstern, die Biforen in der unteren Zone und darüber Monoforen sind, ein für Lanciano charakteristisches Horizontalgesims. Auf Klötzchen setzen schräg in die Wand eingelassene große Ziegelplatten an, die im spitzen Winkel zusammentreffen, so daß eine Art Zickzackfries entsteht.
Aus dem Ende des 13.jh. sind Reste einer Franziskanerkirche in Citta S. Angelo vorhanden. Der einschiffige Innenraum ist völlig barockisiert. Dem Altbau sind noch die Fassade mit dem Portal, Teile des Campanile auf quadratischem Grundriß und die rechte aus Ziegel bestehende Außenwand zum Corso zuzurechnen. Letztere wird durch Strebepfeiler gegliedert, die unter der Traufe durch eine spitzbogige Arkadenreihe verbunden werden.
Bessere Kenntnis als im 13. jh. besitzen wir von Bettelordenskirchen im nachfolgenden Säkulum. 1309 baute Karl II. Anjou die gewaltige Votivkirche S. Domenico in L' Aquila. Alle Gotteshäuser, an deren Errichtung die Anjou beteiligt waren, wichen vom einfachen Stil der Armut ab und haben, wie S. Francesco della Scarpa in Sulmona und S. Francesco in Castelvecchio Subequo, kaum künstlerischen Einfluß auf die Abruzzen ausgeübt. Wie schon beim Zisterzienserbau von S. Maria della Vittoria bei Scurcola angemerkt, stellen die Werke der Anjou einen Fremdkörper im abruzzesischen Kirchenbau dar.
(S. 283) Abb. 38: L'Aquila, S. DomenicoWegen der Barockisierung des Innenraums von S. Domenico sind die Indizien für die Gestalt der Kirche im 14. Jh. allein dem Grundriß (Abb.38) und dem Außenbau zu entnehmen. Das dreischiffige Langhaus (45,30 x 27,40 m) ist in sechs Joche unterteilt mit quadratischem Grundriß in den Seitenschiffen und queroblongem im breiten Mittelschiff. Das weitausladende Querhaus, 12,40 m tief und 36 m breit, zieren an den Stirnseiten zwei Portale, deren Achsen, gleich wie in S. Francesco della Scarpa in Sulmona, mit dem Mittelpunkt der Vierung übereinstimmen. Der an das Querhaus anschließende Mittelchor zeigt einen dreifach gebrochenen Abschluß, dessen Ecken im Außenbau durch starke Strebepfeiler gestützt werden, während die Nebenchöre in Breite der Seitenschiffe einen platten Abschluß besitzen. Die Fassade des rechten Querarmes ist reicher gegliedert als die des linken. Sie wird durch stark vorspringende Strebepfeiler an den Außenkanten eingerahmt. Ein kräftiges Profilband läuft unterhalb des spitzbogigen Fensters über die gesamte Fassade und verkröpft sich an den Eckpilastern, so daß diese dekorativ in die Wandgestaltung einbezogen werden. Das Portal in der Mitte begleiten in wohlabgewogenem Abstand zwei Lisenen, die von einer Sockel zone bis zum erwähnten Horizontalgesims aufsteigen. Die Bauarbeiten begannen an der Chorpartie und wurden am Querhaus fortgesetzt. Man legte in diesen Teilen Wert auf die Baudekoration, während die Hauptfassade des Langhauses viel einfacher gestaltet ist und im oberen Teil unvollendet blieb. Diesem Befund entsprechen historische Quellen, die besagen, daß die königlichen Zuwendungen für S. Domenico im Lauf der Jahre immer spärlicher wurden. Die Schauwand besitzt bei einer Breite von 30 m keine vertikale Gliederung, nur die Ecken sind durch breite Lisenen betont. In Höhe der Portalarchivolte in der Mitte der Fassade sind zwei Nischen mit vorkragenden Postamenten zu erkennen, die für inzwischen verlorengegangene Statuen bestimmt waren. Die beiden tief in die Wandfläche eingelassenen, jetzt vermauerten Rundfenster lieferten das Licht für die Seitenschiffe.
Abb. 39: Teramo, S. DomenicoEin Zentrum der Bautätigkeit scheint die Stadt Teramo gewesen zu sein, wo 1327 gleichzeitig an S.Domenico und an S. Francesco gebaut wurde. Beide Kirchen sind in ihrer ursprünglichen Gestalt ganz oder teilweise erhalten. Die schlichtere von beiden ist S. Domenico (Abb. 39), wo heute kein Gottesdienst mehr abgehalten wird. Ein langgezogenes Rechteck bildet den Grundriß des einschiffigen Langhauses mit offenem Dachstuhl. Es wird durch sechs gleichgroße Joche gegliedert, die durch Schwibbogen markiert sind, welche auf Widerlagern an den Wänden des Langhauses aufsetzen. Dieses wird durch einen großen Spitzbogen mit dem Chorquadrat verbunden, das durch ein Kreuzgewölbe hervorgehoben ist. Der Schwibbogen ist keine Erfindung der Bettelorden. Wir finden ihn häufig in der Architektur der Zisterzienser und gelegentlich auch im übrigen Kirchenbau. Jedoch bedienten sich die Bettelmönche mit Vorliebe dieser Art der Rhythmisierung des Kirchenraumes. Die Gliederung des Innenraumes in S. Domenico durch Strebepfeiler hat keine Entsprechung im Außenbau, so daß die aufsteigenden Ziegelrnassen ohne Effekt und gewollt plump erscheinen. Nur die vier Ecken des Baukörpers zeigen ausgeprägte Verstärkungen, die über die Traufe hinausragen. Unter dem Dach laufen gleichförmige spitzbogige Arkaden.
Abb. 40: Teramo, S. FrancescoIn der Sakristei von S. Francesco in Teramo (Abb.40) verwahrt man eine Inschriftenplatte, die besagt, daß die Kirche 1577 restauriert wurde, weil sich der Vorgängerbau von 1227 mit seiner Renovierung von 1327 als baufällig erwies. Die Anlage, die wir an Hand einiger Reste im Außenbau rekonstruieren können, zeigt lediglich stilistische Merkmale des zweiten Viertels des 14. Jahrhunderts. Das Innere der Kirche wurde unter Beibehaltung des alten Grundrisses im Barock völlig umgestaltet. Der Grundriß des einschiffigen Langhauses stellt kein regelmäßiges Rechteck dar. Die Breite vermindert sich, wie bei S. Maria di Collemaggio in L' Aquila, zum Chor hin und zwar von 15 auf 14 m. Ob es sich um eine Disproportion oder um eine gewollte perspektivische Verjüngung handelt, ist schwer auszumachen. Den Abschluß des Gebäudes bildet ein nur wenig tiefer, rechteckiger Chor. Anhaltspunkte zur Rekonstruktion liefern Baureste an der zur Straße gelegenen Langhauswand, die in nicht ganz regelmäßigen Abständen von sieben Pilastern gegliedert wird. Diese dürften im Innenraum eine Korrespondenz gefunden haben und trugen wohl, wie in S. Domenico in Teramo, Transversalbogen, die sich von einer Wand zur anderen spannten. Die linke Seitenschiffsmauer von S. Francesco läßt noch die alte Höhe erkennen, die um ein Beträchtliches über das heutige Barockdach hinausging. Dort ist das alte Mauerwerk an der Stelle erhalten, wo der moderne Glockenturm aufsetzt. Der obere Abschluß ist an den spitzbogigen Arkaden zu erkennen, die sich einst natürlich über die gesamte Langhauswand zogen. Unter dem Bogenfries sieht man zwei zugemauerte schlanke Fenster des 14. Jh. und im anschließenden Joch ein altes Portal. Eindrucksvoll ist das Apsisfenster, dessen Rahmung, teramanischer Tradition folgend, abwechselnd aus Hau-und Ziegelsteinen besteht. Die horizontale Teilung des spitzbogigen Fensters (S. 284) durch einen Travertinarchitrav ist alt. Die Öffnung wird durch zwei übereinanderstehende kräftige Spiralsäulen halbiert. Das Portal an der Eingangsfassade stammt aus der Zeit um 1327.
Der Einfluß der Bettelordenskirchen von Teramo zeigt sich an der Franziskanerkirche in Campli, die aus diesem Grunde nach 1327 zu datieren ist. Der Grundriß der einschiffigen Kirche ist ein langgestrecktes Rechteck. Ebenso wie in S. Domenico in Teramo schließt hinter dem spitzbogigen auf Kapitellen ansetzenden Triumphbogen ein großes Chorquadrat an. Natürlich durften auch hier im Außenbau die spitzbogigen Arkaden unter der Dachtraufe nicht fehlen. Im Innern mit offenem Dachstuhl ist zu beiden Seiten des Portals ein kapellenartiger Einbau mit Gewölbe errichtet. Rechts ist die Öffnung zum Kirchenraum als Rundbogen, links als Spitzbogen gebildet. Diese Bogen setzen zu seiten des Pottals jeweils auf einer Säule auf, während sie an den Langhauswänden in Konsolen münden. Ein Horizontalgesims über den Bogenscheiteln markiert den oberen Abschluß dieser beiden Annexgebilde. In ähnlicher Form begegnet man ihnen immer wieder in abruzzesischen Franziskanerbauten.
Eine einfache Bauweise des J4. Jh. überliefert die einschiffige Kirche S. Francesco in Loreto Aprutino mit rechteckigem Chorabschluß. Der Einfluß von Teramo erstreckte sich noch weiter bis nach Chieti. Die dortige Dominikanerkirche wurde 1916 aus städtebaulichen Gründen abgerissen. Trotz Umbauten im 17. Jh. war die Anlage des J4. Jh. noch im Grundriß zu erkennen. An das Langhaus (47X II m) grenzte das 7 m tiefe Chorquadrat an, das wahrscheinlich ein Kreuzgewölbe besaß. Wie in S. Domenico in Teramo zeigte der Chor im Äußern an den Ecken Verstärkungen, während das Langhaus außen durch Lisenen gegliedert wurde. Sollten auch die Innenräume analog gewesen sein, so dürften wir für Chieti ein gleiches Schwibbogensystem postulieren wie in S. Domenico in Teramo. Die üblichen Arkaden unter der Dachtraufe sind auch belegt.
Die im 17. Jh. veränderte Kirche S. Francesco della Scarpa in Chieti hat einige Merkmale aus dem 14. Jh. beibehalten. Der Oberteil der Vorderfront zeigt noch das alte Mauerwerk aus Ziegelstein. Dort erscheinen die üblichen Requisiten, die Verstärkungen der Außenkanten und Reste der spitzbogigen Arkaden als oberer Wandabschluß. Das kunstvoll durchgearbeitete Rundfenster über dem Barockeingang gehört zum alten Bestand. Die zwölf Speichen, die von der Radnarbe ausgehen, sind unterschiedlich in der Form und erinnern an Baudekorationen am Dom in Chieti.
Den Schmuckformen der Bettelordenskirchen, besonders den Portalen und Fenstern, können wir entnehmen, daß die Orden über keine zentralen Bauhütten mit festem Programm verfügten sondern sich öttlichen Gepflogenheiten anschlossen. An Aufträgen fehlte es in Chieti in der ersten Hälfte des 14. Jh. nicht. Auf älteren Fundamenten erstellte man den Dom, und seit 1355 war man mit der Errichtung des großen Campanile beschäftigt. 1316 erfolgte die Grundsteinlegung von S. Agostino, und es entstanden S. Domenico und S. Francesco della Scarpa. In dieser Zeit kamen auch aus der Umgebung Aufträge, sehr wahrscheinlich z.B. für den Bau von S. Francesco in Guardiagrele. Hier entstand ein einschiffiger rechteckiger Raum mit anschließendem Chorquadrat; diese Kirche zeigt wenigstens im Äußern noch den alten Zustand. Mit Ausnahme des unschönen Barockfensters ist die Fassade gut erhalten. Sie bildet ein hochgestelltes Rechteck aus Quadersteinen und wird über dem Portal in der ganzen Breite durch ein Horizontalgesims unterteilt.
Den Typ von S. Domenico in Chieti wiederholt der Ziegelbau von S. Francesco in Monteodorisio. An das einschiffige Langhaus (24,70 x 8,30 m) schließt, durch einen Spitzbogen getrennt, das Chorquadrat mit spitzbogigem Kreuzgewölbe und dem üblichen Fenster in der Apsis an. Der Campanile rechts vom Chor steht auf quadratischem Grundriß, und das Mauerwerk besteht abwechselnd aus einer Stein-und einer Ziegelschicht.
Die Bettelordenskirchen im adriatischen Hügelland sind stilistisch einheitlich und entwickeln im 14. Jh. einen lokalen Stil, der vermutlich in Teramo seinen Ausgang nahm. Die Wölbungstendenzen waren hier nicht sehr stark ausgebildet, und man begnügte sich mit der Vorstufe des Schwibbogenverfahrens. Anders verhielt sich das Marserland. In der ersten Hälfte des Trecento entstanden hier zwei Franziskanerkirchen, die eine in Avezzano, die andere in Tagliacozzo, die in den Abruzzen den gewölbten einschiffigen Raum in die Architektur der Bettelorden einführten; sie wurden direkt von S. Francesco in Assisi oder anderen Franziskanerniederlassungen in Umbrien beeinflußt.
Wie ein Komet erschien für kurze Zeit ein Teil von S. Francesco in Avezzano in seiner ursprünglichen Gestalt. Das Erdbeben von 1915 verwandelte die Kirche weitgehend in eine Schutthalde, verschonte aber zwei Joche und befreite sie von dem modernen Verputz. Kurze Zeit später riß man diese wertvollen überbleibsel ab und verkaufte das Baugelände aus Spekulationsgründen. Zum Vorschein gekommen war ein Pfeiler mit Vorlagen, die verschiedene Funktionen zu erfüllen hatten. Kräftige, in das Schiff vorspringende Halbsäulen nahmen den spitzen Transversalbogen auf, zwei zartere Dienste stützten das Kreuzrippengewölbe, und auf einer anderen Vorlage ruhte der Schildbogen der Langhauswand. Der Grundriß der Joche war längsrechteckig.
Abb. 41: Tagliacozzo, S.FrancescoAn der Kirche S. Francesco in Tagliacozzo (Abb.41) wurde lange Zeit gebaut. Aus der ersten Hälfte des J4. Jh. stammen jedenfalls die drei Joche des Langhauses mit quadratischem Grundriß, den man zu dieser Zeit in umbrischen Bettelordenskirchen bevorzugte. Die Wölbung besteht aus (S. 285) Kreuzrippen. An das Langhaus schließt sich, wohl auch in zeitlicher Hinsicht, das schmalere und höher gelegene Chorhaus an. Es ist durch transversale Schwibbogen in drei Raumabschnitte gegliedert, deren Tiefe abnimmt, und die mit Kreuzrippen gewölbt sind. Der erste Chorteil wird an seinen vier Ecken durch kräftig in den Innenraum vorstoßende Wandzungen eingeschnürt, an denen Kreuzrippen ansetzen. Es entsteht so ein Gewölbequadrat, das kleiner ist als das eines Langhausjoches. Durch Weiterführung der Seitenrnauern des einschiffigen Langhauses im ersten Chorteil entstehen längsrechteckige ungewölbte Seitenteile, die sich zum Chor öffnen und als Sängertribünen dienten. Der zweite Chorteil ist weniger tief als der erste und bildet im Grundriß ein Querrechteck, während der dritte halb so tief ist wie der vorangehende. Diese beiden Chorabschnitte öffnen sich nach rechts in schmale Annexkapellen, von denen die erste den Zugang zur Sakristei bildet. Isoliert steht rechts neben dem ersten Chorraum der Campanile auf quadratischem Grundriß. Wie lange sich die Bauarbeiten hinzogen, zeigt die schöne, nach aquilanischen Vorbildern errichtete Fassade des 15. Jahrhunderts.
Im Gegensatz zu Frankreich oder Deutschland sind die abruzzesischen wie wohl auch die meisten süditalienischen Bettelordenskirchen stilistisch keine Wegbereiter für die Zukunft. Getragen von einem geistigen Wollen, das auf Armut und Einfachheit ausgerichtet war, verhielten sich die Abruzzesen auch hier recht konservativ. Die Requisiten ihrer zu Stein gewordenen Lebenshaltung waren in Einzelheiten längst bekannt: der einschiffige Raum, die Schwibbogen, der von Zisterziensern übernommene platte Chorabschluß und die Arkaden unter den Dachtraufen.
Bauten in L'Aquila
Aus der Frühzeit der Stadt im q.Jh. finden sich nur wenige für den Baubestand gesicherte Belege, und es scheint, daß das Erdbeben von 1315 so verheerende Wirkungen hatte, daß die Stadt von neuem aufgebaut werden mußte. Das gilt u.a. für den Dom, S. Giusta, S. Maria di Paganica, S. Pietro di Coppito und für S. Maria di Collemaggio. Auch aus späterer Zeit ist wegen der Erdstöße kaum ein Gotteshaus intakt geblieben. Das Studium der immer wieder zusammengeflickten aquilanischen Architektur ist kein einfaches Unternehmen. Durch Grabungen ließen sich vielleicht hier und dort noch zusätzliche Erkenntnisse gewinnen.
Papst Alexander IV. hob 1257 das alte Bistum Forcone unweit von L'Aquila auf und verlegte den Bischofssitz in die eben gegründete Stadt. Die Kathedrale wurde dem Märtyrer von Aveia, dem hl. Massimo, dem Schutzheiligen der Stadt und der Diözese, sowie dem hl. Georg als Patron des Stadtviertels, in dem der Dom errichtet wurde, geweiht. Vom Gründungsbau ist nichts mehr erhalten. Die spärlichen ältesten überbleibsel sind an der rechten Langhauswand hinter den modernen Vorbauten des 19. und 20. Jh. zu sehen. Diese Reste der Wand zeigen über einer Sockelzone eine Gliederung durch neun Lisenen mit den in L'Aquila beliebten Kannelüren, wie in S. Giusta, S. Marciano, S. Pietro di Sassa. Zwischen den Lisenen sind noch spitzbogige Fenster mit eingefügten Dreipaßbogen zu erkennen. Diese ältesten Teile lassen sich durch Vergleich mit anderen aquilanischen Bauten in die erste Hälfte des 14. Jh. datieren. Nach dem großen Erdbeben von 1703 erfolgte ein völliger Neubau.
Abb. 42: L'Aquila, S.GiustaDie Kirche S. Giusta (Abb.42) gehört zu den ältesten der Stadt. Schon aus dem Jahre 1257 überliefern Quellen einen Präpositus von S. Giusta in L'Aquila. Daß die Bauarbeiten sich Jahrzehnte hinschleppten, bezeugen nicht nur historische Dokumente, sondern zeigt auch der Baubefund selbst. Der Raumeindruck im Innern wird zwar durch die barocke Umgestaltung bestimmt, jedoch sind die alten Maße erhalten, und die ehemals dreischiffige Anlage ist erkennbar. Die ursprüngliche Absicht, eine gewaltige gotische Kirche aufzurichten, läßt sich noch an den beiden mächtigen Säulen am Ende des Langhauses ablesen. Ihr Querschnitt bildet einen regelmäßigen Vierpaß, in dessen Ecken vier kleinere Halbsäulen gestellt sind. Sie tragen nur den 8,58 m weiten Triumphbogen über dem Mittelschiff und die Transversalbogen der Seitenschiffe. Eine zweite Bauphase, die auf die Anfangspläne wenig Rücksicht nahm, begann wahrscheinlich erst nach dem Erdbeben von 1315 mit der Erstellung der rückwärtigen Front. Sie zeigt die in L'Aquila beliebten polygonalen Apsiden mit vier Brechungen. Zwar sind die Apsiden durch barocke Fenster verändert, doch ist an der rechten Apsis noch ein Teil eines Fensters aus dem 14. Jh. zu sehen. Weder entspricht die Breite der Nebenapsiden derjenigen der Seitenschiffe, noch deckt sich die Längsachse der Hauptapsis mit der des Langhauses. Unstimmigkeiten sind auch im flachgedeckten Querhaus zu spüren. Die linke Langhauswand fluchtet ungefähr mit der linken Querhauswand, auf der rechten Seite springt der Querhausarm dagegen weiter nach außen vor. Ungleich ist auch die Breite der Seitenschiffe, das linke ist schmaler als das rechte. Erst eine spätere Zeit gestaltete den dreischiffigen Raum in einen einschiffigen um, indem man die alten Seitenschiffe in einzelne geschlossene Seitenkapellen umwandelte. Die drei letzten achteckigen Stützen auf der rechten Seite des Mittelschiffs wurden bei neueren Restaurierungen teilweise von der barocken Ummantelung befreit. Sie sind dem 14. Jh. zuzurechnen und lassen in ihren bescheideneren Maßen im Vergleich zu den mächtigen Vierungspfeilern der ersten Bauphase anschaulich die Reduzierung der Bauabsichten erkennen. Die (S. 286) durch zwei Lisenen gegliederte Fassade ist 1349 datiert, und gleichzeitig entstand der Brunnen vor der Kirche.
Um aus dem großen rechteckigen Baukörper von S. Maria di Paganica aus dem 18. Jh. den Altbestand des 13. und 14. Jh. herauszuschälen, bedarf es einiger Erklärungen. Verschiedene Bauteile haben das Erdbeben von 1315 sowie spätere Erdstöße überdauert, vor allem drei Portale, das älteste an der linken Langhauswand aus der zweiten Hälfte des 13 .Jh., die aus stilistischen Gründen nach 1302. anzusetzende Tür an der rechten Langhausseite und der 1308 datierte Haupteingang an der Fassade. Die gleichzeitig entstandene Vorderfront ist durch zwei Gesimse akzentuiert, eines bildet den oberen Wandabschluß, das andere verläuft oberhalb des Portals, über welchem noch die Randung des alten Rundfensters erhalten ist. Ein Merkmal des aquilanischen Kirchenbaus sind die Verstärkungen an den Außenkanten der Fassade. Ob das alte Langhaus ein-oder dreischiffig war, könnten vielleicht Stichgrabungen klären, jedenfalls stieß es auf ein Querhaus, dessen Mauerwerk noch an vereinzelten Stellen zu erkennen ist. Im Barock wurde das Langschiff auf beiden Seiten durch eine Reihe von Kapellen verbreitert. Dabei versetzte man die alten Seiteneingänge an die neu entstandenen Außenwände. Der Kirchturm stand neben dem rechten Querarm und ist noch in den Grundmauern vorhanden. Er wurde 1529 abgerissen, als man die Steine zum Bau der Zitadelle verwandte, dem Vorgängerbau des heutigen Kastells.
In S. Pietro di Coppito hat man versucht, das Gebäude von seinen späteren Veränderungen zu befreien. Man erhielt eine Kirche, bei der in Ermangelung gründlicher Restaurierungsberichte zu fragen ist, was an ihr eigentlich alt ist, und was der Phantasie des Restaurators zugute kommt. Daß unter der abgeschlagenen Fassade des 19. Jh. ein so perfekt erhaltener Wandbestand des 14. Jh. verdeckt gewesen sein soll, wie er sich heure darstellt, bleibt -ohne hinreichende Begründung -seltsam. Schon vor der Restaurierung war bekannt, daß S. Pietro di Coppito eine Gründung aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. ist, und daß der älteste Baubefund der ersten Hälfte oder der Mitte des 14. Jh. zuzurechnen ist. Es handelt sich um eine dreischiffige Anlage mit einem breiten Querhaus und drei gewölbten Polygonalapsiden. In diesen werden die vom Boden aufsteigenden dünnen Säulen, die das Kreuzrippengewölbe stützen, in Höhe des Gewölbeansatzes durch ein Gesims verbunden. Gleichzeitig mit den Apsiden entstand rechts vom ersten Joch des Langhauses auf achteckigem Grundriß der Kirchturm, in dessen Innern noch die alte Wendeltreppe erhalten ist. Der skulptierte Architrav des Hauptportals wiederholt Formen des 1308 datierten Türsturzes von S. Maria di Paganica.
Abb. 43: L'Aquila, S.Maria di CollemaggioDie Grundsteinlegung von S.Maria di Collemaggio (Abb.43) erfolgte am 6. Oktober 1287. Schon in den ersten Monaten des Jahres 1289 ist eine erste Weihe bezeugt. Ob der Bau damals zum Abschluß gekommen ist, bleibt unsicher. Jedenfalls dürfte er 1294, als man hier Coelestin v. zum Papste krönte, im wesentlichen vollendet gewesen sein. Die schweren Erdbeben 1315, 1340, 1456, 1461, 1557, 1703 und 1915 gaben viel Anlaß zu grundlegenden Restaurierungen. Aus falschem Purismus hat man am Ende der 60er Jahre dieses Jahrhunderts die fundamentalen Eingriffe der Barockzeit nach dem Erdbeben von 1703 beseitigt. Da die mittelalterliche Bausubstanz und vor allem die alte Ausstattung der Kirche kaum noch vorhanden waren, entstand auf 96 m Länge ein langweiliger und düsterer Raum, der vor allem im Langhaus lebloses modernes Mauerwerk zeigt. Die Ausmaße dürften dem Gründungsbau entsprechen. Aber es ist zweifelhaft, ob Coelestin v. seine Krönungskirche wiedererkennen würde, denn nach meinem Dafürhalten ist das früheste Kirchengebäude beim ersten Erdbeben von 1315, wie so viele Gotteshäuser der Stadt, bis auf geringfügige Teile zerstört worden, und der älteste Baubefund stammt erst von einem Wiederaufbau nach 1315. Das dreischiffige Langhaus zeigt acht Spitzbogen arkaden, deren Stützen achteckige Pfeiler sind, wie in S. Giusta in L'Aquila und in SS. Giovanni Battista e Giovanni Evangelista in Celano. Sie ruhen in (S. 287) S. Maria di Collemaggio auf wenig vorkragenden achteckigen Basen. Alle drei Schiffe waren ungewölbt. Eigentümlich ist die perspektivische Behandlung des Langhauses, die im Mittelschiff zum Ausdruck kommt. An der Eingangsfassade hat es seine größte Breite mit 11 m, diese verringert sich im Querschiff auf 10,45 m und beträgt im Chor schließlich nur noch 9,50 m.
An das Langhaus schließt sich ein Querbau an, dessen Arme aber nicht über die Flucht der Seitenschiffswände herausreichen. Erkennbar ist dieser Raumteil an der größeren Jochtiefe im Vergleich zu den Arkadenschritten des Langhauses. Den Übergang zwischen den beiden Raumabschnitten akzentuiert das letzte Stützenpaar des Mittelschiffes, das, im Gegensatz zu den vorangehenden Pfeilern, aus kräftigen Bündelpfeilern gebildet ist, mit nicht ganz halbkreisförmigen dickeren Rundungen in der Längs-und Querrichtung sowie mit eingestellten dünneren Säulen in den Diagonalen. Über die Funktion der Vorlagen dieser beiden Stützen und über die erwaige Wölbung des Quertrakts ist wegen der späteren Erdbeben, die gerade diesen Bauteil in Mitleidenschaft gezogen haben, keine verbindliche Aussage zu machen. Die Trennung von Langhaus und Querhaus bildeten drei Transversalbogen.
Der von zwei rechteckigen Seitenkapellen flankierte Chor besteht aus drei Raumteilen, dem ersten Chorjoch über querrechteckigem Grundriß, dem zweiten von geringerer Tiefe und einer Polygonalapsis mit S / R-Schluß. Die Seitenkapellen setzen sich zusammen aus einem Vorraum, der weniger breit ist als der Hauptchor und im Grundriß als Längsrechteck erscheint, sowie aus einer Polygonalapsis wieder mit SIR-Schluß. Da in den beiden Kapellen die barocke Ausgestaltung nicht angetastet wurde, ist die ursprüngliche Anlage heute nicht mehr sichtbar. Der polygonale Chorabschluß wurde im Außenbau ummantelt und erscheint dort als platte Wand. Diese Verstärkungen wurden hier auch aus statischen Gründen notwendig. Der langgestreckte Hauptchor (Tf. 172) hing bei dem stark abfallenden Gelände sozusagen in der Luft und mußte durch eine Wand in seiner Breite abgestützt werden. Diese großartige Abschlußfläche ist gut zu erkennen, wenn man von Bazzano kommend die Umgehungsstraße in die Stadt benutzt. Die aus regelmäßig geschnittenen Quadern gebildete Vermauerung ist im unteren Teil angeböscht und an der Stelle, wo sie in die Vertikale übergeht, durch ein Horizontalgesims markiert. Den Schub der oberen Wand erleichterte man durch Einsetzen eines besonders großen Fensters, an dessen Spitzbogenansatz ein Gesims seinen Anfang nimmt, das um die Außenkanten des Chors herumgeführt ist und dessen Seitenwände gliedert.
Bei der Abnahme des barocken Verputzes sind im Innern des Hauptchors die Gewölbe und ihre Stützen vollständig ans Tageslicht gekommen. In den Ecken der Polygonalapsis steigen vom Boden Pfeilervorlagen mit Kapitellen bis zu der Höhe auf, wo die große Fensteröffnung in den Spitzbogen überführt wird. Ähnlich wie im Zisterzienserbau von S. Maria Arabona werden die Kapitelle durch Gesimse miteinander verbunden und stützen gleichzeitig kräftige Kreuzrippen, von denen die beiden rückwärtigen das große Apsisfenster wirkungsvoll einrahmen. In den dem Polygon vorangehenden beiden Jochen steigen die Rippen von Konsolen auf, deren Höhe den Kapitellen des hintersten Raumabschnitts entspricht. Alle Rippen treffen sich in skulptierten Schlußsteinen. Das Portal an der linken Langhausmauer ist durch Dokumente auf das Jahr 1397 zu datieren. Das vielfach geflickte Mauerwerk zu dessen beiden Seiten zeigt deutlich, wie viele Restaurierungsarbeiten infolge der Erdbeben notwendig waren. Die ältere Sockelzone links vom Portal ist niedriger als die Fortsetzung auf der rechten Seite. Das Schmuckstück der Kirche, die Fassade, ist eine Leistung des 15. Jahrhunderts.
In der ersten Hälfte des Trecento war die Bautätigkeit in der Stadt so beträchtlich, daß sich die Werkleute, vornehmlich bei einschiffigen Kirchen, ihrer Aufgaben nach genormten Rezepten entledigten. Wegen der Erdbeben ist kaum ein Gotteshaus als Ganzes erhalten, und die Restaurierungen des Barock haben mit Vorliebe die ursprünglichen Chorlösungen verändert.
Der einfache rechteckige Bau von S. Antonio außerhalb der heutigen Porta Romana ist nur deshalb zu erwähnen, weil das Portal, und damit wohl auch der Bau, auf das Jahr 1308 datiert ist. Eine Standardlösung bietet z.B. der untere Teil der Fassade von S. Marciano. Man verwandte Quadersteine und baute die Wand auf einer Sockel zone auf, verstärkte die Außen kanten und errichtete zu beiden Seiten des Mittelportals je einen kannelierten Pilaster, so daß die untere Wandfläche in drei gleichbreite Abschnitte aufgeteilt ist. Ihren oberen Abschluß bildet ein Gesims, das über dem Portal über die gesamte Breite der Fassade verläuft. Das gleiche Gliederungssystem übernehmen die Kirchen S. Maria di Roio und S. Pietro di Sassa; in letzterer ist eine schöne Fensterrose erhalten. Die Kirche S. Marco zeigt noch die ursprünglichen Langhauswände auf einer Sockelzone. Das Seitenportal ist, wie häufiger in L'Aquila, älter als das Hauptportal an der Vorderfront.
Von diesen Bauten unterscheidet sich S. Nicola d'Anza. Teile des Altbaus verbergen sich in der Fassade und der Chorpartie. Durch einen Triumphbogen getrennt, setzt an das Langhaus ein weitausgreifendes ungewölbtes Querschiff an. Ein zweiter Bogen bildet den Übergang zum querrechteckigen Chor, der ungefähr die halbe Tiefe des Querhauses aufweist, und dessen Gewölbe mit Kreuzrippen versehen ist. Unterteilungen durch Lisenen wurden weder im Innenraum noch an den Außenwänden festgestellt.
Die Kirche S. Silvestro ist dreischiffig, begonnen um 1350. Von Restaurierungen und Umbauten hören wir in den Jahren 1403, 1448, 1461 und 1473. Die Barockisierung im Innern erfolgte nach dem großen Beben von 1703. Neuerdings hat man die nicht ganz unwesentlichen Zutaten des 18. Jh. abgeschlagen und der Kirche ihr altes Aussehen zurückgegeben. Die Fassade (Tf. 171) ist eine einheitliche, aus Quadern bestehende querrechteckige Wandfläche, deren oberer horizontaler Abschluß von einer spitzbogigen Blendarkatur gebildet wird. Diese Waagerechte wird nochmals (S. 288) unter der Fensterrose, einer der größten in den Abruzzen, betont, und zarte Ecklisenen bilden die einzigen vertikalen Akzente dieser Schauwand. Das Langhaus mit offenem Dachstuhl zeigt sieben spitzbogige Arkaden und endet ohne Quertrakt in drei Polygonalapsiden mit s/s-Schluß, denen, ähnlich wie in S. Maria di Collemaggio, ein gewölbtes Chorrechteck vorgesetzt ist. Spitzbogige Fenster spenden Licht mit dem in L'Aquila geläufigen Dreipaß im Bogenfeld, wie noch Spuren in den Öffnungen der Apsiden und der Seitenschiffswände erkennen lassen. Die Stützen des Langhauses bilden kräftige Säulen mit einfachen runden Basen und runden Kapitellen. Eine Verstärkung erfuhr allein das Stützenpaar am Eingang des Hauptehores durch Bündelsäulen, die das Gewölbe zu stützen hatten. Da die Seitenschiffe halb so breit sind wie das Mittelschiff, ergeben sich als Grundriß in den Seitenjochen Längsrechtecke und Querrechtecke für den Mittelteil.
Der Kirchturm nimmt einen Teil des ersten Jochs des rechten Seitenschiffs ein. In der Wand des Campanile zur Straße hin erscheinen zwei spitzbogige Fenster übereinander, deren Öffnung jeweils durch eine Säule in der Mitte geteilt und oben durch zwei Dreipaßbogen abgeschlossen wird.
Weitere Bauten in den Abruzzen und im Molise
Die zweite Hälfte des 13. Jh. zeigt in der Architektur keine grundsätzlichen Fortschritte. Man orientierte sich am überkommenen. Unter Kar! I. Anjou entstand die Zisterzienserkirche S. Maria della Vittoria bei Scurcola, ein Fremdkörper, der auf die Abruzzen keinen Einfluß hatte. In Trasacco setzt die Kirche S. Cesidio alte Gewohnheiten des Marserlandes fort, in Vasto entstehen am Ende des Jahrhunderts Gotteshäuser, die historisch anzumerken sind, aber keine künstlerische Bedeutung besitzen. Die Wölbungstechniken in Civitaquana, Loreto Aprutino und Cocullo stehen in Beziehung zum frühen Zisterzienserbau in unserer Landschaft. Sie sind allerdings zeitlich früher anzusetzen als ähnliche Bemühungen in den Bettelordenskirchen.
Abb. 44: S. Maria della Vittoria bei ScurcolaS. Maria della Vittoria (Abb.44) ist heute ein kümmerliches Ruinenfeld. Die Fundamente der Kirche deckt ein Kornacker, jedoch konnte der Grundriß vor einigen Jahrzehnten durch nicht sehr sorgfältige Grabungen festgestellt werden. Demnach bestand die dreischiffige Anlage aus einem Langhaus mit sechs gleichgroßen Arkadenschritten. Quadratische Pfeiler bildeten die Stützen. Das breit ausladende Querhaus war fünfschiffig bei einer Tiefe von drei Jochen. An den Quertrakt schloß sich das zwei Joche tiefe Chorhaus mit plattem Abschluß an, dessen Breite derjenigen der drei Schiffe des Langhauses entsprach. Es ist bedauerlich, daß dieser Bau, der zu den berühmtesten historischen Stätten des 13. Jh. in Süditalien gehört, von der Denkmalpflege fast vergessen worden ist.
Abb. 45: Trasacco, SS.Rufino e CesidioDie Kirche SS. Rufino e Cesidio in Trasacco (Abb.45) stammt aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Sie wurde 1618 vom Abt De Blasiis stark verändert, 1915 vom Erdbeben schwer beschädigt und danach dürftig restauriert. Cicerone De Blasiis fügte ein viertes Schiff an die linke Langhausseite, umgab die rückwärtige Front mit Anbauten und verbreiterte das Querhaus, das ursprünglich nicht über die Flucht der Seitenschiffswände hinausreichte. Vom Altbau sind die Fassade der von Osten nach Westen ausgerichteten Kirche, die rechte Langhauswand und der rechteckige Abschluß des Chores mit dem eleganten zweiteiligen Fenster erhalten. Alt sind ferner die Pfeiler im Mittelschiff, die das Langhaus in fünf Joche gliedern. Mit Ausnahme der letzten spitzbogigen Arkade auf der rechten Seite tragen die Stützen Rundbogen. Zu den Seitenschiffen hin haben die Pfeiler rechteckige Vorlagen, auf denen die transversalen Spitzbogen ansetzen, die zu den Außenwänden führen. Das Mittelschiff hatte einen offenen Dachstuhl, die Seitenschiffe besaßen jetzt stark restaurierte Kreuzrippengewölbe. Der Kirche vorgebaut ist das Oratorium della Concezione, ein langgestreckter rechteckiger, einschiffiger Raum, dessen eine Schmalseite links neben dem Portal an die Fassade anschließt. Der Zweck dieser barocken Anlage, die heute als Abstellraum dient, ist nicht klar. An die Südseite des Oratoriums lehnte sich der Friedhof an, in den eine heute vermauerte Tür führte. Vielleicht diente der Raum als Totenkapelle. Früher als das jetzige Oratorium'ist die eigentümliche Portikusanlage des 14. Jh., die die Verbindung zwischen jenem und dem Kircheninnern herstellt. Der Portikus bestand aus zwei Rundbogen, dessen rechter nicht mehr vorhanden ist, weil man in moderner Zeit einen Aufgang zur Orgel anlegte. (S. 289) Die Stützen der noch erhaltenen Arkade sind breite Pfeiler, denen zum Oratorium hin Halbsäulen vorgelegt sind. Bei den letzten Restaurierungen verschwanden die figürlichen Malereien im Bogenfeld fast völlig. Erhalten ist dagegen die prächtige Mittelstütze zwischen den beiden Arkaden. Der Schaft ihrer Halbsäulenvorlage zeigt ein tief eingeschnittenes Grätenmuster. über dem Kapitell erhebt sich auf einem Sockel mit einem noch nicht identifizietten Wappen die Statue einer Madonna mit Kind. Die Figur ist von einer Ädikula mit Dreipaßbogen umgeben, der auf Spiralsäulen mit Kapitellen ansetzt.
Die Stadt Vasto hatte am Ende des 13. Jh. eine rege Bautätigkeit entfaltet, von der wir heute nur ungenaue Vorstellungen haben. Die Kathedrale S. Giuseppe ist immer eine einschiffige Anlage gewesen, 1566 von den Türken in Brand gesteckt und 1890 vollständig im pseudogotischen Stil umgestaltet. Zum Bestand der alten Kirche gehört nur die aus sorgsam geschnittenen Steinen aufgeführte Fassade. Die 1293 datierte Inschrift in der Portallünerte hat man mit Recht auch auf die Entstehung des Gesamtbaus bezogen. Die Kirche S. Pietro in Vasto fiel in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts einem Erdrutsch zum Opfer. Erhalten blieben nur geringe Reste der Hauptfassade mit dem Portal, deren Disposition derjenigen der Kathedralkirche sehr verwandt war. Vor allem gehört das qualitärvolle Portal in den Umkreis der datierten Tür von S. Giuseppe. Zeitlich nahe steht diesen beiden Kirchen auch die einschiffige Anlage von S. Antonio in Vasto, deren schöner Innenraum aber das Ergebnis einer Umgestaltung aus dem Jahre 1723 ist.
In der Kunst des Wölbens beobachten wir im übergang zur Gotik bemerkenswerte Versuche. So wurde z.B. der dreischiffige romanische Bau von S. Maria delle Grazie in Civitaquana in späterer Zeit eingewölbt. Vor die Pfeiler legte man nur zum Mittelschiff hin breite rechteckige Vorlagen, die beträchtlich über die Scheitel der Arkadenbogen ansteigen und in stark vorkragenden Kapitellen enden. Auf diesen setzen spitzbogig zulaufende Gurte an, zwischen denen ein Tonnengewölbe eingezogen ist. Die Seitenschiffe zeigen Kreuzgratgewölbe, die ohne Konsolen oder Vorlagen in der Wand enden.
Andere Lösungen wurden gefunden, als man S. Maria in Piano in Loreto Aprutino im Jahr 1280 umgestaltete. Das Gotteshaus ist ein rechteckiger, einschiffiger Raum, der durch vier spitzzulaufende Schwibbogen in fünf Abschnitte geteilt wird. Zwischen den Schwibbogen erscheint der offene Dachstuhl. Die Transversalbogen steigen von Halbsäulen mit schmucklosen Kapitellen auf. Zur Sicherung des Seitenschubs setzte der Architekt jede Halbsäule vor eine schmale Mauerzunge, die aus der Langhauswand herausragt, so daß an den Seiten des einschiffigen Raumes scheinbar flache Kapellen entstehen. Um die Langhausmauer noch mehr zu entlasten, wurden entsprechend den Halbsäulen im Innern am Außenbau lisenen artige Wandverstärkungen angelegt. An das Langhaus schließt sich ein polygonaler Chor mit 5/8-Schluß an.
Die Disposition des einschiffigen Innenraums von S. Maria in Piano wiederholt die Kirche S. Maria delle Grazie in Cocullo. Der Raum wird von vier spitz zulaufenden Transversalbogen in fünf Abschnitte gegliedert. Diese Schwibbogen setzen vermittels profilierter Kapitelle auf Wandvorlagen auf. Am Außen bau bedurfte hier der Schub der Bogen keiner Widerlager. Zwischen den Transversalbogen hat man bei Restaurierungen, wohl unzutreffenderweise, spitzbogige Gewölbe eingefügt. Es ist kein Querhaus vorhanden. Zwei Stufen führen zum Chor hinauf, der die letzte Jochtiefe einnimmt.
Der gotische Baustil Nordeuropas hat in den Abruzzen höchstens in einigen Detailformen Eingang gefunden. Die überkommenen Baugewohnheiten blieben so stark, daß wir von gotischen Innenräumen, verglichen mit französischen und deutschen Raumgestaltungen, in unserer Region gar nicht reden können. Es ist seltsam zu beobachten, wie das Bergland von einer gewissen Zeit ab mit kirchlichen Bauten gesättigt war, und daß es, mit Ausnahme einiger Bettelordenskirchen und wegen des Sonderfalls der Stadtgründung von L' Aquila, kaum zu wirklichen Neubauten gekommen ist. Auch die vielen Erdbeben nahm man nicht zum Anlaß, neue Konzeptionen aufzugreifen. Man fühlte sich gebunden an das Gewesene und erneuerte nur das Zerstörte.
Im Kirchenbau des 14. Jh. bemerken wir dennoch gewisse Veränderungen, die nicht von heute auf morgen eindrangen sondern nur langsam die Oberhand gewannen. Der Schwerpunkt der Bautätigkeit liegt in den Städten. Diese errichten bedeutende Monumente, die auf die Baukunst des Umlandes einwirken. Natürlich nahmen die Städte Baugewohnheiten der Orden an, und man kann nachweisen, wie in den weiträumigen Langhäusern, den Kapellen, Schwibbogen und platten Chorabschlüssen die Ordensarchitektur nachwirkte. In der Portalskulptur ist dieser Vorgang noch handgreiflicher zu fassen als in der Architektur. Ausdruck der städtischen Kultur werden immer mehr die Bischofskirchen. An fast allen Domen wird in dieser Zeit mit Fleiß gebaut, in Teramo, Atri, Chieti, Sulmona, Larino und Venafro.
Abb. 46: Teramo, KathedraleDie Kathedrale von Teramo (Abb.46) liegt im Zentrum der Stadt. Der Bau ist nicht einheitlich. Von kleinen Veränderungen abgesehen, kann man vier Bauphasen feststellen. Der Gründungsbau wurde unter Bischof Guido II. (1156 bis 1170) errichtet, grundlegende Änderungen und Erweiterungen erfolgten im 14. Jh. unter Bischof Nicolo degli Arcioni (1317-1335). Die Barockisierung nahm Bischof De Rossi 1739 vor, und endlich fanden 1935 Restaurierungen statt, die den alten Zustand, vor allem im Innenraum, nicht ganz befriedigend wiederherzustellen suchten. Der Chorabschluß des ersten Baus wurde etwa 1332 von Nicolo degli Arcioni abgerissen, um die Verlängerung der Kathedrale durchführen zu können. Was ihn bewegte, die Achse des Neubaus etwas zu verschieben, wird kaum eindeutig auszumachen sein. Sechs Stufen führen in den Neubau hinauf, eine gleichfalls dreischiffige Anlage, die bei rechteckigem Grundriß eine Tiefe von zwei Jochen aufweist. Auf hohen eleganten Stützen spannen sich die weiten und sehr hochgezogenen Bogen. Der gotische Dachstuhl erreicht fast die Höhe der (S. 290) romanischen Kuppel. Trotz der neuen Formen kam es auch hier zu keiner Wölbung, und es wurde der offene Dachstuhl beibehalten.
Bischof Arcioni begnügte sich nicht mit einer Verlängerung seiner Kathedrale sondern veränderte auch die alte Ostfassade im Geschmack seiner Zeit. Auf ihn geht die Anlage des Mittelportals zurück sowie die Erhöhung der Fassade in ihrer ganzen Breite oberhalb des Gesimses. Zunächst fällt an der Schauwand die Unregelmäßigkeit des Mauerwerks auf, das drei verschiedene Techniken zeigt. Das rechte Drittel besteht aus dem in Teramo üblichen Wechsel der Lagen von Haustein und Ziegel. Der mittlere Abschnitt zu beiden Seiten des Portalgiebels besteht nur aus Ziegel, das linke Drittel lediglich aus rechteckigen Kalksteinen. Sie sind sehr unregelmäßig und bilden keine horizontalen Schichten, so daß sie sich von dem unteren Mauergefüge des 12. Jh. deutlich unterscheiden. Diese verschiedenen Techniken dürfen nicht zu dem Schluß verschiedener Bauzeiten führen, denn das oberste, über die gesamte Fassade verlaufende Ziegelgesims, das auf römische Vorbilder zurückgeht, entspricht im Stil durchaus der Zeit Arcionis. Des Eindrucks des Provisorischen und Hastigen kann man sich allerdings nicht erwehren. Die Bekrönung der Fassade mit Zinnen in Schwalbenschwanzform gehört zum Bau des 14. Jahrhunderts. Bischof Arcioni war gebürtiger Römer, und von Rom holte er auch seinen Baumeister Deodatus de Urbe, der das gotische Hauptportal schuf.
1251 wurde Atri auf Veranlassung von Papst Innozenz IV. zur Stadt erhoben und gleichzeitig zum Bistum erklärt. Das mag den Anstoß zur Planung der neuen Kathedrale (Tf. 176) gegeben haben. Die Pläne reiften jedoch langsam. Aus einer Indulgenz des Papstes Clemens IV. vom 30. VI. 1268 wissen wir, daß man mit dem Campanile begann. Auf quadratischem Grundriß bei einer Seitenlänge von etwa 8 m entstand ein fensterloser Ziegel bau mit zwei Stockwerken. Er nimmt in der heutigen Kathedrale einen eigentümlichen Platz ein, denn er reicht weit in das linke Seitenschiff hinein und unterbricht unmotiviert den Duktus des langen Raumtraktes. Diese Lage spricht für die These, daß die Westfassade des romanischen Altbaus sich in der Mitte zwischen dem dritten und vierten Pfeilerpaar von der Apsis aus gerechnet erhob. Der Campanile hätte dann links vor der Westfront der alten Kirche gestanden. Erst später mag der Plan aufgekommen sein, die Kirche nach Westen zu verlängern, wodurch der Campanile mit seiner einen Hälfte in das Kircheninnere hineinreicht. Indulgenzen für Beihilfen zum Dombau aus den Jahren 1284, 1292 und 1294 sowie Inschriften an den 1288, 1302 und 1305 vollendeten Portalen lassen das Fortschreiten der Bauarbeiten verfolgen. Sie rückten von Osten nach Westen vor. Die Bestrebungen gingen dahin, den Raum zu (S. 291) vereinheitlichen. Aus der alten fünfschiffigen Kirche machte man ein dreischiffiges Gotteshaus. Die neuen Seitenschiffe umfassen je zwei Seitenschiffe des Altbaus. Daraus ergibt sich eine merkwürdige und seltene Raumaufteilung, indem nämlich die Seitenschiffe der modernen Kathedrale breiter sind als das Mittelschiff, dessen Wand erhöht wurde. Ferner verdoppelte man die Jochtiefen des Altbaus und verlängerte das Langhaus um vier Spitzbogenarkaden, deren Weite jedoch ungefähr wiederum derjenigen des romanischen Domes entspricht. So ergibt sich, daß von den sieben Jochen des heutigen Langhauses die drei östlichen einen langrechteckigen und die vier westlichen einen queroblongen Grundriß haben. Die Stützen im Osten erwiesen sich im 15.]h. als zu schwach und mußten ummantelt werden, woraus sich die achteckige Form der jetzigen Pfeiler ergibt. Die Form der westlichen Stützen ist in den Abruzzen neu. Einem quadratischen Kern sind auf allen vier Seiten halbrunde Säulen vorgelegt, die den Träger in der Mitte fast verdecken. Das Vorbild dieses Vierpaßpfeilers ist in der Architektur Westfrankreichs im Poitou zu suchen. Daß direkter französischer Einfluß vorliegt, ist möglich, aber nicht zwingend. Um das Jahr 1180 begegnet die gleiche Stützenform bereits in Apulien in der Kirche SS. Nicolo e Cataldo in Lecce. 1259/1260 fand die Einwölbung des Sieneser Doms statt, wo die Langhausstützen ebenfalls Vierpaßpfeiler sind. Weitere Veränderungen in der gotischen Zeit betrafen die runden Apsiden des Altbaus, die beseitigt und durch einen platten Chorabschluß ersetzt wurden. In die Ostwände der Seitenschiffe fügte man je zwei lange Fenster mit Dreipaßbogen ein, die den Fenstern des südlichen Seitenschiffs entsprechen. Das Chorquadrat des Mittelschiffs erhielt als einziger Raumteil ein Kreuzrippengewölbe und setzte sich damit vom flachgedeckten Langhaus ab. Der Quettrakt wurde dadurch betont, daß man von Wandzungen, die aus dem Chorquadrat in den Kirchenraum vorspringen, Schwibbogen zu den Seitenschiffen fühtte. Die verschiedenhohen Vorlagen der Mittelschiffsstützen tragen in der Längsrichtung des Raumes die Arkadenbogen, während sie in der transversalen Richtung die Schwibbogen des Mittelschiffs und der Seitenschiffe aufnehmen. Die Gewölbe, die 1824 unter Bischof Ricciardone von Atri eingezogen wurden, sind anläßlich der letzten Restaurierungen entfernt und durch eine flache Holzdecke ersetzt worden.
Der Außenbau erweckt durchaus den Eindruck einheitlicher Konzeption. Die Südwand unterscheidet sich von der Westfassade durch stärkere Gliederung mittels Lisenen. Den zehn rechteckigen Strebepfeilern am Außenbau entsprechen im Innern die Verstärkungen der gotischen Kathedrale sowie die heute funktionslosen Vorlagen des Altbaus. Die Entstehungsdaten und die Namen der Baumeister der drei Portale des südlichen Seitenschiffs sind bekannt. Die mittlere und östliche Türanlage schuf Raimondo di Poggio im Abstand von 14 Jahren. Das schlichtere Portal in der Mitte entstand 1288, das östliche 1302. Rainaldo Atriano erstellte den westlichen Eingang 1305. Die künstlerische Leistung des etwas später entstandenen Hauptportals an der Westseite des Doms liegt nicht so sehr in der Detailbehandlung als in der kühnen, wahrscheinlich hier zum erstenmal auftretenden Gesamtdisposition. Durch Lisenen an den Außenkanten und zu beiden Seiten des Mittelportals wird die Fassade entsprechend der Breite der Schiffe in drei Felder geteilt. Das horizontale Gesims durfte, sozusagen als abruzzesische Hausmarke, auch hier nicht fehlen, doch wird die Waagerechte abgeschwächt. Zum einen geschieht dies durch die durchgehenden Lisenen, zum anderen durch den Kunstgriff, die steil aufsteigende Giebelrandung des Portals über das Gesims hinauszuführen und darin das prächtige Rundfenster einzubeziehen. Die Zusammenfassung von Oculus und Portal durch eine einheitliche Rahmung über zwei Stockwerke hinweg, ihrerseits wieder eingefaßt von durchgehenden Wandverstärkungen, ergibt eine deutliche vertikale Betonung der Westfassade. Diese Hervorhebung wirkt noch stärker durch die glatten Seitenfelder, deren Mauerwerk eine eigene ästhetische Bedeutung zukommt. Ober dem Rundfenster, das in seinen Abstufungen vom Portal bekannte Zierformen wiederholt, thront in einer Ädikula die reizvolle Freiplastik einer Madonna mit Kind. Der obere Abschluß der Westwand wird durch den in der aquilanisehen Architektur bekannten Arkadenfries gebildet. Mit dieser Bekrönung der Westfassade verbinden sich stilistisch die Formen der beiden Stockwerke des Campanile, die unter dem späteren achteckigen Aufsatz liegen. Der Turm ist das Ergebnis dreier Bauzeiten: die beiden unteren fensterlosen Stockwerke brachten wir mit der Indulgenz von 1268 in Verbindung, das Zwischenstück stammt aus dem Anfang des 14. Jh. und das Oktogon endlich aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert.
Die Bauhütte von Atri hatte im adriatischen Küstenstreifen eine beträchtliche Streuwirkung. Sie arbeitete in Giulianova an der Kirche S. Maria a Mare, wo man grundlegende Veränderungen am Bau des 12. Jh. vornahm. Man verlängerte die Kirche über die alten Apsiden hinaus und erstellte wie in Atri einen geraden Chorabschluß. Bombardierungen des letzten Weltkrieges erschweren die Rekonstruktion. Eine erste Restaurierung sicherte den Bestand, wobei man die zerstörte linke Außenmauer erneuerte. Ein zweiter Eingriff erfolgte 1964h96S' Durch Entfernung von Anbauten im Osten kamen wesentliche Teile des Neubaus des 14. Jh. ans Tageslicht. Bei diesem benutzte man vom Altbau nur die Fassade, die rechte Langhauswand und von der linken den Teil, der vor der Bombardierung von der Fassade bis ungefähr zur Mitte des heutigen dritten Joches reichte. In der Mittelachse des einschiffigen Altbaus errichtete man in unregelmäßigen Abständen vier Stützen, so daß ein zweischiffiger Raum mit fünf Jochen entstand, deren Weite von der Fassade aus gesehen einmal 3,20 m beträgt, zweimal 5,70 m und zweimal 4,50 m. Der letzte Bogen endet an der platten Abschlußwand auf einer Halbsäule, die einem Pilaster vorgelegt ist. Bei den letzten Restaurierungen wurde die hinterste freistehende Stütze von einer späteren Ummantelung befreit; sie besteht aus einem quadratischen Pfeilerkern mit vier Halbsäulenvorlagen auf einer runden Basis. Ferner las (S. 292) sen die Restaurierungen erkennen, daß eine entscheidende Erweiterung des rückwärtigen Teils der Kirche stattgefunden hatte. Man verlängerte die Flucht der alten linken Langhauswand und öffnete sie durch drei 4,50 m weite Rundbogenarkaden, die von zwei Säulen getragen werden, die niedriger sind als die Stützen des Langhauses. Aus dem Stil der neu ans Tageslicht gekommenen Kapitelle und vor allem aus den in Atri gebräuchlichen Steinen in Diamantform, die die Bogenöffnungen rahmen, kann man auf gleichzeitige Entstehung mit dem Portal der Eingangsfassade schließen, das im 14. Jh. in die alte Fassade eingebaut wurde.
Abb. 47: S.Maria di Propezzano bei Morro d'OroDer Einfluß des Doms von Atri erstreckt sich auch auf den Bau von S. Maria di Propezzano bei Morro d'Oro (Abb.47). Die heute dreischiffige Kirche stammt aus den Anfängen des 14. Jh. und hat vier Joche im Langhaus. Die Stützen sind annähernd quadratische Pfeiler, die das Kreuzgratgewölbe in allen drei Schiffen tragen. Die in der Längsrichtung des Raumes den Pfeilern vorgelegten kräftigen Halbsäulen stützen die Rundbogen der Arkaden. Den Stützen des Mittelschiffs entsprechen an den Seitenschiffswänden kleine rechteckige Vorlagen. Ihnen stemmen sich an der Außenwand des linken Langhauses Widerlager entgegen, die auf der rechten Seite fehlen, da hier der angebaute Kreuzgang die Statik sicherte, ein Indiz, daß Kirche und Kreuzgang einer gemeinsamen Baukonzeption entsprungen sind.
Wie so häufig in den Abruzzen, ist der Chorteil nur die Fortsetzung des Langhauses. Die drei Chorfelder sind erwas tiefer als eines von dessen Jochen. Der Übergang zwischen beiden Bauteilen wird durch stärkere Stützen verdeutlicht, die zu den Seitenschiffen hin Spitzbogen aufnehmen. Ecksäulen in den Chorräumen tragen ein kräftig ausgebildetes Kreuzrippengewölbe. Die linke Arkade des Mittelchors ist ebenso wie die Transversalbogen spitzbogig.
In der Breite des Mittelschiffs ist der Fassade ein spitzbogiger Portikus vorgesetzt, der in seiner Gliederung dem von S. Pellegrino in Bominaco sehr ähnlich ist. Er enthält schwerbeschädigte Fresken mit Papstbildnissen. Bonifaz IX. (1389-1404) und Martin V. (1417-1431) zeigen die der Kirche verliehenen Privilegien vor. Auch Papst Alexander II. (1061-1073) ist mit einern Inschriftenband dargestellt. Wahrscheinlich war der Vorbau ehemals mit Bildern der schon früher erzählten Gründungsgeschichte der Kirche ausgemalt. Das Zentrum der hochaufragenden Fassade über dem Portikus schmückt ein großes Rundfenster, das nach innen durch konzentrische Ornamentbänder aus Terrakotta abgetreppt ist. Links vom Portikus ist in die Fassade die Porta Santa eingebaut, die nur am Himmelfahrtstag und am 10. Mai, dem Tage, als Maria den Gründern der Kirche erschien, geöffnet wurde. Im Verhältnis zum Portikus und zur Fassade scheinen die Maße dieser Tür zu groß. An der Außenwand des linken Langhauses sind noch Spuren eines Sockelbandes zu erkennen, das sich auch um die Strebepfeiler legt, ein Motiv, das sich an der rückwärtigen Front noch genauer verfolgen läßt. Die Rückseite zeigt eine besonders gute Mauertechnik, vor allem in dem Teil, der dem Mittelschiff entspricht. Wie häufig im Gebiet von Teramo, wechseln auch hier Ziegel mit rechteckig geschnittenen Kalksteinen ab. Auf vier oder fünf Lagen von Ziegel folgt eine Schicht aus behauenem Kalkstein. Die Widerlager der Rückseite entsprechen der dreischiffigen Gliederung des Innern und steigen nur zu erwa Zweidrittel der Gesamthöhe der Wand auf. Auch das rechte Fenster in der Außenwand des Chors ist mit geschnittenen Steinen in verschiedener Breite eingefaßt, so daß eine eigentümliche Verzahnung mit dem Ziegelwerk entsteht. Das Fenster hat Dreipaßbogen wie die Lichtöffnungen des Dornes von Atri.
Von S. Maria di Propezzano hängt stilistisch die Kirche S. Salvatore in dem nahe gelegenen Morro d'Oro ab. Der Ziegelbau, der in den Jahren 1933/r934 an der Südseite restauriert wurde, ist noch gut erhalten und zeichnet sich durch schöne Proportionen aus; er mißt etwa 40 x 20 m, ohne den Chorraum. Die dreischiffige, nach Osten orientierte Anlage hat vier weitgespannte Rundbogenarkaden, die von Pfeilern gestützt werden. Diese freistehenden rechteckigen Träger mit in der Längsrichtung vorgesetzten Halbsäulen waren schon in S. Maria di Propezzano vorgebildet. Den Mittelschiffsstützen entsprechen an den Seitenschiffswänden Pfeilervorlagen und an den Schmalseiten Halbsäulen. Eindrucksvoll sind die aus Ziegel hergestellten platten Würfelkapitelle. In geringerer Breite als das Mittelschiff ist der Kirche ein gewölbtes Chorquadrat angefügt, während der übrige Raum einen offenen Dachstuhl aufweist. Der Bau ist durch eine heute in die Außenmauer des rechten Seitenschiffs eingelassene Inschrift 1331 datiert. Weiterhin wird neben der Jahreszahl der Name Gentile de Ripatransone genannt, der möglicherweise der Baumeister ist.
Nachwirkungen der Bauhütte des Dornes von Atri zeigt auch die kleine Kirche S. Pietro in Castelbasso, einern Ortsteil von Castellalto in der Provinz Teramo. Das Portal-und damit wohl auch der gesamte Bau -ist 1338 datiert. Die apsidenlose, rechteckige Anlage ist dreischiffig mit drei Rundbogenarkaden, die von kräftigen Säulen getragen werden, denen an den Seitenwänden Halbsäulen entsprechen.
(S. 293)Deutlicher als in der Architektur sind in der Portalplastik die Beziehungen des Domes von Atri zur Kirche S. Michele in Citta S, Angelo. Der Wiederaufbau der von Friedrich 11. von Hohenstaufen zerstörten Stadt scheint in der zweiten Hälfte des 13. Jh. erfolgt und der Neubau der Michaelskirche um das Jahr 1326 abgeschlossen worden zu sein. Der Innenraum wurde im 18. Jh. völlig verändert, so daß wesentliche Aufschlüsse über die ursprüngliche Gestaltung nicht mehr zu gewinnen sind. Die Kirche war wahrscheinlich dreischiffig mit einer an das Hauptschiff anschließenden Polygonalapsis, wie es am Ende des 13. Jh. in den Abruzzen üblich wird. Der heutige Bau zeigt noch an der rechten Langhausseite die alte Gliederung, während der Westtrakt nichts mehr davon erkennen läßt. Die rechte Langhauswand wird durch kräftig vorspringende Lisenen akzentuiert. Darüber verläuft ein wahrscheinlich aus späterer Zeit stammender Spitzbogenfries, der oben und unten von Profilbändern eingefaßt wird. Wie am Dom von Atri weist die ebenfalls zur Hauptstraße gelegene Langhauswand drei Portale auf. Ihr ist ein Portikus vorgebaut, der den Mitteleingang ausspart. Diesen erreicht man über eine breite Treppe. Über seiner spitzbogigen Archivolte befindet sich die Inschrift mit dem Datum 1326.
Die dreischiffige Kirche S. Martino in Gagliano Aterno stammt, so wie sie sich heute darbietet, aus verschiedenen Bauzeiten, deren älteste in das 14. Jh. zu datieren ist. Zum Altbestand gehören Teile des polygonalen Chors und die darunterliegende Cappella della Misericordia, die untere Partie der Eingangsfassade mit dem rechten Portal und dem darüber verlaufenden Horizontalgesims und endlich der untere Teil des Campanile, dessen Vorderseite mit der Fassade fluchtet. Das gotische Portal ist mit geringfügigen Abweichungen eine Replik des 1315 datierten Portals der Augustinerkirche in Sulmona, das 1881 in die Fassade der Kirche S. Filippo in Sulmona versetzt wurde. Damit gewinnen wir für S. Martino einen zeitlichen Ansatzpunkt nach 1315.
Wegen der vielen Zerstörungen und der lückenhaften historischen Überlieferung ist die Geschichte des Oberbaus des Domes von Sulmona noch nicht befriedigend geklärt. Die Forschung hält zäh an der Behauptung fest, daß die beiden aus 16 Säulen gebildeten Stützenreihen des Langhauses gleichzeitig mit der Krypta und dem Ostteil in romanischer Zeit entstanden sind. Aus stilistischen Gründen kann man die gleichartigen und offenbar in einem Werkvorgang geschaffenen Kapitelle auf keinen Fall vor dem Ende des 13. Jh. ansetzen. Wir beobachten an ihnen eine schematische Reihung und das Erstarren der Einzelformen, was bei des erst um 1300 in den Abruzzen eintritt. Für eine Spätdatierung liefert die linke Mittelschiffswand noch zusätzliche Indizien. Am linken Hochgaden sind außen zwei Fensteröffnungen sichtbar, die wegen der schrägen Laibung und des Dreipaßbogens kaum vor der zweiten Hälfte des 13. Jh. entstanden sein können. Diese Fenster dienen heute als Entlüfter des Dachbodens, nachdem darunter die neue Wölbung des Langhauses eingezogen wurde. Schon vor Jahrzehnten haben Untersuchungen ergeben, daß die Rundbogen der Arkaden das Werk moderner Restaurierung sind. Unter dem Verputz verbergen sich weitgespannte Spitzbogen. Historische Dokumente könnten für die spätere Datierung Unterstützung bieten. Im Kampf des Kaisers gegen die Kirche wurde die Kathedrale 1229 von Johannes von Brienne in Schutt und Asche gelegt. 1235 war der Dom noch »combusta et non reparata«. 1253 wurde die Kirche auf Befehl Konrads IV. von Hohenstaufen abermals in Brand gesteckt. Urkunden berichten vom Wiederaufbau in den Jahren 1271 und 1335. Bereits 1349 wurde der Dom aufs neue durch Erdbeben beschädigt. Sichere Baudaten des 14. Jh. überliefert eine Urkunde aus dem Kathedralarchiv Sulmona vom 10. September 1391. Bischof Bartholomäus und der Prokurator des Domkapitels schließen mit dem Magister Nicolaus Salvitti aus Sulmona einen Vertrag. Er erhält den Auftrag, die Domfassade zu errichten und an dieser die Fensterrose (rosa) nach dem Vorbild des Rundfensters von S. Domenico in Sulmona anzubringen. Der untere Teil der Fassade mit dem schönen Portal ist noch erhalten und wird durch das Profilgesims, das sich über die ganze Breite der Wand hinzieht, abgeschlossen. Der obere Teil mit der Rose fiel dem Erdbeben von 1706 zum Opfer. Die Seitenfenster neben dem Salvittiportal stammen aus späterer Zeit.
Der Dom von Chieti wurde im 14. Jh. grundlegend umgestaltet. Aus dieser Zeit ist kaum mehr als der polygonale Abschluß des rechten Seitenschiffes erhalten sowie Teile des Campanile. Der Grundriß des Nebenchors ist ein halbes Achteck mit abwechselnd längeren und kürzeren Seiten; außen ist er durch Lisenen gegliedert und von einer Blendarkatur in zwei Zonen geteilt. Aus statischen Gründen sind in der unteren Zone hohe abgetreppte Entlastungsbogen verwendet. Im oberen Wandabschnitt liegt in der Achse des Seitenschiffs ein hohes, durch eine Säule in der Mitte geteiltes gotisches Fenster.
Das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt ist der Campanile. Er steht frei vor dem Kirchengebäude, und zwar schräg zur Hauptachse der Kathedrale. Durch eine Inschrift sind der Erbauer und das Entstehungsdatum des Turmes überliefert: »A. D. 1335 hoc opus fecit Bartholomeus lacobi«. Über quadratischem Grundriß (ca. 9,20 m) erhebt sich auf hohem Sockel der fünfgeschossige Turm. Besondere Aufmerksamkeit verwandte man auf die Gestaltung der Blendarkatur, die das zweite und dritte Stockwerk voneinander absetzt, und deren Formen dem Fries an der Außenwand des rechten Chorabschlusses sehr ähnlich sind. Die Fensteröffnungen werden durch Wandrücksprünge und Unterteilungen mittels einfacher Säulen im zweiten und durch gekoppelte Säulen im dritten Geschoß kunstvoll behandelt. In dieser Höhe endet der 1335 entstandene Teil.
Abb. 48: Larino, KathedraleIm Molise ist die Architektur der Gotik kaum vertreten. Die Kathedrale von Larino (Abb.48) ist der einzige bedeutende Bau in dieser Landschaft. Die Domkirche S. Maria dell'Assunta e S. Pardo wurde Ende des 13. oder Anfang des 14. Jh. völlig neu gebaut und dürfte 1319 vollendet gewesen sein. Dieses Datum trägt das Hauptportal. Ältere Fundamente hat man an dieser Stelle nicht gefunden, so daß man (S. 294) annehmen kann, die frühere Kathedrale, von der wir nur aus Quellen wissen, habe an einer anderen Stelle der Stadt gestanden. Die Kirche ist in einem Zeitraum von etwa zwanzig Jahren errichtet worden, obwohl eine gewisse Uneinheitlichkeit dagegen zu sprechen scheint. Es handelt sich um eine dreischiffige Anlage mit plattem Chorabschluß. Die Seitenschiffe werden vom Mittelschiff durch Pfeiler getrennt, die auf flachgepreßten Kapitellen abgestufte Spitzbogen tragen. Die Anzahl der Arkaden auf beiden Seiten ist ungleich. Links sind vier und rechts fünf Bogenstellungen. Während die Jochweite der zwei letzten Arkaden auf beiden Seiten übereinstimmt, tritt zur Eingangsfassade hin eine Verschiebung ein. Auf zwei Arkadenschritte auf der linken Seite kommen drei kürzere auf der rechten. Diese Divergenz ist durch die Lage der Fassade bedingt, die nicht waagerecht zur Mittelachse der Kirche verläuft. Ferner wechselt die Form der Pfeiler. Im hinteren Teil der Kirche sind die Stützen zum Mittelschiff hin glatt und zeigen nur zu den Seitenschiffen eine von Ecksäulen begleitete Rippe mit einer Entsprechung von Pilastervorlagen an den Langhauswänden als Stützen der Rippen der Seitenschiffsgewölbe. Die Pfeiler zur Fassade hin sind im Querschnitt kreuzförmig mit eingestellten Säulen in den Ecken. Diese Verschiedenheiten deuten wohl auf eine Änderung in der Bauplanung hin, ohne daß die Gründe, die dazu führten, erkennbar sind. Sie lassen jedoch nicht auf längere Unterbrechung der Bautätigkeit schließen, weil die konstruktiven wie die schmückenden Elemente nicht grundlegend verändert, sondern nur variiert wurden. Im Gegensatz zu den schmalen und hohen Schiffen ist der Chor verhältnismäßig niedrig. Der Chorteil mit dem Triumphbogen dürfte das Werk des 15. Jh. sein, wahrscheinlieh ein Neubau nach dem Erdbeben vom 5. Dezember 1456, dem allein in Larino 1313 Personen zum Opfer fielen. Die Kirche hatte ursprünglich einen offenen Dachstuhl; eine Wölbung des Mittelschiffs war niemals vorgesehen, zumal sie auch wegen des trapezoiden Grundrisses des Langhauses nicht gut durchführbar gewesen wäre. Das Innere des Domes zeigt eine Weiterentwicklung der Formen der Kathedrale von Termoli unter apulischem Einfluß. Um 1300 kann man in Süditalien, vor allem am Dom von Foggia, der immer wieder das Vorbild für Bauten im Molise abgab, das Erstarren der Bauornamentik feststellen. Anstatt pflanzlicher oder figürlicher Motive treten geometrische Formen in den Vordergrund. Wo vegetabile Gebilde beibehalten werden, sind sie kraft-und saftlos und ohne innere Dynamik aneinandergereiht. An den Kapitellen schichten sich beispielsweise schmale Streifen mit monotonen Pflanzenformen übereinander. Gleiches sehen wir in S. Maria Maggiore in Lanciano, an Kirchenbauten in Vasto, in S. Leucio in Atessa und ganz besonders in der Kirche S. Erasmo in Boiano.
Abruzzesische Einflüsse verrät in Larino die Disposition der rechteckigen, den Innenraum verschleiernden und ihn weit überragenden Fassadenwand (Tf. 175), die von einem Gesims in der Horizontalen unterteilt wird. Die Fenster an den Seiten der Rose haben, wie öfter an abruzzesischen Fassaden, keine Funktion als Lichtspender für den Innenraum sondern rein dekorativen Charakter, denn sie liegen über den Dächern der Seitenschiffe. Jedoch hat der Bauschmuck im einzelnen wenig mit der eigentlich abruzzesischen Kunst zu tun. Auf Süditalien, besonders auf apulische Einflüsse, verweist die typische giebelförmige Rahmung der Rose sowie der beiden Fenster zu ihren Seiten, das Portal mit seinem (S. 295) vorkragenden Giebel und vor allem mit seinen sich der Freiplastik nähernden Figuren. Das Vorbild des 1319 datierten Portals ist das zwei Jahre früher entstandene von S. Maria Maggiore in Lanciano mit all seinen Einzelformen, die aber in Larino summarischer gebildet sind als im Werk des Francesco Petrini. Die vom Kreuzeslamm und den vier Evangelistensymbolen umgebene Fensterrose (Tf. 174) zeigt als Speichen 13 anstatt der üblichen 12. Säulen. Das Vorbild der Rundfensteranlage stammt wieder aus Lanciano, wo eine ähnliche Konstruktion in der Fassadenrose von S. Agostino zu sehen ist.
Der Titelheilige des Domes von Larino, Pardo, war ein griechischer Bischof des 7. Jh. im Peloponnes, ging später nach Rom und zog sich von dort zu einem Leben der Askese nach Lucera zurück. Die überführung seiner Gebeine in die heutige Kathedrale erfolgte 1320, ein Jahr nach Fertigstellung des Baues.
Abb. 49: Venafro, KathedraleDie Kathedrale SS. Maria Assunta in Venafro (Abb. 49) wurde vor nicht langer Zeit restauriert, ohne daß man in bezug auf die Baugeschichte zu abschließenden Ergebnissen gekommen ist. Die barocken Zutaten von 1698 wurden entfernt, und es kamen Reste eines antiken Tempels zum Vorschein. Nach dem Erdbeben von 1349 erfolgte ein grundlegender Neubau, der sich bis zum Ende des Jahrhunderts hinzog. Der gesamte Ort hatte bei dieser Naturkatastrophe sehr gelitten. Die neue Stadt Venafro wurde weiter nach Osten verlegt, so daß die Kathedrale heute außerhalb der Gemeinde liegt. Die dreischiffige, nach Westen orientierte Anlage hat eine Länge von 41 m und eine Breite von 17 m. Die sechs Arkaden des Langhauses werden von Kalksteinsäulen getragen, die auf gepressten Basen mit Ecksporen aufsetzen. Eigentümlicherweise haben die Säulen keine Kapitelle, sondern enden in Wulstringen, auf denen große quadratische Deckplatten ruhen, von denen die Spitzbogen ihren Ausgang nehmen. Im rechten Seitenschiff schließen sich nach Norden vier Seitenkapellen an, von denen drei mit Spitzbogenöffnung aus der Bauzeit des 14. Jh. stammen; nur die erste Kapelle rechts weist Architekturformen des 15. Jh. auf. Das erste Joch des linken Seitenschiffs nimmt der Campanile ein, dessen Untergeschoß vom breiten Mittelschiff wie vom Seitenschiff aus durch Spitzbogenöffnungen zugänglieh ist. über vier Stufen erreicht man das Chorhaus, das die gleiche Breite wie das Langhaus hat. Die Trennung von diesem erfolgt durch drei große Transversalbogen. Der Chor wird durch drei gestaffelte Rundapsiden abgeschlossen. Die Eingangsfassade mit drei Portalen gehört zu jenem gestaffelten Typ, der in den Abruzzen schon in früheren Zeiten geläufig ist. Die dem Mittelschiff entsprechende Partie erhebt sich hoch über das Pultdach des rechten Seitenschiffs, und der Campanile ragt nochmals weit über den Mittelteil hinaus. Das spitzbogige Mittelportal ist höher als die rundbogigen Seitentüren. Alle Eingänge sind bis zur Architravzone schmucklos und besitzen keine Kapitelle. Die Lünetten liegen vertieft in der Wand. Um die spitzbogig zusammengefügten zwölf Keilsteine des Mittelportals legt sich ein skulptiertes Profilband, neben dessen Ansätzen Löwen mit Beutetieren in den Pranken aus der Fassadenwand hervorkragen. über dem Mittelportal sitzt ein Barockfenster, an dessen oberen Partien noch Spuren des ursprünglichen Radfensters sichtbar sind. Das rechte Portal war eine Porta Santa, die nur in Jubiläumsjahren geöffnet wurde. Das linke Seitenportal führt in den Raum unter dem Campanile. Dessen Glockengeschoß setzt sich vom unteren Teil des Baus durch ein kräftiges Konsolengesims ab. Das Portal an der linken Langhauswand entspricht in seiner Konzeption den Türen der Eingangsfassade. Eine fratzengesichtige Atlantengestalt bildet die linke Konsole seiner Archivolte.
In Campobasso führt in der Kirche S. Giorgio vom Chor eine Öffnung in die Sakristei, die ehemals eine dem hl. Georg geweihte Kapelle war. Sie wurde 1396 auf fast quadratischem Grundriß mit achtteiligem Rippengewölbe errichtet. In den Gewölbezwickeln sind schlecht erhaltene Fresken mit Kirchenvätern und Heiligen zu erkennen.
Bauten vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
Die Baukunst der Neuzeit enrwickelt sich in den Abruzzen zweigleisig. Die meisten Kirchen knüpfen stilistisch an die Tradition an, nur einige wenige zeigen ein neues Gesicht. Dabei werden die Innovationen durch Vorbilder außerhalb der Abruzzen in Gang gesetzt. Zunächst ist noch eine starke Abhängigkeit von der Toskana zu spüren, an deren Stelle in der Barockzeit Rom und Neapel treten, wobei sich die nördlichen Abruzzen mehr an Rom und der südliche Teil sowie das Molise sich an Neapel binden. Das Nachlassen eigener Ideen geht Hand in Hand mit einer Abnahme der Bautätigkeit, vor allem im 16. und 17. Jahrhundert.
In unserer Landschaft war L'Aquila auch im 15. Jh. die Stadt, in der am meisten gebaut wurde. Mit Ausnahme der Kirchen S. Maria del Soccorso und S. Bernardino knüpfte man fast ausschließlich an die bereits bewährten Baugewohnheiten an. In den ersten Jahren des Quattrocento arbeitete man an der Fassade von S. Domenico, 1439 ist die Fassade von S. Giovanni in Lucoli datiert, die 1898 an die Kirche S. Francesco di Paola versetzt wurde; man baute an S. Flaviano, S. Maria dei Guasto (heute S. Anna), S. Vito, (S. 296) S. Maria dei Carmine, an der Kirche S. Antonia und an S. Maria di Farfa, alles einschiffige Gotteshäuser.
Abb. 50: L'Aquila, S. Maria del SoccorsoGrößere Bedeutung indessen hat die Kirche La Madonna del Soccorso (Abb. 50). Sie liegt außerhalb der Stadt neben dem Camposanto. Zunächst hatte man einem wundertätigen Madonnenbild eine Kapelle errichtet, später folgte die Kirche der Madonna del Soccorso mit anschließendem Konvent, der zuerst den Olivetanern und im 19. Jh. dem Orden der Passionisten gehörte. Schriftlichen Quellen zufolge müssen die Bauarbeiten 1469 begonnen worden und 1478 zu einem gewissen Abschluß gekommen sein. In diesem Jahr vollendete Silvester von L' Aquila seine berühmte Holzstatue des hl. Sebastian für die Madonna dei Soccorso; das Werk befindet sich heute im Nationalmuseum von L'Aquila. Die Kirche ist entsprechend den Gewohnheiten der Franziskanerarchitektur einschiffig mit kreuzförmigem Grundriß. Das in zwei Raumabschnitte unterteilte Chorhaus ist von außergewöhnlicher Tiefe, länger als das Langhaus mit seinen zwei Gewölbejochen. Die Achse des Chorhauses weicht im hinteren Teil nach links ab. Vielleicht nahmen die Bauarbeiten dort ihren Anfang, und nach einer Planänderung verlegte man die Achse. Die Tiefe des Chors wird für den heutigen Beschauer nicht so augenfällig, weil der Raum durch eine moderne Trennwand, vor der der Hauptaltar steht, abgeteilt wurde. Das Chorhaus ist tonnengewölbt. An den Stirnwänden des Querhauses führen Spitzbogenöffnungen in Kapellen. Im Außen bau erscheinen diese als Rechtecke, im Innern sind es im unteren Teil Fünfecke, die nach oben in achtteilige Gewölbe überführt werden. Eine ähnliche dritte Kapelle öffnet sich am Ende der linken Langhauswand. Lang-und Querhaus zeigen Kreuzgratgewölbe, die auf zierlichen Konsolen ansetzen und in Schlußsteinen zusammenkommen. Die Fassade ist der modernste Teil der Kirche. Obwohl wir an ihr noch die Tradition der mittelalterlichen abruzzesischen Schauwand (Tf. 178) erkennen können, sind doch entscheidende Neuerungen festzustellen. Wie an S. Maria di Collemaggio und am Brunnen mit den 99 Wasserspeiern findet man den Wechsel von roten und weißen Steinen, hier jedoch in horizontalen Lagen, wie wir sie von den Inkrustationsbauten der Toskana kennen. Das traditionelle Horizontalgesims taucht auch an dieser Fassade auf, liegt aber viel höher, so daß die Schauwand anders proportioniert erscheint als in früheren Zeiten, zumal noch ein dreieckiger Giebel neu hinzukommt. Die Eckverstärkungen sind an den abruzzesischen Fassaden gewöhnlich als Lisenen gebildet. Hier erscheinen an den Außen kanten zwei übereinanderstehende Pilaster mit jeweils eigenem Kapitell. Das Obereinanderstellen von Stützen wird ein beliebtes Motiv in L' Aquila, es begegnet an den Mausoleen des hl. Bernhardin und des hl. Coelestin und gewinnt im 16. Jh. stärkste Monumentalität an der Fassade von S. Bernardino. Für die Errichtung der Hauptfront der Madonna del Soccorso gab der reiche Kaufmann und Mäzen der Stadt Jacobus di Notar Nanni Gelder. Sein Wappen erscheint gleich zweimal neben dem Rundbogen des Portals auf dem zweiten weißen Streifen unter dem Gesims, weiterhin begegnen wir seinem Wappen an seinem Grabmal im Innern der Kirche; es tritt ebenfalls auf an dem von ihm gestifteten Mausoleum des hl. Bernhardin, und wir finden es in den Miniaturen des für ihn ausgeführten Officium der hl. Christina, das im Nationalmuseum von L'Aquila aufbewahrt wird.
Abb. 51: L'Aquila, S. BernadinoDie bedeutendste architektonische Schöpfung der Neuzeit in den Abruzzen ist die Kirche S. Bernardino in L' Aquila (Abb.51). Obwohl sich die Bauarbeiten bis in das 18. Jh. hinzogen, macht diese Stätte der Franziskaner einen verhältnismäßig einheitlichen Eindruck, weil man die im 15. Jh. gewählte Konzeption nie preisgab. 1444 starb Bernhardin in L' Aquila, seine Heiligsprechung erfolgte 1450. Ein Jahr später willigt Papst Nikolaus V. in den Bau der Kirche ein. Die feierliche Grundsteinlegung fand am 28. Juli 1454 statt. Anfänglich flossen die Bauspenden reichlich. König Aifons von Aragon (1442-1458) stiftete allein 5000 Dukaten, weitere Beiträge lieferte der Bischof Agnifili von L'Aquila. Geldzuwendungen machten u.a. die Gräfin von Celano, der Markgraf von Mantua und zwei wohl der deutschen Kolonie in L'Aquila angehörende Kaufleute, Narciso Vays und Cristoforo Esteter. Der Name des Architekten ist unbekannt. Die Bauleitung lag in Händen des Franziskaners Giacomo della Marca (gest. 1476). Nach eifriger Tätigkeit gibt er sein Amt nach fünf Jahren an den Frate Francesco de Paulo dell'Aquila (gest. 1488) ab. Durch Urkunden kennen wir die Namen der Bauführer aus der ersten Bauzeit, darunter erscheinen viele, die nicht aus den Abruzzen stammen, z. B. Jacopo da Corno, Martino da Orvieto und Stefano Lombardo. Sie unterstanden den Prokuratoren der Stadt, denen als oberste Instanz Jacopo della Marca vorgesetzt war.
(S. 297)Wie üblich begann man die Kirche im Osten, wo noch Spuren des Gründungsbaus zu sehen sind. Den Kern der Anlage bildet ein Oktogon mit Kuppel. An sieben seiner Seiten wird es ringförmig von Annexräumen umschlossen, während sich die achte Seite zum Mittelschiff öffnet. Fünf dieser polygonalen Kapellen, von denen die mittlere, in der Mittelachse der Kirche liegende, die langgezogene Chorkapelle ist, sind im Außenbau erkennbar, wohingegen zwei Kapellen innerhalb der Langhausmauern liegen und nach außen nicht in Erscheinung treten. Die Mauern der Radialkapellen stützen zugleich die Wände des Oktogons, das die Kuppel zu tragen hat, nach außen ab. Dem Rundbau ist ein dreischiffiges Langhaus mit sechs Arkadenschritten vorgesetzt. Die Arbeiten an der Kirche sowie der Bau des Campanile und der Konventsgebäude machten in den ersten Jahren gute Fortschritte. 1458 begann man an der rechten Langhausseite mit der Errichtung der Kapelle des hl. Bernhardin, in der das Mausoleum des Heiligen seinen Platz finden sollte. Die Langhausarkade in Höhe dieser Seitenkapelle ist weiter als die übrigen, um den größtmöglichen Einblick auf die Ruhestätte zu gewähren. 1461 war der Raum unter der Kuppel mit den Kranzkapellen, dem Triumphbogen und der Sakristei vollendet, während die Kuppel selbst noch nicht fertiggestellt war. Der Campanile gehört zum Gründungsbau. Sein pyramidenförmiges Dach fiel 1667 einem Blitz zum Opfer. In den Holzschnitten, die Salvatore Massonio den beiden Auflagen seiner Geschichte über den Ursprung der Stadt L'Aquila beigefügt hat, sind verschiedene Ansichten der Kirche enthalten. Demnach bestand der Turm aus mehreren Geschossen, wobei die drei obersten nach allen Seiten Öffnungen zeigten. Eine davon ist noch erhalten. Sie ist spitzbogig und besitzt eine Füllung mit einem Oculus über zwei Rundbogenöffnungen. Nach Massonios Schnitten hatten die Fenster des Oktogons die gleiche Form.
S. Bernardino ist ein für die Abruzzen ungewöhnlicher Bau. Kurze Zeit vor seiner Entstehung hatte man sich mit der Wölbung der Florentiner Domkuppel abgegeben, und in der Tat besteht, wie schon Gavini feststellte, in der Disposition des Grundrisses eine Verwandtschaft zwischen den beiden Bauten. Den franziskanischen Ordensgewohnheiten entsprechend ist die Anlage in L'Aquila jedoch schlichter gehalten und übersichtlicher.
Am 27. November 1461 war in L'Aquila ein Erdbeben. Die Chorpartie von S. Bernardino nahm Schaden. Zwei Stützen der Kuppel sowie der Tambour fielen ein, wahrscheinlich aber auch der Triumphbogen und ganz sicher vier Stützen des Mittelschiffs. Nach dreijährigem Stillstand der Bautätigkeit begann 1464 der Wiederaufbau. Man arbeitete vor allem am Langhaus, festigte die Kapellen und den Campanile. Ein gewisser Abschluß muß 1472 erreicht worden sein, als man die Translation der Gebeine des hl. Bernhardin aus der Kirche S. Francesco in das neue Gotteshaus vornahm. Allerdings war die Kuppel zu jener Zeit noch unvollendet. 1488-1489 diskutierte man noch über ihre Wölbung, doch wurde sie dann bereits 1489 zum Abschluß gebracht. 1612 wurde sie mit Bleiplatten gedeckt.
Anfang des 16. Jh. war der Bau der Kirche abgeschlossen. Unzufriedenheit erregte allein die zwischen 1465 und 1468 entstandene Fassade, die man der Würde des Heiligtums nicht angemessen fand. Bereits am 13. Juni 1506 äußert Papst Julius II. den Wunsch nach Erneuerung der Hauptfassade. Aber die Kassen der Bauhütte waren leer, und eine neue Schauwand konnte erst 1527 in Angriff genommen werden. Die Fassade ist das monumentalste Werk der Renaissance in den Abruzzen (Tf. 179). Bei allen Neuheiten, die hier-und zwar teilweise einmalig in unserer Landschaftauftreten, liegt der Eingangswand doch noch der traditionelle Aufbau der abruzzesischen Fassade zugrunde, die rechteckige Fläche mit horizontaler Untetteilung, die drei Portale und die mit ihnen korrespondierenden Rundfenster. Indessen beherrscht die dreigeschossige Schauwand von S. Bernardino das Motiv der vier Doppelsäulen, zwischen denen flache Nischen erscheinen. Die Säulenpaare sind dreifach übereinandergestellt und nehmen in ihrer Größe im Verhältnis 12:9: 7 nach oben ab. Diese neuen, der Fassade vorgelegten vertikal gliedernden Elemente sowie bestimmte Schmuckformen sind ohne die Kunst eines Bramante, Raffael oder Giuliano da Sangallo gar nicht vorstellbar. In kleinerem Maßstab war die Gliederung durch übereinanderstehende Doppelsäulen am Grabmal von Coelestin V. in S. Maria di Collemaggio bereits vorgebildet.
Über einer Freitreppe erheben sich auf vier mächtigen Sockeln vier Doppelsäulen dorischer Ordnung. Sie tragen zusammen mit sieben Konsolen das Triglyphengebälk. Dessen Metopen zeigen Reliefs mit christlichen Symbolen wie Kreuze, Weihrauchfässer, Kelche usw. Zwischen den hohen Sockeln mit den Doppelsäulen erscheinen die drei Portale wie eingezwängt. Das zweite Geschoß wird durch Säulen ionischer Ordnung gegliedert. Die beiden Seitenfelder enthalten gleichgestaltete Rundfenster, die vor dem barocken Umbau den Seitenschiffen Licht spendeten. In der Mitte erscheint eine sog. Serliana, ein dreiteiliges Fenster mit einer Rundbogenöffnung, die von niedrigeren Öffnungen mit Architrav flankiert wird. Über letzteren befinden sich Oculi. Die Säulenordnung der obersten Zone ist korinthisch. Im Zentrum öffnet sich das große Rundfenster, in den Seitenfeldern erscheint das Wahrzeichen des hl. Bernhardin, eine von Strahlen umrahmte Scheibe, die die Abkürzung des Namens Jesu enthält. In dem Wandstreifen zwischen dem zweiten und dritten Geschoß ist mit großen Lettern die Dedikationsinschrift eingemeißelt.
Der Baumeister der Fassade ist durch eine Inschrift bekannt, die sich an einem Eckstein der Sockelzone befindet und die lautet: 1527. Cola Amatricius architector instruxit«. Aus Bauurkunden ist das Datum der Grundsteinlegung zur Fassade am 19. Juni 1525 bekannt. Die Inschrift von 1527 bezieht sich auf die Fertigstellung des untersten Abschnitts. Die Arbeiten an den oberen Teilen der Fassade zogen sich noch viele Jahre hin. An der linken Flanke des Mauerstreifens mit der Dedikationsinschrift liest man das Datum 1540. Manche Formen, die Cola an der Fassade von S. Bernardino entwickelt, kehren an seinen späteren Bauten (S. 298) wieder, z.B. findet man den Triglyphenfries mit den christlichen Symbolen sowie Formen der Seitenportale in S. Pietro Martire in Ascoli Piceno. Dort wird auch über dem Hauptportal des Palazzo del Popolo die Form des Mittelfensters, die Serliana, vom zweiten Geschoß der Fassade von S. Bernardino in kräftigerer Gestaltung wiederholt.
Das reich geschmückte Mittelportal ist eine Zutat aus späterer Zeit. Im Lünettenrelief sitzt Maria mit dem Jesuskind zwischen den hll. Franz von Assisi und Bernhardin, letzterer empfiehlt der Jungfrau eine kniende Person, die durch eine Inschrift als Hieronymus de Nurcia (Norcia) bezeichnet ist. Dieser war ein Wohltäter des Konvents und zwischen 1558 und 1562 Prokurator der Bauhütte von S. Bernardino. Die ästhetische Wirkung der Fassade, die allerdings durch barocke Annexbauten an den Seiten der Schauwand Einbuße erleidet, wird durch den weiten Platz vor der Kirche gesteigert, vor allem durch die gewaltige Treppenanlage, die in dem abfallenden Gelände unterhalb des Kirchplatzes geschaffen wurde. Sie war bereits im 18. Jh. geplant, wurde aber erst im 19. Jh. ausgeführt. In den Nischen an den Seiten des Aufgangs erscheinen die Namen der Stifter dieser Anlage, die aquilanischen Familien Cappa, D'Andrea, Bonanni, Dragonetti, Rivera, Manieri.
Die Ausgestaltung des Innenraums von S. Bernardino erfolgte im 16. und 17. Jahrhundert. Von 1587 bis 1628 wurde an der flachen Holzdecke des Mittelschiffs gearbeitet. 1587 beauftragten der Magistrat von L'Aquila und die Prokuratoren der Bauhütte den Orazio Valla di Firenze, sie nach dem Muster der 1572 ausgeführten Decke der Kirche S. Maria d'Aracoeii in Rom auszuführen. Die konstruktiven Arbeiten sind 1589 beendet, dagegen steckt 1598 die Dekoration der Kassetten noch in den Anfängen. In diesem Jahr werden Zahlungen an »Giovanni Satarello romano« geleistet. Zweifellos ist er derselbe Giovanni Santarello romano, der mit seinem Kollegen Gregorio Trapassi aus Foligno einen Vertrag mit dem Römischen Senat zur Herstellung der Decke in S. Maria d'Aracoeli abschloß. Daß gerade diese das Vorbild abgeben sollte, ist nicht verwunderlich, denn die dortige Thematik war den Abruzzesen eine Herzensangelegenheit. Dargestellt war die in unserer Landschaft mit so ruhmreichen Erinnerungen verbundene Schlacht bei Lepanto 1571. Man sah dort auch die Vorkämpfer des IS.Jh. gegen die Türken, Papst Nikolaus V., den hl. Bernhardin, Johannes Capestrano und Giacomo della Marca.
Das Erdbeben von 1703 zog die Kirche S. Bernardino arg in Mitleidenschaft. Zu Bruch gingen die Kuppel, die Kapelle des hl. Bernhardin, der obere Aufsatz seines Mausoleums und die Holzdecke des Mittelschiffs. Unbeschädigt blieb die Fassade. Die Wiederherstellungen begannen 1707. Zunächst arbeitete man vermutlich an der Kapelle des hl. Bernhardin, denn schon zwei Jahre später, am 16. September 1709, schließt man mit dem Neapolitaner Girolamo Cenatempo einen Vertrag, der die Ausmalung dieses Raumes betrifft. Urkundlich gesichert ist die Tätigkeit des Giovanni Battista Conti ni in L' Aquila. Er ging aus der Schule Berninis hervor und erstattete ein Gutachten über die neu zu bauende Kuppel. Bei ihrer Wiedererrichtung erhielt der Tambour eine geringete Höhe als der frühere. Man verwandte die alten Bleiplatten, die das frühere Gewölbe seit 1612 gedeckt hatten. Die Zuschreibung der neuen Holzdecke an Bernardino Mosca ist aus chronologischen Gründen unmöglich. Er lebte zwischen 1593 und 1673. Eher könnte man an Ferdinando Mosca aus Pescocostanzo denken. Seine Mitarbeit ist dokumentarisch nicht gesichert, aber aus stilistischen Gründen durchaus möglich. Die zu den schönsten abruzzesischen Flachdecken des Barock gehörende Arbeit wurde aus vergoldetem Holz hergestellt, und die Ausführung zog sich viele Jahre hin. Am eindrucksvollsten ist das Wappen des hl. Bernhardin mit seinem großen Flammenkranz (Tf. 332). Die Malereien in den Kassettenfeldern stammen ebenfalls von Girolamo Cenatempo. Das große Bild in der Nähe der Eingangsfassade zeigt Gottvater und Maria auf der Mondsichel in einer Wolke von Engeln, und zu ihren Füßen sieht man den hl. Bernhardin und Johannes Capestrano. Unter den Wolken erblickt man die Stadt L'Aquila mit der Kuppel von S. Bernardino. Die beiden kleineren Bilder erzählen Episoden aus dem Leben des Titelheiligen.
Den Architekten, der für die barocke Umgestaltung verantwortlich war, kennen wir nicht. Die Rippengewölbe des Chors wurden verdeckt und die Chorkapellen zweigeschossig gestaltet. Im Langhaus arbeitete man die Spitzbogen zu Rundbogen um, und an den Seitenwänden entstanden neue Barockkapellen.
Im Gegensatz zur Stadt L'Aquila kam es im 15. Jh. in der Provinz L'Aquila im Kirchenbau nur zu traditionellen Lösungen. Von Baugedanken der Renaissance ist nichts zu spüren. Das Zurückgreifen auf frühere Architekturformen und Dekorationen veranschaulicht die Kirche S. Maria della Tomba in Sulmona, die auf einem Zeustempel errichtet sein soll, und von der Nachrichten aus dem 13. Jh. vorliegen. Beachtenswert ist die Fassade des 15. Jahrhunderts (Tf. 177). Ähnlich wie beim Dom und bei dem Gebäudekomplex der Annunziata in Sulmona schloß auch an diese Kirche ein anderer Bau an, ein Hospital, dessen Vorderfront künstlerisch in die Fassade einbezogen wurde. Die gemeinsame Schauwand wird wie am Dom oder an der Fassade von S. Francesco in Sulmona durch ein Gesims in der Horizontalen in zwei Zonen gegliedert. Die hölzerne Mitteltür der Kirche trägt oben auf dem linken Flügel das Datum 1441. Im übrigen sind die Türen monoton und durch Charakteristika Sulmonas geprägt, wie der Vergleich mit den Türen von S. Francesco und S. Agostino zeigt. Von ausgezeichneter Qualität ist die Fensterrose, die laut Inschrift ein Palma De Amabile im Jahr 1400 ausführen ließ. Trotz der Anlehnung an die großen Radfenster von L'Aquila zeigt die Durchführung im einzelnen doch Eigenwilligkeiten. Sechzehn achteckige Pfeiler auf attischen Basen gehen strahlenförmig von einem Mittelring aus. Die Kapitelle der Radialstreben sind durch flache Segmentbogen miteinander verbunden. Um diesen Kreis schließt sich ein Rund von 16 Halbkreisen mit Dreipaßdekoration. Dieses Fenster wird von kräftig profilierten Ringen gerahmt. Auf der erwähnten Inschrift ist das (S. 299) Kunstwerk als »rosa« bezeichnet. Bislang sah man darin den frühesten Beleg für dieses Wort im Sinn von Fensterrose. Wir erwähnten an anderer Stelle den Kontrakt mit dem Magister Nicolaus Salvitti vom Jahre 1391, der das Rundfenster an der Domfassade von Sulmona zu errichten hatte. Schon dort begegnet die Bezeichnung »rosa«.
Der Einfluß der Bauten L'Aquilas auf das Umland ist beträchtlich. Wir beobachten ihn im 15. Jh. z.B. an der Fassade von S. Maria Assunta in Assergi und in der Kirche S. Maria del Ponte bei Fontecchio. Der untere Teil der Fassade von S. Francesco in Popoli (1480) ist eine Imitation aquilanischer Formen. Der seltene Fall eines Neubaus in der Provinz L' Aquila ist in der Kirche S. Maria Valleverde in Celano gegeben. Sie wurde etwa 1435 begonnen und, bis auf das 1509 datierte Hauptportal, im Jahr 1503 abgeschlossen. Der Bau ist eine breite, einschiffige Anlage (29,30 x 9,70 m, Breite des Chorraums 9,05 m). Das Langhaus hat drei Joche über quadratischem Grundriß; sie besitzen Kreuzgratgewölbe, die auf breiten Konsolen ruhen. An das Langhaus schließt das geringfügig verengte polygonale Chorhaus mit vierteiligem Gewölbe an. An der linken Langhauswand führen Rundbogenöffnungen in drei rechteckige gewölbte Kapellen. Inmitten der Kirche führt eine Treppe mit 36 Stufen in die geräumige Unterkirche, die in ihrer Disposition dem darüberliegenden Chorhaus entspricht. Der Treppenanfang wird von einer reich dekorierten Renaissancebalustrade eingefaßt, die in einigen Teilen ergänzt und verändert wurde.
Den Eindruck eines wohlproportionierten Raumes des 15. Jh. vermittelt die Pfarrkirche SS. Pietro e Paolo in Pescasseroli. Allerdings richteten die Erdbeben von 1579 und 1915 derartige Schäden an, daß nur noch das Mittelschiff, das Portal der Hauptfassade und der untere Teil des Campanile erhalten sind. Die weiten Joche des Langhauses haben quadratischen Grundriß. Die Stützen der gepreßten Spitzbogen der Langhausarkaden bilden Pfeiler, deren Kapitelle niedriger sitzen als die auf den rechteckigen Vorlagen, die die Transversalbogen des Mittelschiffs tragen. In die Ecken zwischen Pfeiler und Vorlage sind Säulen zur Stützung der Gewölberippen gestellt.
Abb. 52: Pescocostanzo, S.Maria del ColleDie 1360 m hochgelegene Stadt Pescocostanzo tritt erst in der Neuzeit tatkräftig in die Geschichte der Abruzzen ein. Die Kirche S. Maria del Colle (Abb. 52) ist vor allem in der Ausstattung ein Spiegelbild des Reichtums und der einzigartigen Kultur der Stadt, die ihre Blütezeit von der zweiten Hälfte des 16. bis zum Ende des 18. Jh. hatte. Durch Forschungen von Francesco Sabatini ist die schwierige Baugeschichte von S. Maria dei Colle geklärt. Die heute nach Westen orientierte Kirche besaß einen Vorgängerbau, der bereits auf der berühmten Bronzetür von Montecassino aus dem Jahre 1066 überliefert ist. Das Erdbeben vom 5. Dezember 1456 zerstörte die Kirche bis zur Unkenntlichkeit. Kurz danach erfolgte ein völliger Neubau, der 1466 schon ziemlich weit gediehen war. Eine zweite Bauphase fällt in den Zeitraum zwischen 1550 und 1606. Das Portal an der Nordseite, das heute über der großen 1580 datierten Treppe in die Kirche führt, ist sicher ein Werk des 15. Jahrhunderts. Stilistisch leitet sich die etwas phantasielose Arbeit von Portalen in L'Aquila ab, vergleichbar etwa mit denjenigen von S. Maria di Collemaggio oder von S. Domenico. Aus der Entstehungszeit des Portals und seiner Lage zog man den Schluß, daß die heute fünfschiffige Kirche bereits im Quattrocento bestanden habe. Beschäftigt man sich mit der hochinteressanten Urbanistik von Pescocostanzo, so kann man feststellen, daß der Ort im 15. Jh. noch ziemlich klein war und daher kein Anlaß zum Bau einer so großen fünfschiffigen Kirche bestand. Erst durch den Einfluß der berühmten Vittoria Colonna kam um 1538 eine gezielte Planung und wesentliche Erweiterung der Stadt in Gang. Die erhaltenen weltlichen Bauten des Ortes stammen alle erst aus dieser Zeit. Eine weitere Überlegung geht vom Grundriß der Kirche aus. Er macht den Eindruck einer basilikalen Anlage, die mit drei Schiffen ein gängiges Verhältnis von Breite zu Länge besäße. Die fünf Schiffe bilden einen fast quadratischen Komplex, wie ihn etwa ein Zentralraum darstellt. Die jetzige Kirche ist nicht ganz zwei Meter länger als breit. Es fällt schwer anzunehmen, daß diese Wirkung von vornherein beabsichtigt war. Zieht man endlich in Betracht, daß der heutige Nordeingang sehr unbequem ist, indem man nach dem Durchschreiten im Innern nochmals Stufen ersteigen muß, so wird man in der Vermutung bestärkt, daß an dieser Stelle ein Umbau vorgenommen und das Portal hierher versetzt wurde, das früher vermutlich die Stelle einnahm, wo heute in der Hauptfassade das 1558 datierte Portal angebracht ist. Wir erhielten damit einen terminus ante quem, aus dem wir schließen können, daß die Versetzung des Portals und die Erweiterung der Kirche zu einer fünfschiffigen Anlage vor 1558 stattfanden.
(S. 300)Die Datierung der Hauptfassade im Osten ist durch das Portal von 1558 gegeben. Die Jahreszahl 1561 in der Mitte der Wand scheint das Ende der Bauarbeiten an dieser Seite zu bezeichnen. Auffallend sind ihre Proportionen. Einer Breite von 30 m entspricht eine Höhe von nur 14,50 m. Vermutlich wollte man die Mauerlast gering halten, weil das Gelände nach Osten stark abfällt. Die das Portal von 1558 flankierenden Pilaster mit korinthischen Kapitellen haben Gegenstücke im Innern der Kirche, und zwar ähneln ihnen die Stützen des kassettierten Transversalbogens, der das Mittelschiff von der tiefen Chorkapelle trennt. Die beiden rechteckigen Fenster der Ostfassade wurden 1564 angebracht. Das Rundfenster über dem Portal von 1558 ist ein Relikt des 15. Jahrhunderts. Von dieser Fensterrose ist nur noch die Umrandung sichtbar. Nach einem Stich von 1715 bestand die Füllung aus radialen Streben, von denen Fragmente in der Kirche aufbewahrt werden. Außer diesem Rundfenster und dem genannten Portal sind vom Bau des 15. Jh. die freistehenden Stützen des ursprünglich dreischiffigen Langhauses erhalten. Es sind Kreuzpfeiler, die in einem Abstand von 6 m bis 6,50 m aufgestellt sind. Sie tragen Rundbogen, deren Spannweite in den Abruzzen einmalig ist.
Bauinschriften lassen wissen, daß 1606 das gesamte Kirchendach angehoben wurde. Um dem Raum mehr Licht zuzuführen, brachte man an der Ostfassade neben der Fensterrose des 15. Jh. zwei Rundfenster an und ein weiteres an der Nordseite über dem versetzten Portal. Während der abschließenden Bauarbeiten zwischen 1691 und 1694 wurde die rechteckige Sakramentskapelle errichtet, die man vom linken Seitenschiff betritt. Ihrer Größe wegen, sie ist 11 m tief, 8,50 m breit und 15 m hoch, wird sie »cappellone« genannt. Dokumente überliefern, daß die Stuckarbeiten in diesem Raum von lombardischen Künstlern ausgeführt wurden, z.B. von G.B. Gianni da Cerano und Francesco Farradini aus Corno. Dagegen sind die Marmorarbeiten das Werk einheimischer Künstler. Die Kuppelfresken von 1694 wurden 1721 restauriert.
Die schwere hölzerne und vergoldete Kassettendecke im Mittelschiff entwarf zwischen 1670 und 1679 Carlo Sabatini aus Pescocostanzo. Die Deckenmalereien schuf Giovan Angelo Bucci. In monotonen Wiederholungen der Posen werden triumphierende Engel vorgeführt, von denen einige aus Notenbüchern singen. Von schwächerer Qualität sind die etwa gleichzeitig begonnenen Bilder der Holzdecken in den an das Hauptschiff anschließenden Seitenschiffen. Laut Inschrift wurden diese Arbeiten erst 1742 beendet. Je fünf Bilder zeigen an der rechten Decke Szenen aus dem Alten Testament, an der linken Begebenheiten aus dem Leben Mariens. Die Holzdecken in den äußeren Seitenschiffen sind ohne Vergoldung und Malereien. Die Arbeiten dort waren 1697 schon weit gediehen, wurden aber erst in der ersten Hälfte des 18. Jh. beendet.
Mit Ausnahme der Stadt L'Aquila war die Baukunst des 15. Jh. im abruzzesischen Hochland durchaus konservativ. Neuerungssüchtiger war das adriatische Hügelland. Es tauchen hier Ideen auf, die allerdings das Land nicht selbst erarbeitete. Vielmehr handelt es sich um Importe, die aus Oberitalien kamen, und zwar betrifft dies wahrscheinlich die Gestaltung von Zentralbauten, sicher belegt hingegen ist diese Tatsache bei den Obergeschossen einer Reihe von Kirchtürmen, für deren Errichtung lombardische Künstler verantwortlich waren.
Abb. 53: Giulianova, S. FlavianoDie Stadt Giulianova ist eine Schöpfung des Giulio Antonio Acquaviva (gest. 1481). Ihr markantestes architelttonisches Wahrzeichen ist der Zentralbau S. Flaviano (Abb. 53), der nach 1470 entstand, einer der reifsten Sakralbauten der Renaissance in den Abruzzen (Tf. 182), von der Kunstgeschichte aber viel zu wenig beachtet. Der Bau besteht aus Ziegelstein. Er ist ein Oktogon, dessen Kanten im Äußern durch Lisenen verstärkt sind. Die ungegliederten Wände werden oben von einem kräftigen Konsolengesims abgeschlossen. Die Form der Konsolen mit drei Abtreppungen ist dem Wehrbau entnommen, wie auch der untere Teil mit seinen großen ungegliederten Wandflächen mehr den Eindruck einer Fortifikationsanlage als den einer Pfarrkirche erweckt. Mit einem Rücksprung von mehr als einem Meter erhebt sich über dem Konsolenumlauf ein etwa zwei Meter hoher achteckiger, durch Fenster gegliederter Tambour, der oben von einem Zahnschnittmuster begrenzt wird. Darüber setzt die Kuppel an, die im Innern eine Halbkuppel ist, während sich die Wölbung im Außenbau in eleganter Linienführung konisch verjüngt. Den Aufsatz bildet eine achteckige Laterne. Nur ein Eingang führt im Südwesten über Stufen in den Kirchenraum. Entsprechend den schmucklosen Außenwänden ist das sehr hohe Portal ebenfalls ganz schlicht gestaltet und gerade durch die sparsamen Mittel effektvoll. Mit Ausnahme der Eingangsseite und der ihr gegenüberliegenden Wand, die sich zum Altarraum öffnet, zeigen im Innern sechs Seiten des Oktogons flache Rundnischen mit Kalotten. Die Fenster sitzen über einem inneren Kranzgesims mit Zahnschnitt. Den übergang vom Oktogon zur Halbkuppel vermitteln Pendentifs. S. Flaviano entstand in einem sich schnell vollziehenden einheitlichen Bauvorgang und hat im Laufe der Zeit keine grundlegenden Veränderungen erfahren. Ein Anbau aus späterer Zeit dürfte jedoch der rechteckige Chor sein, der sich gegenüber vom Eingang be (S. 301) findet. Auch können die Altäre mit ihrer Ausstattung in den Nischen nicht zum alten Bestand gerechnet werden, da man im Außen bau an den entsprechenden Stellen zugemauerte Fenster und Öffnungen erkennen kann, die sicherlich dem Gründungsbau angehören. Völlig unberücksichtigt von der Forschung ist die große Krypta unter dem Oktogon.
In der Disposition des Grundrisses wie in Einzelformen ist S. Flaviano mit S. Maria di Tricalle unterhalb von Chieti verwandt. Der Beiname Tricalle leitet sich von »a tribus caglis« ab, das heißt von den drei Wegen, die sich dort treffen. Trivius -auf Dreiwegen (Scheidewegen) verehrt ist schon in der Antike der Beiname von Gottheiten, denen am Schnittpunkt dreier Wege Kapellen oder Tempel geweiht wurden. So hat angeblich an dieser Stelle im Altertum ein Heiligtum der Diana Trivia gestanden, wie Funde des vorigen Jahrhunderts bestätigt haben sollen.
Eine heute verschollene Inschrift überlieferte das Datum 1322 als Entstehungsjahr des Baues. Der stilistische Befund führt jedoch in das letzte Viertel des 15. Jahrhunderts. Bei Restaurierungen entfernte man 1879 den Portikus, der den Zentralbau rings umgab. Reste davon sind noch rechts vom Eingang sichtbar. Heute stellt sich die Kirche als ein einheitlicher achteckiger Baukörper aus Ziegel dar, dessen Seiten die Länge von 5,40 m besitzen. Die einzige vertikale Gliederung bilden Eckverstärkungen, die unter dem vorkragenden Horizontalgesims, über dem in leichtem Rücksprung die Kuppel ansetzt, durch eine Blendarkatur verbunden werden. Das Licht tritt durch zwei seitliche Fenster und durch ein kleines Rundfenster im Westen über dem Hauptaltar ein. Im Innern ist die Kirche einschließlich des Gewölbes wie der Außenbau achteckig. Die runden Gewölberippen steigen von zierlichen Konsolen in den Ecken des Unterbaus auf und treffen oben, ähnlich wie in S. Maria in Arabona, in einem Ring zusammen, worin eine Taube mit Strahlenkranz dargestellt ist. Die Füllung zwischen den Gewölberippen besteht aus leichtem Ziegelstein. Die beiden Wandabschnitte links und rechts des Hauptaltars, welcher dem Eingang gegenüber liegt, sind ohne Schmuck und Altäre. Ebenso fehlen ihnen sowie der Eingangswand die flachen, oben mit einem Rundbogen abschließenden Wandnischen, welche die übrigen fünf Seiten des Oktogons besitzen. Die Nische mit dem Hauptaltar ist höher als die anderen.
Die Namen der Architekten der beiden besprochenen Zentralbauten sind unbekannt. Dagegen erscheint in den 90er Jahren des 15. Jh. in Teramo der Baukünstler Antonio aus Lodi. Mit seinen Mitarbeitern ist er auf die Errichtung von Kirchturmbekrönungen spezialisiert, die mit ihren bisher in den Abruzzen unbekannten Formen der Landschaft bis nach Chieti hinunter ein neues Gepräge geben. Sämtliche Turmaufsätze sind aus Ziegel, und alle stehen auf quadratischen Unterbauten, die einer früheren Bauphase angehören. 1493 datiert ist der Aufbau des Campanile am Dom von Teramo, 1498 ist der Turmabschluß ebendesselben Antonio an der Kathedrale von Chieti datiert. Ferner wissen wir, daß die Bekrönung des Campanile des Domes von Atri die von Teramo kopiert, jedoch früher als die von Chieti ausgeführt ist. Der Turmaufbau der Kathedrale von Penne leitet sich von Atri ab. Die zeitliche Ansetzung der verwandten Turmbekrönungen in den vier Diözesen richtet sich dann jeweils nach den Kathedralkirchen.
Am isoliert stehenden Kirchturm von Teramo, der eine Gesamthöhe von 44,75 m besitzt, erhebt sich auf einer quadratischen Terrasse mit kleinen Türmchen an den vier Ecken ein 6,lom hoher oktogonaler Ziegelbau mit einem 7,80m hohen Pyramidendach und einer Metallkugel als Bekrönung. Die Kanten des Achtecks sind durch Lisenen betont, welche oben durch einen Blendbogenfries verbunden werden, und über denen acht kleinere Türmchen aufsteigen. Alle Seiten des Oktogons zeigen im unteren Teil rundbogige Öffnungen, die in der Mitte durch Säulen unterteilt werden, und darüber Oculi, die von 14 polychromen Keramikscheiben umgeben sind.
Teramo und Atri wetteiferten in der Gestaltung ihrer Kathedraltürme. überlegen war Atri durch die zierlicheren Formen und die größere Höhe seines Turmes (52,80 m), überlegen ist es auch im wörtlichen Sinn, weil der Campanile auf freiliegender Höhe von weither gesehen werden kann, besonders eindrucksvoll, wenn die letzten Sonnenstrahlen über dem Gran Sasso in der bereits im Dunkelliegenden Stadt nur noch die Metallkugel der Turmspitze treffen. Der Turmaufbau des Domes wird in S. Agostino in Atri wiederholt. Vom Dom in Teramo übernimmt S. Maria in Platea in Campli den oktogonalen Aufsatz. Die Dachspitze stammt von einer Restaurierung im Jahr 1739. Unverkennbar ist die Präsenz der Bauhütte des Antonius aus Lodi am Turm (37,20 m hoch) der Pfarrkirche S. Agnese in Corropoli. Einen besonderen malerischen Reiz bildet dort die Bedeckung des Pyramidaldaches mit blau glasierten Pfannen. Den Bauformen des Domturmes von Teramo begegnen wir in S. Agostino in Penne, mit dem geringfügigen Unterschied, daß die Öffnungen im unteren Teil des Oktogons keine Unterteilung durch eine Säule in der Mitte zeigen. Diese gleiche Abweichung beobachtet man z.B. in Corropoli, in S. Maria in Piano in Loreto Aprutino und in S. Michele in Citta S. Angelo. In Loreto Aprutino ist die Bauhütte des Antonio gleich an zwei Türmen tätig, an demjenigen von S. Maria in Piano und dem von S. Francesco. Die feine Ausführung von Corropoli macht hier einer etwas müden Schematik und Vereinfachung Platz. Nicht alle Seiten des Oktogons besitzen Öffnungen, die Türmchen an der Plattform und am übergang zur Pyramidalbedachung fehlen in S. Maria in Piano überhaupt, und in S. Francesco erscheinen sie nur in plumper Form an den Ecken der Terrasse. Der Campanile von S. Mieh ele in Citta S. Angelo stürzte beim Erdbeben von 1706 ein und wurde 1709 wahrscheinlich auf Grund des alten Befundes nach den Vorbildern von Teramo und Atri wiederaufgebaut. Eine Inschrift von 1717 im Glockengeschoß nennt den Baumeister des Turmes, Giovanni Bellante, und eine andere meldet die Beendigung des Baues im Jahr 1720. Die letzte von Antonius bekannte Turmbekrönung ist die des Domes von Chieti aus dem Jahre 1498. Oktogon und Pyramidendach fielen dem Erdbeben von 1706 zum Opfer, und erst (S. 302) 1935 wurde nur der achteckige Baukörper wiederaufgebaut.
Mit Ausnahme der Fassade von S. Bernardino in L' Aquila zeichnet sich die sakrale Architektur des 16. Jh. in unserer Region durch besondere Rückständigkeit aus. Die Zahl bemerkenswerter Bauten ist äußerst gering. Nach langer Zeit haben wir uns wieder mit dem Molise zu beschäftigen. Die kleine Kirche S. Maria delle Grazie in Riccia ist ein interessanter Umbau einer mittelalterlichen Anlage in eine Grabeskirche des 16. Jahrhunderts. Der einschiffige Innenraum wird durch einen halbrunden Gurtbogen in zwei Teile gegliedert, von denen der vordere modern ist. Der rückwärtige Abschnitt soll die Krypta einer heute nicht mehr vorhandenen Johanneskirche gewesen sein. Die kräftigen polygonalen Rippen des Kreuzgewölbes ruhen auf kubischen, voneinander verschiedenen Blattkapitellen. Bartholomäus III. De Capua, Feudalherr von Riccia, ließ den Raum verlängern. Weiterhin wurden im Innern vor die Längswände auf beiden Seiten zwei Rundbogenarkaden mit quadratischen Pfeilern und niedrigen Profilkapitellen gestellt. Dieser Aufbau zeigt oben einen waagerechten Abschluß. In die vier Bogenöffnungen setzte man erhöht auf einer Stufe jeweils einen Steins arg. In der Mitte des Raumes ist in den Fußboden die Grabplatte des Bartholomäus III. (gest. 1522) eingelassen. Außer anderen Familienmitgliedern fand hier die unglückliche Königin Costanza di Chiaramonte ihre Ruhestätte. Sie hatte den König Ladislaus von Neapel geheiratet, der sie 1392. verstieß. Auf Anordnung des Königs mußte sie 1397 Andrea De Capua, Herrn von Riccia, ehelichen. Konstanze starb 1422.
Die künstlerische Bedeutung des Kirchleins liegt in der Renaissancefassade, die Bartholomäus III. laut Inschrift im Jahr 1500 errichten ließ. Schön gearbeitete Eckpilaster rahmen die Wand, die oben von einem Giebel bekrönt wird, in dessen Mitte das Wappen des Bartholomäus III. prangt. Man legte besonderen Wert auf die Behandlung des Steines und verwendete verschieden große quadratische Blöcke, wodurch horizontale Schichten von wechselnder Höhe entstehen. Das sehr schlichte Renaissanceportal zeigt im Architrav das Wappen der Familie De Capua, darüber die Inschrift »In te Domina spes mea«. In der unmittelbar darüber anschließenden quadratischen Rahmung war das heute nicht mehr vorhandene Bild der Jungfrau Maria enthalten.
Abb. 54: Lanciano, S. Maria Maggiore, erweiterter BauDer Aufschwung der Stadt Lanciano im 16. Jh. war vermutlich der Anlaß, daß man um 1540 der Kirche S. Maria Maggiore neue Räume anfügte (Abb. 54). Man verbreiterte das Gotteshaus des 13. Jh. und machte es zu einem fünfschiffigen Gebäude. Dabei beseitigte man das alte nördliche Seitenschiff und errichtete an der Stelle ein breiteres Mittelschiff, dem nach Norden zwei weitere Seitenschiffe angeschlossen wurden. Das fünfschiffige Langhaus ist breiter als lang, da die neue Kirche nicht nur seitlich erweitert wurde, sondern auch kürzer ist als der Altbau. Den Haupteingang verlegte man vom Osten auf die entgegengesetzte Seite in die heutige Via Garibaldi. Die neue Mittelschiffsapsis im Osten endet kurz hinter dem früheren Langhaus. Indessen berücksichtigte man diese Verkürzung des Innenraums nicht bei der Verlängerung der Ostfassade, die in der Flucht des älteren Teiles mit dem Petriniportal von 1317 weitergeführt wurde. So entstehen zwischen der Apsis des 16. Jh. und der Schau wand Räume, die nicht zur fünfschiffigen Kirche gehören. Das Portal in dieser Scheinfassade stammt aus staufischer Zeit, und zwar saß es ursprünglich an der Nordwand. Denn bei neueren Grabungen im Mittelschiff des 16. Jh. stellte man die Fundamente der nördlichen SeitenschiHsmauer fest, und es zeigte sich, daß dem in situ erhaltenen staufischen Portal an der Südseite ein ebensolches im Norden entsprochen hatte. Die Bauführer des 16. Jh. waren sich offenbar des Wertes dieses Nordportals bewußt. Um es zu retten, versetzte man es an die Annexfassade des 16. Jh. im Osten neben das Petriniportal. Es ist nicht so gut erhalten wie das Südportal, bereichert aber unsere Kenntnis vom Einfluß der staufischen Architektur auf die Abruzzen. Es führt in einen Raum unter der Sakristei. Die beiden Fenster darüber öffnen sich in die Sakristei, und die Fensterrose unter dem Dachfirst bildet ein funktionsloses Pendant zum Rundfenster über dem Perriniportal. Man hat früher behauptet, die Fassade des Annexbaues stünde auf Fundamenten einer älteren Kirche. Tatsächlich ist der Stein der Sockelzone älter als die Schauwand darüber. Grabungen im Mittelschiff haben jedoch ergeben, daß der untere Teil aus Baumaterial des alten abgerissenen Seitenschiffs besteht. Somit ist die gesamte Annexfassade eine Leistung des 16. Jahrhunderts. Daß man zwei Baukörper in einer gemeinsamen Fassade zusammenfaßt, ist in den Abruzzen nicht ungewöhnlich. Die schönsten Beispiele liefert Sulmona mit der Kathedrale, mit dem Gebäudekomplex der Annunziata und vor allem mit S. Maria della Tomba.
Die folgenden erwähnenswerten Kirchen des 16. Jh. gehören zur Provinz L'Aquila. Der architektonische Formenapparat zeigt kaum Neuerungen, und Mittelalterliches lebt weiter. Im Verhältnis dazu war das 15. Jh. fortschrittlicher, z.B. durch die Gestaltung von Zentralbauten oder die Einführung neuer Turmbekrönungen in den Abruzzen.
Abb. 55: Tagliozzo, SS. Cosma e DamianoDie alte Kirche der Benediktinerinnen SS. Cosma e Damiano in Tagliacozzo (Abb. 55) wurde im 16. Jh. erneuert. Die einschiffige rechteckige Anlage wird durch zwei (S. 303) spitzzulaufende Transversalbogen in drei Abschnitte gegliedett, denen sich eine halbrunde Apsis anschließt. Die Joche sind queroblong, wobei der dritte, dem Klerus vorbehaltene Raumteil erhöht liegt und eine geringere Tiefe hat als die beiden vorangehenden. An verschiedenen Stellen auftretende Jahreszahlen lassen gut erkennen, daß man den Bau an der Apsis begann. Der Schlußstein der Kreuzrippen im Gewölbe des der Apsis zu nächstliegenden Joches trägt das Datum 1541. Der entsprechende des Mittelfeldes ist 1543 datiett. Dem Campanile rechts vom Eingang ist die Zahl 1564 eingeschrieben. Dieser letzten Bauphase ist das Rundfenster der Eingangsfassade zuzurechnen. Eng verwandt mit SS. Cosma e Damiano ist die dreischiffige Kirche S. Nicola in Corcumello, die wieder, mit ähnlichem Gewölbe, in drei Joche gegliedett ist. Die Apsis mit Kalotte zeigt quadratischen Grundriß.
Die Fassadengestaltung des Trecento in L'Aquila hatte noch zweihundett Jahre später ein Nachleben. Ein gutes Beispiel bietet sich in der dreischiffigen Kirche S. Maria delle Grazie in Anversa. Deren Schauwand mit dem Mittelportal und dem darüberliegenden Fenster sowie dem durchlaufenden Gesims, welches Portal und Fenster voneinander trennt, ist mit der Fassadengliederung von S. Silvestro in L'Aquila zu vergleichen. Auch deren oberster horizontaler Wandabschluß und das System der Eckverstärkung werden wiederholt. Letzteres allerdings nur an der rechten Seite, während links der mit der Fassade fluchtende Campanile genügenden Halt bot. Die Wand ist reichlich mit Jahreszahlen ausgestattet. Das schöne Renaissanceportal enthält das Datum 1540, und unter der Fensterrose ist das Jahr 1585 angegeben. Ober dem Rundfenster liest man unter dem Dachfirst die Zahl 1587, die die Beendigung der Arbeiten an der Fassade anzeigt.
In der Grunddisposition weist auch die Fassade von S. Maria della Valle in Scanno auf Gliederungen in L'Aquila, etwa auf S. Maria di Collemaggio. Den drei Schiffen entsprechen drei Portale. Ein kräftiges Gesims gliedert die Wand in der Horizontalen. Unmittelbar darüber sitzt in der Mitte das große Radfenster, während darunter seitlich zwei Rundfenster als Lichtspender für die Nebenschiffe angebracht sind. Die Kanten der Schauwand werden durch kräftige Lisenen verstärkt. Die Fassade zeigt auch Gemeinsamkeiten mit S. Maria delle Grazie in Anversa, vor allem in der Gestaltung der Fensterrose und im Kranzgesims, dem eine Reihe rechteckiger Klötzchen unterlegt ist. Die Pfarrkirche S. Maria della Valle, an der noch das Mittelportal von der Fassade des 13. Jh. erhalten ist, wurde mit Hilfe der Bürgerschaft 1563 grundlegend verändert. 1576 hören wir von einer Weihe.
Der Städte überdrüssig, errichtete man im 16. Jh. viele Kirchen in der einsamen Landschaft. So entstanden in der ganzen Region Landkirchen, meistens einschiffig, oft an größeren Verkehrswegen gelegen, die Passanten zur Andacht einladend. Obwohl es sich häufig um Neubauten handelt, sind sie kunsthistorisch meistens nur von geringem Interesse. Zwei schöne Beispiele findet man allerdings in dem Hochtal, das die Straße von L'Aquila über Poggio Picenze, Navelli nach Popoli durchquert. Dort liegt schräg gegenüber der Abzweigung des Weges nach Caporciano und Bominaco die große Landkirche S. Maria in Cintorelli. Auch hier erkennt man vor allem an der Fassade die retardierenden Tendenzen des 16. Jahrhunderts. Die aus fein bearbeiteten Hausteinen errichtete Schauwand zeigt die übliche aquilanisehe horizontale Unterteilung, Eckverstärkungen durch lisenen, ein Rundfenster im oberen Teil und das 1558 datierte Portal in Renaissanceformen. Der Bau ist einschiffig und besitzt ein Querhaus, dessen Arme in 5/8-Schluß enden, wie auch der langgestreckte niedere Chor. Breite Pilastervorlagen, die einen gedrückten Gurtbogen tragen, gliedern den Raum in zwei queroblonge Joche mit Kreuzgratgewölben. Das anschließende Querhaus öffnet sich in Bogenstellungen zu den Querarmen und zu dem drei Stufen höher gelegenen tonnengewölbten Polygonalchor, der schmaler ist als das Langhaus. Dieser erhält Licht aus rundbogigen Fenstern unter den Gewölben. Die glatten Langhauswände werden durch hohe flache Nischen in der Mitte der Joche aufgelockert. Zwei niedere Nischen zu Seiten des Haupteingangs finden ihre Entsprechung in den Wandabschnitten links und rechts des Chores. In den Nischen, die mit Altären ausgestattet waren, sind teilweise noch Malereien erhalten. Ein steinernes, streng gegliedertes Altarretabel steht im Chor. Die Inschrift über dem Mittelfeld lautet: »Abbas Dominus Petrus Marius et devoti Christi fideles in honorem beatissimae Virginis de Centurellis 1641 «. Der Reiz des Innenraums beruht auf seiner Weite und der klaren Gliederung. Im Gegensatz zur Hauptfassade bestehen die Außenwände der Querarme aus Bruchstein, nur die Ecken sowie die Tür-und Fenstereinfassungen sind aus Haustein gebildet. An der Südseite der Kirche finden sich noch stattliche Reste der Klostergebäude.
Eine ganz ähnliche Landkirche findet man auf derselben Straßenseite wenige Kilometer weiter nach Navelli zu, S. Maria delle Grazie, bei Civitaretenga. Aus der gleichen Bauzeit wie S. Maria in Cintorelli begegnet man hier einer gleichartigen Fassade mit dem sie in der Mitte unterteilenden Gesims und einem Rundfenster darüber, den Eckverstärkungen und dem horizontalen oberen Abschluß. Der Chor zeigt ebenfalls 5/8-Schluß. Der einschiffige Innenraum wird auch hier durch Pilaster mit Gurtbogenansätzen gegliedert. Die Altarnischen an den Langhauswänden wurden bei (S. 304) den Restaurierungen in den 60er Jahren wohl zu Unrecht zugemauert. Auch die Ausführung der Schwibbogen ist eine moderne Zutat.
1546 wurde die einfache Landkirche S. Rocco in Aielli errichtet, eine einschiffige Anlage, durch einen Transversalbogen in zwei Raumabschnitte unterteilt, mit Kreuzgewölbe und einem Chor über quadratischem Grundriß.
Abb. 56: Collarmele, S.Maria delle GrazieAufwendiger ist die um 1561 errichtete Kirche S.Maria delle Grazie in Collarmele (Abb. 56). Ähnlich einer Landkirche liegt sie außerhalb des Ortes an der Via Valeria. Die vielen Wappen in und an der Kirche zeigen, daß wir es mit einer Stiftung der Familie Piccolomini zu tun haben. Ihre Feudalherrschaft in Celano und Pescina dauerte bis zum Jahre 1591, als die Besitzungen an Camilla Peretti verkauft wurden, eine Schwester des Papstes Sixtus v. Das einschiffige Langhaus ist 19,20 m lang und 7,40 m breit. Erhöht liegt der anschließende annähernd quadratische Chor. Er zeigt Kreuzrippen, die auf polygonalen Pfeilern in den Ecken des Raumes aufsetzen. Der Schub des Chorgewölbes erforderte eine Verstärkung der Außenmauern, die dicker als die des Langhauses sind. Daraus resultiert im Äußern die scheinbare seitliche Ausladung des Chorraumes, während die Innenwände des Chores mit denen des Langhauses fluchten.
Beachtenswert und neu ist die Behandlung der Fassade, die in der Horizontalen in drei Abschnitte gegliedert ist. Zuunterst befindet sich eine glatte Travertinzone, unterbrochen durch ein klassisches Renaissanceportal mit anschließenden rechteckig gerahmten Fenstern, die sehr tief in die Wand eingelassen sind. Natürlich fehlen die Eckverstärkungen nicht, nur sind sie nicht wie üblich bis zum Dachfirst durchgezogen, sondern enden mit ihren Profilkapitellen unterhalb des Gesimses, das sich in kurzem Abstand über dem Portalgiebel über die gesamte Breite der Schauwand zieht. Darüber erhebt sich die querrechteckige zweite Zone, die oben wiederum durch ein Gesims und an den Außenkanten von Pilastern abgeschlossen wird. Diese sind schmaler als im unteren Teil der Fassade. Die Wandfläche wird durch zwei hohe rundbogige Nischen aufgelockert, die in der Achse der unteren Fenster liegen und Heiligenfiguren enthalten. Der größte Reiz dieses mittleren Abschnitts stellt sein Mauerwerk dar. Im Gegensatz zur glatten Travertinfläche der Portalzone setzt es sich aus farbig glasierten Steinen zusammen, die in erhabenem Relief den Halbmond als Wappen der Piccolomini sowie Sirenen und Adler zeigen. Im oberen Teil des Feldes ist in der Mitte ein plastisch gebildeter Fruchtund Blütenkranz aus Keramik angebracht. Den Abschluß der Fassade bildet eine Giebelfront, deren drei Ecken kleine pyramidenförmige Aufsätze bekrönen, und die ein großes Rundfenster besitzt. Auch hier besteht die Wandfüllung aus farbig glasierten Steinen. Der Innenraum zeigt schlecht erhaltene Wandmalereien. Ein Marienbild ist 1570 datiert und macht deutlich, daß der Bau der Kirche und die Ausstattung Hand in Hand gingen.
Die Architektur der Neuzeit in den Abruzzen ist wenig erforscht, allenfalls gelegentlich an Einzelmonumenten. Insbesondere ist unsere Kenntnis vom 17. Jh. noch sehr lückenhaft. Die Zahl der Kirchen ist geringer als in aUen anderen nachmittelalterlichen Epochen. Immerhin zeigt der Bestand, daß die traditionellen Bindungen an die früheren Baugewohnheiten hinschwinden, und daß mehr und mehr Detailformen des Barock von außerhalb in unsere Landschaft eindringen. Man ist freier im Gestalten und gleichzeitig abhängiger vom importierten Gedankengut. Zu einem eigenen Barockstil, wie z.B. in Piemont, ist es jedoch in den Abruzzen nie gekommen.
Ein Abruzzese muß es als unglaubliche Neuerung empfunden haben, als man 1607 an der Pfarrkirche S. Cristoforo in Moscufo vor dem Kirchenraum mit achteckigem Grundriß eine Barockfassade errichtete. Die Gliederung der Schauwand entwickelt sich nicht mehr wie früher in der Horizontalen sondern in der Vertikalen. Das Portal wird von zwei gekoppelten Pilastern auf hohen Sockeln flankiert, wobei der innere breiter ist und weiter vorspringt. Ober den Kapitellen erheben sich nochmals niedrige Pilaster. Darüber steigt ein kräftig profilierter Rundbogen auf, dessen Scheitel den horizontalen Abschluß der Fassade weit überragt.
Die Tätigkeit des Cosimo Fanzago, des großen Architekten, Bildhauers und Intarsienmeisters in neapolitanischen Diensten, ist durch Dokumente für Pescocostanzo erwiesen. Durch Vermittlung des Abtes von Montecassino kam er um 1624 in diese Stadt und lieferte einen Entwurf für das neu zu errichtende Benediktinerinnenkloster S. Scolastica, wofür er 30 Dukaten erhielt. Die Bauarbeiten, wahrscheinlich einheimischen Kräften überlassen, blieben unvollendet. Es kam nie zum Bau einer Kirche, und vom Konventsgebäude errichtete man nur drei von vier Flügeln. Zwei davon stürzten beim Erdbeben von 1706 ein, der erhaltene steht an der Platzanlage, wo sich das Rathaus und der Brunnen befinden. Dieser langgezogene Trakt des Konvents wird durch sechs Blendfenster von hervorragender Qualität gegliedert. Auf diese Weise verwehrte man den Nonnen, die dem Treiben der Öffentlichkeit nicht zuschauen durften, den Ausblick auf den Platz. Das in den hochgelegenen Orten der Abruzzen häufig anzutreffende weit überhängende Dach wird von hölzernen Konsolen abgestützt. An der westlichen Ecke sieht man einen derartigen Träger, der prachtvoll als Drache oder Greif gebildet ist. 1642 waren die Bauarbeiten noch in vollem Gang. Die Pest entvölkerte die Stadt, die Bauherrin (S. 305) war und in der Folgezeit so verarmte, daß das Unternehmen 1658 aufgegeben wurde.
Sahen wir den Einfluß der Architektur Neapels auf Pescocostanzo, so beobachten wir die Einwirkung Roms in L' Aquila. Die Stadt hatte Anteil an der großen italienischen Oratorianerbewegung, die 1583 in Rom von Filippo Neri begründet wurde. Diese Kongregation, deren Mitglieder auch Filippiner genannt wurden, erhielt erst nach dem Tode des Neri (gest. 1595) von Ces are Baronio ihre Statuten, die 1612 von Papst Paul V. bestätigt wurden. Die Bewegung des 1622 heiliggesprochenen Neri unterstützte Baldassar Oe Nardis aus L' Aquila mit großer Tatkraft. Man versammelte sich anfangs in der kleinen Kirche S. Girolamo, die später dem Erdbeben von 1703 zum Opfer fiel. Bald war jedoch der Zulauf so stark, daß man sich nach einem neuen Gebäude umsehen mußte. Man entschloß sich zum Neubau von S. Filippo Neri. Er wurde 1637 begonnen und, obwohl noch unvollendet, 1651 dem Kult übergeben. Zu dieser Zeit war Baldassar Oe Nardis bereits gestorben. Man setzte ihn zunächst in S. Girolamo bei und überführte seine Gebeine später in die neue Kirche S. Filippo. Das 1970-1972. restaurierte Gotteshaus, das vorher als Magazin diente, ist einer der bedeutendsten Barockbauten der Gegend aus der Zeit vor dem großen Erdbeben von 1703.
Der einschiffige Raum besteht aus dem Langhaus, dem anschließenden Kuppelraum, von dem zwei kurze Querarme ausgehen, und einer wenig tiefen rechteckigen Apsis. Alle Raumteile sind gewölbt. Das Langhaus ist in vier Abschnitte unterteilt; der erste ist sehr kurz, er wird von einem Korbbogen begrenzt, und über ihm befindet sich eine Empore. Die beiden nachfolgenden Abschnitte zeigen je zwei Rundbogenarkaden von gleicher Weite, die den Zugang zu den Seitenaltären ermöglichen. Der vierte Abschnitt vor dem Kuppelraum ist winzig klein, so daß an den Seiten kein Platz zur Anbringung von Altären vorhanden war. Stattdessen baute man vorspringende Logen ein, von denen aus man dem Gottesdienst beiwohnen konnte. Kräftiger als die Langhausstützen gestaltete man die vier Chorpfeiler, die Längsund Transversalbogen zu tragen haben, sowie die Pendentifs, die in den Tambour überleiten, auf dem sich die Kuppel erhebt. Die Schäfte der Pilaster zeigen zum Kuppelraum hin muldenförmige Vertiefungen zur Aufstellung von Stuckfiguren. Diejenigen aus der Bauzeit der Kirche wurden durch das Erdbeben von 1703 zerstört und im 18. Jh. ersetzt. Von diesen Neuanfertigungen sind nur drei übriggeblieben, die vierte, an der linken hinteren Stütze, war so schlecht erhalten, daß keine Restaurierung möglich war.
In S. Filippo bediente man sich eines im Barock üblichen Kunstgriffes, dem man bereits an der Fassade von S. Cristoforo in Moscufo begegnet. Die gekoppelten Kapitelle der Chorpfeiler stützen profilierte Basen, auf denen niedrige Pilaster von gleicher Breite wie die unteren aufsteigen. Diese Stützen tragen ein weit vorkragendes mehrfach profiliertes Kämpfergesims, das sich über die Wand des gesamten Innenraums zieht, der dadurch stark belebt wird. Auf diesem Gesims ruht die eigentliche Last der Kuppel. Die Dekorierung der Kirche nahm das ganze Jahrhundert in Anspruch, nachdem das Erdbeben von 1703 vieles wieder zunichte gemacht hatte. Indessen war die Struktur des Altbaus z.T. intakt geblieben, und beim Wiederaufbau wurde am Grundriß nichts verändert. Die Naturkatastrophe hatte das Langhausdach, die Kuppel, die bereits erwähnten Evangelistenstatuen an den Chorpfeilern und den Campanile zerstört. Die vier Kapellen des Langhauses mit den Marmorinkrustationen und den Altären waren nicht beschädigt worden. Ausbesserungen erfuhren jedoch die Altäre und Wände der Querarme. Der große Altar in der Apsis entstand nach 1715. Er setzt sich stilistisch von den früheren Anlagen des 17. Jh. ab. Die Doppelsäulen zu Seiten des rundbogigen Mittelfeldes, von denen jede auf einem eigenen Sockel steht, sowie die konkave Schwingung des oberen Abschlusses sind Elemente, die dem stadtrömischen Altarbau entlehnt sind.
Der Familie Oe Nardis, die die Oratorianerbewegung in L' Aquila einführte, verdanken wir auch die Errichtung des anmutigen Kirchleins S. Antonio di Padova, das heute noch Privatbesitz der Familie ist. Den Anlaß für den Bau des Oratoriums gab ein Bild mit der Darstellung des hl. Antonius von Padua. Das Gemälde ist ein Frühwerk des Francesco Bedeschini, das dieser in L'Aquila bekannte Meister 1643 für die Privatkapelle des Ottavio Oe Nardis gemalt hat. Während der zahlreichen Erdbeben im Jahr 1646 bewirkte das Bild Wunder, und man beschloß den Bau des heutigen Oratoriums, wo es auf dem Hauptaltar aufgestellt wurde. Die einschiffige Saalkirche mit einer Ovalkuppel über dem eingezogenen rechteckigen Chor geht angeblich auf den Entwurf des in Rom tätigen Ercole Ferrata (1610-1686) zurück und zeigt in der klaren Disposition manche Züge stadtrömischer Barockarchitektur. Nach dem Erdbeben von 1703 erfolgten wohlgelungene Restaurierungen. Bemerkenswert ist die fast rokokohaft bewegte Holzdecke, in der Anlage ähnlich der in S.Bernardino in L'Aquila, in der Gestaltung jedoch freier und feiner als diese. Von gleicher Qualität sind die Orgelempore und die inneren Türverkleidungen, die noch die zarte Farbigkeit des 18. Jh. erkennen lassen.
Die Blütezeit der Stadt Castel di Sangro war das 18. Jahrhundert. Am 20. Oktober 1744 wurde der Ort von Karl von Bourbon zur Stadt erklärt, und in der Gründungsakte hebt der König hervor, daß die Artes liberales und die Artes mechanicae in Castel di Sangro besondere Pflege erfahren hätten. Schon eine Generation vorher war die Kirche S. Maria Assunta (Tf. 183) entstanden, die zu den schönsten architektonischen Schöpfungen des Barock in den Abruzzen gehört. Die Kunstgeschichte hat sich noch nicht mit der großartigen Anlage beschäftigt, die vor allem in Innern von einer eindrucksvoll einheitlichen Konzeption ist. Die Kirche entstand an der Stelle einer früheren aus dem 15. Jh., die für die rasch angewachsene Bevölkerung zu klein geworden war. Am 4. Mai 1695 begannen die Abbrucharbeiten an der alten Kirche. Laut Inschrift in der Loggia vor dem linken Querarm legte bereits am r9. Juni desselben Jahres Monsignore Tortorelli, Bischof von Trivento, den Grundstein für den Neubau. Bernardino Ferradini aus L'Aquila hatte einen Ent (S. 306) wurf in Form eines griechischen Kreuzes geliefert, der von dem Herrn der Stadt, Carmine Nicolao Caracciolo, sowie von den Bürgern gutgeheißen wurde. Aus Urkunden kennen wir die Namen der Bauarbeiter. Fünf Maurer aus Pescocostanzo entsprachen nicht den Anforderungen und wurden durch Salvatore Poke aus Capracotta, Pietro Pukini aus Castel del Giudice, Domenico Cafardo aus Roccacinquemiglia und den Steinmetz Carlo Ingani aus Mailand ersetzt. Am 18. Mai 1703 schenkte der erwähnte Caracciolo der Kirche die Gebeine der hl. Concordia, der Schutzheiligen von Castel di Sangro. Zunächst wurden sie provisorisch beigesetzt und fanden später ihren Platz unter dem Hauptaltar. In der Loggia vor dem rechten Querarm ist die Weihinschrift von 1725 erhalten.
Die Anlage wird durch den Kuppelraum im Zentrum bestimmt. Sein Grundriß ist ein Achteck mit längeren und kürzeren Seiten im Wechsel, wobei die breiteren Wandabschnitte sich zu den vier Kreuzarmen öffnen, wohingegen die anderen schmaleren die Kuppel zu tragen haben. Deren Gewölbe ist durch breite Bänder in acht Felder gegliedert, worin jeweils ein Fenster erscheint, von denen ein echtes mit einem gemalten Scheinfenster alterniert. Von außen ist die Kuppel nicht sichtbar sondern von einem Oktogon umschlossen, das von einem achteckigen Ziegeldach bekrönt wird.
In den Kreuzarmen tragen kräftige Eckpilaster Schildbogen. Der Architekt war bemüht, diese Raumteile als selbständige Gefüge zu gestalten. Das zeigt sich in der Art, wie den von Pilastern getragenen Bogenöffnungen des Kuppelraumes in den Kreuzarmen in kurzem Abstand nochmals Bogen auf Pilastern vorgestellt sind, die den Abschluß dieses Raumteils eigens markieren. Ein mehrfach profiliertes Gesims über den Pilasterkapitellen zieht sich über die Wand der gesamten Kirche, ebenso wie in kurzem Abstand darüber ein Band in feingebildetem Zahnschnittmuster. Die einheitliche Konzeption des Innenraums wird in der Außen ansicht nicht deutlich. Zur Talseite nach Norden ist vor den Kreuzarm eine große Fassade gesetzt, die in keinem rechten Zusammenhang mit dem Baukern steht. Die diese Schauwand flankierenden Glockentürme werden als Teil der Fassade behandelt. Diese wird durch ein vorkragendes Gesims in zwei Geschosse geteilt, von denen jedes durch vier Figurennischen gegliedert ist. Den Querarmen des Zentralbaus sind eingeschossige Loggien vorgelegt, die über einer Sockelzone Rundbogen auf Säulen zeigen.
Die Gestaltung von zentralen Kirchenräumen, die schon im 15. Jh. in S. Flaviano in Giulianova und in S. Maria di Tricalle in Chieti nachzuweisen war, erfährt eine Fortsetzung im 17. Jahrhundert. Dazu gehört die Kirche S. Maria della Misericordia in Ancarano (Tf. 180). Laut Inschrift über dem Hauptportal wurde sie 1628 errichtet. Die Baugelder kamen aus öffentlichen Mitteln zusammen, aus frommen Stiftungen und aus Spenden des Bischofs von Ascoli Piceno, Sigismondo Donati di Corrigio (1605-1641), dessen großes Wappen über der Inschrifttafel prangt. S. Maria della Misericordia ist ein regelmäßiger achteckiger Bau mit eingehängter, von außen unsichtbarer Kuppel. Im Äußern sind die Ecken durch Lisenen verstärkt. Das Oktogon war vor der Restaurierung 1969 von einem Portikus umgeben. Warum man diesen Bauteil des 17. Jh. abgeschlagen hat, ist schwer festzustellen, zumal in S. Maria di Tricalle die Rudimente eines derartigen Umgangs zu belegen sind. Massige Konsolengesimse gliedern in Ancarano die aufgehende Wand über dem Dach des ehemaligen Portikus in drei ungleich hohe Zonen, von denen die mittlere niedriger ist als die beiden anderen.
Ein anderer Zentralbau, sehr ähnlich dem in Ancarano, liegt in Calascio in luftiger Höhe in der Nähe des Kastells, und daher Chiesa dei Castello genannt (Tf. 181). Das Oktogon erhebt sich auf einer von einem umlaufenden Profilband abgesetzten Sockelzone. Die Ecken sind durch Pfeilervorlagen mit Profilkapitellen verstärkt. über der achteckigen Bedachung steigt als Bekrönung die von einer kleinen Kuppel abgeschlossene Laterne mit acht engen Rundbogenöffnungen auf. Im Gegensatz zu Ancarano ist die Eingangsfassade lebhaft gegliedert. Das Barockportal wird von korinthischen Säulen auf hohen, mit Rauten gemusterten Sockeln eingefaßt. über dem Portalarchitrav erhebt sich ein gebrochener Segmentgiebel, in den eine Ädikula mit Giebel eingestellt ist. Unmittelbar darüber öffnet sich ein großes rechteckiges Fenster mit reicher Rahmung. Die Schauwand war ein bilderreiches Gefüge; man hat sie mit sieben Nischen aufgelockert, die zur Aufstellung nicht mehr vorhandener Heiligenfiguren dienten, zwei zu Seiten des oberen Portalabschlusses, zwei neben dem großen Fenster und drei unter dem Dachfirst. Der Innenraum erhielt sein Licht durch das große Fenster und von sieben kleineren rechteckigen Öffnungen unter dem Dachansatz an den übrigen Seiten des Oktogons.
Im Gegensatz zum Seicento zeigt das nachfolgende Säkulum eine gewaltige Bautätigkeit sowohl in den Abruzzen wie im Molise. Die Anzahl der entstandenen Kirchen ist unüberschaubar, doch stellte man an die Qualität nicht zu hohe Ansprüche. Mit der Errichtung ging oftmals die barocke Innenausstattung Hand in Hand, gut zu beobachten z.B. in L' Aquila am Oratorium des hl. Luigi Gonzaga oder am Dom von Teramo in der Kapelle des Stadtpatrons Berardus. Diese wurde mit Geldern der Bürgerschaft errichtet, und 1776 fand die Translation der Gebeine des Heiligen an diesen aufwendigen Andachtsort statt, während der prunkvolle Marmoraltar erst 1789 vollendet wurde. 1723 erhielt S. Antonio in Vasto seine barocke Ausstattung. Aus dem Molise nenne ich nur zwei Beispiele. Die kleine Chiesa del Purgatorio in Venafro verdankt ihre Entstehung der Stiftung des Antonio Lombardi, der 1722 als Kanoniker der Kathedrale von Venafro starb. Die 1756 errichtete einschiffige Kirche S. Francesco in Isernia enthält eine bemerkenswerte Innenausstattung aus der Bauzeit.
Mit Ausnahme von S. Spirito bei Sulmona spielen die Klosterbauten in dieser Zeit eine geringe Rolle. Die neu entstandenen Gotteshäuser sind meistens Pfarrkirchen, oft in kleineren Orten gelegen, die geschichtlich nie besonders wirksam wurden. Ganz allgemein kann man die Zunahme der (S. 307) Andachtsstätten mit einer neuen Intensivierung des kirchlichen Lebens in Verbindung bringen, andererseits erklärt sich die Baulust aus äußeren Anlässen. Das Erdbeben von 1703 verwüstete die Stadt L'Aquila, und kaum eine Kirche blieb unbeschädigt. Der Wiederaufbau erfolgte schnell. Neben den später näh,er zu behandelnden Kirchen stattete man 1712 den Innenraum von S. Domenico aus. Weiterhin errichtete man den oberen Teil der Fassade von S. Flaviano und die Vorderfront von S. Biagio, man erneuerte S. Pietro di Coppito, S. Maria di Roio und S. Margherita. Drei Jahre später, 1706, zerstörte ein neues Erdbeben das Maiellagebiet und gab dort Anlaß zu zahlreichen Wiederherstellungen und Neubauten.
Der Bedarf an Architekten war mit einheimischen Kräften gar nicht zu decken. Man wandte sich vor allem nach Rom oder Neapel. Jedoch trat keiner der dortigen großen Barockarchitekten persönlich in den Abruzzen auf. Denn bei den zahlreichen Neubauten, die notwendig waren, fehlte es natürlich an finanziellen Mitteln, um erstrangige Baukünstler an Ort und Stelle zu beschäftigen. Im besten Fall schickten diese Mitarbeiter in die Abruzzen, oder sie sandten Baupläne ein, die von einheimischen Kräften ausgeführt wurden.
Ein typisches Beispiel für ein mittelbares Wirken bietet Luigi Vanvitelli, holländischer Abstammung und in Neapel geboren. 1751 wurde er Hofbaumeister unter Karl Bourbon, König von Neapel, und machte mit seinen genialen Schöpfungen die Hauptstadt zum Spiegelbild der großen europäischen Residenzen. Dieser vielbeschäftigte Architekt hatte freundschaftliche Beziehungen zum Marchese D'Avalos in Vasto, konnte sich aber nicht entschließen, persönlich Arbeiten in den Abruzzen durchzuführen, und entledigte sich seiner Aufträge durch Ablieferung von Entwürfen. So soll die schöne barocke Pfarrkirche in S. Valentino in Abruzzo Citeriore nach Plänen Vanvitellis gebaut sein. Er betätigte sich auch im Bau militärischer Anlagen. 1758 beriet er den Marchese D' A valos bei der Wiedererrichtung der Torre di Salino in Pescara; eine Entwurfszeichnung dafür ist noch vorhanden. Im selben Jahr lieferte er im Auftrag des Marchese D'Avalos einen Grundriß für die Kirche S.Maria dei Carmine in Vasto ab. An der Ausführung selbst war er verhindert. Stattdessen schlug er dafür den Neapolitaner Mario Gioffredi (1718-1785) vor, der in der königlichen Hauptstadt immer in seinem Schatten arbeitete. Da Gioffredi in Vasto bereits den Palast der D'Avalos zu restaurieren hatte, kam man der Empfehlung Vanvitellis willig nach und übertrug ihm die Errichtung von S. Maria del Carmine. Der Bau wurde 1761 abgeschlossen.
Ähnlich verhielt es sich mit Ferdinando Fuga (1699 bis 1781), nach dessen Plänen S. Caterina in L'Aquila erbaut wurde. Andere nicht so bekannte Architekten kamen aus der Schule des berühmten in Rom tätigen Baumeisters Carlo Fontana (1634-1714). Neue Archivfunde haben erwiesen, daß der Entwurf von S. Maria dei Suffragio in L'Aquila von Carlo de Buratto stammt, der zum Kreis des Fontana gehört. Er errichtete die Fassade des Domes von Albano und arbeitete am Gesu in Rom. S. Maria del Suffragio wurde 1713 »cum archetypo domini Caroli de Buratto architecti romani« gebaut. Mit dem Wort »archetypus« ist sicherlich ein Modell gemeint, das vermutlich aus Holz bestand. Früher hatte man den Lorenzo Antonio Bucci aus Pescocostanze als Urheber des Baus angesehen. Laut Urkunden arbeitete er aber nur als Steinmetz nach den Entwürfen des römischen Architekten.
Ein anderer Baukünstler aus dem Umkreis des Fontana ist Sebastiano Cipriani; wir begegnen ihm nach 1703 in L' Aquila. Er errichtete den Konvent und die Kirche S. Basilio und war auch im Palastbau tätig. In L'Aquila baute er den Palazzo Antonello-De Torres Dragonetti, und wahrscheinlich verfertigte er auch zwei neuerlich aufgefundene Architekturzeichnungen für die nicht realisierte Fassade des Domes in L'Aquila.
Qualitätvolle noch auszuwertende Architekturzeichnungen befinden sich im Museo Civico in Sulmona. Sie betreffen Projekte für die Neugestaltung des Domes, der beim Erdbeben von 1706 schwer beschädigt wurde. Diese Pläne kamen jedoch nicht zur Ausführung.
Wieweit die Bauvorhaben in den Abruzzen von außerhalb betrieben wurden, zeigt ein letztes Beispiel in Castelvecchio Subequo. Dort war die Pfarrkirche SS. Giovanni Battista e Evangelista so alt und baufällig geworden, daß man an einen völligen Neubau denken mußte. Schutzherr der Kirche war 1745, als man das Unternehmen verwirklichen wollte, der Fürst Barberini in Rom. Urkunden des Pfarrarchivs lassen wissen, daß der Fürst einen nicht näher zu bestimmenden Architekten namens Fontana beauftragte, eine Zeichnung für die neue Kirche einzureichen. Das Gotteshaus, erbaut mit Mitteln des Hauses Barberini und anderer Wohltäter, ist noch erhalten.
Barockes Formengut verbreitete sich in der ganzen Landschaft, ohne daß im einzelnen darauf eingegangen werden kann. Gewisse Bauformen werden beliebt und fast zum lokalen Charakteristikum. Dazu gehören die doppelläufigen Treppenaufgänge, die zum Hauptportal der Kirchen führen, weiterhin geschwungene Fassaden und ein Hang zu Zentralbauten, deren Grundriß ein griechisches Kreuz oder ein Kreis ist, und die häufig mit Kuppeln ausgestattet sind.
Das Vorbild für doppelläufige Treppenaufgänge ist wahrscheinlich in den Baugewohnheiten Neapels zu suchen. Denn wir finden sie meistens im Einflußgebiet der Hauptstadt des Königreichs, in den südlichen Abruzzen und im Molise. Diese Treppenform begegnet in Castel di Sangro gleich zweimal, an S. Leonardo und an der etwa 1736 entstandenen Chiesa della Morte e Orazione. In S. Leucio in Atessa ist die Doppeltreppe breiter als die Fassade, und die Anstiege enden an den Eckverstärkungen der Vorderfront. Den Typ der doppelläufigen Treppe zeigen die Chiesa dei Rosario in Palena, weiterhin im Molise die Pfarrkirche von Frosolone, die Chiesa dell'Immacolata in Montagano und, nach einer älteren Zeichnung zu schließen, die den Zustand vor der Restaurierung von 1900 wiedergibt, auch die Kirche S. Leonardo in Campobasso.
(S. 308)Die geschwungenen Barockfassaden in unserer Landschaft haben noch keine zusammenfassende Würdigung erfahren. Bemerkenswerte Beispiele bieten S. Spirito in Tera mo mit einem datierten Portal von 1750 und vor allem die Annunziata in Penne mit einer der schönsten Fassaden im adriatischen Hügelland. Die vor-und zurückschwingende Schauwand des Ziegelbaus wird durch ein Gesims in zwei Zonen gegliedert. Den unteren breiteren Teil fächern sechs dorische Säulen auf hohen Sockeln auf. Die beiden inneren sind vorgezogen, und zwischen ihrem Sockelgewände führen sechs Stufen zum Portal hinauf. Über dem massigen Gesims erheben sich in der oberen schmaleren Zone der Fassade vier Säulen in ionischer Ordnung. Sie stehen in der Achse der vier inneren Stützen des unteren Abschnitts. Den obersten Abschluß bildet ein kräftiges Gesims, und die besonders wirkungsvolle konkave Mirtelpartie der Fassade bekrönt ein gebrochener Segmentbogen. Dem Portal entspricht im Obergeschoß ein großes gerahmtes rechteckiges Fenster.
Die Fassade von S. Maria del Suffragio in L' Aquila wurde 1770 begonnen. Architekt des Unternehmens war Francesco Leomporri aus L'Aquila, der seine Ausbildung in Rom erhalten hatte. Die Disposition der Front zeigt einige Gemeinsamkeiten mit derjenigen der Annunziata in Penne, vor allem die Gliederung durch ein kräftiges Gesims in zwei Zonen. Anstatt der in Penne verwendeten Säulen bediente sich Leomporri der Pilastervorlagen, und zwar sind es gleichfalls sechs im unteren Teil und vier im oberen. Wieder ist die untere Ordnung breiter als die obere. Die Verbindung der zwei Zonen wird durch ansteigende Voluten hergestellt, die an den oberen äußeren Pilasterkapitellen enden. Ebenfalls wie in Penne ist die Mirtelpartie der Fassade konkav gebildet. Über diese Ähnlichkeiten hinaus gibt es aber grundlegende Verschiedenheiten. Die flachen Seitenpartien der Schauwand werden von je drei in einer Achse übereinanderliegenden großen Nischen unterbrochen, von denen die beiden mittleren mit Heiligenstatuen ausgestattet sind. Völlig anders ist auch die Gestaltung des oberen Abschlusses, der in Form einer großen Kalotte erscheint und den konkaven Mittelteil überdacht. Die Innenfläche der Wölbung ist kassettiert; die einzelnen Felder zeigen Blattformen, die an ähnliche Gebilde des abruzzesischen Mittelalters denken lassen. Indessen hielt sich Leomporri an stadtrömische Vorbilder. Die gleiche Verzierung hatte z.B. Borromini in der Kalotte über dem Hauptaltar in S. Carlo alle Quattro Fontane verwendet.
Das Erdbeben von 1706 zerstörte die alte Fassade von S. Spirito bei Sulmona, den bekannten Hauptsitz der Coelestiner. Bei der Wiederherstellung (Tf. 185) entstand eine der kostbarsten Barockfassaden in den Abruzzen. Eine nicht nachzuprüfende Überlieferung nennt als Architekten Donato Rocco aus Pescocostanzo (1702-1783). Da die Gliederung der Fassade jedoch sehr stark vom römischen Barock abhängig ist, teilweise noch auf Ideen Borrominis fußend, kann man ähnlich wie im Fall des Bucci in S. Maria del Suffragio annehmen, daß Rocco nur die ausführende Hand eines römischen Baumeisters war. Wie üblich ist die vorund rückspringende Fassade in der Horizontalen durch ein Gesims in zwei Zonen geteilt, die in diesem Fall die gleiche Breite besitzen. Im Untergeschoß stützen vier Säulen mit ionischen Kapitellen das Gesims, und darüber steigen vier weitere Säulen mit Kompositkapitellen bis zum oberen Abschluß der Fassade auf. Die Wandabschnitte zwischen den Stützen sind mit Ausnahme des unteren konvex ausladenden Mittelteils alle konkav. Dieser Bewegungsablauf der Fassade kommt vor allem in dem kräftigen Gesims zum Ausdruck.
Die Gliederung der Schau wand wird noch durch weitere Kunstgriffe belebt. Die geschwungenen Wandpartien zwischen den Säulen werden in beiden Geschossen durch Gesimse nochmals in der Horizontalen halbiett. Die entstehenden Felder sind an den Seiten wiederum gerahmt, und zwar geschieht dies in den unteren Abschnirten durch kleine Säulen, die im Erdgeschoß ionische Kapitelle und im Obergeschoß Kompositkapitelle tragen, während die oberen Abschnitte in beiden Stockwerken seitlich von Profilleisten eingefaßt werden. Über dem einfachen rechteckigen Portal befindet sich eine große gerahmte Nische, die eine nicht mehr vorhandene Heiligenfigur enthielt, und über dem Gesims sitzt im zweiten Geschoß ein eigentümlich gerahmtes rechteckiges Fenster, das oben von einer Art Tympanon abgeschlossen wird. Unmittelbar darüber erscheint ein großes Wappenschild, in dem u.a. die Devisen des Papstes Coelestin V. zu erkennen sind. Den oberen Abschluß der Schauwand bildet eine etwas zurückgesetzte Balustrade, die die Schwingung des oberen Gesimses wiederholt. In der Mitte dieser Brüstung wird eine große, 1730 datierte Uhr, die laut Inschrift in Rom gearbeitet wurde, durch Voluten eingefaßt.
Den Wechsel von konkaven und konvexen Wandabschnitten zeigt z.B. auch die Fassade der Chiesa del Rosario in Palena sowie die 1777 datierte Vorderfront der Pfarrkirche von Frosolone.
Das 18. Jh. zeigt im Grundriß der Kirchen oft ein Abweichen vom üblichen lateinischen Kreuz und eine Bevorzugung des griechischen Kreuzes. Diesen Grundriß weist die schon erwähnte, von Vanvitelli entworfene Chiesa del Carmine in Vasto auf. Ein anderes bisher unberücksichtigtes Beispiel finden wir in der Pfarrkirche SS. Assunta in Sessano del Molise. Die Kirche wurde 1742 errichtet anstelle einer älteren baufällig gewordenen. Bemerkenswert ist dort die Fassade aus Travertin. Sie wird, ähnlich wie die Schauwand von S. Valentino in Abruzzo Citeriore oder die in S. Maria Assunta in Castel di Sangro, von zwei Türmen eingeschlossen, von denen in Sessano nur noch der linke vollständig erhalten ist.
Die Vorliebe für eine zentrale Raumgestaltung kommt auch in den vielen abruzzesischen Kuppelkirchen zum Ausdruck. In der Chiesa della Concezione in L'Aquila, deren Grundriß ein griechisches Kreuz ist, errichtete man die Kuppel über dem Schnittpunkt der vier Kreuzarme. Ähnliche Anlagen finden sich in S. Spirito bei Sulmona und in der Chiesa del Rosario in Palena. In der Pfarrkirche S. Valentino in Abruzzo Citeriore erhebt sich die Kuppel über einem ein (S. 309) schiffigen Bau. Neben Rundkuppeln begegnen wir anderen über einem elliptischen Grundriß, wie in S. Spirito in Teramo oder in S. Martino in Gagliano. An letzterem Ort liefern die 1713 datierten Ölmalereien des Tonnengewölbes im Mittelschiff einen Hinweis auf die Entstehung des Gotteshauses.
Im Dom von L' Aquila begnügte man sich mit einer Scheinkuppel. Der imponierende, vom stadtrömischen Barock beeinflußte 76 m lange Innenraum, reich an Vergoldung und Marmorimitationen, ist einschiffig mit untereinander verbundenen Seitenkapellen und besitzt ein Querhaus sowie einen Chor. Die hölzerne Scheinkuppel über der Vierung wird dem Andrea Pozzo oder einem seiner nächsten Mitarbeiter zugeschrieben.
Die Vereinheitlichung des Innenraumes kommt natürlich in Kirchen mit einem kreisförmigen Grundriß am stärksten zum Ausdruck, wie z.B. in der Chiesa dell'Immacolata in Paganica. Zu wenig beachtet ist die Chiesa della SS. Trinita in Popoli. Eine gewaltige Treppenanlage, wie eine steilansteigende Straße wirkend, führt anfänglich mit bequemeren, später mit steileren Stufen zu der durch Lisenen dreigeteilten Fassade des 18. Jahrhunderts. Dahinter erhebt sich ein hoher achteckiger Bau mit Eckverstärkungen. Ein achteckiger Tambour trägt die Kuppel.
Einige wichtige Barockkirchen verdienen eine besondere Würdigung. Sie sind in L'Aquila, Sulmona, Luco dei Marsi und in Lanciano zu sehen. Manche von ihnen entstanden über Vorgängerbauten. Das 18. Jh. verfuhr mit dem alten Baubestand meistens sehr vorsichtig, und es lohnte sich zu zeigen, wie schonend die Architekten des Barock mit den früheren Bauten umgegangen sind.
Die alte Augustinerkirche in L'Aquila wurde 1703 durch Erdbeben zerstört. Der Neubau begann um 1707. Urkundenfunde aus jüngster Zeit haben als Architekten den Berninischüler Giovan Battista Conti ni festgestellt, den wir schon als Gutachter beim Neubau von S. Bernardino in L' Aquila erwähnten. Bislang hatte man die Planung von S. Agostino dem Ferdinando Fuga zugeschrieben, was chronologisch unmöglich ist, da der 1699 geborene Architekt in dieser Zeit noch gar nicht tätig gewesen sein konnte. Man hatte Fuga in Betracht gezogen, weil an S. Agostino gewisse Bauformen auftreten, wie z.B. die Kuppel und die Laterne, die an der von ihm beeinflußten Kirche S. Caterina in L'Aquila wiederkehren. Bemerkenswert am Neubau von S. Agostino ist die in der Vertikalen dreigeteilte Fassade mit je einer Nische mit Giebeldach in den Seitenfeldern. Ober dem Mittelportalliegt ein sich nach oben verjüngendes Trapezoidfenster. Die Attika wird ohen von einer Balustrade abgeschlossen, hinter der sich eine Art Terrasse befindet. Ober dieser erhebt sich der obere Teil der Fassade. Er enthält ein großes Relief in runder Rahmung mit der Darstellung des thronenden bärtigen Augustinus mit Bischofsmütze und Bischofsstab; zu dessen Seiten erscheinen Frauengestalten, die Ungläubigen, die angsterfüllt zurückweichen.
Das Innere der Kirche besteht aus einem hohen ovalen Zentralraum mit sechs Seitenkapellen sowie einem Joch am Eingang und einem angefügten Chor. Die Wände des Zentralraums werden von acht Pilastern auf hohen Sockeln und mit großen korinthischen Kapitellen gegliedert. Sie tragen einen kräftigen Konsolenfries. Darüber erhebt sich über einem Tambour die ovale Kuppel. Sie wird durch acht breite Bänder in vier breite und vier schmale Zwickel geteilt. Die Rippen enden an einem ovalen Ring, über dem sich die hohe Laterne mit acht Rundfenstern erhebt. In der Tambourzone wechseln vier breite trapezoide mit vier schmaleren rechteckigen Fenstern ab. Vier hohe Bogen, die bis zum Ansatz des Gesimses reichen, öffnen sich im Mittelraum zum Chor, zum Eingangsjoch und zu den beiden großen in der Querachse liegenden Seitenkapellen. In den Diagonalachsen öffnen sich vier niedrigere Bogen zu vier kleineren Kapellen. In den Wand abschnitten darüber sind vier Logen mit holzgeschnitzter vergoldeter Brüstung angebracht. Das Gebäude der rechts neben der Kirche liegenden Präfektur war ehemals der Konvent von S. Agostino.
Die Kirche S. Caterina Martire in L' Aquila läßt von den Bauten, die in dieser Stadt Ferdinando Fuga zugeschrieben werden, seinen Stil am besten erkennen. Doch hat auch hier der Architekt seinen Entwurf ortsansässigen Bauleuten zur Ausführung überlassen. Die um die Mitte des 18. Jh. entstandene Fassade ist im oberen Teil unvollendet. Eindrucksvoll ist der konvexe Mittelteil mit dem von Säulen flankierten Hauptportal, gleichsam eine Vorankündigung des ovalen Innenraums. Die Seiten partien der Fassade verlaufen schräg nach hinten und sind durch Pilaster auf hohen Sockein gegliedert, die wegen des abfallenden Geländes an Höhe zunehmen. Der schlichte ovale Innenraum wird durch eine Altarnische gegenüber dem Eingang und zwei Nischen an den Seiten mit darüberliegenden Emporen gegliedert. Zwischen vorgezogenen Pilastern sind symmetrisch vier Altäre eingebaut. Die Rahmung der Altarbilder mit Bögen, Muschelornament und dreieckigem Giebelabschluß zeigt deutlich den Einfluß Fugas. Die Pilaster tragen ein profiliertes Gesims, über dem die Ovalkuppel ohne Tambour ansetzt. Ihre Wölbung gliedern entsprechend den unteren Pilastern breite Bänder, die am Ansatz der ovalen Laterne enden.
Eine Laienbruderschaft (Confraternita della Penitenza), die sich der Armenpflege und dem Bestattungswesen widmete, besaß an der Stelle der heutigen Annunziata in Sulmona bereits im Jahr 1311 ein bescheidenes der Maria geweihtes Oratorium. 1320 entschloß man sich zum Neubau einer Kirche und zur Errichtung eines angrenzenden Hospitals für die Armen nach Vorbildern in Neapel, Capua und Aversa. Die Annunziata in Sulmona gehörte später zu den bedeutendsten Wohltätigkeitsanstalten im Königreich Neapel. Von der Kirche des 14. Jh. ist nichts erhaltengeblieben. Sie wurde beim Erdbeben von 1456 zerstört. Unter Mitwirkung urkundlich überlieferter lombardischer Künstler entstand ein Neubau, der am 3. November 1706 abermals einem Erdbeben zum Opfer fiel. Die Kirche im jetzigen Zustand entspricht in der Disposition noch dem Bau, der nach 1456 entstand, Breite und Länge sowie die Maße des Chor (S. 310) hauses wurden beibehalten. Auch einige Bauteile blieben 1706 verschont, so die drei Apsiden, deren mittlere im Grundriß ein halbes Achteck bildet, während die Seitenapsiden rechteckig sind mit abgeflachten Ecken. Das Erdbeben überdauerten ferner die prachtvolle 1620 entstandene marmorne Marienkapelle rechts vom Hauptaltar, ein Werk des Römers Giacomo Spagna, das 1590 datierte Portal an der linken Kirchenflanke und vor allem der Kirchturm, der mit seinen 65,50 m der höchste der Stadt ist. Über einem quadratischen Grundriß mit einer Seitenlänge von 7,20 m zeigt er drei Stockwerke mit Eckverstärkungen. Im zweiten und dritten Geschoß öffnen sich nach allen vier Seiten hohe Rundbogen, die durch eine dorische Säule in der Mitte unterteilt werden. Die Inschrift mit dem Datum 1565 am Campanile bezeichnet nicht seine Vollendung, denn 1588 wurde noch an dem 16 m hohen pyramidenförmigen Turmhelm gearbeitet, der in dieser spitzen Form in der Umgebung Sulmonas immer wieder vorkommt. Bislang wurde nicht untersucht, ob sich in den heutigen barocken Stützen noch alte Pfeiler verbergen, und ob noch Spuren der alten Arkaden des Innenraums vorhanden sind. Nach dem Erdbeben von 1706 legte man am 25. Oktober 1710 den Grundstein zur neuen Kirche. Den Entwurf fertigte der Mailänder Pietro Fantoni an. Der dreischiffige, durch Pilaster gegliederte Bau zeigt im Grundriß ein lateinisches Kreuz, über dessen Vierung sich die Kuppel erhebt. Die Barockfassade wurde laut Inschrift von Meister Norberto di Cicco aus Pescocostanzo gearbeitet und ist neben S. Bernardino in L'Aquila eine der großartigsten Fassaden in den Abruzzen. Hervorgehoben wird der dem Mittelschiff entsprechende Teil der Schauwand, der im unteren Abschnitt durch gekoppelte dorische Säulen betont ist, denen darüber vier ionische Säulen entsprechen. Die Ecken der Fassade bekrönen steil aufsteigende Pyramiden. Die vertikalen Elemente erhalten ein Gegengewicht durch breite horizontale Gliederungen.
Kaum beachtet ist die Barockkirche SS. Giovanni Evangelista e Battista in Luco dei Marsi (Tf. 184), deren Grundriß ein griechisches Kreuz ist. Die Mitte des Baues bekrönt eine Kuppel, die im Außenbau als Oktogon erscheint und ihr Licht durch acht Rundfenster erhält. Die Kreuzarme besitzen Tonnengewölbe, deren Scheitel in Höhe des Fußrings der Kuppel liegen. Der dem Eingang gegenüber befindliche Kreuzarm wird durch einen kurzen querrechteckigen Chorraum mit Tonnengewölbe verlängert. Durch alle vier Kreuzarme zieht sich ein gleichmäßig vorkragendes Gesims. Darunter sind in den Armen der Längsachse auf beiden Seiten Arkadenöffnungen. Diese führen zu niedrigeren Nebenräumen, welche die Raumabschnitte zwischen den Kreuzarmen ausfüllen. Sie gliedern sich in ein kurzes tonnengewölbtes Querrechteck und einen anschließenden quadratischen Raum, der von einer Flachkuppel überwölbt wird. Die Breite des hoch herausragenden Mittelteils der Fassade entspricht dem Durchmesser der Hauptkuppel und wird durch vor-und rückspringende Eckpilaster und ein sich verkröpfendes Gesims als oberem Abschluß betont. Die niedrigeren Seitenteile der Fassade zeigen elegant gerundete Ecken. Der Dreiteilung der Schauwand entsprechen die drei Portale, von denen das mittlere durch seine Größe und eine stärkere Profilierung hervorgehoben ist. Über jedem der Eingänge befindet sich ein Fenster, wobei sich das mittlere mit seiner Rokokoform besonders schön und wirkungsvoll aus der glatten Mauerfläche heraushebt. Der Bau ist am Hauptportal 1737 datiert.
Der älteste Teil der Kathedrale von Lanciano ist der vom Dom getrennt stehende Campanile. Die Arbeiten daran begannen 1610, Architekt war der Lombarde Tommaso Sotardo aus Mailand. In die vier Ecken des tiefen Fundaments legte man jeweils eine Silbermedaille mit dem Marienbild und der Aufschrift »B. Maria de Ponte«, während die Rückseite die Bezeichnung trug »Anxianum [Lancianol civitas a.D. 1610«. Der Turm besitzt einen quadratischen Grundriß mit einer Seitenlänge von etwa 12 m. Seine Mauern haben eine Dicke von 2 m, und seine Höhe beträgt 37 m. Er ist in drei Geschosse gegliedert, in toskanischer Ordnung unten, in ionischer in der Mitte und zuletzt in korinthischer. Ein viertes Stockwerk in dorischer Ordnung ist nicht vollendet worden.
Der Dom, S. Maria del Ponte, entstand im 18. Jh. nach einem Entwurf des Architekten Eugenio Michitelli aus Teramo. Der Kirche ist ein dreiteiliger, in strengen Formen gebildeter Portikus vorgesetzt, dessen Säulenvorlagen in Kapitellhöhe durch Girlanden verbunden sind, die an den Schmalseiten des Vorbaus weitergeführt werden. Über der Vorhalle liegt eine große Terrasse mit Balustrade. Der einschiffige Innenraum (60 x 14,80 m, Höhe 25 m) ist sehr geschmackvoll gestaltet. Schlanke Säulenvorlagen stützen das umlaufende Gesims, auf dem Transversalbogen ansetzen. Die elliptischen Gewölbe, die vor der höheren Rundkuppel eingezogen sind, wurden von Giacinto Diana aus Pozzuoli 1789 ausgemalt und bilden den qualitätvollsten Schmuck der Kirche. Die Kuppel hatte Diana mit einer Marienkrönung ausgestattet. Am 9. November 1788 wurde das Fresko dem Publikum feierlich enthüllt, doch nach kurzer Zeit bereits bröckelte die Malschicht bis zur völligen Zerstörung des Werkes ab.
Bauten des 19. Jahrhunderts
Daß das 19. Jh. in künstlerischen Belangen kein Stiefkind der Geschichte war, haben die letzten Jahrzehnte bewiesen, in denen man sich in Europa und der ganzen Welt mit den vielfältigen Erscheinungen der bildenden Kunst dieser Zeit auseinandersetzte. Unter diesem Aspekt wird auch die Kunst unserer Region mit neuen Kriterien zu betrachten sein, wobei auf dem Gebiet der Literatur, der Malerei und Plastik originellere Leistungen anzutreffen sind als in der Architektur. Dort tritt die Gestaltung von Kirchenbauten zurück hinter den Staats-und Regierungsbauten, die nach der Einigung Italiens allenthalben entstanden. Durch die Einwirkung des Gedankengutes der französischen Revolution, das besonders im Königreich Neapel wirksam wurde, durch die patriotischen Bewegungen, die ohne allzugroße Rücksicht auf die Kirche die Einigung Italiens anstrebten, und durch die (S. 311) Teilnahmslosigkeit des geemlgten Staates an seinen südlichen Landschaften war der Schwung des religiösen Lebens erlahmt. Zu kirchlichen Neubauten kam es nur ganz selten. Außerdem waren die Architekten in der Baugeschichte so gründlich beschlagen und gebildet, daß der Formenapparat der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit die freie künstlerische Gestaltungskraft überlagerte und hemmte.
Am Ortsrand von Mosciano S. Angelo baute man im 19. Jh. die Kirche Madonna del Rosario und bediente sich dabei überkommener Requisiten. Natürlich errichtete man das Gebäude, wie in der Provinz Teramo üblich, aus Ziegel, und für den Kuppelbau mit rundem Grundriß lassen sich im adriatischen Hügelland leicht Beispiele aus früherer Zeit finden.
Die Tätigkeit der Architekten beschränkte sich meistens auf die Vollendung oder Erweiterung schon vorhandener Kirchen. So erhielt z.B. S. Maria del Suffragio in L'Aquila, an deren Langhaus nach dem Erdbeben von 1703 gearbeitet und deren Fassade 1770 begonnen wurde, erst 1805 die Kuppel mit einer schön ausgestatteten Laterne. Den Entwurf dazu lieferte Giuseppe Valadier (1762-1839) aus Rom. Wie so oft in der Provinz, war der auswärtige Künstler an der Ausführung selbst wohl nicht beteiligt.
Die Arbeiten am Dom von L'Aquila im 19. Jh. waren nur eine Fortsetzung der seit dem Erdbeben von 1703 in Gang gekommenen Wiederherstellungen. Um die Jahrhundertmitte wurde der untere Teil der Fassade nach einem Entwurf des Giovanni Battista Benedetti ausgeführt. In akademischer Manier ist die Front durch den leicht vorgezogenen Mittelteil akzentuiert. Das Hauptportal flankieren an den Seiten je zwei hohe Halbsäulen mit ionischen Kapitellen. Sie tragen ein Gesims, über dem das Giebeldach des Portalwerks liegt. Der obere Teil wurde erst nach dem Erdbeben von 1915 errichtet und mit den unschönen Glockengeschossen über den Seitenpartien der Fassade 1934 fertiggestellt.
Ergänzungsarbeiten wurden an der Kirche S. Maria Maggiore in Caramanico vorgenommen. Die dreischiffige Anlage des 15. Jh. erhielt 1848 eine neue Fassade. Das oft zerstörte Gotteshaus S. Lucia in Magliano de' Marsi erforderte einen Neubau des Campanile. Er wurde zwischen 1871 und 1880 mit einer kegelförmigen Spitze von Tommaso Di Lorenzo (1841-1922) ausgeführt.
Aufwendiger sind die Bauten des Molise im 19. Jahrhundert. Die Kirche SS. Trinita in Campobasso, 1927 zur Kathedrale erhoben, gehörte ursprünglich der Confraternita della Trinita, die im 16. Jh. einige Berühmtheit besaß und sich 1809 auflöste. Durch ein Erdbeben wurde das Gotteshaus 1805 zerstört und der Neubau in klassizistischen Formen 1814 von dem Architekten Bernardino Musenga aus Campobasso begonnen. Die dreischiffige Anlage zeigt im Langhaus acht Stützenpaare, stark anschwellende Marmorsäulen mit ionischen Kapitellen. über einem durchlaufenden Gesims besitzt das mit einer flachen Holzdecke ausgestattete Mittelschiff auf jeder Seite neun große Fenster, die durch schmale Pilastervorlagen voneinander getrennt sind. In die Öffnungen der querhausartig wirkenden Seitenkapellen sind je zwei Säulen von gleicher Größe wie die des Mittelschiffs eingestellt. Dem Langhaus ist ein stattlicher Pronaos mit vier hohen Säulen zwischen Eckpfeilern vorgesetzt. Auf dem durchlaufenden Gebälk über den Kapitellen setzt die Giebelfront an. Die Kirche ist ein Musterbeispiel eines guten klassizistischen Baues.
Für das 19. Jh. aufschlußreich ist der Ort Baranello. Neben der kleinen neoklassizistischen Kirche der Confraternita del Rosario und einem 1896 in Renaissanceformen errichteten Brunnen ist vor allem die Pfarrkirche S. Michele Arcangelo zu nennen. Sie wurde nach dem Erdbeben von 1805 nach den Plänen des Bernardino Musenga, den wir als Baumeister der Kathedrale von Campobasso kennenlernten, 1818 ausgeführt. Ihr Grundriß ist ein lateinisches Kreuz, über der Vierung erhebt sich eine Kuppel. Der eingeschossigen Fassade sind vier große Säulen in toskanischer Ordnung vorgesetzt, während der Baumeister die Stützen im Innern in ionischer Ordnung bildete. Das Erdbeben von 1805 zerstörte auch den alten Dom von Isernia, der unter Bischof Gomez Cardosa zwischen 1826 und 1834 in größeren Dimensionen wiederaufgebaut wurde. Als Ergänzung kam in den Jahren 1837 bis 1851 unter dem nachfolgenden Bischof Gennaro Saladino die Vorhalle mit den vier hohen ionischen Säulen hinzu. Die Kirche ist dreischiffig (41 x 17 m), die Seitenschiffe sind 8 m und das Mittelschiff ist 14 m hoch. Unter dem Hauptaltar sind die Gebeine des hl. Benedikt bestattet, der im 5. Jh. Bischof von Isernia war.
Kirchenportale
Seit dem 13. Jh. kam unsere Region immer mehr in Berührung mit anderen Landschaften. An der Architektur konnten wir verfolgen, wie schwer es fiel, angesichts der von außen eindringenden Neuerungen eigenes Ideengut weiterzuentwickeln, zumal sich die Anzahl eingewanderter Künstler von Jahrhundert zu Jahrhundert mehrte. Den fremden Einflüssen versuchte man zu widerstehen, indem man sich zäh an die eigene Tradition klammerte, und es gibt kaum eine andere italienische Landschaft, die sich so wie die Abruzzen bemühte, ihr selbständig erarbeitetes Formengut lebendig zu erhalten. Diese Eigenheit manifestiert sich außer im Kunstgewerbe sehr eindringlich in der Gestaltung der Kirchenportale. Die sprudelnde Phantasie der Künstler ließ es nicht zur Erstarrung des Formenapparates kommen. Indessen waren die Leistungen nicht ungezügelt. Man arbeitete frei nach Leitbildern, die im Lande selbst geschaffen wurden. Im Gegensatz zu der verhältnismäßig einheitlichen Gestaltungsweise der Räume in unserer Landschaft, lassen sich in der Gestaltung der Portale verschiedene Kunstzentren erkennen, von denen eine ungewöhnliche Ausstrahlung ausging, allen voran diesmal die Stadt Atri. Außerdem tun sich L'Aquila und Sulmona beispielgebend hervor, weiterhin auch Lanciano und Chieti. Der Höhepunkt der Portalkunst liegt im 14. Jahrhundert. Als Künstler sind vorwiegend Abruzzesen überliefert.
In nachmittelalterlicher Zeit erhielt der Kircheneingang eine andere Wertung. Waren früher die Portalwerke akzen (S. 312) tuiert und ein Kunstwerk in sich, so verlieren sie später diese Betonung. Sie werden Teil einer umfassenderen Disposition und fügen sich der Gesamtansicht der Fassade ein. Während der Renaissance und dem Barock mehren sich die fremden Einflüsse, die entweder durch Lehrbücher oder direkt durch die Tätigkeit von außerhalb kommender Bauleute vermittelt wurden. Daß man aber auch in diesen Epochen die frühen abruzzesischen Portale noch hoch einschätzte, zeigen die vielen Restaurierungen. Sodann benutzte man sie bei Umoder Neubauten immer wieder, sei es, daß man sie versetzte, wie z. B. im Fall von S. Maria dei Colle in Pescocostanzo, oder aber daß man sie als Kostbarkeit in den neuen Bau integrierte. Ein schönes Beispiel dafür bietet die Fassade des 16. Jh. in S. Maria della Valle in Scanno. Dort rahmen das Mittelportal des 13. Jh. zwei Seitentüren in den klassischen Formen der Renaissance.
Portale der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und des 14. Jahrhunderts
Die meisten Portale aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. haben sich in der Provinz Chieti erhalten. Die Türanlagen von S. Francesco und von S. Lucia in Lanciano sowie das Portal der 1288 errichteten Kirche S. Agata in Chieti lassen sich zu einer Gruppe zusammenfassen. Charakteristisch sind das abgestufte Portal gewände und die Spitzbogen der Archivolte. Die dekorative Behandlung wird unterdrückt, und zur Geltung kommen die schlichten architektonischen Elemente. Der Portalarchitrav, der in der Kunstübung der Benediktiner eine so große Rolle spielt, bleibt unbetont, d. h. er tritt gar nicht in Erscheinung und bildet mit der Lünette eine einheitliche Fläche. Völlig fehlen Architrav und Lünette in der nur noch als Ruine erhaltenen Kirche S. Martino in Valle in Fara S. Martino.
Portale mit einer Ädikula als Überbau, die unter apulischem Einfluß entstanden und seit geraumer Zeit in den südlichen Abruzzen und vor allem im Molise anzutreffen waren, haben noch am Ende des 13. Jh. ein Nachleben. Jedoch verliert sich die frühere Schwere und Kopflastigkeit der Ädikula, die jetzt eine zartere Behandlungsweise zeigt. Der anfangs kräftig vorspringende Oberbau wird allmählich zu einer flachen Bekrönung des Portals, die sich nur wenig aus der Fassade hervorhebt. Diese Entwicklung zeigen zwei Kirchen in Vasto, S. Giuseppe und S. Pietro, sowie das Portal von SS. Pietro e Paolo in Alfedena. Die Türgestaltung von S. Pietro in Vasto macht deutlich, wie gewisse Elemente des Südportals von S. Maria Maggiore in Lanciano weiterleben, z.B. der Knick des Giebelanstiegs in die Horizontale oder die äußeren kannelierten Pilaster des Gewändes. Andrerseits treten an dem Portalwerk echt abruzzesische Reminiszenzen auf, wie die Reihung von Steinen im Diamantschnitt im äußeren Bogen der Archivolte und weiterhin das abgetreppte Gewände mit eingestellten Säulen. Diese bieten die Möglichkeit, ein Repertorium verschiedener Bildungen des Schafts vorzuführen, als Spirale z.B. oder als gebrochener Stab. Ähnliche Motive zeigen auch das Portal an SS. Pietro e Paolo in Alfedena oder am Dom von Penne die zu einem Seitenraum an der rechten Langhausseite führende Tür. Hier sind die äußeren Stützen, die die Archivolte tragen, unten spiralförmig gewunden, in der Mitte zeigen sie einen kannelierten Abschnitt, und oben enden sie wieder spiralförmig. Dieses Spiel mit dem Säulenschaft wird im 14. Jh. mit viel Freude und Phantasie fortgesetzt.
Das Portal an der Kathedrale S. Giuseppe in Vasto (Tf. 188) zeigt in der Rahmung apulische Einflüsse, während die dekorative Gestaltung abruzzesisch ist. Dabei ist die Konstruktion nachlässig und bringt die stützenden und lastenden Teile in keine sinngerechte Verbindung. Wichtig ist das Portal wegen seiner Inschrift auf einem Stein in der Lünette. Daraus geht hervor, daß es von einem Magister Rogerius de Fragenis hergestellt wurde. Der Name de Fragenis ist von dem Flurnamen Fraine bei Vasto abzuleiten und ist noch im 16. Jh. als Familienname in Vasto zu belegen.
In der zweiten Hälfte des 13. Jh.lernten die Abruzzesen in ihrem Land bisher nie gesehene Portallösungen kennen, Einzelgänger, die kaum eine Nachfolge erfuhren. So ist z.B. die Tätigkeit französischer Künstler in den Abruzzen im letzten Viertel des Jahrhunderts von höchstem kunsthistorischem Interesse. Wir sind in der Lage, einige Portale nachweisen zu können, die man im Lauf der Zeit aus den Ruinen der von Karl I. Anjou gebauten Kirche S. Maria della Vittoria bei Scurcola holte und als Versatzstücke an anderen Bauten anbrachte. An der höchsten Erhebung des Ortes Scurcola befindet sich eine um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wiederhergestellte Marienkirche, deren Seitentür von S. Maria della Vittoria stammt. Diesem zweifach abgetreppten Portal fehlt die übliche abruzzesische dekorative Ausarbeitung, es zeigt allein konstruktive Elemente. Die grazilen, in das Gewände eingestellten Säulen stehen auf hohen Basen und enden in Kapitellen mit einer doppelten Knospenreihe. Ober den Deckplatten steigen die Spitzbogen der Archivolte auf. Bemerkenswert ist das Fehlen eines Architravs. Das Lünettenfeld setzt direkt auf kleinen Konsolen auf und wird von einem großen Dreipaßbogen ausgefüllt; in diesem sitzt ein kunstvoll gebildetes Kreuz, dessen Arme in Lilienblüten enden. Gleiche Maße und gleiche Details weist ein anderes Portal aus S. Maria della Vittoria auf, das 1518 in die Kirche S. Antonio gekommen ist. Diese liegt, wenn man von Tagliacozzo kommt, am Anfang von Scurcola rechts an der Valeria. Der Einfluß, den die Formen dieser Portale auf andere in den Abruzzen ausübten, kann am linken Seitenportal von S. Lucia in Magliano de' Marsi nachgewiesen werden.
Außerabruzzesische Stileinflüsse begegnen auch am Portal von S. Orante in Ortucchio. Die Kirche ist bereits im 12. Jh. bekannt und war zunächst der Maria geweiht. Heute heißt sie nach dem Mönch Orante, der um 1400 aus Kalabrien nach Ortucchio kam und hier Wundertaten vollbrachte. Der Bau wurde mit seinen berühmten Fresken des 15. Jh. am 13. Januar 1915 durch Erdbeben weitgehend zerstört. Das abgetreppte Portalgewände zeigt zwei sehr eng aneinandergerückte kräftige Säulen. Die Kapitelle der vorderen Stützen bilden liegende Löwen, während die rückwärtigen Kapitelle eine kubische Grundform zeigen, die mit Blüten und Blättern (S. 313) und einem Adler verziert ist. Sizilianische Einflüsse verrät der merkwürdig geformte, leicht zugespitzte Entlastungsbogen, der von den erwähnten vier Kapitellen getragen wird. Er besteht aus 23 Keilsteinen, die die eigentümliche Form von Polstern zeigen, und die in Palermo bereits im 12. Jh. zu belegen sind.
Die Form des Seitenportals von S. Francesco in Sulmona (Tf. 186) ist für die Abruzzen völlig ungewöhnlich. Der unbekannte Künstler arbeitet mit perspektivischen Mitteln. Das Portal mit einem besonders tiefen, im Winkel von 450 abgeschrägten Gewände springt kräftig aus der Flucht der Kirchenwand hervor. Die sonst in den Abruzzen beliebten Schmuckformen sind hier auf ein Minimum reduziert, der Künstler bedient sich bei der Gestaltung allein architektonischer Bauglieder, die er in bewußt monotoner Reihung verwendet. Das Gewände zeigt auf jeder Seite sechs eingestellte Säulen. Die Ecken der Abtreppung sind gerundet, um mit dieser Angleichung an die runden Stützen die perspektivische Wirkung des Portal werks zu steigern. Dieses Anpassen der Einzelformen an die Gestaltungsidee der gesamten Anlage fällt auch in der Kapitellzone auf und besonders in den einfachen konzentrischen Bogen der Archivolte. Die perspektivische Wirkung dieser Konstruktion entfaltet sich nur, wenn der Betrachter sie in allen seinen Teilen überschauen kann. Da das Gelände jedoch vor dem Portal ansteigt, war der Künstler gezwungen, die Sockelzone der Anlage außerordentlich hoch zu gestalten, damit sich das Schauspiel der Verkürzungen dem Auge uneingeschränkt darbieten kann. Wir wissen, daß S. Francesco von Lombarden bevorzugt wurde, die in der Kirche eine eigene Kapelle unterhielten. Damit erhält die Annahme, daß lombardische Künstler Einfluß auf den Bau hatten, eine zusätzliche Stütze.
Das Molise steht in dieser Zeit weit hinter den abruzzesischen Leistungen zurück. Fast unbeachtet blieb bisher das schlichte abgetreppte und spitzbogige Portal der Kirche S. Maria di Faifula bei Montagono, dessen Inschrift nie publiziert wurde. In ihr werden ein Magister Bonus und das Baudatum 1278 genannt. Die Kirche, in der der spätere Papst Coelestin V. sein Profeßgelübde ablegte, wurde 1805 zur Ruine und später notdürftig restauriert.
Um die Wende des 13. Jh. zum 14. Jh. entstehen die Portale des Domes von Atri und gewinnen größte Bedeutung. Der Meister des mittleren und östlichen Eingangs an der Südseite ist Raimondo di Poggio. Das in einfachen Formen gehaltene Mittelportal ist 1288 datiert (Tf. 190). Es ist breit und öffnet sich zwischen zwei Lisenen der Langhauswand, die als Gewände dienen. In dem inneren Bogenlauf der Archivolte vetwendet Raimondo musivische und geometrische Muster, deren Vorbilder in Rom oder Kampanien zu finden sind. Ein beliebtes Schmuckmotiv am Dom von Atri, das rasch Verbreitung fand, ist die Reihung kleiner Schmucksteine, die in der Art von Diamanten zugeschnitten sind, wobei die Schnittflächen die Form eines Blattes zeigen. In der Lünette befinden sich Reste vetwitterter Fresken, die die thronende Maria zwischen Heiligen und Engeln darstellen. über dem Scheitel der Archivolte erscheint das Kreuzeslamm in einer kreisförmigen profilierten Rahmung. In den Ecken des umschriebenen Quadrats sitzen kräftig ausgebildete Lilien, die sicherlich auf die Herrschaft des Hauses Anjou anspielen. Zwei Löwen in Höhe des Archivoltenscheitels zu Seiten der das Portal rahmenden Lisenen haben nur dekorative Bedeutung. Das Portal wird oben von einem merkwürdig gebildeten Ornamentband abgeschlossen, das die Form eines dreieckigen Giebeldachs andeutet und sich in der Spitze zu einem Kreis verschlingt, der als Bekrönung das Kreuzeszeichen trägt. Dieses Motiv kehrt in reicherer Abwandlung an dem Portal von 1302 wieder.
Es ist ein seltener und glücklicher Fall in den Abruzzen, daß datierte Werke eines Künstlers aus verschiedenen Schaffensperioden überliefert und außerdem noch an einem Ort vereint sind. An dem östlichen Portal Raimondos (Tf. 193) von 1302. ist die Dekoration viel reicher als an dem mittleren. Neu ist eine einem Farnkraut ähnelnde Schmuckform, die an den Kapitellen und vor allem am inneren Bogen der Archivolte auftritt. Die Bauhütte von Atri hatte ein langes Nachleben, und gleichsam als ihre Devise finden wir dieses Motiv immer wieder. Auch die kleinen diamantförmig gebildeten Schmucksteine kommen an diesem Portal vor. Sodann haben die Löwen des älteren Tütwerks hier eine Funktion erhalten und tragen den äußeren Bogen der Archivolte. Das von einem Profilband gebildete dreieckige Giebelfeld darüber ist, wie gesagt, eine Weiterbildung der Bekrönung des früheren Portals. Das Band steigt außen am Ansatz der Archivolte senkrecht auf und verschlingt sich am Anstieg des Scheingiebels links und rechts zu einem kleinen Kreis sowie in der Spitze zu einem größeren Rund, worin ein Kreuzeslamm steht. Diese spielerische Behandlung des Motivs ohne jeden architektonischen Sinngehalt wird später am Portal der Kirche S. Francesco in Citta S. Angelo wiederholt. Das Lünettenfeld des Portals von 1302 in Atri schmückt ein Fresko, das die Madonna mit dem Kind zwischen den Aposteln Petrus und Paulus zeigt.
Das nach Westen gelegene Portal des südlichen Langhauses (Tf. 191) wird als Porta Santa bezeichnet und nur einmal im Jahr am 15. August, dem Tage der Himmelfahrt Mariens, geöffnet. Es ist das Werk des Rainaldo, Bürger von Atri, und laut Inschrift 1305 entstanden. Das Schema ist den Werken des Vorgängers Raimondo entnommen, wobei die Ausführung jedoch einiges von dessen künstlerischer Kraft entbehrt. Der äußere Bogen der Archivolte und das dreieckige Giebelfeld, das in eigentümlicher Weise dasjenige des östlichen Portals von 1302 abwandelt, setzen auf kräftigen rechteckigen Kapitellen an, die gleichsam in der Luft hängen, da ihnen keine Stützen entsprechen. Ein qualitätvolles Fresko mit der Krönung Mariens füllt die Lünette.
Das etwas später als die besprochenen Türen entstandene Hauptportal an der Westfassade (Tf. 192), das einzelne Formen von diesen übernimmt, ist aus stilistischen Gründen dem Rainaldo zuzuschreiben. Dieser verwandte besondere Sorgfalt auf die in das abgetreppte Gewände eingestellten Halbsäulen, die die verschiedensten Formen des gedrehten Seiles zeigen.
(S. 314)Abwandlungen der Domportale von Atri begegnet man ausschließlich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Unter Anwendung der dort entwickelten Konstruktions-und Schmuckformen kam man zu immer neuen Lösungen. Zunächst fanden die Portalmeister des Domes eine Nachfolge in Atri selbst, festzustellen am Eingang von S. Andrea und noch deutlicher am Portal von S. Domenico. Bei diesem ging man mit neuen Einfällen ans Werk. Der Architrav, der an den Domportalen unbearbeitet blieb, zeigt hier Pflanzenmuster und in der Mitte das Kreuzeslamm. Im Ansatz des äußeren Bogens der Archivolte erscheinen links und rechts zwei lebensnah dargestellte Bischofsköpfe.
Die Gestaltung der Porta Santa in S. Maria di Propezzano bei Morro d'Oro, eine Weiterbildung des Domportals von 1302 in Atri, verdient einige Aufmerksamkeit. Abgesehen davon, daß das Portal in Atri breiter ist, finden wir hier wie dort die gleichen Einzelformen, den hohen Sockel, auf dem die abgestufte Wandung ansetzt, den unbearbeiteten Architrav und die vier konzentrischen Bogenläufe der Archivolte. Die Übereinstimmung in der Dekoration geht so weit, daß die gleiche Werkstatt oder sogar derselbe Künstler anzunehmen ist.
Die moderne Eingangsfassade von S. Maria in Colromano bei Penne bewahrt das alte prachtvolle Portal, das stilistische Zusammenhänge mit der Tür von S. Maria di Propezzano erkennen läßt. In dem abgestuften Gewände zeigen die beiden eingestellten Säulen als Schaft rechts eine regelmäßige Spirale und links den gebrochenen Stab. Von guter Qualität sind zwei aus der Wand vorkragende liegende Löwen am Ansatz des äußeren Bogens der Archivolte. Hervorragend gearbeitete Kapitelle tragen den glatten Architrav und die reich dekorierte Archivolte. In der Lünette befindet sich die Skulptur einer sitzenden Madonna mit Kind.
In S. Maria a Mare in Giulianova (Tf. 194) wurden die Konstruktionsweise und auch Einzelformen vom 1302 datierten Domportal in Atri übernommen. Genau wiederholt wird die kreisförmige Verschlingung des Profilbandes in der dreieckigen Giebelrahmung. Die Bogen der Archivolte sind allerdings gedrückter als in Atri, so daß das Lünettenfeld keinen Halbkreis sondern nur einen Segmentbogen bildet, ähnlich wie in S. Maria in Colromano. Ebenso wie dort befindet sich über der Mitte des unbearbeiteten Architravs die Statue einer Sitzmadonna mit Kind. Ikonographisch neu sind die 18 Reliefs mit Kassettenrahmung in der Laibung eines Bogenlaufs der Archivolte. Obszöne Darstellungen wechseln mit Menschenköpfen, Szenen des täglichen Lebens, Ornamenten, Tieren usw. Dieses Portal gehört zu den schönsten und eigenartigsten des 14. Jh. in den Abruzzen.
Die Stadt Citta S. Angelo wurde baulich öfter gut von Atri beraten. Der Einfluß der Domportale kann hier gleich an zwei Kirchen festgestellt werden, an S. Francesco und an
S. Michele. Der dreieckige Portalgiebel von S. Francesco setzt die Kenntnis des Portals von 1302 und des Fassadenportals am Dom von Atri voraus. Von S. Domenico in Atri übernahm man die Anbringung zweier Köpfe in der Archivolte, die hier am Ansatz des inneren Bogenlaufes sitzen.
Das Mittelportal am südlichen Langhaus von S. Michele ist 1326 datiert. Es wird von einem Dreieckgiebel bekrönt, der von je zwei übereinandergestellten Säulen, welche durch vorkragende Löwen voneinander abgesetzt sind, getragen wird. Die in das abgestufte Gewände eingestellten Säulen und die Archivolte mit ihren konzentrischen Spitzbogen, im Gegensatz zu den Rundbogen in Atri, zeigen den ganzen Reichtum des abruzzesischen Formenapparates. Die Bogen der Archivolte setzen nicht direkt auf den Kapitellen des Gewändes an, sondern dazwischen schiebt sich eine abgetreppte Gebälkzone, deren Höhe derjenigen des unverzierten Architravs entspricht. Dieses Zwischenstück zeigt auf beiden Seiten vier flache Reliefdarstellungen, deren Deutung der Forschung einige Schwierigkeiten bereitet hat. Es handelt sich um je vier geflügelte Gestalten, von denen jeweils die beiden inneren die Evangelistensymbole repräsentieren. Diese oberflächlich behandelten Figuren erreichen nicht die plastische und saftige Fülle der übrigen Formen des Portalwerks und sind wohl einem anderen Meister zuzuordnen. Über der Mitte des Architravs erhebt sich die Statue des . Erzengels Michael in Ritterrüstung als Bekämpfer des höllischen Drachens, und über ihm im Giebelfeld befindet sich das Kreuz Christi, während über der Giebelspitze das Lamm Gottes erscheint.
Ein letzter Nachfahr des Portalbaus von Atri findet sich an S. Francesco in Loreto Aprutino. Am dortigen Portal werden hinreichend bekannte Requisiten wiederholt, aber die Einzelformen, besonders am Giebel, sind eingetrocknet und zeigen keinen Einfallsreichtum.
In L'Aquila waren die Aufträge für Portale zahlreicher als in Atri. Die Bestellungen konzentrierten sich auf die erste Hälfte des 14. Jh. mit der Folge, daß es, ähnlich wie im Kirchenbau, zu einer Normung kam, wobei man natürlich bei schlichteren Kirchen einfacher verfuhr als bei den aufwendigeren. Die Qualität der Ausführung und die künstlerische Phantasie erlangten nicht den Grad der Werke eines Raimondo di Poggio. Spröder im Dekor als in Atri, griff man auf Ornamente zurück, die vor allem im Marserland im 13. Jh. bereits weite Verbreitung gefunden hatten. Man bevorzugte den alten romanischen Rundbogen, der Spitzbogen an Portalen gehört zu den Ausnahmen. Die Standardlösungen L'Aquilas im Trecento hatten im Quattrocento in der Provinz ein reiches Nachleben.
Zu den Merkmalen des aquilanischen Portal baus gehört z.B. die Bildung des Architravs, der im Gegensatz zu Gepflogenheiten in Atri, wo er von Kapitellen gestützt wird, auf Konsolen ruht, die aus der obersten Steinlage des bündig mit der Fassade abschließenden Türpfostens seitlich vorspringen. Bei kleineren Kirchen bleibt die Stufung des Portals stets die gleiche, und zwar zeigt sie eine Abtreppung nach innen mit einer eingestellten Säule, während ein vorgelegtes Säulenpaar die seitliche Rahmung bildet. Über einer Kapitellzone folgt die Archivolte, deren Gliederung den vertikalen Elementen des Aufbaus entspricht.
Die Portalgiebel von Atri bleiben in L'Aquila unbekannt. Nur in einem Einzelfall ist dort die Tätigkeit der Bauhütte (S. 315) von Atri festzustellen, und zwar folgt an der Seitentür von S. Maria di Paganica die Gestaltung des Architravs der in Atri gepflegten Kunstübung, indem er auf Kapitellen an statt auf Konsolen aufsetzt. Am 1308 datietten Hauptportal (Tf. 195) derselben Kirche bediente man sich jedoch wieder des aquilanischen Schemas. An beiden Portalen werden die typischen Schmuckformen von Atri oder von S. Maria di Propezzano übernommen. Am Hauptportal stellte man, wie in S. Maria in Colromano oder in S. Maria a Mare in Giulianova, in der Lünette die von der neapolitanischen Grabskulptur beeinflußte Statue einer Madonna mit Kind auf. Im Gegensatz zu Atri und seiner Schule, die, mit Ausnahme von S. Domenico in Atri, den Architrav als glatte unbearbeitete Fläche vorführt, wird er an beiden Portalen von S. Maria di Paganica dekoriert, an der Seitentür mit einem Wellenband und am Hauptportal mit sieben Reliefs. Diese zeigen von links nach rechts die auf der unteren Leiste inschriftlich bezeichneten Brustbilder von Bartholomäus, Andreas und Petrus, in der Mitte erscheint der segnende Christus, dann folgen ]ohannes, Paulus und ]akobus.
Innerhalb der Gruppe schlichter Portale ist nur der Eingang von S.Antonio 1308 datiert. Die hölzernen Türflügel gehören ebenfalls in diese Zeit. Den Aufbau von S. Antonio wiederholen die Portale von S. Nicola d'Ansa, S. Maria di Roio sowie die Seiteneingänge von S. Giusta und von S. Silvestro. Anstelle der üblichen Rundbogen kommen gelegentlich Spitzbogen vor, am Seitenportal von S. Marco sehr gedrückt, steiler aufsteigend an den beiden Portalen von S. Domenico. Das rechte zeigt dort die übliche Struktur, jedoch ist die Gestaltung der Einzelformen abgewandelt. Die üblicherweise glatten Schäfte der eingestellten Säulen weisen Grätenmuster auf, während der Wandabschnitt zwischen der Abtreppung und den dem Portal vorgelegten Säulen sowie der ihm entsprechende Bogen der Archivolte mit kassettenartigen quadratischen Feldern verziert sind.
Unter Verwendung pflanzlicher und figürlicher Formen kommt die Freude am Dekorieren immer wieder andersartig und ideenreich zum Ausdruck. So ist z. B. das Portal von S. Marciano hervorzuheben. Dort erscheinen in den Kapitellen der linken Seite Evangelistensymbole, während rechts ein Reiter und sitzende Gestalten zu erkennen sind. In der Mitte des mit einem Rankenmuster verzierten Architravs ist das Gotteslamm dargestellt. Der Querbalken des Seitenportals von S. Marco zeigt einen Relieffries. Links außen ist der Engel als Symbol des Evangelisten Matthäus zu sehen, darauf folgen der Lukasstier und ]ohannes der Täufer. Die Mitte nimmt, nahezu vollplastisch gebildet, das Gotteslamm ein, daran reihen sich rechts der Johannesadler, der hl. Antonius sowie ein Wappen schild mit dem Markuslöwen. Die einzelnen Figuren werden durch Palmen voneinander getrennt. Die Gliederung der hier besprochenen schlichten Portale übernimmt in der aquilanischen Provinz im 14. Jh. S. Francesco in Fontecchio.
Ein Beispiel für die aufwendigere Portalgestaltung in L' Aquila bietet der Haupteingang an der Fassade von S. Giusta (Tf. 196) aus dem Jahre 1349. Die Grunddisposition bleibt im Vergleich zur eben beschriebenen Gruppe unverändert. Neu ist die Vertiefung des Portalgewändes, anstelle einer Säule werden auf jeder Seite drei Stützen eingestellt. Auch die Bogenläufe der Archivolte erfahren eine andere Behandlung. Die konzentrischen Rundungen sind aus flachen Bändern gebildet, indessen finden die vertikalen Elemente des Gewändes in der Wölbung keine Entsprechung mehr. Außerdem haben sich die Proportionen geändert. Das erweiterte Gewände brachte eine höhere Archivolte mit sich. Die Gestaltung dieses Portals mit der Beschränkung auf architektonische Gliederung und dem Verzicht auf wuchernden Dekor verbindet es mit den französischen Portalen von S. Maria della Vittoria bei Scurcola und dem Seiteneingang von S. Francesco in Sulmona.
Die Formen des Hauptportals von S. Giusta übernehmen das Hauptportal von S. Marco sowie der ungefähr gleichzeitig mit dem von S. Giusta entstandene Haupteingang von S. Silvestro. Beachtenswert ist in dessen Lünette das Relief eines Agnus Dei, von Weinranken umgeben und von einem Dreipaßbogen eingerahmt.
Die Porta Santa von S. Maria di Collemaggio tradiert die Konstruktionsweise der Hauptportale von S. Marco und S. Silvestro. Die Tür befindet sich ungefähr in der Mitte der linken Langhauswand. Ihr Gewände ist dreifach abgestuft mit eingestellten Säulen. Diesen vertikalen Elementen entspricht die Gliederung der Archivolte. Über dem Scheitel des äußeren Bogenlaufes steht ein feingearbeiteter Adler, das Wahrzeichen der Stadt L'Aquila. Das Portalwerk fällt durch seinen klaren Aufbau auf und unterscheidet sich in seiner vornehmen Zurückhaltung von den anderen Portalen der Fassade. Wir können das ungefähre Entstehungsdatum der Porta Santa aus dem Testament des Simon de Lucullo von 1397 erschließen, der Anweisungen für die Ausführung des Lünettenschmucks gab, der noch erhalten ist.
In Teramo und seinem Umland entstanden im zweiten Viertel des 14. Jh. erwähnenswerte Türanlagen. Der Anstoß ging von S. Francesco in Teramo aus, wo der Eingang gleichzeitig mit der Kirche 1327 errichtet wurde. Das Portalgewände erscheint wohl ausgewogen mit seinen Abtreppungen und den eingestellten Säulen, deren Schäfte Spiral-und Fischgrätenmuster zeigen. Der Architrav ist unbearbeitet, und die auf einer hohen Sockel zone ansetzende Vertikalgliederung findet eine Entsprechung in den Rundbogen der Archivolte. Die gleiche Struktur und die gleichen Schmuckformen zeigen das Portal von S. Francesco in Campli und, in etwas bescheidenerer Durchführung, das von S. Antonio in Morro d'Oro.
Das wichtigste und schönste Portal von Teramo ist an der Domfassade (Tf. 204) zu sehen, gearbeitet unter Bischof Arcioni aus Rom, der den Portalkünstler Deodatus aus der Ewigen Stadt mitbrachte. Der Meister verewigte seinen Namen auf dem Architrav und dem Steinfries darüber in goldenen Lettern auf rotem Grund: »Magister Deodatus de Urbe fecit hoc opus A.D. 1332«. In der Höhe der Inschrift sind drei Wappen angebracht, links das Wappen von Teramo, dann folgt dasjenige des Bischofs Arcioni und weiterhin, in (S. 316) einer seltenen Geste der Verbundenheit, das Wappen der Stadt Atri.
Daß ein außerabruzzesischer Meister hier am Werk war, wird sofort offenkundig. Das Portal mit seinem dreifach abgetreppten Gewände zeigt eine gotische Giebelbekrönung, für welche der Römer Deodato Vorbilder bei Arnolfo di Cambio oder in Orvieto, Siena oder Florenz finden konnte, und die in den Abruzzen als durchschlagende Neuerung wirkte. Man vergleiche etwa die sonstigen zaghaften Anfänge der gotisierenden Portalgiebel, mit denen man sich in der ersten Jahrhunderthälfte längs der adriatischen Küste in Atri, Chieti, Ortona und Lanciano versuchte. Dem Werk des Deodatus steht in den Abruzzen das Portal von S. Agostino in Sulmona vom Jahre 131 S am nächsten, doch zeigt es gedrungenere Proportionen und eine provinziellere Durchführung. Römischen Gewohnheiten der Cosmaten folgend, die im abruzzesischen Kanzelbau schon mehrere Generationen früher nachzuweisen sind, brachte Deodatus hier am Domportal in Teramo musivische Einlagen im Gewände und in den Bogenläufen der Archivolte an. Abgesehen von den Neuerungen besteht dennoch ein deutlicher Zusammenhang mit der allgemeinen abruzzesischen Entwicklung, wie ein Vergleich mit Portalen des 14. Jh. in L'Aquila und mit dem Portal von S.Francesco (1327) in Teramo zeigt. In der Spitze des Giebels und zu beiden Seiten seines Ansatzes erscheinen Ädikulen mit Heiligenfiguren, wobei rechts der hl. Berardus von Teramo dargestellt ist; diese Statuen sowie der Adler als Giebelbekrönung gehören dem 14. Jh. an. Im IS.Jh. hingegen arbeitete ein Künstler, der wahrscheinlich nicht einheimisch ist, die sehr schöne Verkündigungsgruppe, die auf den Kapitellen des Säulenpaares steht, welches dem Portal als seitliche Rahmung vorgelegt ist.
Mit Ausnahme der Datierung 1338 ist das etwas plumpe Portal von S. Pietro in Castelbasso, einem Ortsteil von Castellato, von geringem Interesse und zeigt kaum Beziehungen zu anderen Werken in der Provinz. Der äußere Bogenlauf der Archivolte ruht auf dem Kopf einer Frau und auf einem Adler mit einer Schlange. Darunter erscheinen weit vorkragende, wohlgenährte Löwen.
In der Provinz Chieti liegen im 14. Jh. die Schwerpunkte des Portalbaus in Ortona und in Lanciano. Mit Ausnahme des Portals der Hauptfassade von S. Tommaso in Ortona zeigen die übrigen hier zu erwähnenden Türwerke den Portalgiebel, dessen Aufbau im Verbund mit der Vertikalgliederung des Gewändes steht. Ähnliche Anlagen begegnen bereits im 12. und 13. Jh. im Molise und in den südlichen Abruzzen. Trotz hervorragender konstruktiver Leistungen bleibt der Portalbau hinsichtlich der dekorativen Behandlung in dieser Provinz recht konservativ. Wieweit man mit überkommenen Mitteln arbeitete, zeigt der Eingang von
S. Agata in Fara Filiorum Petri. Dort fallen die Giebelschrägen nicht geradlinig ab, sondern knicken an ihren Enden, dem Beispiel des Südportals von S.Maria Maggiore in Lanciano folgend, in die Horizontale um. Das Palmettenmuster in der Laibung der spitzbogigen Archivolte ist ein altes abruzzesisches Schmuckmotiv, und das Diamantschnittmuster als seitliche Rahmung des Tympanons war schon am Portal von S. Pietro in Vasto, etwa 1293 entstanden, zu beobachten. Wegen Baufälligkeit der Kirche S. Agata wurde das Portal entfernt und in ein Haus neben der Pfarrkirche von Fara Filiorum Petri eingemauert. Mit S. Pietro in Vasto ist auch das rundbogige Portal von S. Nicola in Manoppello verwandt. Die Vertikalgliederung setzt hier ebenfalls über einer hohen Sockelzone an, die Gewändesäulen werden in der Mitte durch einen Schaftring geteilt, und wir finden an ihnen das Grätenmuster sowie den gebrochenen Stab wieder.
Von bester Ausführung ist das Pottal der Hauptfassade von S. T ommaso in Ortona, wirkungsvoll durch den Gegensatz zwischen dem undekorierten vertikalen Gliederwerk des dreifach gestuften Gewändes und den fünf reich verzierten konzentrischen und zugespitzten Bogenläufen der Archivolte. Der äußerste Bogen zeigt das romanische Wellenband mit eingelegten Blüten, der folgende das Muster des gedrehten Taus, der dritte ein Palmettenband, der nächste ein Grätenmuster und der letzte wiederum ein Palmetten band, das bereits in S. Clemente a Casauria zu sehen war.
Kurz nach Vollendung dieses Portals errichtete man am Langhaus der Kirche ein anderes, das durch Bombardierung im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Für seinen Wiederaufbau konnte man sich nur weniger originaler Teile bedienen, so daß sein heutiges Aussehen kaum etwas von seinem ursprünglichen Zustand wiedergibt. Jedoch existieren Photographien (Tf. 189) vom ehemaligen Befund. Nach der noch am Ende des vorigen Jahrhunderts erhaltenen Architravinschrift führte der Magister Nicolaus Mancino aus Ortona das Türwerk im Jahr 1312 aus. Auffallend ist die reiche Dekorierung des Gewändes und der Bogenlaibungen der Archivolte. Allein der von antikisierenden Atlantenfiguren gestützte Architrav ist frei von Ornamenten. Die bereits am Portal von S. Pietro in Vasto auftretende Teilung der Säulenschäfte durch Wirtel wird in Ortona sogar durch zwei steinerne Ringe vorgenommen, so daß jeder Schaft aus drei gleichhohen Abschnitten besteht. Unten erscheinen neben der Spiralform der gebrochene Stab und das Grätenmuster. Ein dünnes Netzwerk aus verschiedenen pflanzlichen Ornamenten überzieht den obersten Teil der Schäfte. Je vier Säulen im Gewände sind funktionslos und haben in der Archivolte keine Entsprechung. Auf diese Weise entstehen zwischen den zugespitzten Bogenläufen der Archivolte breite Bänder, die Mancino mit zarten Reliefs ausfüllt. Das äußere Band zeigt eine Reihung von Halbfiguren, im folgenden bestürmen Krieger eine Burg, die im Bogenscheitel dargestellt ist, im nächsten Streifen erscheint das Wellenband, in das auf dem Felde arbeitende Menschen eingefügt sind, und das innere Band ist mit Engeln und Blüten geschmückt. Im Tympanon erscheint in einer Ädikula, die oben von einem Dreipaßbogen abgeschlossen wird, die Skulpturengruppe einer thronenden Madonna mit Kind zwischen zwei stehenden Heiligen.
Magister Nicolaus Mancino nennt sich noch einmal 1321 (S. 317) auf dem Architrav des Portals von S. Maria della Civitella in Chieti (Tf. 187). In verhalteneren Formen wiederholt er die Gliederung und den Dekor von seinem Portal in Ortona. Seine Schule wirkte noch Jahrzehnte nach. Eine Replik von S. Maria della Civitella ist das 1375 entstandene und schlecht erhaltene Portal von S. Antonio in Chieti. Auf dem Architrav sind der Auftraggeber sowie der Ausführende, ein Magister Petrus Angelus, genannt. Die Schule des Mancino läßt sich bis nach Guardiagrele verfolgen. Dort erscheint die für ihn typische Portalgliederung an S. Francesco wieder. Nur wurden die zugespitzten Bogenläufe der Archivolte in Rundbogen abgewandelt.
Eines der prächtigsten Portalwerke des 14. Jh. in den Abruzzen zeigt die Kirche S. Maria Maggiore in Lanciano (Tf. 200). Der erste große Eingriff in das Raumgefüge des nach 1227 entstandenen Baues geschah etwa neunzig Jahre später. Das großartige abschließende Oktogon des 13. Jh. wurde zum Vestibül, indem man die Abschlußwand des Altbaus durchbrach und in der Breite des Mittelschiffs das virtuose Portal mit der Freitreppe anbrachte. Der neue Zugang liegt an der tiefsten Stelle des die Kirche umgebenden Terrains und ist dem volkreichsten Teil der Stadt zugewandt. Das Mauetwerk des Altbaus blieb teilweise erhalten, vor allem die beiden Widerlager, die im Osten dem Schub des Oktogons entgegenstehen, und zwischen denen man das neue Portal einfügte, wobei sie nach Anbringung von Kapitellen als seitliche Begrenzung des Portals fungieren. Aus der Zeit des Altbaus stammt wahrscheinlich die Anlage der beiden Fenster zu Seiten der Tür und der Rose darüber, wohingegen die reiche Ausgestaltung dieser Öffnungen erst zusammen mit dem Portal entstand. Dieses ist laut Inschrift in der Lünette das Werk des Francesco Petrini aus Lanciano und 1317 datiert. Im Vergleich zu den vielen Portalen des 14. Jh. in den Abruzzen, etwa zu denen in L'Aquila, die immer den gleichen Typ wiederholen, und deren Formen karg und erstarrt erscheinen, ist das Portal von Lanciano kraftvoll in seiner Struktur und überreich an dekorativen Einfällen. Jede Säule des abgestuften Gewändes ist anders gebildet; es treten auf das Fischgrätenmuster, die Spirale, der gebrochene Stab. Darüber hinaus werden diese Muster noch einmal innerhalb eines durch zwei Wirtel gegliederten Schaftes variiert. In der Lünette ist die sehr beschädigte Figurengruppe des gekreuzigten Christus mit Maria, Johannes und einem krönenden Engel zu sehen. Die Fensterrose zeigt in ihrer Gestaltung eine Eigentümlichkeit, die wir im Umland von Lanciano noch häufiger beobachten können. Der äußere Schmuckstreifen um das Fenster ist nicht zum Kreis geschlossen, sondern er bildet nur ein oberes Halbrund, das an beiden Seiten von zwei Säulchen, die auf figürlich gebildeten Konsolen stehen, gestützt wird. Als weitere Beispiele für diese Dekorationsform sind anzuführen das Rundfenster von S. Agostino in Landano und dasjenige von S. Leudo in Atessa sowie die heute zerstörte Rose des Domes von Guardialfiera im Molise.
In vereinfachter Gestaltung erscheint eine Nachbildung des Petriniportals nochmals in Lanciano, an S. Agostino. Eine noch genauere Wiederholung stellt das 1319 entstandene Portal der Kathedrale von Larino dar (Tf. 201). Sogar die Statuen in der Lünette mit dem an einem Gabelkreuz hängenden Christus sowie Maria und Johannes zu seinen Seiten werden kopiert, ein interessantes Beispiel für das Replikenwesen in der mittelalterlichen Skulptur. Der Einfluß des Petriniportals am Dom von Larino ist an anderen Kirchen im Molise wiederzufinden, z.B. an S. Emidio in Agnone oder an der Tür von S. Giuliano di Puglia, eine der schönsten im Molise.
Bei einigen Türwerken ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schule schwer zu erkennen. Dazu gehört z. B. das Portal von S. Leucio in Atessa. Freilich gibt es auch hier Einzelformen, aus denen durchaus die Mundart des Umlandes spricht, wie die durch Wirtel geteilten Säulenschäfte. Ähnlich wie am Seiteneingang von S. Tommaso in Ortona, finden die eingestellten Säulen des Gewändes in der Archivolte keine Entsprechung, so daß zwischen den einzelnen spitzzulaufenden Bogen breite Bänder entstehen, die, im Gegensatz zu Ortona, unbearbeitet bleiben. Charakteristisch für dieses Portal ist aber weniger seine Verwandtschaft mit anderen Anlagen als seine Andersartigkeit, die sich vor allem in der Gestaltung des Giebels zeigt. Dieser ist ungewöhnlich flach gebildet, und seine Spitze, die einen außerordentlich stumpfen Winkel bildet, berührt den Scheitel der Archivolte. Die Türöffnung geht weit über die Kapitellzone des Gewändes hinaus, und damit liegt der Architrav sehr hoch. Ein späterer Umbau ist wohl auszuschließen, da auf der rechten Seite die ursprünglichen Steinlagen des Türpfostens erhalten und bis zum Architrav einheitlich sind. Auch der kleine Segmentbogen über dem Architrav ist in seiner Proportion nur denkbar, wenn sich der Türsturz von vornherein an dieser erhöhten Stelle befunden hat.
Ein Abweichen vom abruzzesischen Portaltyp des 14. Jh. ist auch am Portal des Turmes von S. Maria Maggiore in Guardiagrele (Tf. 203) zu beobachten. Ähnlich wie in S. Leucio in Atessa wird die Gestaltung des Giebels reduziert; d.h. in diesem Fall ist von einem solchen gar nicht mehr zu reden. Vielmehr tritt an seine Stelle eine rechteckige Rahmung, die oben von dem Spitzbogen der Archivolte durchbrochen wird. Der Reichtum an Einfällen in der dekorativen Ausgestaltung des Portals ist hier verschwunden und durch eine feine, nahezu kühle französisierende Ratio ersetzt, die fast ausschließlich mit konstruktiven Elementen arbeitet, und zwar meistens mit der grazilen Halbsäule. Ein gewisser Effekt wird durch die gleichförmige Wiederholung der gliedernden Teile erreicht. Die gleiche Halbsäule mit gleichem Kapitell erscheint achtmal im Gewände, ebenso werden die nach innen abgestuften Bogenläufe der Archivolte repetiert, und die schmalen Schmuckstreifen dazwischen variieren kaum im Muster. Die Lünette (Tf. 202) wird von sieben gleichgebildeten Dreipaßbogen eingefaßt. In ihrem etwa 80 cm vertieften Feld ist die Krönung Mariens inmitten von Engeln dargestellt, eine der reifsten plastischen Arbeiten dieser Zeit in den Abruzzen. In demütiger und dennoch würdevoller Haltung neigt sich Maria zu Christus, der (S. 318) mit erhobenen Händen und einer Wendung des Kopfes zum Beschauer die Krönung vollzieht.
Die Portalbauten in Sulmona und der Umgebung sind in dieser Zeit nicht zahlreich. Leitbilder lieferten die Eingänge der alten Augustinerkirche in Sulmona und die Tür an der Hauptfassade der Kathedrale dieser Stadt. Die Portale, die sich um S. Agostino gruppieren, zeigen keine schöpferische Eigenständigkeit und sind von allen abruzzesischen Portalen am meisten dem allgemeinen Stilbild des Trecento in Italien angeglichen.
Das Portal von S. Agostino, das 1881 an die Fassade von S. Filippo versetzt wurde, ist 1315 datiert (Tf. 206). Die in das Gewände eingestellten Säulen, deren Schäfte als Spirale oder im Grätenmuster gebildet sind, wiederholen abruzzesische Gewohnheiten. Der Architrav in der Höhe der Kapitellzone wird, wie in L' Aquila üblich, von Konsolen gestützt. Eine gewisse Subtilität der Gestaltung kommt in den Abtreppungen des Gewändes zum Ausdruck sowie in den dem Portal als seitliche Rahmung vorgelegten achteckigen Stützen. Dieses Pilasterpaar trägt die für Sulmona charakteristischen Türmchen, die hier aus drei übereinandergestellten Würfeln geformt sind, und deren oberer Abschluß ein kleiner pyramidenartiger Aufsatz bildet. In Höhe des mittleren Kubus setzen die steil ansteigenden Giebelschrägen an, die sich im spitzen Winkel treffen. Im Giebelfeld erscheint ein Relief mit der Darstellung des hl. Martin, der seinen Mantel dem frierenden Bettler schenkt. Darüber liegt ein kleines Rundfenster, das ein Vierpaßbogen füllt.
Das Portalwerk von S. Agostino mitsamt der Darstellung des hl. Martin wird fast wörtlich von der Pfarrkirche S. Martino in Gagliano übernommen. Der Tür sind als seitliche Rahmung spiralförmige Säulen vorgelegt, die von Löwen auf hohen Sockeln getragen werden, die nicht wie üblich in Frontalansicht sondern im Profil erscheinen. In vereinfachter und rustikalerer Form haben die Portale von S. Agostino und S. Martino noch einen Nachfolger in der Chiesa dei Casale im unweit von Sulmona gelegenen Rocca Pia.
Nach der Fertigstellung der Tür von S. Agostino erfährt der Bau von Kirchenportalen in Sulmona eine lange Unterbrechung. Erst 76 Jahre später entstand 1391 das Hauptportal des Domes (Tf. 207). Der Erbauer war Nicola Salvirti aus Sulmona. Die Anmut des Portals ergibt sich durch das raffinierte Absetzen der einfach gebildeten Bauglieder von den sparsam verwendeten Schmuckteilen. Der Meister greift auf Vorbilder aus älteren Zeiten zurück. Die Wandgliederung zeigt noch manche Gemeinsamkeiten mit S. Agostino. Die das Portal rahmenden vorgelegten Säulen ruhen wie in S. Martino auf Löwen, die in Seitenansicht erscheinen, während über den Kapitellen dieser Stützen eine Ädikula mit einer pyramidenförmigen Bekrönung aufsteigt. Darin stehen Statuen, links Pelinus, ein Ortsheiliger, der wahrscheinlich aus dem Gebiet der Paeligner stammt, rechts Panfilus, der Titelheilige der Kathedrale. Der Architrav wird, wie in der von S. Agostino abhängigen Gruppe, von Konsolen gestützt, die am Dom eine eigene Ornamentierung erhalten. Nicht übernommen wurde der Portalgiebel. Die Schmuckformen der Tür, wie z.B. die Reihung von Steinen in Diamantform in den äußeren spitzzulaufenden Bogen der Archivolte, sind in den Abruzzen schon am Anfang des Jahrhunderts häufig zu belegen. Ebenso tritt das Ornamentband, das sich über der Kapitellzone der gesamten Portalanlage verkröpft, in L'Aquila bereits an den Hauptportalen von S. Giusta, S. Marco und S. Silvestro auf.
Unter Verzicht auf die stützenden Löwen und die bekrönenden Ädikulen am vorgelegten Säulenpaar werden die Formen des Salvirtiportals am Türwerk der Fassade von S. Francesco in Sulmona übernommen, so daß man hier dieselbe Meisterhand angenommen hat; und weiterhin begegnen sie am Portal von S. Maria della Tomba, das etwa um 1400 zu datieren ist.
Das Marserland hat im Portalbau des 14. Jh. nur wenige Leistungen aufzuweisen. Das reichste Türwerk zeigt die Kirche S. Sabina in S. Benederto dei Marsi. Das mit antikem Material erbaute Gotteshaus soll an der Stelle des Kapitols des antiken Marruvium stehen. Das Erdbeben von 1915 vernichtete die alte Bischofskirche völlig bis auf das Portal des 14. Jahrhunderts. Auffallend an diesem Werk eines anonymen Meisters sind die Proportionen; die Breite der Anlage entspricht der Höhe im Verhältnis I: I. Einer späteren Generation erschien die eigentliche Türöffnung zu weit; man verengte sie, indem man am hinteren Abschluß des Gewändes Seitenteile anbaute und hierin in halber Türhöhe kleine Fenster anbrachte, eine Lösung, die die ursprüngliche künstlerische Absicht verzerrt. Der Meister selbst verstand es sehr geschickt, der Breitenwirkung seines Portals durch die strenge rechteckige Rahmung der Archivolte ein Gegengewicht zu geben. Das Gewände ist dreifach abgetreppt. Eigentümlich ist hier die Schlichtheit der eingestellten Säulen im Gegensatz zu den reich dekorierten Abstufungen. Auffallend ist die hohe Lage der Kapitelle. Die Deckplatten, die gewöhnlich mit dem unteren Abschluß des Architravs übereinstimmen, sitzen hier etwa in dessen Mitte.
Die Formen des Portals von S. Sabina zeigen das Ende einer lang gepflegten Kunstübung. Deshalb ist ein gewisser, jedoch qualitätvoller Eklektizismus des Meisters nicht verwunderlich. Der Tradition entnommen sind das Rankenmuster am hinteren Teil des abgetreppten Gewändes, das Fischgrätenmuster im mittleren Teil und in der ihm entsprechenden Bogenlaibung der Archivolte; zur Tradition gehören ferner die phantastischen Tiere im Architrav, die sich zu bizarren Ornamentformen zusammenschließen. Nicht fehlen durfte natürlich die abruzzesische Rosette, die den Bogenlauf, der die Lünette einfaßt, ziert und eine im 14. Jh. eigentümliche Kassettierung erhielt. Sehr zerstört sind die obligaten Löwen, die den vorgelegten Säulen als Basis dienen. Weniger geläufig dagegen ist die Dekoration der äußeren Abtreppung des Gewändes, die in gleichmäßigen Abständen Buckelknöpfe zeigt.
Ein Ableger des Portals von S. Sabina ist der Eingang zur einschiffigen Kirche S. Antonio in Pescina, der das Erdbeben von 1915 überdauert hat. Das Wappen der Grafen von Celano, der Herren des Marserlandes, erscheint über dem Por (S. 319) tal und noch einmal im Archivoltenbogen. Wiederholt werden konstruktive Eigentümlichkeiten wie z.B. die hohe Lage der Kapitellzone. Auch das Rosettenmuster im äußeren runden Bogenlauf der Archivolte stimmt mit demjenigen im Entlastungsbogen der Lünette von S. Sabina überein. Von anderen Vorbildern übernahm der Meister die hinreichend bekannten Wirtel zur Gliederung der Säulenschäfte des Stützenpaars, das dem Portal als seitliche Rahmung vorgelegt ist. Die rechte Säule zeigt den gebrochenen Stab und das Grätenmuster, während die linke im oberen Abschnitt spiralförmig gebildet ist und im unteren, als Seltenheit in den Abruzzen, ein treppenförmiges Muster aufweist.
Die Erfindungsarmut des Marserlandes im Portal bau des 14. Jh. bemerkt man z.B. in Gioia Vecchia dei Marsi, einem Ort, der seit dem Erdbeben von 1915 nur noch ein Trümmerhaufen ist. Dort gab es eine 1369 datierte Kirche, deren Portalgestaltung durch Einflüsse von Chieti und Vasto bestimmt wurde. Der einfache Rücksprung des Portalgewändes mit einer eingestellten Säule ist vergleichbar mit der Tür von S. Agata in Chieti, und die Ornamente in den Bogenläufen der spitzbogigen Archivolte waren bereits am 1293 entstandenen Portal von S. Giuseppe in Vasto vorgebildet. In S. Maria delle Grazie in Cocullo zeigt das spitzbogige, einmal abgetreppte Portal mit einem eingestellten Säulenpaar mit Ausnahme der Kapitellzone keine dekorative Ausschmückung. Am linken Ansatz der Archivolte sieht man einen Menschenkopf, aus dessen Munde zwei Blätter herauswachsen. Hier wird das Nachleben von Motiven des 12. Jh. deutlich. Wir begegnen gleichartigen Darstellungen bereits an Kapitellen des Ziboriums in S. Clemente al Vomano.
Im Molise ist in der zweiten Hälfte des 13. Jh. und im 14. Jh. der Portalbau rückständiger als in den Abruzzen. In dieser Zeit gibt es nur wenig inschriftlich datierte Türwerke, 1267 das von S. Francesco in Isernia, von dem stilistisch das Portal von S. Martino in Castelpetroso abhängig ist, 1278 das Portal von S.Maria in Faifula und 1343 der Eingang von S. Francesco in Agnone.
Mehr als in den Abruzzen ist es im Molise üblich, Portale ohne Architrav und Lünette zu errichten, wie z.B. 1267 in S. Francesco in Isernia und in S. Martino in Castelpetroso sowie 1278 in S. Maria in Faifola. Beide Bauelemente fehlen auch an den Portalen von S. Antonio Abate in Agnone, an den Eingängen von S. Maria del Parco und S. Francesco in Boiano, in S. Salvatore in Castropignano, in S. Maria in dem zu Castropignano gehörigen Ortsteil Roccaspromonte, in S. Maria del Giardino in Casalciprano und endlich an dem 1343 zu datierenden Portal von S. Francesco in Agnone.
Mit Ausnahme von S. Maria Vergine in Ferrazzano wird das abgetreppte Gewände mit eingestellten Säulen von einer spitzbogigen Archivolte bekrönt, so in S. Silvestro in Bagnoli del Trigno, in S. Leonardo in Campobasso, in S. Maria a Monte in Cercemaggiore, in den beiden Kirchen S. Stefano und S. Francesco in Limosano.
Portale seit dem IJ.Jahrhundert
Die Formenwelt der Renaissance spielt im 15. Jh. beim Bau der zahlreichen Portale in den Abruzzen kaum eine Rolle. Fehlen einerseits die Ansätze zu grundlegenden Neuerungen, so darf man andrerseits nicht erwarten, daß das immer noch lebendige romanische und gotische Formengut große Leistungen entstehen ließ. Anachronistisch mutet z. B. das 1489 datierte Portal in der Kirche S. Martino in Corfinio an, das die romanischen Schmuckformen von der nahegelegenen Basilika Valvense und von S. Clemente a Casauria übernimmt.
Waren im Trecento die Zentren des Portalbaus relativ gleichmäßig über die Abruzzen verteilt, so erringt L' Aquila und seine Provinz im nachfolgenden Jahrhundert eine fast uneingeschränkte Vormachtstellung. Die Standardlösungen, die die Stadt im 14. Jh. hervorgebracht hatte, gaben das Vorbild für den späteren Portalbau ab. Dabei hielt man sich nicht sklavisch an die Leitbilder, doch betraf die Abwandlung weniger die konstruktive Gliederung als den Dekor. Manchmal begegnet man in der Provinz Portalen, die von L' Aquila abhängig sind und ihrerseits dann wieder zum Prototyp für weitere Portalbauten an demselben Ort oder in der nächsten Umgebung werden. Diese Zellenbildung ist sehr gut in Tagliacozzo zu beobachten oder am Mittelportal von S. Lucia in Magliano de' Marsi, das die Portalgestaltung umliegender Kirchen beeinflußte.
L'Aquila hatte im Trecento verschiedene Portallösungen ausgearbeitet, einerseits für einfachere Kirchen und andrerseits, vertreten durch S. Giusta, S. Marco und S. Silvestro, für prunkvollere Gotteshäuser. Eine gewisse Wirkung ging von der Porta Santa von 1397 aus, dem Eingang am linken Langhaus von S. Maria di Collemaggio, und vor allem von den Seitenportalen der Fassade der Collemaggio, die gleichzeitig mit dem Mittelportal um 1430 entstanden sind und die größte Leistung im Portalbau des Quattrocento in den Abruzzen darstellen. Vereinzelt existieren Türwerke, die sich nur schwer in das aquilanische Schema einordnen lassen, und im adriatischen Hügelland tauchen neapolitanische Meister auf, die die Giebeldächer der Eingänge in Form eines weichschwingenden Kielbogens ausführten.
Der treueste Anhänger der alten aquilanischen Normung war natürlich die Stadt L'Aquila selbst. Der Typ des einfacheren Portals wird von der Kirche S. Maria del Guasto übernommen. Eine Neuerung erfolgte im Dekor, indern man neben der Lünette mit der üblichen Malerei zusätzlich auch den Entlastungsbogen und den äußeren Bogenlauf der Archivolte mit Fresken versah. Mit diesem Portal sind diejenigen von S. Vito und von S. Maria del Carmine eng verwandt. Sie zeichnen sich durch reiche Ornamentierung des Architravs mit dem Gotteslamm in der Mitte aus. Diese Gruppe vervollständigen das Türwerk der Kirche S. Maria di Farfa und das der kleinen Klosterkirche B. Antonia, der Seligen, die 1447-1472 als Äbtissin das Kloster S. Chiara in L' Aquila leitete.
Der einfache Portaltyp von L'Aquila erfreute sich in der Provinz großer Beliebtheit. In S. Maria Assunta in Assergi verfuhr man konsequent und übernahm das Vorbild von (S. 320) S. Maria dei Carmine, der Tochterkirche von Assergi. Sie war die Pfarrkirche für die im 13. Jh. abgewanderte Bevölkerung aus Assergi. Diese Verknüpfung ist ein schönes Beispiel für die Zusammengehörigkeit von Alt-und Neusiedlung durch Jahrhunderte hindurch. Das Portalmodell von S. Maria del Carmine drang weit in die Abruzzen ein; wir erkennen es noch im Portal der Hauptfassade von S. Paolo in Pescasseroli.
Am Eingang von S. Angelo in Celano verwandte man bei den Türpfosten glatten Marmorstein aus antiken Funden. Man hielt sich deshalb nicht ganz an aquilanische Muster, doch weisen auf sie der von Konsolen gestützte Architrav hin und die hoch liegenden Kapitelle der vorgelegten rahmenden Säulen, die den äußeren Bogenlauf der rundbogigen Archivolte tragen. In Seitenansicht dargestellte Löwen stützen die Säulen, deren Schäfte in der Mitte den Wirtel zeigen.
Einige Bedeutung kommt dem Portal zu, das in den Vorhof der Kirche SS. Cosma e Damiano in Tagliacozzo führt. Der Eingang ist durch eine Inschrift 1452 datiert, und diese überliefert als Künstler den Martinus Debiasca (oder De Biasca) Lombardus. Dieser Meister führte nun keineswegs Formen des lombardischen Portalbaus in unsere Landschaft ein, vielmehr muß er sich wohl schon geraume Zeit in den Abruzzen aufgehalten haben, da er eine vorzügliche Kenntnis aquilanischer Portalbauten aufweist. Er verwandte den einfacheren aquilanischen Typ mit allen Requisiten, dem eingestellten Säulenpaar in das abgetreppte Gewände und dem vorgelegten Säulenpaar als seitliche Rahmung; er übernahm die hoch, in der Mitte des Architravs ansetzenden Kapitelle und das über deren Deckplatten sowie dem Architrav sich verkröpfende Gesims. Der äußere Bogenlauf der spitzbogigen Archivolte ist konventionell dekoriert. Neu ist der dreiteilige Türsturz. Um ihn zu stützen, mußten die Konsolen weit in die Türöffnung vorgezogen werden. Eigenwillig ist die verschiedenartige Gestaltung der vorgelegten Säulen auf verschieden geformten Basen. Im Schaft der linken setzt das Spiralmuster auf einem kurzen kannelierten Abschnitt an, rechts ist der Schaft dreigeteilt mit versetzten Spiralwindungen.
Die übrigen Portale des 15. Jh. in Tagliacozzo leiten sich mit allen ihren aquilanischen Merkmalen von SS. Cosma e Damiano ab. Dazu gehört das schöne Türwerk von S. Francesco (Tf. 198). Auch hier zeigt der Meister, wie Martinus Debiasca, seine Lust, die Schäfte der im Gewände eingestellten wie der vorgelegten Säulen durch Wirtel zu teilen und zu differenzieren. Eine genaue Replik von S. Francesco ist das Portal der SS. Annunziata in Tagliacozzo. Als dessen später Nachfahr wiederholt die gleichen Formen der 1495 datierte Eingang von S. Maria del Soccorso in Tagliacozzo.
Von den prunkvolleren aquilanischen Portalen mit tieferem Gewände scheint in der Provinz das Portal der Kirche S. Giovanni Battista in Celano der erste Abkömmling zu sein. Das dortige Türwerk wurde von S. Francesco in Celano kopiert. Das Marserland zeigte sich überhaupt aufnahmefreudig für aquilanische Portalformen, nachzuweisen am Mirteleingang von S. Lucia in Magliano de' Marsi. Letzterer ist das Vorbild der Meister Johannes und Martinus, die sich in S. Maria delle Grazie in Rosciolo mit dem Datum 1446 auf dem Architrav des spitzbogigen Portals nennen, das in das Mittelschiff führt. Ihre Machart war auch noch an dem 1915 zerstörten Portal der Pfarrkirche im nahegelegenen Ort Cappelle nachzuweisen, besonders in den Dekorationsformen. Allerdings zeigte das Türwerk nicht die Tiefenstaffelung des Gewändes von Rosciolo.
Um die Jahrhundertmitte entstand das Portal von S. Marcello in Anversa degli Abruzzi. Da man sich beim Gewände mit der Dicke der Fassadenmauer begnügte, konnte man statt der üblichen drei nur zwei Säulen auf jeder Seite einstellen. Im übrigen sind die konstruktiven Mittel noch sehr den Trecentoportalen in L'Aquila verbunden. Der Meister von S. Marcello zeigt eine große Schmuckfreudigkeit und dekoriert alle Gliederungselemente, indem er konsequent den Zierat des Gewändes für die entsprechenden Bogen der Archivolte übernimmt. Die Reihung von Sternchen auf der Abtreppung zwischen den beiden eingestellten Säulen wurde von S. Maria della Tomba in Sulmona übernommen.
Der Einfluß der vielfach gestuften aquilanischen Türwerke war noch lange Zeit wirksam. Eine getreue Nachbildung dieses Typs ist noch am etwa 1480 entstandenen Portal von S. Francesco in Popoli wahrzunehmen. Das Portal in der Hauptfassade von S. Domenico in L' Aquila und das um 1466 entstandene Nordportal von S. Maria del Colle in Pescocostanzo sind in ihrer Formgebung von der Porta Santa von 1397 im linken Langhaus von S. Maria di Collemaggio in L'Aquila abhängig.
Das Zurückgreifen des Portalbaus des Quattrocento auf das vorangehende Jahrhundert wurde hier ausführlich dargelegt, weil es wohl kaum eine andere italienische Landschaft gibt, die, bei vorzüglicher Qualität ihrer künstlerischen Hervorbringungen, in dieser Zeit ein derartiges Beharrungsvermögen aufzuweisen hat.
Die Hauptleistung in der Portalkunst des 15. Jh. in den Abruzzen repräsentieren die drei Türwerke in der Hauptfassade von S. Maria di Collemaggio in L'Aquila (Tf. 173), die, aus Mangel an historischen Dokumenten, stilistisch um das Jahr 1430 anzusetzen sind. Auch hier begegnen wir Kompromissen. Neben Neuerungen werden alte Gewohnheiten fortgesetzt. Die drei Portale sind nahtlos in die Fassade eingebunden, so daß sie nur gemeinsam mit dieser konzipiert sein können. Mit den drei Portalen korrespondieren die drei Rundfenster. Zwei verschieden geformte Gesimse teilen die Fassade in der Horizontalen in drei Abschnitte. Das untere Ornamentband ist um die Archivolte des Mittelportals herumgeführt und betont die Monumentalität dieses Türwerks, das die Seiteneingänge weit überragt und in den mittleren Wandabschnitt einschneidet, der nur etwa halb so hoch ist wie die beiden anderen. Der oberste Wandabschnitt ist durch flache Pilaster mit seitlichen Diensten in drei Felder gegliedert. Diese Stützen sowie die Eckverstärkungen mit ihren Seitendiensten werden in dieser Wandzone jeweils durch drei Wirtel geteilt.
(S. 321)Die Gliederung der Schauwand ist von einer nur scheinbaren Strenge und zeigt in ihrem Schema kaum wahrnehmbare Abweichungen wie es den abruzzesischen Gepflogenheiten entspricht. So sind z.B. die Felder des obersten Wandabschnitts ungleich, am breitesten ist das mittlere, und das linke ist wiederum schmaler als das rechte. Daraus ergeben sich auch sonstige Verschiebungen im Fassadengefüge. Kein Fenster und kein Portal gleicht dem anderen. Diese Verschiedenheiten hat man mit unterschiedlichen Bauzeiten erklären wollen, doch sind sie eher auf eine künstlerische Grundeinstellung zurückzuführen. Das Hauptportal (Tf. 199) ist öfters restauriert worden, doch in der Gesamtkonzeption erhalten und stellt einen neuen Typ im abruzzesischen Portalbau dar. Anstelle des sonst üblichen nach innen abgestuften Portals, das bündig mit der Fassade abschließt, ist es dieser vorgebaut. Über einer hohen rosettengeschmückten Sockelzone erhebt sich auf jeder Seite eine doppelte Ordnung von sieben Nischen. Diese waren für Freiplastiken bestimmt; von den ursprünglich 28 Figuren sind noch vier mehr oder weniger beschädigt erhalten. Verschiedenartig gebildete Säulen tragen die Kleeblattbogen, welche die Nischen oben abschließen. Darüber erheben sich, wie an venezianischen Schnitzaltären, Wimperge und Fialen. Die Archivolte des Portals ist fünffach abgetreppt, der äußere Bogenlauf enthält figürliche Darstellungen, die die Gläubigen als Arbeiter im Weinberg versinnbildlichen, der innere ist mit Engelsfiguren verziert. Die gleichzeitige Entstehung der Fassade und des Portals läßt sich aus der gleichartigen Behandlung der Eckverstärkungen und der Pilaster des Obergeschosses sowie der Türpfosten des Mittelportals erschließen. Auch hier treffen wir die Koppelung eines Pilasters mit Seitendiensten und die Wirtel an. Die Holztür des Mittelportals stammt aus dem Jahre 1688.
Das Hauptportal der Collemaggio steht mit dem Portal des Tempietto di S. Giacomo in Vicovaro in Latium in so engem stilistischem Zusammenhang, daß auf eine Abhängigkeit geschlossen werden darf. Für die Gestaltung des Portals von Vicovaro ist der Künstler Domenico da Capo d'Istria überliefert. Auf Grund der Übereinstimmung von Portal und übriger Fassade läßt sich ferner vertreten, daß der schon im Architekturtraktat Filaretes genannte Domenico da Capo d'Istria der Baumeister der gesamten Fassade in Vicovaro war. Zwischen dem Hauptportal der Collemaggio und dem Portal des Tempietto in Vicovaro besteht jedoch ein beträchtlicher Unterschied. Der Aufbau über dem Gewände mit den beiden Nischenreihen erfolgte in Vicovaro in reinsten Formen der Frührenaissance, während man sich in L'Aquila der neuen Gestaltungsweise verschloß und an der eigenen Tradition festhielt.
Die Disposition der Seitenportale der Collemaggio geht auf den aquilanischen Portaltyp zurück. Das abgestufte Gewände mit zwei eingestellten Säulen und die Entsprechung der vertikalen Gliederung in der Archivolte stellt das im Trecento in den Abruzzen geläufige Schema dar. Das linke Portal (Tf. 197) hat nur Spiralsäulen, deren Windungen spiegelbildlich verlaufen, während am rechten Portal in die äußere Abtreppung eine Spiralsäule und in die innere eine glatte Säule gestellt ist. Ein historisierendes Detail ist an beiden Seitenportalen die Hufeisenform des äußeren Bogenlaufs der Archivolte, die von romanischen Portalen bekannt ist und im aquilanischen Portalbau des 14. und 15. Jh. sonst nicht angewandt wurde.
Neu im aquilanischen Kirchenbau ist an der Collemaggio die chromatische Behandlung der Fassade mit rötlichem und weißem Stein, den Stadtfarben von L'Aquila. Neu ist auch das komplizierte Muster, das sich mit Ausnahme der Eckverstärkungen, wo das Ornament einfacher ist, gleichmäßig wie bei einem Teppich über die gesamte Fassade zieht. Vorläufer für dieses System gibt es in den Abruzzen nicht, es ist letztlich wohl auf islamische Vorbilder zurückzuführen, deren Nachleben man im ganzen adriatischen Raum und in Unteritalien spüren kann, sei es in Venedig oder im kampanisehen Gebiet in Caserta Vecchia, Amalfi oder Ravello.
Die Nebenportale der Collemaggio wirkten schul bildend. Das Portal von S. Giovanni in Lucoli in L'Aquila, das 1898 an die Fassade von S. Francesco di Paola versetzt wurde, wiederholt die Formen des linken Seitenportals so genau, daß man dieselbe Meisterhand zu erkennen glaubte. Wertvoll ist das für diese Tür gesicherte Datum 1439, womit die Datierung des Seitenportals der Collemaggio um 1430 auf Grund stilistischer Indizien eine Bekräftigung erhält. Ein zweites Mal wird es im Portal von S. Flaviano in L' Aquila wiederholt.
Bis auf die Kapitellzone ist das Portal der Kirche S. Maria del Soccorso in L'Aquila eine ziemlich getreue Nachbildung der Seitenportale von S. Maria di Collemaggio. Die gleiche Art der Abtreppung mit eingestellten Spiralsäulen ist hervorzuheben und vor allem die Eigentümlichkeit, den kannelierten vorgelegten Pilastern, welche das Portal rahmen, einen Seitendienst beizugeben, wie es ebenfalls am Portal von S. Flaviano geschah. Wiederholt wird auch das Ornament in der äußeren Bogenlaibung der Archivolte, das am rechten Seitenportal der Collemaggio erscheint. Unbearbeitet bleibt auch der Architrav bis auf das Wappen der Olivetaner, das die Architravmitte des Portals von S. Maria del Soccorso schmückt. Das dortige Lünettenfresko zeigt in der Mitte Maria mit Kind. An den Seiten erkennt man die anbetenden Halbfiguren eines Bischofs und eines Pilgers mit Stab. Wir wissen, daß Bischof Amico Agnifili von L' Aquila, nachdem er als Kardinal von Rom zurückkehrte, an diesem Ort dem wundertätigen Madonnenbild besondere Verehrung erwies und ihm zu Ehren den Bau einer ersten Marienkapelle veranlaßte. Die Hypothese erscheint deshalb nicht zu gewagt, in dem Bischof das Porträt des Agnifili zu erkennen. Den Pilger hat man einigermaßen überzeugend als Jacobus di Notar Nanni identifiziett.
Der Einfluß der Seiten portale der Collemaggio erstreckte sich auch auf die Provinz, z.B. auf das 1479 datierte Portal der SS. Trinita in Aielli. Sogar einzelne Ornamente wurden kopiert, vor allem in Celano. Dort übernahm der Meister des Portals von S. Francesco die pflanzlichen Formen über dem Architrav und den Kapitellen von den Seitenportalen (S. 322) der Fassade der Collemaggio, die dort an entsprechender Stelle erscheinen, während man in S. Giovanni Battista in Celano im äußeren Bogenlauf der Archivolte die Darstellung der Arbeiter im Weinberg vom Hauptportal der Collemaggio wiederholte.
Eine seltene Ausnahme, wo aquilanische Einflüsse keine Rolle spielen, kann man am Türwerk von S. Maria Assunta in Caramanico konstatieren, an dem Einwirkungen von Sulmona sichtbar werden. Da das Gelände um die Kirche an ihren Schmalseiten im Osten stark ansteigt und im Westen abfällt, bot sich die zur Stadt gelegene Nordseite zur Anbringung des Hauptportals an. Es wurde laut Inschrift im Architrav von einem Nallus 1452 in Auftrag gegeben. Die Partie über dem Architrav ist, mit Ausnahme des von dem Bildhauer Johannes Biomen aus Lübeck 1476 gefertigten Lünettenreliefs, ein getreues Nachbild der in Sulmona geläufigen Portalgiebel, die 1315 von S. Agostino ihren Ausgang nahmen. übernommen wurden die Fialen über den äußeren Stützen des Gewändes. Sie bestehen, wie in S. Agostino, aus drei übereinandergestellten Quadern, über denen sich kleine pyramidenförmige Gebilde erheben. Die Giebelschrägen zeigen wie dort als Ornament die Kriechblume und setzen wie dort gleichfalls am zweiten Stein der Fiale an. Von S. Maria della Tomba in Sulmona übernahm man im mittleren Bogenlauf der Archivolte das Sternmuster, das ungefähr gleichzeitig wie in S. Maria Assunta auch am Portal von S. Marcello in Anversa verwendet wurde. Das Portal von Caramanico zeigt zaghaft den übergang zur Renaissance. Neuartig ist vor allem die Gliederung der Pilaster, welche anstelle der Säulen dem Portal als äußere Rahmung vorgelegt sind. Sie bestehen aus drei Abschnitten, von denen die beiden oberen als Ädikula gebildet sind, in denen Reliefs erscheinen, und zwar die Personifikationen der Tugenden Caritas, Iustitia, Temperantia und Spes. Bei diesem Motiv dürfte es sich um einen Rückgriff auf Sulmona handeln. Dort zeigt das etwa 141S entstandene dreiteilige Fenster des Hospitals der Annunziata eine seitliche Rahmung aus Pilastern, in deren kassettierten Unterteilungen die Tugenden ihren Platz gefunden haben.
Es gibt eine Anzahl von Türwerken, besonders in abgelegenen Landkirchen, deren Einordnung in übergreifende Schulzusammenhänge nicht leicht durchzuführen ist. Man überließ die Gestaltung wohl mehr lokalgebundenen Kräften. Ein derartiges Beispiel bietet das 1422 datierte Seitenportal von S. Maria del Carmine in Carsoli. Die schlichte Konstruktion ist unüblich. Den breiten unbearbeiteten Türpfosten sind an den Außenseiten zwei durch Wirtel geteilte Spiralsäulen vorgesetzt, die einen Archivoltenbogen tragen, während den Türpfosten über dem von Konsolen getragenen Architrav ein wiederum unbearbeiteter Entlastungsbogen der Lünette entspricht.
Unabhängig von bestimmten Modellen gestaltete man den Eingang an der Hauptfassade der Pfarrkirche S. Sinforosa in Tossiccia. Am Architrav nennt sich der Steinmetz Mecolo aus der Stadt Penne. Er bedient sich im adriatischen Hügelland allgemein üblicher Gewohnheiten. Als Seltenheit bei Kirchenportalen besteht die vertikale Gliederung allein aus bündig mit der Fassade abschließenden Pfosten. Diese sind im Wechsel aus hochrechteckigen und querrechteckigen Quadern aufgebaut, so daß die Rahmung des Portals sich als eine Art Zahnschnittmuster in der aus Bruchsteinen errichteten Fassade heraushebt. Die gleiche Mauertechnik war auch in der Provinz Teramo bekannt. Sie tritt z.B. an der Fensterrahmung der Rückfront von S. Maria di Propezzano bei Morro d'Oro auf. An den Seiten des auf Konsolen ruhenden Architravs in S. Sinforosa stützen zwei wirklichkeitsnah gebildete Köpfe den Archivoltenbogen.
Der für den Portalbau des 15. Jh. bemerkenswerte Ort Tossiccia besitzt an der Fassade von S. Antonio ein Portal mit ungewöhnlichen Formen (Tf. 205). Der Architrav ist 1471 datiert und von Andreas Lombardus signiert. Die Anlage stellt einen Komprorniß zwischen vorgebildeten Elementen dar; zum einen hielt man sich an das 1332 datierte Portal des Doms von Teramo, zum anderen nahm man Vorbilder, die in den Abruzzen bislang nicht in Erscheinung getreten waren. Wie am Dom von Teramo erreicht man den Eingang über eine breite vorgezogene Treppe. Andreas verzichtete auf die übliche Einstellung von Säulen in das abgetreppte Gewände und legte dem Portal als seitliche Rahmung nur ein Säulenpaar vor, wobei der Schaft der einen Stütze glatt ist, der andere aber ein Fischgrätenmuster zeigt. In halber Höhe werden Gewände und Säulen von einem sich verkröpfenden Band geteilt. Gleich wie am Dom in Teramo stellte man die Verkündigungsgruppe als Freifiguren über den Kapitellen der vorgelegten Säulen auf. Die Schmuckfreudigkeit des Meisters Andreas zeigt sich an den zarten Ornamenten des Gewändes. In die Kapitellzone arbeitete er Menschenköpfe und pflanzliche Formen ein, und in den Bogenläufen der Archivolte sieht man Gotrvater, Evangelistensymbole, Putten und Pflanzenwerk. Auch der Giebel des Domportals von Teramo war möglicherweise das Vorbild für das Türwerk von S. Antonio. Beide Male liegt das von den Giebelschrägen eingeschlossene Rundfenster dicht über dem Scheitel der Archivolte. Aber Andreas vermeidet eine konstruktive Verbindung von Portal und Giebelansatz. Die Schrägen setzen hoch über dem Scheitel der Archivolte auf Konsolen an, so daß der Giebel etwas beziehungslos über dem Türwerk schwebt.
In den 20er Jahren des Is.Jh. werden neapolitanische Künstler in der Provinz T eramo tätig und führen den bisher in den Abruzzen an Kirchenportalen unbekannten Kielbogen als oberen Türabschluß ein. Vom Jahre 1420 existiert ein derartiger Eingang an der Pfarrkirche S. Massimo in Isola del Gran Sasso. Im Schlußstein der Archivolte nennt sich der Magister Matheus de Neapoli. Der halbkreisförmige Lünettenbogen ruht auf den breiten Türpfosten, so daß die Anbringung eines Architravs überflüssig wurde. Zu seiten des Kielbogenansatzes stehen zwei Heilige, und die Madonna bekrönt das Portalwerk. Eine gewisse Formverwandtschaft besteht zum Portal der Pfarrkirche S. Maria La Nova in Cellino Attanasio. Dort nennt sich im Jahr 1424 als Künstler der Meister Matheus Campo (de Caprio?) de Nea (S. 323) poli. Vielleicht ist er identisch mit dem gleichnamigen Künstler des Portals der Pfarrkirche von Isola del Gran Sasso. Diesen Eingängen entsprechen die Tür am Langhaus von S. Sinforosa in Tossiccia und das wohlgestaltete Portal von S. Agostino in Atri. Hier bemüht sich der Meister, seine bildhauerischen Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen. Die Kapitelle zeigen Menschenköpfe, im Entlastungsbogen der Lünette und im runden konzentrischen Bogenlauf darüber sieht man Reihungen von Halbfiguren, und als Stützen des mittleren Bogens der Archivolte treten Stier und Löwe als Evangelistensymbole auf. Ober den achteckigen dem Portal seitlich vorgelegten Stützen erscheinen die Figuren der Verkündigung. Die Spitze des Kielbogens füllt der hl. Augustin im Bischofsornat aus, darüber erscheint als oberster Abschluß des Portals auf einer Konsole der segnende Gottvater.
Seit dem 16. Jh. erschöpften sich im Portalbau die künstlerische Kraft und die abruzzesische Eigenwilligkeit. Besonders in konstruktiven Teilen setzte man alte Gewohnheiten fort und verziette die Bauglieder mit Ornamenten, wie sie in Italien allgemein üblich wurden. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts setzt sich mehr und mehr der Einfluß Neapels durch, besonders in den südlichen Abruzzen, in Guardiagrele, Anversa und Pacentro. Ohne allzugroßes kunsthistorisches Interesse zu beanspruchen, entstehen in der Spätzeit Kirchenportale zu Hunderten, in den Abruzzen wie im Molise. Es genügt in unserem Zusammenhang, nur die relativ wichtigsten datierten Portale zu nennen: 1509 in S. Maria Valleverde in Celano, 1526 in S. Pietro in Alba Fucense, 1529 in Madonna della Cona in Civitella Casanova, 1532 in S. Maria delle Grazie in Le Cese (Ortsteil von Avezzano), 1533 in der Pfarrkirche S. Maria in Bellante, 1534 in S. Pietro in Loreto Aprutino, 1540 in S. Maria delle Grazie in Anversa degli Abruzzi, 1546 in S.Rocco in Aielli, 1553 in S. Maria in Goriano Sicoli, 1558 in S. Maria del Colle in Pescocostanzo, 1560 in der Pfarrkirche Assunta in Ripalimosani, 1578 in S.Maria Maggiore in Guardiagrele, 1582 in S. Flaviano in Basciano, 1595 in S. Domenico in Tocco da Casauria, 1596 in S. Antonio in Scanno und 1603 in S. Maria della Misericordia in Pacentro. Kein Künstler hat an diesen Portalen seinen Namen hinterlassen.
Kreuzgänge
Im Gegensatz zum Molise ist in den Abruzzen die Anzahl von Kreuzgängen beträchtlich. Ihre Entstehung ist seit dem 13. Jahrhundert zu verfolgen mit einem Höhepunkt der Bautätigkeit im 14. Jahrhundert. Das Studium dieser Anlagen wird erschwert, weil der kostbare Baugrund, besonders in den Städten, bei Nachlassen des Klosterlebens zweckentfremdet wurde. Man benutzte die meist ansehnlichen Flächen zur Errichtung von Häusern und Magazinen, und man brachte in den Konventsgebäuden staatliche oder städtische Institutionen unter, wie z.B. in S. Francesco in Sulmona, im Exkonvent der Dominikaner in Penne oder in S. Agostino in L' Aquila. Der Kreuzgang von S. Maria del Soccorso in L'Aquila diente vor den Restaurierungen 1969-1971 als öffentliche Bedürfnisanstalt. Daß man die Kreuzgänge ihrer ursprünglichen Funktion enthob, hatte ebenfalls zur Folge, daß der Bestand an alten Konventsgebäuden, Klausuren, Kapitelsälen, Dormitorien, Refektorien, Kellern und Küchen, die den Kreuzgang umstanden, dürftiger ist als in anderen Landschaften Italiens. Das Fehlen dieser Annexräume erschwert oft die Datierung, da die Kreuzgänge selbst sich in ihrer Struktur kaum verändert haben. Bei früheren Bauten ist es selten, daß eine Anlage in allen ihren Teilen die Jahrhundette überdauert hat. Spätere Generationen haben immer wieder ausgebessert und ganze Trakte neu erstehen lassen.
Spuren des ältesten Kreuzgangs in den Abruzzen finden sich im Benediktinerkloster S. Giovanni in Venere. Er wurde 1932.-1935 auf alten Fundamenten pompös und unter zu reichlicher Verwendung von neuem Baumaterial wiederhergerichtet. Ungewöhnlich ist die Lage des Komplexes an der linken Seite der Kirche. Seine Ausmaße sind stattlich; er mißt 42 x 43,50 m, wobei letzteres die Länge des dem Langhaus parallelen Traktes ist. Von dem an die Kirche anschließenden Flügel des Kreuzgangs ist nichts erhalten. Alle vier Seiten des Umgangs öffneten sich zum Innenhof in je elf Triforen über einer Sockelwand. Am interessantesten ist die Seite des Kreuzgangs, die, gleich den drei Apsiden der Kirche, dem Meere zugewandt ist. Dort sind zwei Triforen erhalten, die aus der Bauzeit des 1204 verstorbenen Abtes Odorisius 11. stammen. Die anschwellenden Marmorsäulchen ohne Basis tragen Polsterkapitelle, die in den Abruzzen nicht häufig auftreten. Außen schließt an diesen ungewölbten Trakt des Kreuzgangs eine lange, zur Hälfte unterirdische Halle an mit einer Säulenreihe in der Mitte, so daß der Raum zweischiffig ist. Er diente vermutlich als Keller oder Magazin. Die gesamte Fläche darüber nahm in gleicher Disposition der Speiseraum der Mönche ein. Zweischiffige Refektorien sind auch in Latium bekannt, in S. Mattino al Cimino, in Casamari und wahrscheinlich auch in S. Scolastica in Subiaco. In einer Mauer des Refektoriums in S. Giovanni in Venere ist noch eine kleine Treppe erhalten, die den Zugang zu einer Kanzel bildete, von der während der Mahlzeiten Lesungen vorgenommen wurden.
Ein völlig anderes Aussehen hat der Kreuzgang des Doms von Atri, mit 16,50x 25 m viel kleiner als der in S. Giovanni in Venere. Die Anlage bestand von Anfang an nur aus drei Flügeln. Der wichtigste Trakt, der die Verbindung zum Dom hätte herstellen sollen, ist nie gebaut worden. Der Kreuzgang öffnet sich in zwei Geschossen zum Innenhof und zeigt über einer Sockelwand an der dem Dom gegenüberliegenden Partie zehn Bogenstellungen und je elf an den beiden anderen Seiten. Trotz des einheitlichen Eindrucks, den der Ziegelb au auf den ersten Blick bieten mag, sind die strukturellen Unterschiede, allein schon im Untergeschoß, recht beträchtlich. Der dem Dom gegenüberliegende Teil des Umgangs sowie der rechte an diesen anschließende weisen rechteckige Pfeiler mit Rundbogen auf. Diese beiden Gänge besitzen Tonnengewölbe, deren Scheitel von viereckigen Pfeilern gestützt werden, so daß eine Zweischiffigkeit entsteht. Dagegen ist der dritte Flügel des Umgangs einschiffig (S. 324) und besitzt Spitzbogen, die von achteckigen Pfeilern getragen werden. Bemerkenswert ist hier das Kreuzgratgewölbe. Die Felder werden durch auffallend kräftige Gurtbogen voneinander getrennt, wobei der Eindruck einer Art Schwibbogenkonstruktion entsteht, die im Mittelschiff des Domes in noch großartigerer Form zum Ausdruck kommt.
Vom Obergeschoß aus betraten die Domkanoniker ihre Zellen. Diese Räume wurden niedergerissen, weil man den Platz zur Unterbringung des neuen Dommuseums benötigte. In der ersten Etage verzichtete man völlig auf die Zweischiffigkeit der Umgänge; sie zeigen zum Hof hin Rundbogenöffnungen auf gedrungenen Säulen. Die Formen der Kapitelle sind alle verschieden. Der Brunnen in der Mitte des Kreuzgangs ist 1763 datiert.
Die heterogenen Konstruktionselemente, aus denen sich der Baukomplex zusammensetzt, erschweren die Datierung. Die Spitzbogen im unteren Umgang mögen im frühen 13. Jh. entstanden sein. Aus Dokumenten geht hervor, daß der Kreuzgang 1363 beendet gewesen sein muß.
Teile eines kleinen Kreuzgangs sind in S. Angelo d'Ocre bei Fossa überliefert. Das Kloster wurde 1242 für Benediktinerinnen gegründet und ging 1480 unter Mithilfe des sel. Bernardino da Fossa (1420-1503) an die Franziskaner über. Das Untergeschoß ist ein Relikt des 13. Jahrhunderts. Die Stützen der Rundbogenöffnungen zum Innenhof setzen auf einer Sockel wand an und bestehen aus Pfeilern mit sorgfältig abgeschrägten Ecken; sie erheben sich auf niedrigen Basen, die auf quadratischen Fußplatten mit flachen Eckblättern ruhen. Der Umgang besitzt Kreuzgratgewölbe, deren Ansätze auf Konsolen liegen. Bauliche Veränderungen erfolgten im 15. Jh. im Obergeschoß. Hier werden auf einer Seite Rundbogen von rechteckigen Pfeilern getragen, während auf der anderen Seite schlanke Säulchen mit verschieden geformten Basen einen Balken stützen, der dem schräg ansteigenden Dach als Auflage dient. Von den Konventsgebäuden ist das 1479 datierte Refektorium bemerkenswert.
Kaum beachtet ist der Kreuzgang von S. Antonio in Civitaretenga. Zu berücksichtigen ist hier nur das untere um die Mitte des 13. Jh. zu datierende Geschoß, während das obere nur eine etwa 1480 entstandene bedeutungslose Hinzufügung ist. Die Stützen der Öffnungen zum Mittelhof bilden Säulen und Polygonalpfeiler. Sie stammen von der Hand eines abruzzesischen Steinmetzen, der in technisch hervorragender Weise an Basen und Kapitellen die eigenwilligsten und schönsten Formen gestaltete, die wir in dieser Zeit in unserer Landschaft kennen. Beispielsweise ist das Kapitell einer Stütze hervorzuheben, das in seinem unteren Teil die Brechungen des polygonalen Schaftes fortsetzt und dann in ein Quadrat übergeht mit einer Deckplatte gleicher Form. Auf jeder Seite des Kapitells gehen von einer kräftigen Rippe lanzettförmige Blätter aus, die sich in kurviger Bewegung weit vom Kapitellkern abheben. Die Ecken des Kapitells sind mit übereinandergestellten Diamantsteinen ausgefüllt. An diesem kunstvoll aufgebrochenen Stein entwickelt sich ein reges Spiel von Licht und Schatten, wie es kaum wieder anzutreffen ist.
Vom Kreuzgang der 1274-1282 entstandenen Zisterzienserkirche S. Maria della Vittoria bei Scurcola ist nichts mehr zu sehen. Wir sind auf Grabungsberichte angewiesen, die 1903 veröffentlicht wurden. Die fast quadratische Anlage lehnte sich mit einer Seite an die rechte, südliche Langhauswand der Kirche an. An der Ostseite lag in Höhe des Querschiffs der Kapitelsaal, an den sich langrechteckige Magazine oder Kellerräume anschlossen. Eine ungewöhnliche Lage hatte das Refektorium; es war ein sehr schmaler achteckiger Saal, dessen eine Schmalseite auf die Mitte des südlichen Kreuzgangarmes stieß.
Die meisten Kreuzgänge des 14. Jh. überliefert das adriatische Hügelland nördlich des Flußlaufes der Peseara. Dort begegnen wir Klöstern an Kirchen, die wir mit der Bauschule von Atri in Verbindung brachten. Der prächtigste Kreuzgang des 14. Jh. ist an S. Maria di Propezzano bei Morro d'Oro erhalten. Gleichzeitig mit der Kirche entstand am Anfang des Trecento das Untergeschoß. Der aus Ziegelsteinen errichtete quadratische Umgang schließt an die rechte Langhauswand der Kirche an. Der ebenerdige Teil zeigt auf allen vier Seiten über einer umlaufenden Sockelbank fünf weitgespannte Rundbogenöffnungen mit achteckigen Pfeilern und Würfelkapitellen, die auch an den Halbsäulenvorlagen im Innern der Kirche zu sehen sind. Das Kreuzgratgewölbe des Untergeschosses setzt auf den Würfelkapitellen an und auf der gegenüberliegenden Wand auf Konsolen. Die obere Etage mit Sparrendach ist eine Zutat des 16. Jahrhunderts. Hier ist die Weite der unteren Arkaden halbiert. Die Proportion der Rundbogenöffnungen und die großen quadratischen Deckplatten der Säulen, die weit über den Schaft hinausragen, zeigen die Renaissance an, die sich hier mit den Formen des 14. Jh. wohlabgestimmt verbindet. Der Brunnen im Innenhof des Kreuzgangs gehört zum Bestand des 16. Jahrhunderts. Die Winde zum Hochziehen des Schöpfeimers ist zwischen zwei Säulen eingespannt, die einen Rundbogen stützen, der die Last eines schweren Giebels zu tragen hat.
In den Umkreis von S. Maria di Propezzano gehören andere Kreuzgänge. Die Anlage von S. Agostino in Penne ist durch Einbauten von Magazinen und Wohnungen so entstellt, daß nur kümmerliche Reste des Bogengangs zu erkennen sind, dessen Ziegelsäulen Kapitelle zeigen, die, wie in S.Maria di Propezzano, kubisch geformt sind. Weitere Einflüsse bemerkt man am heute zweckentfremdeten Kreuzgang von S. Francesco in Loreto Aprutino. Die Anlage ist rechteckig mit sechs rundbogigen Öffnungen auf der einen und vier auf der anderen Seite. Die Bogen sind abgestuft. Den Schub des äußeren Bogenlaufs fangen auf einer Sockelbank stehende mächtige Pfeiler ab, deren Halbsäulenvorlagen mit kubischen Kapitellen den inneren Bogenlauf tragen. Auf dem gewölbten Untergeschoß erhebt sich über einem Gesims ein oberes niedrigeres Stockwerk, das zu Wohnungen umgestaltet ist. Etwas später, wahrscheinlich erst in der zweiten Hälfte des 14. Jh., entstand der Kreuzgang im Anschluß an die rechte Langhauswand von S. Maria dei Lumi in Civitella del Tronto. Die rundbogigen Öffnungen werden (S. 325) von kräftigen achteckigen Pfeilern mit kubischen Kapitellen gestützt.
Von der Forschung bisher unbeachtet blieb der Kreuzgang des Franziskanerkonvents in Mosciano S. Angelo. Auf einer umlaufenden Sockelwand öffnen sich zum Innenhof hohe, enggestellte Rundbogen auf Polygonalpfeilern. Das Kreuzgratgewölbe setzt auffallend hoch auf Konsolen an. Diese liegen nahezu in Höhe der Arkadenscheitel und entsprechend hoch auf der gegenüberliegenden Wand. Damit erklärt sich der ungewöhnlich hohe Wandabschnitt zwischen der unteren und oberen Etage. Es bestehen Beziehungen zum Kreuzgang von S. Francesco in Loreto Aprutino. Hier wie dort ist das Gesims unter dem Ansatz des Obergeschosses zu beobachten. Wegen moderner Einbauten ist in Lorero Aprutino im oberen Stockwerk keine Arkadenreihe zu erkennen. An einer Seite des Kreuzgangs von Mosciano S. Angelo ist eine solche erhalten und zeigt dieselbe Struktur wie die Rundbogenstellung des Untergeschosses von S. Francesco in Loreto Aprutino. In beiden Fällen ist der Bogen abgestuft, der äußere Bogenlauf setzt auf dem Pfeilerkern auf, während der innere von Pfeilervorlagen aufgefangen wird. In Mosciano S. Angelo zeigen beide Geschosse die gleiche Bogenweite. Es besteht also die Möglichkeit, das Obergeschoß von S. Francesco in Loreto Aprutino nach dem Befund von Mosciano S. Angelo zu rekonstruieren. In der Mitte des Hofes sieht man einen Brunnen, der gewisse Merkmale der Zisterne von S. Maria di Propezzano vorwegnimmt. In den Rand des runden Beckens sind zwei Pfeiler eingefügt, zwischen denen in der Höhe das Gewinde zum Schöpfen des Wassers angebracht war. Die Pfeiler tragen einen Rundbogen, über dem sich das schmale Giebeldach erhebt.
In Teramo zeigen die Kreuzgänge des 14. Jh. keine Beziehungen zur Gruppe um S. Maria di Propezzano. Von den Konventsgebäuden von S. Domenico, die aus der Gründungszeit der um 1327 errichteten Kirche stammen und sich an die rechte Langhauswand anschließen, ist nur die Eingangswand zum Kapitelsaal übriggeblieben. Man hielt sich an die übliche zisterziensische Gliederung, die z.B. in Fossanova in Latium angewandt wurde, mit dem Portal, das von tief in die Wand eingelassenen Fenstern flankiert wird, die in S. Domenico den Spitzbogen zeigen. Der doppelgeschossige Kreuzgang ist das Werk späterer Jahrhunderte. Die Fresken an den Wänden sind dem 17. Jh. zuzuschreiben.
Restaurierungen in jüngerer Zeit haben den Kreuzgang von S. Maria delle Grazie in Teramo freigelegt. Das 1153 gegründete Benediktinerinnenkloster ging 1448 in den Besitz der Franziskaner über, und Giacomo della Marca war an den anschließenden Umbauten und Vergrößerungen beteiligt. Das Untergeschoß ist uneinheitlich. In einem Trakt bestehen die Öffnungen zum Innenhof aus Spitzbogen. Sie ruhen auf einer niedrigeren Sockelwand als die Rundbogen auf den drei anderen Seiten. Diese Unterschiede könnten durch verschiedene Bauphasen erklärt werden, wobei dann die Partie mit den Spitzbogen die ältere wäre. In dem mit Kreuzgratgewölbe ausgestatteten Untergeschoß werden die dem 14. Jh. zuzuweisenden Rundbogen abwechselnd von gedrungenen Säulen und von Polygonalpfeilern gestützt. Die Knaufkapitelle erinnern an zisterziensische Vorbilder. Die Basen der Stützen zieren Eckblätter. Das Obergeschoß wurde von den Franziskanern im 15. Jh. erbaut.
Es verwundert, daß aus der Blütezeit des Kirchenbaus in L'Aquila im Trecento kein gesicherter Kreuzgang überliefert ist. Im verwickelten Baukomplex der Chiesa della B. Antonia ist möglicherweise der rustikalere Trakt des Kreuzgangs dem 14. Jh. zuzuschreiben. Parallel dazu verlief ein noch älterer gewölbter Gang mit tiefer liegenden Fundamenten . Der größere Teil des Gevierts zeigt Renaissanceformen des 15. Jh., die auch im Innenraum der Kirche zu beobachten sind. Ursprünglich gehörte der Komplex den Dominikanerinnen und kam erst im 15. Jh. unter die Verwaltung der Franziskaner.
Im Jahr 1488 ritzte ein Magister Maffiius seinen Namen und die Jahreszahl auf einem Pfeiler des zweigeschossigen Kreuzgangs in S. Francesco in Fontecchio ein, und man brachte den Bau der Anlage mit diesem Datum in Verbindung. Alle Bauglieder und Schmuckformen weisen aber auf das 14. Jh. hin, der Kreuzgang dürfte gleichzeitig mit der nebenstehenden Kirche errichtet sein, die um die Jahrhundertmitte zu datieren ist. Der Magister Maffiius wäre damit zu einem Steinmetz degradiert, der wahrscheinlich nur mit Ausbesserungen beschäftigt war. Die Gestaltung des Kreuzgangs ist unschöpferisch und eklektisch. Im Untergeschoß kommt auf einer Seite der Rundbogen und auf einer anderen der Spitzbogen vor. Säulen wechseln mit Pfeilern. In der oberen Etage tragen die Stützen in einem Trakt Rundbogen und im gegenüberliegenden die Balken des Sparrendachs. Es begegnen Säulen und Pfeiler, man sieht den einfachen Vierkantpfeiler, den achteckigen Pfeiler und einen Pfeilerkern mit vier vorgelegten Halbsäulen. Die mächtigen Kapitelle sind alle verschiedenartig geformt, ebenfalls die Basen, die gelegentlich mit Ecksporen versehen sind.
Der Kreuzgang von S. Francesco in Guardiagrele ist ein Beispiel für die schlichten Anlagen der Franziskaner des 14. Jh., charakterisiert durch einfaches Material, hier der Ziegelstein, und durch die Abfolge von Rundbogen auf polygonalen Stützen. Anstelle dekorierter Kapitelle begnügte man sich mit einem einfachen unbearbeiteten Gesims.
Die Disposition der Kreuzgänge erfährt im 15. Jh. keine grundlegenden Veränderungen. In den Vordergrund rückt nun die Stadt L'Aquila als Hochburg der franziskanischen Observantenbewegung. Die Bedeutung ihrer Klöster S. Giuliano und S. Bernardino war so außerordentlich, daß es dort zum Bau von zwei Kreuzgängen kam, einem kleineren und einem weitläufigeren, den ersten Doppelkreuzgängen in den Abruzzen.
Die Anlage von S. Giuliano scheint zeitlich mit der Klostergründung von 14 I 5 zusammenzufallen. Die Unterschiede zwischen kleinerem und größerem Kreuzgang betreffen nur die Ausmaße, nicht aber die Struktur. Rechteckige Pfeiler aus sauber geschnittenen Hausteinen tragen auf profilierten Kapitellen die Reihe der Rundbogenöffnungen. (S. 326) Der Brunnen im kleinen Kreuzgang entstand im 15.]ahrhundert.
Als die Observanten 1472 ihr Generalkonzil im Konvent von S. Bernardino abhielten, mußten die beiden Kreuzgänge bereits fertiggestellt gewesen sein. Die Klosteranlage mit dem großen Refektorium dient heute als Kaserne. Der kleinere Kreuzgang wirkt recht altertümlich und unterscheidet sich in den Baugliedern von seinem größeren Nachbar. Gedrungene Säulen mit kräftigen Basen und Eckblättern stützen im kleinen Geviert die Rundbogen. Im größeren treten Spitzbogen auf und anstelle der Säulen achteckige Pfeiler mit achteckigen Basen, die über einer Sockelwand ansetzen.
Das Gelände des Kreuzgangs von S. Domenico dient heute als Gefängnis, und für einen Nichtinhaftierten ist der Zutritt äußerst schwierig. Die zweigeschossige Anlage besteht im unteren Teil aus zwei gegenüberliegenden Trakten mit neun und zwei anderen mit acht Bogenöffnungen. Alle ruhen auf Säulen und Kapitellen. Auf ihnen sowie auf entsprechenden Konsolen an der Wand setzt auch das Kreuzgratgewölbe an. In der oberen Etage sind die Rundbogenöffnungen nur halb so weit wie im Untergeschoß.
Der Kreuzgang von S. Maria del Soccorso entstand gleichzeitig mit der Kirche zwischen 1469 und 1472. Auf Sockelwänden tragen Säulen mit Renaissancekapitellen die Spitzbogen. Das bereits an der Kirche vorkommende Wappen der Olivetaner erscheint auch an den Kapitellen des Kreuzgangs. Die Olivetaner gehörten zur Benediktinerkongregation; ihre Regeln sind strenger als die der Benediktiner und wurden 1319 vorn Papst bestätigt. Sie nannten sich Mönche vom Monte Oliveto, d. h. vom Ölberg. Drei Berge mit einem Kreuz darüber und zwei Olivenblättern an den Seiten formen das Wappen, das auch an dem gleichzeitig gebauten Brunnen im Innenhof des Kreuzgangs zu sehen ist.
Im ehemaligen Konvent von S. Lucia in Sulmona sind durch Einbauten von Magazinen und Wohnungen nur kümmerliche Reste eines Kreuzgangs übriggeblieben. Wie so oft zeigt das Untergeschoß den Wechsel von Rund-und Spitzbogen. Auf einer Seite ruhen vier Spitzbogen auf kräftigen viereckigen Pfeilern mit abgestuften Profilen an statt von Kapitellen. An der an die Kirche angrenzenden Seite zählt man fünf Rundbogen, die, wie noch Reste von Kapitellen erkennen lassen, auf Pfeilern und Säulen ansetzten. Die obere niedrigere Etage setzt sich von der unteren durch ein Gesims ab. Säulen mit Renaissancekapitellen trugen hier die Rundbogen. Aus der gleichen Bauzeit wie der Kreuzgang stammt der Brunnen im Hof.
Die zwischen 1455 und 1503 entstandene Kirche S. Maria di Valleverde in Celano verfügt auf ihrer rechten Seite über einen kleinen Kreuzgang. Pfeiler und Profil platten tragen die rundbogigen Öffnungen. An einigen Stützen sieht man den Halbmond als Wappen der seit 1463 in Celano residierenden Familie Piccolomini. Nur an der an die Kirche anschließenden Seite ist im ersten Stock eine Loggia angebracht.
Die alte Franziskanerkirche in Castelvecchio Subequo hatte im 15. ]h. derart an Bedeutung gewonnen, daß die alten Konventsgebäude nicht mehr ausreichten. Zeugnis der Modernisierung ist der große rechteckige zweigeschossige Kreuzgang. In beiden Stockwerken stützen kräftige rechteckige Pfeiler mit Profilkapitellen die rundbogigen Öffnungen. Die aus Kalksteinquadern errichteten Stützen zeigen beste Werkarbeit. Im Untergeschoß setzen die Kreuzgratgewölbe auf den Profilkapitellen an. Die Weite der Bogenöffnungen in der oberen Etage ist geringer als in der unteren, aber nicht, wie üblich, halbiert, so daß die Pfeiler in den beiden Geschossen nicht miteinander korrespondieren.
In Teramo sind drei Seiten eines eigentümlichen doppelgeschossigen Kreuzgangs des 15. ]h. im Exkonvent von S. Giovanni überliefert. Der untere Teil des Umgangs zeigt Kreuzgratgewölbe; die rundbogigen Öffnungen werden von Säulen getragen. Bei ihrer Aufrichtung scheint man Basen mit Kapitellen verwechselt zu haben, denn in einigen Fällen dienen Basen als Kapitelle und umgekehrt.
Die Kreuzgänge des 15. und 16.]h. verlieren immer mehr den Charakter eines Ortes der Abgeschiedenheit. Besonders in L' Aquila sind die späten Anlagen kaum noch von den Innenhöfen der Paläste zu unterscheiden. Die Bogengänge im Innenhof des Palazzo Pica-Alfieri in der Via Fortebraccio z.B. zeigen alle Merkmale eines Kreuzgangs, oder umgekehrt erinnert der Kreuzgang der Kirche S. Maria dei Soccorso an Höfe mancher Stadtpaläste. Unter Beibehaltung der traditionellen Struktur nehmen die Kreuzgänge nun eine große Fläche in Anspruch. Die Ursache dafür braucht nicht nur ein Ansteigen der Mitglieder der Mönchsfamilie gewesen zu sein. Die Kreuzgänge hatten neue Funktionen zu erfüllen. Diese Anlagen erhielten im Hinblick auf soziale Aufgaben ein immer größeres Gewicht. Dort betrieb man die Armen-und Krankenpflege, und auch dem wachsenden Schulbetrieb standen hier Räume zur Verfügung.
Der Kreuzgang des 15. ]h. von S. Maria di Collemaggio in L' Aquila zeigt monumentale Ausmaße mit elf Bogenöffnungen an den Seiten parallel zur rechten Langhauswand der Kirche und neun Öffnungen in den anderen Trakten. Auch diese Ausdehnung reichte nicht aus. Im Anfang des 16.]h. kam ein kleinerer Kreuzgang hinzu mit sechs Öffnungen an den längeren und fünf an den kürzeren Seiten. Zu den großdimensionierten Umgängen gehört z.B. die wohlgestaltete Anlage von S. Chiara in Sulmona. Das Untergeschoß zeigt sechs weitgespannte Rundbogen auf Pfeilern, während die von Säulen gestützten Öffnungen der ersten Etage nur halb so groß sind.
Weltliche Architektur
Burgen und Stadtbefestigungen
Mit Burgen oder burgähnlichen Anlagen sind Abruzzen und Molise übersät. Man könnte fast in jedem Ort Burgenforschung betreiben. In der Kunstgeschichte setzt das Studium des Burgenbaus sehr viel später ein als dasjenige der sakralen Architektur. Die Festen sind umwoben von Sagen, Schauergeschichten, Spuk, zeugen vom höfischen Leben, das sich in ihnen abspielte, und als überbleibsel einer versunkenen Welt erscheinen sie dem Betrachter in magischem Zau (S. 327) ber. Erst in den letzten Jahrzehnten begann man, den Bestand nach kritischen Methoden der Architekturgeschichte zu sichten. Neben einigen vorzüglichen Einzeluntersuchungen, die der immer noch unübertroffene Gavini bereits 1927 unternahm und andere Forscher dann viel später anstellten, erschien erst 1975 die eingehende Studie von Carlo Perogalli über den Burgenbau in unserer Region. Dieses Buch ist ein vorsichtig tastender Anfang und beantwortet freilich noch längst nicht alle Fragen, die wir wißbegierig an den Burgenbau stellen.
Eine Burg ist nicht für die Ewigkeit gebaut. Sie muß verteidigt werden, wird angegriffen und zerstört. Wir kennen in unserer Landschaft keine erhaltene Feste, die vor das Ende des 12. Jh. zu datieren ist. Wohl sind Verteidigungsanlagen dokumentarisch aus früheren Jahrhunderten überliefert, man hat diese Nachrichten aber meistens fälschlicherweise mit dem erhaltenen Bestand in Verbindung gebracht. Wir wissen von langobardischen und normannischen Burgen in den Abruzzen und im Molise, aber von den bestehenden ist keine mit Sicherheit auf diese Zeiten zurückzuführen.
Weniger als in anderen Landschaften Italiens haben die Verteidigungswerke in unserer Region Chancen zum überdauern. Naturkatastrophen wie Erdbeben und Bergrutsche waren und sind die größten Zerstörer. Die meisten erhaltenen Burgen sind unbewohnt und wegen des ruinösen Zustands funktionslos. Staatliche Behörden sind nicht in der Lage, einer schleichenden Vernichtung entgegenzuwirken. Viele Anlagen erscheinen heute als Schutthaufen, von denen wir nicht wissen, ob etwaige Restaurierungen oder Grabungen von Erfolg sein könnten. Derartige überbleibsel sind über die ganze Landschaft verstreut, z. B. in Pescosansonesco, Anversa degli Abruzzi, Caramanico, Raiano und anderswo.
Die Befestigungsanlagen sind höchst ungleichmäßig über unser Bergland verteilt. Ballungszentren bilden die Provinz L' Aquila und das Molise. Bei der Anlage von Burgen spielen die antiken und mittelalterlichen Verkehrswege eine Rolle. Mit Ausnahme von Popoli und Pescina gibt es allerdings keine Befestigungen, die die Straßen strategisch überwachten, vielmehr befinden sie sich nur in der Nähe der Verkehrsadern.ln der Provinz L'Aquila kommt die alte Valeria wieder zu Ehren. An ihr liegt das Kastell von Pereto, dieses etwas abseits von der Straße; weiterhin findet man entlang der Valeria Burgen in Carsoli, Scurcola, Alba Fucense, Celano, Gagliano Aterno, Castel di Ieri, Raiano, Vittorito, Roccacasale, Popo li und Tocco da Casauria. Bedeutungsvoll ist die Straße von Popoli nach L'Aquila mit den Burgen von Bussi, Capestrano, S. Pio delle Camere und Barisciano. Vom letzteren Ort führt eine Abzweigung in die südlichen Ausläufer des Gran Sasso zu den Festen in S. Stefano di Sessanio (1251 m hoch), Rocca Calascio (1460m) und Castel dei Monte (1310m). Wichtig wie immer ist die Via Abruzzese, die von Sulmona nach Kampanien führt, mit Befestigungen in Introdacqua, Pettorano dei Gizio und Alfedena. Ein eigener Kranz von Burgen bildete sich um den Fuciner See.
Daß die Abruzzen kein selbständiges Staatsgefüge waren, bestätigt auch der Burgenbau. Die Grenzen zu den benachbarten Landschaften sind strategisch ungeschützt. So ist die ausgedehnte Grenzlinie zum Kirchenstaat unbefestigt. Die nördlichen Gegenden nach Umbrien hin sind am häufigsten von Einfällen betroffen, doch ist im Norden von L'Aquila keine Befestigung vorhanden. Noch unzureichender war die Verteidigung im adriatischen Hügelland. Mit Ausnahme eines kleinen Gebiets nordöstlich von Teramo in Richtung Ascoli Piceno sind Verteidigungswerke im Verhältnis zur Provinz L'Aquila äußerst selten. Die wenigsten Burgen sind im wilden Gebirge der Maiella festzustellen. Die Undurchdringlichkeit des Massivs bot hinreichend Abwehr.
Einer ähnlichen Verteilung der Wehrbauten begegnen wir im Molise. Auch hier liegt die größte Anzahl von Kastellen unweit der großen Verkehrswege, besonders an der Straße, die von Neapel und Capua nach Campobasso führt mit Wehranlagen in Venafro, Monteroduni, Carpinone, Macchiagodena und Campobasso. An der von letzterem Ort nach Alfedena gehenden Straße liegen Burgen in Castropignano, Torella del Sannio, Pescolanciano und Cerro al Volturno. Der Verbindungsweg von Campobasso nach Apulien weist Kastelle in Riccia und Tufara auf. Das weite Gebiet nordöstlich von Campobasso zur Adria hin kennt bis auf die Küstenbefestigung von Termoli kaum Burgen.
Weil es als selbstverständlich gilt, daß Wehranlagen von zuständigen Feudalherren gebaut wurden, hat man zu wenig danach gefragt, ob die weltlichen Burgherren alleinige Auftraggeber waren. Denn zweifelsohne beschäftigte sich auch der geistliche Stand mit Verteidigungsbauten. Schon die Wahl eines Ortes für eine Klosterniederlassung konnte von strategischen Gesichtspunkten bestimmt sein. Beispielsweise entstand das Kloster S. Clemente a Casauria auf einer gesicherten Insel zwischen zwei Flußarmen der Pescara. In einer prekäreren Situation befanden sich die Mönche von S. Giovanni in Venere. Wegen ihrer exponierten Lage auf einer weit sichtbaren Anhöhe über der Adria taktierten sie sehr vorsichtig. Um sich Fluchtmöglichkeiten offenzuhalten, unterhielten sie drei Kilometer landeinwärts eine Burg, die man vom Kloster auf nicht einsehbaren Pfaden zwischen felsigem Gestein erreichen konnte. Hier stand ihnen in Notzeiten eine zweite Kirche zur Verfügung, S. Matteo Apostolo, eingefriedet von starken Verteidigungsmauern mit Türmen, von denen Reste noch schlecht und recht zu sehen sind. In einer anderen ebenfalls ungünstigen Situation befanden sich die Mönche von Bominaco. Wegen vorgelagerter Berge waren sie nicht in der Lage, wichtige Bewegungen auf der Straße von L'Aquila nach Popoli übersehen zu können. Um sich vor überraschungen durch den Feind abzusichern, errichteten sie mehr als hundert Meter über ihrer Mönchssiedlung einen Turm, der wahrscheinlich als Beobachtungsstand diente und den Blick auf die Verkehrsader freigab. Der Turm und Reste von umliegenden Gebäuden sind noch erhalten.
Andere Mönchsgemeinschaften verhielten sich so, daß sie ihre Kirchen und Konventsgebäude von Anfang an als Wehrkloster anlegten, z.B. in S. Croce in Roccamontepiano. (S. 328) Eine Gruppe befestigter Klöster aus dem Ende des 12. Jh. und aus dem 13. Jh. bilden die Konvente von Civitella Casanova, S. Bartolomeo in Carpineto della Nora und S. Spirito d'Ocre bei Fossa.
Wieweit die Gemeinden am Wehrbau beteiligt waren, ist schwierig festzustellen. Oft beobachtet man an höchster Stelle eines Ortes einfache Türme, die indessen wegen der umliegenden Wohnhäuser nicht zur Verteidigung dienen konnten. Sie waren Wachtposten, aber darüber hinaus repräsentierten sie vielleicht den Stolz eines Gemeinwesens. Denn es ist auffällig, daß gerade der Turm auf vielen Wappen als Wahrzeichen einer Stadt auftritt.
Im Verlauf unserer Darstellungen konnten wir oftmals feststellen, wie die Abruzzen immer mehr den Staatsinteressen des Südreichs unterworfen wurden. Merkwürdig bleibt jedoch die Tatsache, daß vor dem 16. Jh. die königliche Verwaltung nur selten in den Befestigungsbau in unserer Landschaft eingriff. Im Verbund eines Gesamtplanes, die adriatische Küste in einen besseren Verteidigungszustand zu setzen, entstand unter Friedrich von Hohenstaufen das Küstenkastell von Termoli.
In der Provinz Teramo liegt die Burg Manfrino, als deren Bauherr König Manfred von Sizilien (gest. 1266), der Sohn Friedrichs II., überliefert ist. Auf welchen historischen Angaben diese Annahme beruht, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls stellt der Besuch dieser Anlage eine der schönsten Wanderungen dar, die man von der großen Landstraße aus, die Teramo mit Ascoli Piceno verbindet, unternehmen kann. Von Süden kommend biegt man zwischen den zu Civitella del Tronto gehörigen Ortsteilen Rocche di Civitella und Passo nach links ab und erreicht die Gehöfte von Le Ripe. Von dort aus führt ein Fußweg zur Einsiedelei S. Michele, auch Grotta S. Angelo genannt, die mit einer Tropfsteinhöhle mit Stalagmiten und Stalaktiten verbunden ist. Kurz danach gelangt man in die grandiose Felsschlucht, durch die sich der flußlauf des Salinello zwischen der Montagna dei Fiori und der Montagna di Campli hindurchwindet. Am Ende der Klamm findet man die Reste des Castello Manfrino, das auf römischen Fundamenten errichtet sein soll.
Der Tradition nach wurde das Kastell von Carsoli 1293 von Karl II. Anjou gegründet. 1452 datiert ist das Kastell am Stadtrand von Ortona, ein Bau des Königs Alfons von Aragon. Zur Errichtung planmäßiger Verteidigungsanlagen im Südreich kam es erst im 16. Jahrhundert. Auf Anordnung Karls v. entstanden an mehr als dreißig Orten Befestigungen. Die Stützpunkte in den Abruzzen bildeten den Schutz des Königreichs nach Norden. 1534 begannen die zwanzig Jahre währenden Bauarbeiten am Kastell von L' Aquila. Etwa ein Jahr später nahm der Ausbau der Feste Pescara seinen Anfang, und 1556 entstand das als uneinnehmbar geltende Fort von Civitella del Tronto als Bollwerk gegen die Franzosen.
Der Burgenbau in Abruzzen und Molise entwickelte keinen eigenen Stil. Er reproduziert im wesentlichen Formen, die in ganz Italien und vielen Ländern Europas bekannt waren. Trotzdem unterscheiden sich die Wehranlagen im Verhältnis zu Ober-und Mittelitalien. Dort ging der Fortifikationsbau, oft in größeren Dimensionen, von den Städten aus und zeigt eine größere Einheitlichkeit der Planung als in unserem Bergland. Hier war man wegen der komplizierten Beschaffenheit des Terrains gezwungen, die Grundrisse zu differenzieren. Es entstanden häufig tollkühne Gestaltungen, wobei Fels und Burg eine erstaunliche Symbiose eingehen. Von anderer Natur waren auch die Auftraggeber. Im Gebirge residierten meist bescheidene Burgherren mit geringen Kompetenzen, die sich, mit Ausnahme der Anlagen in Celano und Balsorano, mit kleineren schlichten Bauten zufriedengaben. Durch die Gebirgszüge, die die Besitzungen voneinander trennten, war die gegenseitige Fühlungnahme der Feudalherren nicht sehr ausgeprägt, und jeder baute, wie es ihm gutdünkte. Durch die Beschaffenheit der Natur ist man in den Abruzzen mehr als in anderen Landschaften gezwungen immer neue Lösungen zu finden. Einmalig ist in unserer Region die Verknüpfung der Burganlage mit der meist noch ursprünglichen landschaftlichen Umgebung. Ausgangspunkt und Wirkungsbereich der Befehlsgewalt stellen sich noch in ihrem Zusammenhang dar, und so wird die Geschichte einer Burg dem Beschauer im wahrsten Sinn des Wortes augenfällig.
Die Funktionsbereiche und Bautypen sind, wie gesagt, in den Abruzzen äußerst vielfältig. Je älter die Burgen, desto defensiver die Gestaltung. Derartige Anlagen bestehen entweder aus Einzeltürmen, die im Molise seltener vorkommen als in den Abruzzen, oder aus größeren, komplizierten Kastellbauten, ausgestattet mit starken Verteidigungsmauern und Türmen. Sie erreichen eine Blütezeit im 13. und J4. Jahrhundert. In der Folge entstehen Bauten, die die Burgherren immer mehr zu Wohn zwecken ausgestalteten, anfänglich allerdings noch sehr auf Abwehr eingerichtet; später hingegen werden burgähnliche Feudalsitze üblich, die den Palästen näher stehen als den Burgen, wobei der Formenapparat der Verteidigungsanlagen nur noch dekorativen Wert besitzt. Die Entwicklung vom Verteidigungs-zum Wohnkastell ist wegen des oft ruinösen Zustands vieler Burgen nicht leicht festzustellen. Der Burgenbau erschöpfte sich seit dem Gebrauch der Feuerwaffen, denen eine mittelalterliche Anlage nicht standhalten konnte. Das 16. Jh. entwickelte völlig neue Verteidigungssysteme, die der neuen Waffentechnik angemessen waren. Anstelle der Burgen entstanden die Festungen.
Abb. 57: Aielli, WehrturmDas Abwandeln und Variieren einer Grunddisposition ist in den Abruzzen eine wesentliche künstlerische Eigenart. Wir beobachteten dieses Verhalten u. a. in der Kapitellkunst oder am Portal bau. Dieser Modulationsfähigkeit begegnet man auch an nüchternen Zweckbauten. Von den erhaltenen Einzeltürmen, die meistens zur Kontrolle feindlicher Bewegungen dienten, ist keiner dem anderen gleich. Zur Sicherung der Statik bedurfte der mächtige Rundturm von Ortona dei Marsi im unteren Teil einer Anböschung, die beim Rundturm von Aielli fehlt. Laut Inschrift über einem kleinen Fenster im ersten Stockwerk wurde die Befestigung von Aielli 1356 von Roger, Graf von Celano, gebaut. Gavini hat (S. 329) die Anlage (Abb. 57) genau vermessen. Der Durchmesser beträgt 9,20 m. Im Innern des Turmes, im Abstand von mehr als einern Meter von seinen Mauern, war ein selbständiger Oktogonalbau in drei Etagen aufgeführt. Diese Konstruktionsart ist eine Meisterleistung der Ingenieurkunst. Sollte es dem Angreifer gelingen, die Außenmauer des Turmes zu durchbrechen, so blieben die Verteidiger im Achteckraum dennoch geborgen. Von diesem führten Laufgänge zu den Öffnungen des Rundturmes, so daß feindliche Bewegungen vorn Innenraum aus kontrolliert werden konnten. Das Erdgeschoß des Oktogons liegt zum Teil im felsigen Untergrund und besteht aus einern gedrückten Kuppelraum. Von den acht Ecken ausgehend treffen sich acht Gewölberippen in einern als Blüte gebildeten Schlußstein. Vom Untergeschoß gibt es keinen Zugang zu den beiden oberen Etagen. Diese bestanden aus einer Holzkonstruktion, von denen die untere 4,70 m und die obere 2,50 m hoch waren. Die Verbindung beider Stockwerke erfolgte durch Leitern. Den oberen Teil des Rundturms zerstörte ein Erdbeben.
In S. Stefano di Sessanio liegt der Rundturm an höchster Stelle der Siedlung. Ein vorkragender, mit Zinnen bekrönter Wehrgang bildet den Turmabschluß. Die Stützen dieses Aufsatzes bilden dreifach abgetreppte Konsolen, zwischen denen sich Öffnungen im Mauerwerk befinden, um den Angreifer mit siedendem öl, Steinen usw. abzuwehren. Derartige Brustwehren sind in den Abruzzen vor dem 14. Jh. nicht anzutreffen, und S. Stefano di Sessanio dürfte ein frühes Beispiel für dieses Verteidigungssystem sein.
Neben den runden Türmen begegnen andere mit quadratischem Grundriß, von denen zwei Beispiele die Brustwehr zeigen und später zu Kirchtürmen umgestaltet wurden. Beide liegen an höchster Stelle der Stadt, in Cocullo wie in Ripattoni, einem Ortsteil von Bellante. Unterschiedlich ist das Baumaterial; in Cocullo ist es ein sorgfältig bearbeiteter Haustein, während man in der Provinz Teramo nach alter Gewohnheit den Ziegel verwandte. Der Ort Castel di Ieri wird von einern viereckigen Turm dominiert, der sein altes Aussehen bewahrt hat.
Eine in den Abruzzen und Italien selten angewandte Formgebung beobachtet man am Turm von Introdacqua an der höchsten Stelle des Ortes. Den viereckigen Turm umgibt in geringem Abstand eine polygonale Ringmauer, die sich auf einer riesigen Anböschung erhebt.
Eine Kombination von Rund-und Rechteckturm sieht man in Trasacco, wo sich über dem hohen quadratischen Unterbau ein niedrigerer zylinderförmiger Aufsatz erhebt. Diese Anlage ist einmalig in den Abruzzen. Mit Recht hat man angenommen, daß es sich hier um zwei Bauzeiten handelt. Jedenfalls stammt die Brustwehr aus viel späterer Zeit als der untere Bauteil.
Seltener erscheinen fünfeckige Türme. Ihr Grundriß setzt sich aus drei Seiten eines Quadrats zusammen sowie zwei gleichen Schenkeln eines Dreiecks, dessen Basis der vierten Seite des Quadrats entspricht. Die zugespitzte Partie der Anlage weist in die Richtung, von der man den stärksten Angriff erwartete. Innerhalb einer Kastellanlage können mehrere Rund-und Rechtecktürme auftreten, aber niemals ist das bei einern Fünfeckturm der Fall. Dieser stellt eine typisch mittelalterliche Form dar, die in der Renaissance keine Verwendung findet. Ein Beispiel für den isolierten Fünfeckturm sieht man in Pettorano sul Gizio an höchster Stelle der Siedlung. Ob die Brustwehr am oberen Abschluß ursprünglich vorhanden war oder einer nachfolgenden Bauzeit angehört, mag dahingestellt bleiben. Sicherlich stammen die Verteidigungsmauern und ein Rundturm, in deren Verband sich das Fünfeck heute befindet, aus späterer Zeit.
Ob der gigantische Fünfeckturm über der Stadt Pescina isoliert stand oder Teil eines größeren Verteidigungswerks war, wird man nach den Schäden des Erdbebens von 1915 und des Zweiten Weltkrieges kaum noch feststellen können. Der Turm hatte große strategische Bedeutung. Von dort aus überwachte man das enge Tal des Flusses Giovenco, an dem sich die wichtige Straße hinzog, die Anversa und Sulmona im Gebiet der Paeligner mit Pescina im Marserland verband. Die Widerlager, die den Ansatz des Turmes an verschiedenen Seiten abstützen, gehören nicht zum ersten Bauzustand.
Ein achteckiger Turm kommt in den Abruzzen nur einmal in Alfedena vor. Die bereits seit langem verfallene Anlage an höchster Stelle des Ortes wurde im Zweiten Weltkrieg noch mehr in Mitleidenschaft gezogen.
Abb. 58: Termoli, Kastell, Sockelgeschoß und TurmzisterneEine Sonderstellung nehmen die Küstentürme an der Adria ein. Die unmittelbar am Meer liegende Festung in Termoli (Abb.58), eine der großartigsten Wehranlagen im Molise, setzt sich aus zwei Teilen zusammen (Tf. 208). Der Unterbau ist fast in seiner gesamten Höhe angeböscht. An seinen Ecken befinden sich vier eigenartige zylinderförmige Türme, die nicht an der Basis des Baues ansetzen, sondern (S. 330) etwa in halber Höhe aus der Anböschung herauswachsen und die Plattform des Untergeschosses nicht überragen. Darüber erhebt sich der große rechteckige Turm, der Raum läßt für einen Umgang und Zugang zu den Terrassen der vier Ecktürme. Ähnlich wie im Hafenturm von Manfredonia befand sich auch im Kastell von Termoli im untersten Geschoß eine tonnengewölbte Zisterne. Der obere Abschluß der Kastellanlage in Termoli ist das Werk der Restauratoren. Das Mauerwerk, wie es sich heute darbietet, ist sicherlich nicht mittelalterlich, sondern stammt aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. und dem 16. Jh., doch scheint sich das Kastell auf einen mittelalterlichen Bau zurückführen zu lassen. Im Volksmund wird der mächtige Turm nach Friedrich Barbarossa benannt, aber erst aus der Zeit Friedrichs II. von Hohenstaufen gibt es gesicherte Quellen für seine Existenz. Nachdem die Venezianer das befestigte Termoli 1240 verheert hatten, beschloß Friedrich H. 1247 den Bau eines Kastells. Eine ähnliche Anlage wie in Termoli zeigt der fast völlig zerstörte Unterbau des Turmes von Castel Fiorentino bei Lucera, wo Kaiser Friedrich 1250 starb. Der Typ einer Wehranlage, die sich auf einen einzigen Baukörper beschränkt, entwickelte sich aus dem »Donjon« in Frankreich und England und kam seit der Normannenzeit auch auf dem südlichen italienischen Festland und in Sizilien vor.
Längs der Adria hatte die Struktur des Kastells von Termoli ein langes Nachleben. Dafür läßt sich in der Spätrenaissance ein Beispiel in Silvi Marina nördlich von Pescara anführen. Dort zeigt der Turm von Cerrano die gleiche Grunddisposition wie der in Termoli. Ober einem annähernd quadratischen Unterbau, der in einer Terrasse endet, steht ein Turm mit einem etwas kleineren quadratischen Grundriß. Sowohl der obere Abschluß des Unterbaus wie der des Turmes sind, wie in Termoli, mit Brustwehren versehen.
Die systematische Befestigung der Adriaküste setzte unter den Spaniern im 16. Jh. ein, als der Bau der Festungen von L'Aquila, Pescara und Civitella del Tronto schon einen gewissen Abschluß erreicht hatte. Neri Scerni hat sich 1955 mit einem Manuskript in der Pariser Nationalbibliothek beschäftigt, ein aus dem Jahre 1598 stammender Visitationsbericht der Küstentürme, den der damalige königliche Gouverneur der Abruzzen, der Marchese di Colenza, an den Vizekönig in Neapel geschickt hatte. Die Handschrift enthält Bau-und Lageskizzen von Anlagen in der Capitanata und den Abruzzen. Auftraggeber für die Errichtung der Küstenstationen war der Vizekönig Perafan di Ribera, Duca d'Alcala (1559-1571). Drei Türme im Molise und dreizehn von fünfzehn inspizierten Anlagen in den Abruzzen wurden zwischen 1563 und 1568 errichtet. Die beiden anderen Türme stammen aus früheren Zeiten, der eine in Martinsicuro wurde kurz vor 1550 erbaut, die Bastion in S. Vito Chietino entstand zwischen 1395 und 1427. Von diesem heute nicht mehr existierenden Bau hat der Marchese di Colenza eine Zeichnung angefertigt, woraus hervorgeht, daß er stilistisch ein Bindeglied zwischen der Stauferburg von T ermoli und der Küstenstation T orre del Cerrano in Silvi Marina darstellt. Wieder zeigt der Sockel bau eine Anböschung, aus der an den vier Ecken runde Türme bis zur Terrasse aufsteigen, auf der der Rechteckturm ansetzt. Brustwehren umgaben wie in Termoli und Silvi Marina den oberen Abschluß des Unterbaus wie den des Rechteckturms. Die übrigen zwischen 1563 und 1568 entstandenen Türme zeigen eine einfachere Gestalt und immer die gleiche Bauweise. Den oberen Abschluß eines kräftigen niedrigen Pyramidenstumpfs bildet eine Brustwehr. Sie verfügt an jeder Seite über drei sich nach oben konisch verjüngenden Pechnasen. Von den drei im Molise inspizierten Bastionen sind noch die Fundamente von der in Campomarino zu sehen, weiterhin ansehnliche Reste der Torre Senarca in Termoli und des Turmes in Petacciato. Von den fünfzehn vom Marchese di Colenza in den Abruzzen beschriebenen Befestigungen sind noch einige erhalten, die Torre MOlO in Ortona allerdings nur in den Grundmauern. In gutem Zustand sind die übrigen Anlagen in Punta Penna bei Vasto, Silvi Marina, Giulianova, Tortoreto und Martinsicuro. Die Baukosten für die Türme, deren Kommandanten ausschließlich Spanier waren, hatten die anliegenden Gemeinden zu tragen.
Bessere Abwehrmöglichkeiten als die Einzeltürme boten die großen Kastellanlagen mit weitläufigen Verteidigungsmauern. Im Innern befand sich der Hauptturm, von dem aus die Kampfhandlungen geleitet wurden. In die Umfassungsmauern baute man kleinere Türme ein, die weit nach außen hervortraten. Damit war die Möglichkeit der Flankensicherung gegeben. Im allgemeinen waren solche Türme rund oder rechteckig, seltener bediente man sich der U-Form, wie in S. Pio delle Camere, oder der L-Form, wie in Barisciano. In den beiden letzten Fällen verzichtete man auf die Plattform, um dem Feind, sollte er die Türme erklommen haben, den Angriff von dieser Stelle aus zu erschweren.
Perogalli hat in den Abruzzen einen Kastelltyp festgestellt, der in der zweiten Hälfte des 13. und im Anfang des 14. Jh. vorkommt. Derartige Burgen befinden sich außerhalb von Siedlungen an Hängen. Die Umfassungsmauern bilden im Grundriß ein gleichschenkliges Dreieck, dessen Basis zur Talseite und dessen Spitze zur Höhe weist, wo der Hauptturm im Schnittpunkt der Schenkel liegt. Diese Befestigungen liegen weit unter dem Gipfel eines Berges. Bei dem alpinen Charakter der Landschaft wäre eine Verteidigung an höchster Stelle eine strategische Unmöglichkeit gewesen.
Das besterhaltene Beispiel dieses pittoresken Burgtyps überliefert S. Pio delle Camere. Der hochgelegene Hauptturm ist ein Fünfeck, dessen Spitze nach der Bergseite weist. Ähnlich wie beim oktogonalen Turm von Alfedena wird der aus Bruchstein errichtete Bau an den Kanten durch kräftige Quadern verstärkt. Der Turm wurde in späterer Zeit erhöht, und in dem andersartigen Mauerwerk des oberen Abschlusses zeichnet sich deutlich der ältere niedrigere Zinnen kranz ab. Vom Hauptturm ziehen sich die langen Verteidigungsmauern in gleichmäßigem Gefälle talwärts. Ungefähr in ihrer Mitte sind die besagten Türme in U-Form eingesetzt. Der Hanglage entsprechend ist der obere Abschluß der Mauern getreppt, ebenso wie der Wehrgang dahinter. Die dem Tal zugewandte Seite der Anlage ist stark zerstört.
(S. 331)Die gleiche Disposition wie in S. Pio delle Camere erscheint auch in Roccacasale. Anstelle des Fünfecks zeigt der Hauptturm an der höchsten Stelle hier einen polygonalen Grundriß, der sich dem Quadrat annähert. Mit Ausnahme des obersten Geschosses waren die übrigen Stockwerke des Turmes tonnengewölbt. Im Innern des Kastells befinden sich viele größere und kleinere Baulichkeiten aus Stein, deren Funktion nicht eindeutig zu bestimmen ist.
Dicht über der Stadt Popoli liegt am Hang die Burg der Cantelmi. Die im Grundriß dreieckige Anlage zeigt, wie in S. Pio delle Camere, an höchster Stelle einen Fünfeckturm, dessen Spitze zur Bergseite weist. Von der Stadt aufsteigend sieht man links an der dem Tal zugewandten Seite der Befestigungsmauer einen mittelalterlichen rechteckigen Turm und rechts ihm gegenüber einen mächtigen Rundrurm des 16. Jh. mit Schießscharten für Feuerwaffen.
Einen weitläufigen Zusammenhang mit den Burgen in S. Pio delle Camere, Roccacasale und Popoli zeigen andere Wehrbauten. Der ruinöse Zustand der dreieckigen Anlage der Burg von Pescasseroli läßt den Verwandtschaftsgrad nur schwer erkennen. Die Grundform von S. Pio delle Camere wiederholt die Burg in Pesche im Molise. Allerdings fehlt hier der fünfeckige Turm an höchster Stelle. Die Langseiten der Verteidigungsmauern verlaufen über ein ungleichmäßig und steil ansteigendes Gelände. Die Distanz zwischen dem tiefsten Punkt des Kastells und der darunterliegenden Stadt ist geringer als üblich.
Nur wenige Kilometer von S. Pio delle Camere entfernt liegt die Burg von Barisciano. Gemeinsam ist beiden die Hanglage und der fünfeckige Turm. In allem anderen unterscheiden sie sich jedoch. Da das ansteigende Gelände über der Stadt keine extremen Höhen erreicht, errichtete man das Kastell direkt unter dem Gebirgskamm, eine günstige Position, zumal das Terrain dahinter steil abfällt und einen natürlichen Verteidigungsschutz bot. Der Fünfeckturm steht nicht wie sonst an der höchsten Stelle, und die Umfassungsmauern bilden statt eines Dreiecks ein Viereck mit unregelmäßigen Seitenlängen. Die talwärts laufenden Mauern sind kürzer als bei allen vorgenannten Burgen, weshalb sich der Einbau der üblichen Türme erübrigte.
Die meisten Verteidigungswerke des 13. und 14. Jh.lassen sich in keine Gattung einordnen. Die Skala der Variationen ist unbegrenzt. Die um 1293 entstandene Burg im höchsten Teil der Stadt Carsoli zeigt im Grundriß die L-Form. Der ruinöse Zustand läßt nur wenige Aussagen zu. Erhalten ist der Hauptturm, der anfänglich vielleicht isoliert stand, bevor er von der Ringmauer eingeschlossen wurde, von der noch Teile der Kurtinen und zwei kleinere Türme zu sehen sind.
Abb. 59: Calascio, BurgDie bestdurchdachte Wehranlage dieser Zeit liegt über dem Ort Calascio (Abb. 59). Erreichte schon die nahegelegene Burg von Barisciano direkt unter der Kuppe des Berges eine beachtliche Höhe, so ging man in Calascio (Tf. 209) einen Schritt weiter und errichtete das Kastell auf der Spitze eines gewaltigen, 1464 m hohen Berges. Unterhalb der Burg liegt der Ort Rocca Calascio, der heute unbewohnt ist. Die Einwohner zogen weiter talwärts in das bequemer gelegene Calascio in 1200 m Höhe. Die strenge und straffe Konstruktion ist in dieser Zeit einmalig in den Abruzzen und erinnert an die Militärarchitektur der Staufer in Süditalien, ähnlich wie die Küstenstation von Termoli (1247). Beide dienten als Garnison und sind nicht als Volks-oder Fluchtburg oder aber als Wohnsitz eines Burgherren gegründet. Den Unterbau der Anlage bildet ein solides, an den Seiten angeböschtes quadratisches Fundament. An seinen vier Ecken steigen Türme auf, deren steile Böschungen in Höhe des Plateaus in die Zylinderform übergehen. Dazwischen erheben sich hohe Kurtinen mit Zinnen. Die Mitte des Innenhofes nimmt ein mächtiger rechteckiger Hauptturm ein, der eine prachtvolle Bearbeitung des Steins zeigt. Die Wand baut sich aus Lagen von Quadern ungleicher Breite auf, so daß die Fugen keine durchgehenden Vertikalen bilden. Im oberen Teil sind die Steine sorgloser zusammengefügt, doch zeigen die Ecken die übliche Verstärkung mit Quadern.
Am oberen Stadtrand von Pereto paßt sich die Burg in Polygonalform dem Gelände an. Der sonst von einem Mauerring eingeschlossene Hauptturm bildet hier eine Ecke der Verteidigungsmauer. Ihm gegenüber steht ein schmaler Rechteckturm, dessen Seiten nicht parallel zu denjenigen des Hauptturms verlaufen. Die Verbindung beider stellt die Ostwand des Kastells her, eine ungewöhnlich hohe Verteidigungsmauer. Sie wird an der Außenseite durch einen Blendbogen geteilt, dessen pilasterartige Stützen vom Erdboden aufsteigen. Der enge Bogen stützt ein steinernes Podest, das vom Wehrgang nach außen vorkragt. Diese seltene Konstruktion wird auf der Nordwestseite wiederholt, die die Verbindung zwischen dem kleineren Turm der Ostseite und einem dritten Rechteckturm herstellt. Die Einzelformen machen eine Datierung in das 14. Jh. wahrscheinlich.
Abb. 60: Pacentro, BurgDie Burg von Pacentro (Abb.60), deren ältere Teile um 1400 errichtet wurden, gehört zu den interessantesten und eindrucksvollsten Wehranlagen der Abruzzen (Tf. 210). 1964 führte man großzügige Restaurierungen durch, die einmal die Statik der hochragenden Türme sichern, zugleich aber durch Ausgrabungen innerhalb der Ringmauern der Forschung dienen sollten. Der Mauergürtel bildet ein unregelmäßiges Viereck, an dessen Ecken zur Bergseite hohe (S. 332) viereckige Türme aufsteigen, deren Zinnenkränze noch erhalten sind. Ein dritter Turm, jedoch nicht mehr in ursprünglicher Höhe, nimmt ungefähr die Mitte der Befestigungsmauer an der Ostseite ein. In der zweiten Hälfte des 15. Jh. verstärkte und erweiterte man die Umfassungsmauern an drei Seiten mit angeböschten Rundtürmen, die aus Verteidigungsgründen an der Bergseite von größerem Durchmesser sind als der Turm an der Südwestecke zum Tal hin. Längs der Talseite ist im Innern ein langer rechteckiger gotischer Bau freigelegt worden, der sicherlich zur Unterbringung der Wache diente. Der Eingang zur Burg lag an der Südwestseite. Feudalherren der Burg waren die Familien Caldora und Cantelmo.
Die Ruinen der Orsiniburg in Alba Fucense lassen vermuten, daß die Anlage des 14. oder 15. Jh. ausschließlich auf Verteidigung eingestellt war. Anscheinend haben wir es mit einem rechteckigen Befestigungswerk zu tun, von dem noch die parallellaufenden längeren Mauerzüge und eines der kürzeren Verbindungsstücke zwischen ihnen erkennbar sind, während die vierte Seite nicht mehr erhalten ist. Die Ecken waren mit Türmen bewehrt, von denen noch zwei Rundtürme und ein Rechteckturm übriggeblieben sind.
Das Kastell am Stadtrand von Ortona wurde 1452 von König Alfons von Aragon in Meeresnähe errichtet. Die Anlage hat einen fast quadratischen Grundriß. Die Ecken waren durch Rundtürme verstärkt, deren Böschung nach oben durch ein umlaufendes Wulstprofil abgesetzt ist. Ein Erdrutsch riß 1946 die zum Meer gelegene Seite herab, und einer der Ecktürme kann heute noch am Strand besichtigt werden. Alfons wählte diesen in Apulien häufiger vorkommenden Burgtyp auch für den Bau des von ihm errichteten Kastells in Gaeta, das 1443 fertiggestellt war.
Wenig bekannt sind die Verteidigungswerke im Molise. Wie es scheint, ähneln sie stärker den Burgen in den Abruzzen als denjenigen in Apulien und Kampanien. Die größte und eindrucksvollste Trutzburg des Molise liegt an den Ausläufern des Matesegebirges bei Roccamandolfi auf einem isolierten Kalksteinfelsen. Das quadratisch angelegte Kastell ist an den Ecken mit Rundtürmen versehen. Während die Nordseite wegen des jäh abfallenden Geländes durch die Natur geschützt war, bedurfte die Südseite einer kräftigeren Sicherung. Hier ist die aus Bruchsteinen errichtete Mauer sehr stark und durch Einstellung eines Rundturms in der Mitte der Kurtine trefflich verteidigt. Die Rundung des Turmes zeichnet sich wie beim Küstenkastell von Termoli erst im oberen Teil der Böschung ab.
Ein hoher kreisförmiger Turm aus der Zeit der Anjou im 14. Jh. steht an der höchsten Stelle des Ortes Colletorto. Der Bau aus Bruchsteinen ist mit einer Brustwehr ausgestattet. Vereinzelte Reste der umliegenden Kastellanlage sind noch zu erkennen. Stattliche Teile einer Burg bekrönen den Ort Roccapipirozzi, ein Ortsteil von Sesto Campano. Die rechteckige Anlage zeigt angeböschte hohe Kurtinen mit Zinnenabschluß. Die Kegelform des unteren Teils des Eckturms geht erst in Höhe des Wehrgangs in die Zylinderform über. Direkt neben der Verteidigungsmauer steht isoliert ein hoher Turm mit Brustwehr aus der Anjouzeit, ähnlich demjenigen von Colletotto.
Viel zu wenig ist die beachtenswerte Burg an der höchsten Erhebung des Ortes Tufara erforscht. Eine Verteidigungsanlage an dieser Stelle ist bereits in der Zeit der Langobarden belegt. Der heutige Rechteckbau entstand aber viel später. Von dem Ruinenfeld ist die westliche Verteidigungsmauer am besten erhalten. Dort setzt ein Wulstband die Anböschung von der darüber aufsteigenden Kurtine ab. über dem alten Burgplateau erfolgte im 16. Jh. der Aufbau einer Residenz, von der noch eine Galerie von Fenstern an der Westseite zu sehen ist. Aus dieser Zeit stammen die im Areal verstreuten Steinblöcke mit den eingeritzten Buchstaben D und C, wahrscheinlich als Decio Crispano aufzulösen, der hier im 16. Jh. Burgherr war. Der große nachmittelalterliche Anbau an der Westseite war Teil des Kastells. Sehr viele Reste aus früherer Zeit sind sporadisch im Innern der Ruine zu finden, wie Mauerzüge und einige tonnengewölbte Räume.
Seit dem 14. Jh. entwickelt sich neben den eigentlichen Verteidigungsbauten ein Kastelltyp, der mehr und mehr den Bedürfnissen der residierenden Burgherren entspricht. Am fortschrittlichsten erscheint hier wieder die Provinz L' Aquila mit dem Schwerpunkt im Marserland. Derartige Bauten zeigen noch die alten Requisiten mit Türmen und Kurtinen. Der Privatcharakter aber wird deutlich in prächtig ausgestatteten Innenhöfen. Der früher streng nach außen abgeschlossene Kernbau öffnet sich in Fenstern und Loggien, so daß der mittelalterliche Zubehör nach und nach seiner eigentlichen Funktion enthoben und fast historisierend zum Wahrzeichen der Feudalschicht wird.
Ein sehr frühes Beispiel für diese Umwertung sehen wir in Gagliano Aterno. Die an höchster Stelle des Ortes gelegene Burg wird von zwei konzentrischen Umfassungsmauern umgeben, deren innere an den Ecken von drei Rundtürmen und einem Fünfeckturm verstärkt ist. An zwei dem Angreifer leichter zugänglichen Seiten legte man zwischen den Verteidigungsmauern einen tiefen Graben an. Eine Inschrift im Kastell besagt, daß die Burg auf eine Gründung der Gräfin Isabella von Celano im Jahr 1328 zurückgeht. Zusätzliche Bauten entstanden im 15. und 16. Jahrhundert. Die glänzend gepflegte Anlage ist heute Besitz der römischen Familie Lazzaroni. Eine Besonderheit im abruzzesischen Burgenbau (S. 333) stellt der herrliche Innenhof dar und der südliche Flügel, der sich in zwei Etagen nach außen öffnet. Von einer Verteidigungsanlage ist nichts mehr zu spüren. Man erfreute sich vielmehr am Ausblick in die großartige Gebirgslandschaft, unbehindert von den beiden tieferliegenden Wehrrnauern. Im unteren Geschoß arbeitete man geschickt mit perspektivischen Mitteln. Zum Innenhof öffnen sich zwei weitgespannte Rundbogen, die von einern Pfeiler gestützt werden. Der Ausblick wird zur Talseite eingeschränkt. Dort entsprechen den beiden Rundbogen vier Spitzbogen, die von Pfeilern auf einer Sockelbank gestützt werden. Die untere Loggia ist tonnen gewölbt. Die obere Etage mit Kreuzgratgewölbe zeigt zum Innenhof wie zur Talseite gleichartige Öffnungen und zwar jeweils vier Rundbogen. Der kleine viereckige Brunnen unter einern der großen ebenerdigen Rundbogen erinnert mehr an einen Gartenzierat als an die Zisterne einer Verteidigungsanlage. Auf der den Loggien gegenüberliegenden Seite des Innenhofs führt eine große Freitreppe in das obere Geschoß der Anlage. Neben dem Aufgang erhebt sich eine mächtige freistehende Säule (colonna) als Devise der römischen Adelsfamilie Colonna, die hier als Burgherren residierte.
Abb. 61: Celano, BurganlageDie Burg von Celano (Abb. 61) ist der großartigste Wehrbau der Abruzzen im 14. und 15. Jahrhundert. Das Erdbeben von 1915 fügte der Anlage großen Schaden zu, besonders im Innenhof, der völlig zusammenbrach. Die Restaurierungen wurden erst 1953 begonnen. Das Kastell gehört zu den Bauten, die den Übergang von der mittelalterlichen Wehrburg zum Baronalpalast verdeutlichen. Celano ist die Hauptstadt des Marserlandes. Die Feudalherren des Ortes gehörten dem angesehenen Hause de Berardi an. Petrus de Berardi legte um das Jahr 1392. die Fundamente der Burg. Um 1451 wurde sie von Lionello Acclozzamora, dem neuen Herrn von Celano, vollendet. Ihm kommt der Hauptanteil an der Errichtung des Kastells zu und nicht so sehr dem Antonio Piccolomini, der durch königliches Dekret vom 20. Februar 1484 Feudalherr von Celano wurde.
Gut erhalten ist die kunstvoll angelegte Verteidigungsmauer, die den inneren freistehenden Baronalpalast umgibt. Der Verlauf dieses Mauergürtels ist unregelmäßig und läßt vor allem im Nordosten viel freien Raum zum Palast hin. Diese Fläche war zur Unterbringung der Garnison bestimmt. Zwei Brunnen an dieser Stelle dienten den Bedürfnissen von Soldaten und Tieren. Die Mauer hat eine mirtlere Höhe von etwa 15 m und wird in unregelmäßigen Abständen von Türmen unterbrochen. Diese zeigen unterschiedliche Bauweisen. Die älteren des 14. Jh. haben einen rechteckigen Grundriß. Sie erheben sich innerhalb des Mauerverlaufs und folgen damit einem antiken Schema, das man z. B. an der Aurelianischen Mauer in Rom in der Nähe der Cestiuspyramide erkennen kann. Antonio Piccolomini fügte zur Verstärkung noch angeböschte Rundtürme hinzu, die weit aus der Mauer vorspringen. Diese zusätzlichen Konstruktionen brachte er vor allem an den Ecken der Befestigungsmauer an, um den Angreifer, besser als es früher möglich war, von der Flanke aus bedrohen zu können. Im ganzen hat der Gürtel 16 Türme, von denen elf rechteckig sind. Sie stehen im Abstand von 12. bis 18 m in sehr dichter Folge, die aber an Burgen des Berglandes weniger ungewöhnlich ist als im Flachland. Die Ringmauer trägt den nach außen vorkragenden Wehrgang, der an einigen Stellen unterbrochen ist. Der mögliche Verlust eines Teiles des Mauergürtels zwang also den Verteidiger noch nicht zur Aufgabe der übrigen Anlage. Die Umfassungsmauer hatte zwei Eingänge; der an der Südostseite diente dem Fußgängerverkehr, der andere an der Nordseite den Fahrzeugen. Diese beiden Einlässe sicherte Antonio Piccolomini ab, indem er außen Vorbauten anbrachte. Unter der Ringmauer kann man vor allem an der Südseite noch unterirdische Räume feststellen, die als Magazine für Lebensmittel oder Verteidigungsmaterial gedient haben mögen. Nur vor dem Trakt im Südosten verläuft ein Burggraben, die übrige Anlage war niemals mit einem solchen versehen.
Im Innern des Mauergürtels erhebt sich auf rechteckigem Grundriß der freistehende Palast mit vier leicht vorspringenden viereckigen Ecktürmen. Er steht auf nacktem Fels. Der aus Hau-und Bruchstein errichtete Bau zeigt mit Ausnahme des Untergeschosses zahlreiche Fenster, an deren Stil man die einzelnen Bauphasen von der Gotik bis zur Renaissance verfolgen kann. In der unteren Zone sind die Öffnungen klein und verstreut angeordnet, während sie im oberen Teil größer, eleganter und systematischer angelegt sind. An der Eingangswand sind noch große Konsolen zu erkennen. Sie dienten als Stützen für Balkone, von denen nach dem Erdbeben von 1915 keiner mehr erhalten ist. Die großen Öffnungen über den Konsolenreihen waren demnach Fenstertüren. Der Palast besitzt nur einen einzigen Eingang an der Südostseite. Das Portal zeigt einen gedrückten Rundbogen ohne Architrav, darüber wird es durch ein gekehltes Profilband in Form eines stumpfwinkligen Spitzbogens begrenzt. Ein hoher zugespitzter Blendbogen, der nur wenig aus der Wand hervorspringt, rahmt das Portal. Der Gegensatz zwischen dem niederen Durchgang und dem hohen gotischen Über (S. 334) bau erinnert an sienesische Vorbilder, man vergleiche etwa Palazzo Chigi Saracini, Palazzo Buonsignori oder den Palazzo Pubblico. Das Feld innerhalb des Spitzbogens enthält zwei kunstvolle rechteckige Rahmungen übereinander. Die untere zeigt eine späte Inschrift mit dem Datum 1608. Darüber sind die Wappen der Piccolomini und des Hauses Aragon angebracht. Über dem tonnengewölbten Durchgang befand sich ein Raum, von dem aus man im Notfall den Eingang in den Burghof mit einer Falltür versperren konnte. Der rechteckige Innenhof ist als zweigeschossige Loggia gebildet. Unten zeigen die Längsseiten sechs Säulen, über deren Kapitellen sich hohe Spitzbogen erheben, während an jeder Schmalseite nur eine jeweils anders angeordnete Stütze auftritt. Hier finden wir Rundbogen mit Ausnahme des Spitzbogens links neben dem Eingang. Die Säulen stehen auf gedrückten Basen mit Ecksporen. über den Kapitellen des Erdgeschosses erheben sich Pilaster, die die Verbindung zum Obergeschoß herstellen. Die dortige tonnengewölbte Loggia mit Rundbogen zeigt an den Langseiten die doppelte Stützenzahl wie im Erdgeschoß und folgt damit einer Baugewohnheit, die in doppelgeschossigen Kreuzgängen in den Abruzzen häufig angewendet wird. Die Ecken der Loggien werden durch Pfeiler betont. Die Zisterne in der Mitte des Burghofes wird von zwei Säulen flankiert, deren Kapitelle einst den Querbalken für die Schöpfvorrichtung trugen. Der Brunnen sammelte nur Regenwasser, das von den Dächern kunstvoll in die Mitte des Hofes geleitet wurde. An der Nordseite der Loggia im Obergeschoß liegt ein Portal mit abgestuftem Gewände und den üblichen eingestellten Säulen. Es führte in die dem hl. Andreas geweihte Burgkapelle. Die Innenräume der einzelnen Stockwerke, die durch Außen-und Innentreppen miteinander verbunden sind, sind fast durchweg das Werk neuester Restaurierungen. Die unteren Räume dienten ursprünglich als Küchen, Pferdeställe und Gesindestuben, während die im Obergeschoß den Feudalherren vorbehalten waren. Ein Wehrgang zieht sich um die viereckigen Ecktürme und den gesamten Palast.
In den letzten fünfzehn Jahren des 15. Jh. erlebte der Burgen bau einen Aufschwung sondergleichen. In einem verhältnismäßig kleinen Gebiet entstanden große Anlagen in Capestrano, Balsorano, Scurcola, Ortucchio und Avezzano. Die verwickelte Baugeschichte der Burg von Capestrano nahm vielleicht am Ende des 14. Jh. ihren Anfang, als Karl III. Durazzo (1381-1386) sie dem Grafen von Celano überließ. 1465 kam sie in Besitz des Antonio Piccolomini, der grundlegende Veränderungen vornahm. Eingreifende und nicht sehr glückliche Restaurierungen fanden 1924 statt. Der Piazza del Mercato ist die breite eindrucksvolle Fassade zugewendet, die an den Seiten von zwei Rundtürmen begrenzt wird. Fünf in weitem Abstand voneinander angeordnete gotisierende Fenster gliedern die Front mit entsprechend darüberliegenden kleineren Fenstern der Frührenaissance. Den übergang vom Kastell zum Wohnbau machen u.a. die Fenster deutlich, die in die flankierenden Rundtürme eingelassen sind. Die Rückseite der Burg mit Rechteck-und Rundtürmen hat den ehemaligen Befestigungscharakter besser bewahrt. Die Treppe, die hier in den Bau hineinführt, ist modern. Der Graben und das Burgtor zeigen Spuren einer einst vorhandenen Zugbrücke. Das Kastell blieb bis 1579 in den Händen der Piccolomini und gehörte seit 1595 Francesco de' Medici, Herzog von Toskana. Von den Medici kam es 1743 an Kar! von Bourbon.
Auch die Burg von Balsorano gehörte seit 1461 zum Besitz des Antonio Piccolomini. Das Erdbeben von 1915 fügte der Anlage großen Schaden zu, und Restaurierungen haben sie nicht völlig wiederhergestellt. Der Grundriß der Befestigung ist ein unregelmäßiges Fünfeck, dessen Seiten in vier stumpfen und einem spitzen Winkel aufeinanderstoßen. Jede Ecke wird durch einen an geböschten Rundturm verstärkt, dessen Höhe die Ringmauer nicht übersteigt. Der Innenhof wiederholt die unregelmäßige Form des Außenbaus. Der ehemalige mächtige Hauptturm wurde nach dem Erdbeben nicht wiederaufgebaut. In Detailformen bestehen Beziehungen zur Burg von Celano, z. B. ist der Burgbrunnen eine Replik des dortigen, ebenso sind die Fensterformen verwandt, so daß man schließen kann, die Bauhütte von Celano habe sich später nach Balsorano begeben.
Das Kastell von Scurcola wird bereits 1269 erwähnt. Der heutige Bau stammt jedoch vom Ende des 15. Jahrhunderts. Er besitzt einen dreieckigen Grundriß und gehört zu dem Typ, den S. Pio delle Ca mere repräsentiert, mit dem Unterschied freilich, daß er nicht die Ausdehnung besitzt, wie die bereits genannten Beispiele dieser Gruppe, und daß er auch nicht über einer Siedlung an einem Berghang liegt. In Scurcola erhebt sich das Kastell an höchster Stelle im Stadtgebiet. Die Hypothese von Perogalli ist deshalb durchaus in Erwägung zu ziehen, daß nämlich das Vorbild für Scurcola die dreieckige Burganlage von Ostia ist, die Giuliano della Rovere, der spätere Papst Julius H., 1483-1488 von dem Florentiner Architekten Baccio Pontelli errichten ließ.
Je nach dem häufig wechselnden Wasserstand bildete die Stadt Ortucchio am Südostrand des ehemaligen Fuciner Sees eine Halbinsel oder eine Insel. Das Erdbeben von 1915 vernichtete Teile der dortigen Burganlage. Das nicht nur für die Abruzzen sondern auch für ganz Italien einzigartige Kastell gehört zu den bedeutenden Gründungen des Antonio Piccolomini, der es laut Inschrift über dem Eingangsportal 1488 an der Stelle einer älteren Anlage völlig neu errichtete. Die Piccolomini verkauften 1552 die Burg an die Schwester des Papstes Sixtus V., die berühmte Camilla Peretti. Der Grundriß ähnelt einem Trapez. Der Eingang liegt in dem kürzeren östlichen Mauerzugj an dessen Ecken setzen die Mauern an, welche die längeren, sich einander nähernden Seiten des Trapezes darstellen. Sie werden im Westen zum See hin durch einen kurzen Trakt verbunden, der dem östlichen nahezu parallel läuft. Von den ursprünglich vier Eckbastionen ist der Turm im Nordwesten nicht mehr erhalten. Die Kurtinen und die Bollwerke an den Ecken zeigen Anböschungen. Diese werden oben von dem üblichen Wulstband abgeschlossen, das um die gesamte Anlage herumgeführt ist. Vom See aus gab es eine Verbindung zum Kastell durch einen heute zugemauerten Rundbogen. Die Schließung die (S. 335) ser Öffnung konnte durch ein mächtiges Fallgatter vorgenommen werden, dessen Ansatzstellen noch zu erkennen sind. Der die Burg umfassende Graben wurde mit Seewasser gefüllt. Er ist auf felsigem Grund angelegt und noch gut an der Südseite zu sehen, wo er das Kastell von der Ortschaft trennt. Vor dem in der Mitte liegenden Eingang im Osten errichtete man einen Vorbau, ähnlich wie beim Einlaß auf der Rückseite der Burg von Capestrano. Eine Zugbrücke führte über den Graben. Der auffallend mächtige viereckige Hauptturm im Innenhof hat eine nicht häufig anzutreffende Lage links vom Eingang an der Südostseite. Im Innern des Hofs sieht man noch Grundmauern von Wohnungen oder von Ställen sowie Reste eines großen Fischteichs, der mit dem See in Verbindung stand.
Gegenüber von Ortucchio liegt am Westufer des Fuciner Sees die Burg von Avezzano, heute eine Ruine, deren Geschichte ein Wechselspiel von Zerstörung und Wiederaufbau darstellt. Eine Wehranlage an dieser Stelle bestand seit 1181 und wurde 1361 zerstört. Einziges Zeugnis aus dem 14. Jh. ist das einfache spitzbogige Portal, das bei den 1963 begonnenen Restaurierungen an der Westseite links neben dem Portal von 1565 zum Vorschein kam. Ein neues Kastell entstand laut Inschrift 1490. Auftraggeber war der päpstliche General unter Sixtus IV. und Feudalherr von Avezzano, Gentile Virginio Orsini (gest. 1497), Sohn des Napoleone Orsini, der seit etwa 1470 mit dem Bau der berühmten Burg in Bracciano in Latium beschäftigt war. Das Kastell von Avezzano ist eine viereckige Anlage und zeigt an den Ecken Rundtürme. Diese erreichen nicht mehr die Höhe mittelalterlicher Türme. In der Renaissance ging man zu niedrigeren Eckbefestigungen über, welche die Kurtinen nicht mehr überragen. Wie in Ortucchio und sonst üblich, schließt ein Wulstprofil die Anböschungen oben ab. Der runde Hauptturm stand im Innenhof an der Südwestseite. Ein Wassergraben umgab das Kastell. Seit 1497 waren die mit den Orsini verfeindeten Colon na Burgherren von A vezzano. Bauliche Erweiterungen des Kastells leitete der Lepantosieger Marc Antonio Colonna in die Wege. Er gestaltete die Verteidigungsanlage zu einem Baronalpalast um und stockte den Wehrbau der Orsini mit einem Wohngeschoß auf, worüber an der Ostseite zum See hin eine zweite Etage in Form einer großartigen Loggia errichtet wurde. Diese war mit Malereien ausgestattet. Man sah zwölf Cäsaren und die Darstellungen der Feudalsitze des Marc Antonio Colonna. Weiterhin ließ dieser den Festungsgraben mit Erde auffüllen und legte dort Gärten mit Brunnen an. Ihm verdanken wir auch das 1565 datierte Portal an der Westseite. Dessen Pfosten bauen sich aus einer Doppelreihe von je neun Quadern auf, die auf der Vorderseite im Diamantschnittmuster behauen sind. Der obere Abschluß des Portals ist rrapezförmig. An den Seiten erscheint als Relief das Wappen der Orsini, zwei große aufrechtstehende Bären. In ihren Tatzen tragen sie Rosen, die sie huldvoll einer Säule entgegenhalten, die im Schlußstein des Portals erscheint und von der Kette des Goldenen Vlieses eingefaßt ist. Diese ist das Wappen der Colonna. Bei dessen Gestaltung konnte sich der Künstler auf das Wappen Karls V. am Eingang zur Feste von L'Aquila berufen, das von einer gleichen Ordenskette umgeben ist. Das Kastell von Avezzano wurde 1915 vom Erdbeben weitgehend zerstört. Vernichtet wurden die nicht so massiv ausgeführten Aufbauten des Marc Antonio Colonna, während die besonders dicken Mauern aus der Orsinizeit der Erschütterung besser standhielten.
In schönster landschaftlicher Lage erhebt sich an der höchsten Stelle von Monteodorisio die Burg des Is.Jahrhunderts (Tf. 213). Die Anlage entspricht dem Typ der Piccolominiburgen des Marserlandes, ein Quadrat mit vier angeböschten Türmen mit Wulstprofil. Zwei Seiten der Verteidigungsmauer und ein Turm sind verschwunden. Gut erhalten ist der Teil zum steil abfallenden Gelände, während die der Stadt zugewandte Partie von modernen Gebäuden verbaut ist. Die Neigung des Architekten für dekorative Formen verdeutlicht, daß der ursprüngliche Wehrcharakter einer solchen Anlage in den Hintergrund getreten ist. Unter dem Wulstprofil eines Turmes zeigt das Mauerwerk aus Ziegelstein das Fischgrätenmuster. Auffallend sind die langgezogenen Konsolen der Brustwehr, denen man in dieser Form an oberitalienischen Burgen begegnet. Anstelle des Zinnenkranzes bilden in Monteodorisio den oberen Abschluß des Rundturmes zwei verschieden geformte Ornamentbänder. Das untere zeigt einen Kreuzbogenfries, ein Schmuckmotiv, das an den Außenseiten süditalienischer Kirchen vorkommt, als Abschluß eines Burgturmes in den Abruzzen jedoch einmalig ist. Das obere Ornamentband wird durch eine Reihung von Ellipsen gebildet.
Der Typ des über Fortifikationsanlagen errichteten Baronalpalasts verbreitet sich am Ende des 15. Jh. und im 16. Jh. immer mehr. Er begegnet z. B. in Bussi, wo an der höchsten Stelle der Stadt eine Burg der Caldora liegt, die hier von 1471 bis 1599 residierten, oder in Casoli. Auch hier bekrönt eine Wohnburg die Stadt. Beachtlich ist der fünfeckige mittelalterliche Turm mit später angebrachter Brustwehr, an den sich das viereckige Renaissancekastell anschließt. Vielleicht stand er früher isoliert als Wachtturm, oder aber er befand sich im Verband einer Burganlage, an deren Stelle später der Renaissancebau entstand.
Residenzen mit den Merkmalen einer Burg sind im Molise keine Seltenheit. Diese Bauart, die sich hier am Ende des IS.Jh. entwickelt, so in Bonefro, Civitacampomarano, Carpinone, Torella del Sannio, hatte ihren Schwerpunkt im Cinquecento, und noch im nachfolgenden Jahrhundert errichtete man derartige Anlagen, 1623 in Cerro di Volturno und 1683 in Castropignano. Ohne Ausnahme liegen sie an der höchsten Erhebung einer Ortschaft. Strukturen und Einzelformen zeigen im Verhältnis zum abruzzesischen Kastellbau kaum Neuerungen. Die Grundrisse passen sich den Gegebenheiten des Terrains an, sie können ein Trapez bilden, meistens jedoch wird das Rechteck bevorzugt. Eine Ausnahme bildet Macchiagodena, wo die Burganlage die Form eines Dreiecks zeigt. An den Ecken der Verteidigungsmauern sind in der Regel Rundtürme errichtet, und selten fehlt der Wulstring über der Anböschung. Ein Charakteristikum (S. 336) der Wohnkastelle liegt in der Auflockerung der Außenmauern des Kernbaus durch Fensterreihungen, Galerien und Balkone. In dieser Hinsicht sind die Burgen im Molise großzügiger ausgestattet als in den Abruzzen. Wegen extremer Höhenlagen und aus klimatischen Gründen scheute man dort die Öffnung der Wohnräume zur Landschaft hin mehr als auf den sanfteren Hügeln des Molise.
Beispiele von derartigen Fensterreihen zwischen zwei Rundtürmen liefern die Burgen von Torella del Sannio, Monteroduni und Macchiagodena, Galerien befinden sich an den Burgen von Carpinone, Civitacampomarano und am eindrucksvollsten mit einer Reihung von 15 Bogenöffnungen im luftigen Pescolanciano; Balkone treffen wir in Civitacampomarano, Macchiagodena und über dem Burgeingang von Monteroduni an.
Die bekannteste Burg dieser Gruppe liegt in Campobasso. Hundert Meter über der Altstadt erhebt sich das Kastell Monforte. 167 Stufen führen von der Piazza S. Leonardo zu dem im Umland weithin sichtbaren Wahrzeichen der Stadt hinauf. Das moderne Wasserwerk, das die Stadtverwaltung zwischen Kastell und Oberstadt anlegte, sowie die Planierung und Aufschüttung zwischen der Westseite der Burg und der im 20. Jh. wiederhergerichteten Kirche S. Maria Maggiore haben den Eindruck der Wehrhaftigkeit sehr gemindert. Der ursprüngliche, heute nicht mehr benutzbare Zugang befand sich im Osten, während der jetzige Westeingang das Werk moderner Restaurierung ist. Obwohl der die Stadt beherrschende Berggipfel sich schon im Mittelalter für den Bau einer Burg angeboten haben muß, sind keine Spuren einer früheren Anlage zu finden. Die heutige entstand vermutlich nach dem großen Erdbeben von 1456. Ihr Erbauer ist der Feudalherr von Campobasso, Nicola Monforte Gambatesa Molise de Cabannis (geb. um 1423), der Wohltäter der Stadt, von den Einheimischen Conte Cola genannt.
Die Burg erhebt sich über einem quadratischen Grundriß. Die Kalksteinmauern zeigen eine steile Anböschung, die oben ein Profilband abschließt, welches sich um die gesamte Anlage zieht. Die Kurtinen bekrönt ein restaurierter Zinnenkranz. Den vier Ecken des Kastells sind angeböschte Rundtürme vorgesetzt. Die Mauer im Osten wird durch das hohe Portal aus Ziegelstein gleichsam gesprengt. Ursprünglich war dieses der einzige Zugang zur Burg. Eine Zugbrücke, deren Hebesystem am Portal noch erkennbar ist, konnte über dem tiefen natürlichen Graben niedergelassen werden. Im Schlußstein des Türbogens erscheint das Wappen der Monforte-Gambatesa, ein Kreuz mit vier Rosen auf einem samnitischen Schild. An der Nordwestecke der Burg liegt ein rechteckiger Turm, in dem wahrscheinlich das Militär untergebracht war. Im Innenhof führt eine Tür in die unterirdischen Teile der Burg, die lange Zeit als Gefängnis dienten.
Von der Forschung unbeachtet ist die Burg von Ferrazzano, am oberen Rand der Stadt gelegen und heute mit Mietwohnungen besetzt. Aus der Inschrift über dem Portal, zu dem man einst über eine Zugbrücke gelangte, geht hervor, daß das kleine anmutige Kastell, das ein gutes Beispiel für den Übergang vom Fortifikationsbau zum Wohnbau darstellt, von Hieronymus Carafa (gest. 1520) errichtet wurde. Die Bauzeit erstreckte sich von 1494 bis 1504.
Wegen ihrer historischen Bedeutung ist die Burg von Riceia zu erwähnen (Tf. 212). Ihre Anfänge liegen im Dunkeln. Sicherlich bestand bereits 1285 ein Kastell, als Graf Bartholomäus Capua, Protonotar König Karls I. Anjou, nach Riccia übersiedelte. Um 1400 wohnte hier die Königin Costanza von Chiaramonte, nachdem sie von Ladislaus Durazzo, König von Neapel, verstoßen worden war. 1506 fand die Belehnung des Bartholomäus III. Capua, Graf von Altavilla, mit Riccia statt. Er war der Erbauer des heutigen Burgturms und des anschließenden Palastes. Der französische General Championnet zerstörte 1799 die Anlage mit ihrer reichen Ausstattung an Möbeln, Keramiken, Bildteppichen und Gemälden und steckte die kostbare Bibliothek in Brand. Heute existieren noch der eindrucksvoll hohe Rundturm, den in mittlerer Höhe ein Wulstring unterteilt, Reste des Palastes und ein großes im Felsen angelegtes Wasserreservoir. Der Eingang zum Turm ist gut erhalten; zwischen den Wappen des Bartholomäus und des Hauses Capua ist die vom stolzen Erbauer angebrachte lateinische Inschrift zu lesen. Er bezeichnet sich als Gründer des Baues und nennt dessen Entstehungsjahr 1515. Aufschlußreich ist die Bemerkung, daß die Anlage zur Abwehr des Feindes und zur Aufnahme des Freundes dienen sollte: »Succede hospes, abscede hostis ne tentes iratum lovern« (Freund tritt ein, Feind bleibe fern, auf daß du nicht den Zorn des Zeus erregst).
Abb. 62: L'Aquila, Kastell, ErdgeschoßSeit dem Ende des 15. Jh. stellt die Anwendung von Feuerwaffen den Burgenbau vor völlig neue Situationen. In dieser und der nachfolgenden Zeit wüteten Kriege, und die Abruzzen bildeten den Schauplatz großer internationaler Auseinandersetzungen. Die sich stets mehr in Wohnburgen verwandelnden Verteidigungswerke wurden in strategischer Hinsicht bedeutungslos. Um das Land nicht schutzlos dem (S. 337) Feinde auszuliefern, war es daher selbstverständlich, daß nun die Staatsgewalt in Neapel mit neuen Ideen und Programmen eingreifen mußte. Der Festungsbau wurde in allen Teilen des Südreichs betrieben, und die Abruzzen waren nur Teil einer Gesamtplanung. An der Durchführung der Unternehmen hatte Kaiser Karl V. einen sehr persönlichen Anteil. Zusammen mit seinen Vizekönigen arbeitete er Verteidigungssysteme aus, die sich mit den Festungsbauten der Antike und der Stauferzeit durchaus messen konnten. Auf die Küstensicherung an der Adria gingen wir bereits früher ein. Der erste große Festungsbau im nördlichen Königreich erfolgte 1534 in L'Aquila (Abb.62), in den 50er Jahren unseres Jahrhunderts von Umberto Chierici glänzend restauriert. Jürgen Eberhardt hat 1973 die Baugeschichte detailliert behandelt und dem Erbauer Pyrrhus Aloisius Scriva eine meisterhafte Untersuchung gewidmet (Tf. 214).
Auf Grund archivalischer Unterlagen lassen sich die Bauarbeiten vor allem für die ersten Jahre von Tag zu Tag verfolgen. Die Geschichte der Festung beginnt am 30. Mai 1534 mit der Ankunft des spanischen Militärarchitekten Scriva in L' Aquila. 1532 trat er in den Dienst des Vizekönigs Don Pedro di Toledo, 1535 erhielt er von Karl V. auf Antrag des Vizekönigs den Auftrag für den Festungsbau in Pescara, noch im selben Jahr traf er sich mit dem Kaiser in Neapel, um mit ihm die Anlage des dortigen Kastells Sant'Elmo zu diskutieren. Scriva war auch ein großer Architekturtheoretiker, dessen schriftstellerisches Werk noch nicht vollständig ausgewertet ist. Vor seiner Anstellung am Hofe von Neapel hatte er Italien bereist. Er war mit dem berühmten Militärarchitekten Francesco Maria I. della Rovere, Herzog von Urbino, befreundet, der in Scrivas Werken öfter genannt wird, und dem er eine seiner Schriften widmete. Das beste Beispiel des spanischen Festungsbaus dürfte in L' Aquila erhalten sein. Für die Anlage am höchsten Punkt der Stadt mußte der nach dem benachbarten Ort Tempera genannte Stadtteil mit Kirchen und Klöstern abgerissen werden. Noch heute ist im Stadtbild die dadurch entstandene Lücke deutlich zu erkennen. Während der beiden ersten Baujahre hielt sich Scriva fast ununterbrochen in L'Aquila auf. Später setzte er Gian Girolamo Scriva, wahrscheinlich einen Verwandten, zur überwachung der Bauten ein. Bis zum Jahre 1549 können wir, dank der Akten, den Fortgang des Baues genau verfolgen. In der zweiten Hälfte des 16. Jh. ist nach Abschluß der wesentlichen Befestigungsarbeiten eine Verlangsamung der Fertigstellung zu beobachten. Damals war der Innenhof nur an der Südostseite mit doppelgeschossigen Arkaden vollendet. Im Obergeschoß lagen die Repräsentationsräume, die beim Erdbeben von 1703 in Mitleidenschaft gezogen wurden. In zwei Festzimmern sind die alten hölzernen Kassettendecken des 16. Jh. erhalten, deren Felder mit Bildern ausgefüllt sind. Neben antiken Kaiserköpfen sieht man das zeitgenössische Porträt Karls V. mit dem Lorbeerkranz. Im 17. und 18. Jh. errichtete man notdürftig die übrigen Flügel um den Innenhof. Mit Ausnahme einer kurzen Unterbrechung im 19. Jh., während die Anlage Gefängnis war, diente sie bis 1946 als Kaserne. Die gute Erhaltung verdankt die Festung auch dem Umstand, daß sie vom 16. bis zum 20. Jh. niemals ernstlich angegriffen wurde. Die erste Zerstörung fand in unserer Epoche statt, als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg das Kastell bei ihrem Rückzug aus L'Aquila plünderten und in Brand steckten. Es ist die Tat von Umberto Chierici, die militärische Anlage nach dem Wiederaufbau kulturellen Zwecken dienstbar gemacht zu haben. In den Räumen sind heute das neue Nationalmuseum der Abruzzen, das Denkmalpflegeamt für die Abruzzen, Konzerträume und wissenschaftliche Institutionen untergebracht.
Den Kern der Festung bildet ein quadratischer Baukörper mit einer Seitenlänge von etwa 60 m. An jeder Ecke springt gleich einem schlanken Schiffsbug eine Bastion weit hervor, deren Grundriß ein Fünfeck ist. Die Mauern der langgezogenen Spitze treffen sich in einem Winkel von etwa 650. Die kurzen Flanken zeigen jeweils zwei Ausbuchtungen, Doppelschulter oder Orillons genannt; sie haben unterschiedliche Ausmaße, der Durchmesser der der Spitze zunächst liegenden beträgt 7,50 m, derjenige der anschließenden mißt nur 5 m. Die fünfte Seite der Bastion bildet gleichsam die Abschrägung der Quadratseiten des Kernbaus. Die Distanz zwischen zwei Bastionsspitzen ist mit etwa 130 m doppelt so groß wie die Länge einer Kurtine. Die strategische Bedeutung dieser Bastionen wird bereits bei der Betrachtung des Außen baus anschaulich. Ein etwaiger Angriff spielte sich relativ weit vom Kernbau ab. Weiterhin war es für den Feind sehr schwierig, die Kugeln im richtigen Winkel auf die vorgewölbten Partien abzufeuern. Die Schießscharten in den OrilJons weisen in verschiedene Richtungen, damit Angreifer der Kurtinen wirkungsvoll von den Flanken unter Beschuß genommen werden konnten. Der quadratische Bau und die Bastionen besitzen eine Höhe von 30 m. Die gesamte Anlage zeigt eine Anböschung, die wie üblich oben von einem Wulstprofil abgeschlossen wird. Die Mauerdicke des quadratischen Baus beträgt in den Fundamenten 10 m, während die oberen Wände 5 m stark sind. Die Festung wurde von einem 23 m breiten und 14 m tiefen Graben und einer Wehrmauer umschlossen. Anstelle der Fahrstraße, die heute um das Kastell herumführt, befand sich ehemals ein Wehrgang, der in der Mirte einer jeden Seite langgezogene dreieckige Vorbauten besaß. Unter der Wehrmauer verläuft um das ganze Kastell ein gewölbter Stollen, von dem aus man den Wehrgang erreichen konnte. Weiterhin diente er als Zugang zu den nach außen geöffneten Schießscharten, er besaß aber auch Schießlöcher zum Graben hin, die in Funktion traten, falls es dem Feind gelang, in den Festungsgraben einzudringen.
Der einzige Zugang zum Kastell befindet sich auf der Südostseite. Raffiniert ausgedacht sind die übereck gestellten Brückenpfeiler. Der Feind fand beim Beschuß der Stützen keinen toten Winkel, jeder Angriffspunkt lag im Schußfeld der Schießscharten, vor allem derer, die sich in den Doppelschultern der Bastionen befanden. Ursprünglich trugen die Brückenpfeiler hölzerne Planken, damit die Verbindung zum äußeren Wehrgang hin rasch unterbrochen werden konnte. 1833 wurde die Holzkonstruktion durch Stein er (S. 338) setzt, man verband die Pfeiler durch Bogen und legte eine Straße darüber. Ein großer Teil des hierzu verwendeten Materials entstammt dem römischen Theater des unweit gelegenen Amiterno. Das Eingangsportal ist 1543 datiert (Tf. 215215). Seine Hauptzierde ist der Doppeladler mit der Kaiserkrone. Diese Wappentafel wird von einem Giebeldach und zwei mächtigen Füllhörnern an den Seiten eingeschlossen. Eine lange lateinische Inschrift nennt als Auftraggeber des Kastells Kaiser Kar! v. und bezeichnet ihn als »Placator Orbis«. Don Pedro di Toledo hatte als Vizekönig die Verantwortung für die Durchführung der Bauarbeiten. Die Inschrift erwähnt auch Luigi Scriva als Architekten und einen Hieronymus Xarque als Präfekten des Kastells. Aus den Bauakten geht hervor, daß ein Pietro der Gestalter des Portals war.
An dem mit höchstem Raffinement angelegten Fort sind die Bastionen, die wie selbständige kleine Festungen gestaltet sind, sowie die unteren Teile des quadratischen Kernbaus besonders interessant. Die Anlage verfügt über vier Geschosse, und die Bastionen besitzen noch zwei weitere Zwischeneragen. Das unterste Geschoß liegt tiefer als der in den Fels getriebene Festungsgraben. Hier zieht sich ein durchschnittlich 2 m hoher und 90 cm breiter gewölbter Korridor durch die ganze Festung und erweitert sich in den Bastionen zu rechteckigen Kammern. Von diesem Gang führen im Kernbau kleine Stollen nach außen, die die Außenmauern jedoch nicht durchstoßen, und die man als Abhör!öcher gedeutet hat. Im ersten Stock liegen in den Bastionen fünfeckige kuppelgewölbte Räume, ausgestattet mit einem Belüftungs-und Heizungssystem, mit Vorrichtungen für die Wasserversorgung sowie mit einer Sprechanlage mittels Röhren. Im Kernbau dienten Räume als Unterkunft für Truppen und als Magazine. Weite, 7 m hohe und 4,20 m breite Aufgänge, die nicht als Treppen, sondern als Rampen gebildet waren, ermöglichten den Transport von Munition und Kanonen. Die oberen Stockwerke verfügten über Schießlöcher für schwere Geschütze. Auch auf der obersten Terrasse fanden Kriegsmaschinen ihren Platz.
Vergleicht man das Kastell von L' Aquila mit den abruzzesischen Burgen, die am Ende des I S. Jh. unter den Piccolomini in Celano, Ortucchio und Balsorano entstanden, so wird der Fortschritt deutlich, den der Fortifikationsbau innerhalb weniger Jahrzehnte gemacht hat. Das Kastell von L' Aquila ist das eindrucksvolle Monument einer neuen internationalen Militärarchitektur, es ist eine der perfektesten Festungsanlagen der Spanier in Süditalien, jedoch ein architektonischer Fremdkörper in den Abruzzen.
Abb. 63: Pescara, KastellDem Expansionsdrang der im vergangenen Jahrhundert aufblühenden Stadt Pescara wurde der größte Militärbau in Süditalien (Abb.63) rücksichtslos geopfert. Die Zerstörungen begannen 1861-1862, als man das Gelände zum Durchbruch der Eisenbahnlinie von Ancona nach Foggia benötigte. Der totale Abbruch wurde 1868 vollzogen, übrigblieben kümmerliche Reste von Bastionen und Mauerzügen, die, vom Süden kommend, links der Bahngleise in der Nähe des Hauptbahnhofs liegen. Da, im Gegensatz zu L'Aquila, das Fort von Pescara durch Jahrhunderte schwerste Angriffe auszuhalten hatte, ist es nicht leicht, notwendig gewordene Neubauten oder Veränderungen vom ursprünglichen Bestand zu scheiden. Ober einer älteren Burg erfolgte um I S3S nach Regeln der modernen Militärarchitektur ein völliger Neubau. Die Arbeiten schritten langsam voran und erreichten einen ersten Abschluß nach 155 S unter dem Vizekönig Don Fernando Alvarez y Toledo, Herzog von Alba, der zur gleichen Zeit auch die Festung in Civitella del Tronto ausbauen ließ. Die Fortifikation in Pescara erhob sich nahe der Mündung des gleichnamigen Flusses auf beiden Seiten des Ufers. Der kleinere Teil der Anlage mit zwei Bastionen lag am linken Ufer, während der größere gegenüber fünf Bastionen aufwies. Nach einer Architekturzeichnung vom Ende des r6. Jh. zu schließen, befanden sich, wie in L'Aquila, in den Flanken der vom Kernbau ausgehenden Bastionen die in dieser Zeit seltenen Ausbuchtungen, die Orillons, von denen aus man das unmittelbare Vorgelände bis zur Spitze der nebenliegenden Bastion mit Feuerwaffen bestreichen konnte. Der Garnison von Pescara kam neben der Verteidigung noch eine andere Aufgabe zu. Um die wichtigen Straßen von Norden nach Süden und von Osten nach Westen zu kontrollieren, ließ man alle diese Wege in der Festung zusammenlaufen. Sie trafen sich inmitten der Anlage an der Brücke über die Pescara.
Das schönste an Civitella del Tronto ist die Lage der Burg in der Landschaft auf hohem Plateau mit Nahblick auf den Apennin und das adriatische Meer. Von der Natur für die Verteidigung geschaffen, liegt die Festung dieses Ortes an der nördlichen Grenze des Königreichs Neapel und ist mit der Kriegsgeschichte des Landes auf das engste verbunden. Nach dem Fall des Königreichs wurde das Kastell r86r geschleift, und übrigblieb ein großer eindrucksvoller Trümmerhaufen. Gegen die von Norden eingedrungenen Franzosen ließ der Vizekönig Don Fernando Alvarez y Toledo den Ort 1556 befestigen. Die eigentlichen Ausbauten wurden etwas später von dem königlichen Generalinspektor für Fesrungsbauren, Don Cesare de Silva, durchgeführt. Die Er (S. 339) richtung einer aufwendigen Militärstation erforderte die Planierung des Berges, so daß die Fortifikationsanlagen, die eine ganze Stadt mit Straßenzügen, Wohnhäusern und einer Kirche bildeten, auf einem Plateau lagen. In einer Länge von mehr als 400 m sind die mit Türmen besetzten Wehrmauern noch einigermaßen erhalten. An verschiedenen Stellen sieht man Stollen und unterirdische Räume, die als Magazine oder als Querverbindungen beim Ausfall einzelner Festungsteile dienten. Eine Vermessung der Anlage, deren älteste Teile bis in das spätere Mittelalter zurückreichen, wäre eine lohnende Aufgabe.
Abb. 64: Vasto, KastellManche Fortifikationen sind im Laufe der Jahrhunderte derartig verbaut worden, daß die Rekonstruktion einzelner Bauphasen außerordentlich schwer fällt. Das trifft z. B. für die Burg in Venafro zu. Kunsthistorisch interessanter ist die Wehranlage in Vasto (Abb.64). Das bereits in Dokumenten des 13. Jh. genannte Kastell wurde von dem tapferen Kondottiere Giacomo Caldora (1369-1439) ausgebaut, der hier seit 1422 Burgherr war. In harten Kämpfen eroberte König Ferdinand I. von Aragon 1463 die Festung und beschädigte sie stark. Sie ging zunächst in den Besitz der Guervara über und war seit 1496 in Händen der D'Avalos. Entscheidende Umbauten dürften in der ersten Hälfte des 16. Jh. stattgefunden haben. Restaurierungen erfolgten 1601 und 1713, und im 19. Jh. wandelte man den Wehrbau in Wohnungen um. Umstritten ist der Bauanteil des Giacomo Caldora, dem die meisten Forscher die Errichtung der gesamten alten Anlage zuschreiben. Wahrscheinlich hatte seine Burg die üblichen Merkmale des 15. Jahrhunderts. Um einen rechteckigen Innenhof gruppierten sich die Verteidigungsmauern mit vier Rundtürmen an den Ecken. Zwei von diesen Türmen sind erhalten, aber 1701 und 1713 derartig restauriert worden, daß von originalen Teilen nichts mehr zu sehen ist.
Die Nord-und Ostseite des Kastells sind gut erhalten, die übrigen müssen nach diesem Befund ergänzt werden. Die Umfassungsmauern folgen der Form des rechteckigen Innenhofs der Caldoraburg. Den Ecken sind lanzettförmige Bastionen vorgelegt. Sie kamen am Ende des 15. Jh. auf und erfuhren in den Abruzzen in dem seit 1534 im Bau befindlichen Kastell von L'Aquila eine perfekte Gestaltung. Ein Beweis für die Entstehung der Bastionen und äußeren Kurtinen nach dem Tode des Giacomo Caldora ergibt sich aus der Lage der erwähnten Rundtürme. Sie befinden sich direkt hinter den Bastionen im Innenhof. Bei Annahme einer einheitlichen Bauzeit von Bastionen und Rundtürmen wären die letzteren von vornherein funktionslos gewesen, weil man von ihnen aus die eigene Bastion beschossen hätte. Bei möglichen feindlichen Beschädigungen der Türme wären die Steinrnassen auf die Bastion oder in den Innenhof gestürzt. Es ist also anzunehmen, daß die Caldoraburg zu einem späteren Zeitpunkt erweitert wurde, indem man um die ältere viereckige Anlage konzentrisch einen neuen Mauergürtel mit Bastionen legte. Lanzettförmige Bastionen werden zum erstenmal von Architekturtheoretikern in der zweiten Hälfte des 15. Jh. beschrieben, als Giacomo Caldora bereits gestorben war. Offen bleibt die andere Frage, ob die Anlage in Vasto eher entstand als die vollkommener gestaltete Fortifikation in L'Aquila, die bisher als früheste moderne Festung der Abruzzen galt.
Am Kastell von Vasto sind gewisse archaisierende Formen festzustellen. Trotz des Gebrauchs von Feuerwaffen hielt man offenbar an der überholten Brustwehr fest, die wahrscheinlich den ganzen Bau mitsamt den lanzettförmigen Bastionen umlief. Als Stützen des über dem üblichen Wulstband nach außen vorkragenden Wehrgangs dienen große Steinblöcke in Form eines Viertelkreises. Auf ihnen ruhen Profilkapitelle, die Spitzbogen aus Ziegelsteinen tragen. Dieser Umgang war indessen gar nicht praktikabel und wohl nur ein Sinnbild der Wehrhaftigkeit. Er ist nicht begehbar, und weiterhin fehlen ihm Bodenlöcher und Schießscharten. Die Brustwehr wird zu einer Art Blendbogenwerk ohne strategische Bedeutung degradiert. 1528 kam die Familie D'Avalos in den Besitz der Burg Montesarchio in der Provinz Benevent. Auch dort entstanden lanzettförmige Bastionen, allerdings zeigt die Anlage keine Brustwehr.
Eng verwandt mit dem Burgenbau sind die Stadtbefestigungen. In ihnen spiegeln sich die Macht und der Stolz einer städtischen Gemeinschaft, die am stärksten im 14. und 15. Jh. ausgeprägt sind. Alle größeren Städte verfügten über Stadtmauern und Stadttore, die aber in unserer Region nur selten die Zeiten überdauert haben. Denn die größeren Siedlungen kümmerten sich bei ihrem Anwachsen wenig um deren Erhaltung, zumal die Bedeutung solcher Befestigungen seit dem Aufkommen der Feuerwaffen immer mehr dahinschwand. Aus zahlreichen alten Stadtplänen und Stadtansichten ist häufig die Einfassung einer Stadt zu rekonstruieren. Reichliches Material bieten hier die Städte L'Aquila und Sulmona. Geringe Reste in situ bewahren größere Städte wie L'Aquila, Teramo, Penne, Chieti und Sulmona. Die bestüberlieferten Stadtbefestigungen findet man meist in kleineren, unbedeutenderen Orten als zufällige Relikte der Vergangenheit.
Eine der prächtigsten Befestigungen in den Abruzzen zeigt der Ort S.Panfilo d'Ocre (Tf. 211). An der Spitze einer fast dreieckigen Anlage liegt ein Rechteckturm, und daran schließt eine dreischiffige Kirche an, die fast die gesamte Fläche zwischen dem sich verengenden Mauerverlauf einnimmt. Gerade Straßenzüge mit Reihenhäusern führen auf die Kirche zu. An einer der Längsseiten der Stadtbefestigung (S. 340) fällt das Gelände fast senkrecht in das tiefe Aternotal ab und gibt der Stadtmauer an dieser Seite einen natürlichen Schutz. Im gegenüberliegenden Mauerzug befindet sich der einzige Eingang in die Stadt, ein spitzbogiges Tor. S. Panfilo d'Ocre wurde 1280 von L'Aquila zerstört, und kurz darauf scheint die Wiederherstellung in der heutigen Gestalt erfolgt zu sein.
Überreste der Fortifikation von Mosciano S. Angelo erinnern mehr an die klar durchdachte Konstruktion einer Burg als an eine Stadtbefestigung. Hier wurde der Burgherr durch die Stadtgemeinde ersetzt. Das Verteidigungswerk umschließt den oberen Teil der Stadt. Die Umfassungsmauern sind im Rechteck angelegt und verfügen über sieben Türme. Sie befinden sich in den Ecken und in der Mitte der Kurtinen, mit Ausnahme der östlichen Schmalseite, wo anstelle des Turmes der einzige Eingang in die Stadt liegt. Die Türme zeigen verschiedene Formen, die beiden an der Eingangsseite der Stadt sind rund, der dem spitzbogigen Stadttor gegenüberliegende ist fünfeckig, und die übrigen sind rechteckig. Man erreichte das Stadttor über eine Zugbrücke. Darunter verlief ein Graben, der die gesamte Verteidigungsanlage umgab. Inmitten des Ortes erhebt sich ein hoher rechteckiger Turm, der durch eine Inschrift 1397 datiert ist und eine Brustwehr mit Zinnen zeigt. Als er später als Turm der Pfarrkirche benutzt wurde, brachte man unter dem Turmplateau Schallächer an. Mit diesem Bauwerk stimmt in allen Merkmalen der Turm im nahgelegenen Montone überein, einem Ortsteil von Mosciano S. Angelo.
Weniger als andere Landschaften verfügen die Abruzzen über unversehrte Stadtmauern. Man muß annehmen, daß Erdbeben und Bergrutsche Anteil an der Zerstörung hatten. Einzelne Mauertrakte sind noch in L'Aquila zu sehen und an der Nordseite von Assergi. In Celano gab es außerhalb der Burgmauer einen größeren Verteidigungsgürtel, der Teile der Stadt mit der Pfarrkirche S. Giovanni Battista einschloß. Reste der mit Türmen durchsetzten Stadtmauer sind übriggeblieben. Ein Vergleichsbeispiel zu Celano bietet Campobasso. Auch hier finden sich Teile einer Stadtbefestigung außerhalb des Burggeländes.
Die besterhaltene Stadtmauer in den Abruzzen umgab einst die gesamte Altstadt von Lanciano. Die meisten Forscher datieren die Anlage viel zu früh in das 1 x. Jahrhundert. Sicherlich stammt der Südtrakt, an dem der Viale Silvio Spaventa entlangführt, aus der Zeit der Aragonier im Is.Jahrhundert. Die lange Ziegelmauer zeigt im unteren Teil eine Anböschung, und große Widerlager stützen die hohe Kurtine von außen ab. An der Südwestecke dieser Mauer liegt ein niedriger Rundturm mit Brustwehr. Dieser Turmtyp der Renaissance kontrastiert eindrucksvoll mit dem benachbarten hohen mittelalterlichen Rechteckturm, der Torre Montanara, die sich im Innern an die Südseite der Stadtmauer anlehnt. Der Turm ist in V-Form gebaut. Das Turmplateau wird auf der offenen vierten Seite von einem Bogen abgestützt. Spuren von Mauerzügen sind noch auf der Ostseite zu sehen und schlecht erhaltene Teile an der Westseite, wo die Anböschung fehlt, und wo die Bauweise sorglos ist.
Die Stadtbefestigung von Vasto wäre noch genauer zu untersuchen. Am besten wurde der Ort von der Natur selbst im Osten verteidigt, wo das Gelände steil zur Adria abfällt. Wehrhaftere Bauten mußten dagegen die Westseite zum Inland sichern. Hier liegt das Kastell der Caldora und der D'Avalos eingebettet in die Verteidigungsmauer. Den langen Mauerverlauf begleiten heute moderne Straßen, der Corso Mazzini, der Corso Garibaldi und die Via Vittorio Veneto. In diesem Abschnitt sind verschiedene Rundtürme festzustellen, im Nordwesten die Torre S. Spirito, weiter nach Süden die T orre Diomede del Moro und südlich vom Kastell die Torre Bassano. Ihre Ähnlichkeit untereinander läßt auf eine gleichzeitige Entstehung schließen. Diese Türme zeigen einen großen Durchmesser, in geringer Höhe das umlaufende Wulstprofil und sehr tief ansetzende Brustwehren. Sie erreichen längst nicht die Höhe mittelalterlicher Türme und geben sich als typische Renaissancebauten zu erkennen. Die Erhöhungen aller drei Türme über den Brustwehren stammen aus späterer Zeit, bei der Torre Bassano aus dem Jahre 1713. Wie das Kastell wird der untere alte Teil dieses Turmes in das Jahr 1427 datiert. Wir stehen hier wieder vor dem gleichen Problem wie bei der Burg von Vasto und fragen, ob die Renaissancetürme nicht zu den Bauten der Familie D' Avalos gehören.
Stadttore sind in den Abruzzen in reicher Zahl überliefert. Die hervorragendsten Leistungen liegen im 14. Jahrhundert. Teilweise sind es reine Zweckbauten, daneben gibt es andere, die zeigen, daß sie durch eigene Schutzwehren verteidigt wurden, und wieder andere entwickeln sich zu kunstvollen Prachtbauten. Eigentümlicherweise hat die Stadt L' Aquila, als mächtigster Ort der Abruzzen, ihre Eingänge schlicht gestaltet, wie etwa an der Porta Bazzano oder der Porta della Rivera zu sehen ist. Gute Beispiele für einfache spitzbogige Zugänge sieht man in Chieti an der Porta Pescara, in Aielli und Castel dcl Monte. Manche Tore waren mit Wehranlagen ausgestattet. So führt der Eingang in die Stadt Bellante durch einen niedrigen Rechteckturm, auf dessen Außenseite über der Durchfahrt eine gut erhaltene Brustwehr erscheint. Ähnlich verfuhr man noch im IS.Jh. im benachbarten Ancarano. Wohl dem 14. Jh. ist der im Osten liegende Eingang von Morrea, einem Ortsteil von S. Vincenzo Valle Roveto, zuzurechnen. Dieses bislang unbeachtete Tor wird oben durch den Vorbau einer kleinen Brustwehr mit zwei Bodenlöchern abgesichert.
Zu den aufwendigen Bauten gehört das Stadttor an der Ostseite von Campli (Tf. 217). Es nimmt die Tiefe der Stadtmauer ein und ist aus sorgfältig zugeschnittenen Quadern errichtet. Den hohen Spitzbogen des Zugangs umgibt ein steinernes Band mit einem Blattwerkmuster. über der Toröffnung prangen stadtauswärts drei Wappen des Hauses Anjou. Der obere Abschluß des Tores ähnelt dem in Bellante und Morrea; er ist nicht vollständig erhalten, zu sehen sind noch die unteren Teile einer Brustwehr mit zwölf Pechnasen. Der ästhetische Eindruck des Stadttores wird durch den Aufsatz eines gotisierenden Turmes auf der -von außen betrachtet -linken Seite der Brustwehr empfindlich gestört. An der Stadtseite des Tores führt eine Treppe zur Brustwehr (S. 341) hinauf. Sie diente gleichzeitig als Zugang zu dem nicht mehr vorhandenen Wehrgang auf der Stadtmauer.
Um das Jahr 1315 entstand in Sulmona vor der Stadt ein neuer Borgo, dessen Zentrum etwa die Kirche S. Maria della Tomba bezeichnet. Dieser Stadtteil erhielt eine Mauer mit zwei Toren, die Porta della Tomba und die Porta Nuova, letztere später Porta Napoli genannt (Tf. 216). In einer Urkunde von 1338 wird die Porta Nuova bereits erwähnt. Ihr Grundriß ist rechteckig; sie besitzt eine Breite von 10 mund eine Tiefe von 9,45 m, während ihre Höhe 11,90 m beträgt. Die Durchfahrt in der Mitte des Baues zeigt Kreuzrippengewölbe. Den darüberliegenden für die Wache bestimmten Raum erreichte man an der Westseite über eine Außentreppe, die auf eine Plattform führte, deren Konsolen noch sichtbar sind. Die Form des Tores zur Stadt hin verdient keine besondere Aufmerksamkeit. Um so großartiger ist die Fassade stadtauswärts gestaltet, aus Kalkstein, der im Verlauf der Zeit einen goldenen Ton angenommen hat. Der Maler De Chirico sagte von ihr, daß hier ein Goldklumpen mit dem Grabstichel bearbeitet worden sei. Die Dekoration dieser Wand verrät das alte schmuckfreudige abruzzesische Formgefühl, wobei mit einfachen und doch effektvollen Mitteln versucht wird, die Schwere des Steins nach oben hin zusehends leichter erscheinen zu lassen und im Spiel mit traditionellen Formen aufzulockern, so daß die obersten Lagen wirken, als seien sie aus Keramikplatten gebildet. Die Bossenquadern über der Sockelzone, die erst durch das Tieferlegen des Straßenzuges wieder sichtbar wurden, werden in den höheren Lagen immer kleiner und gehen in halber Höhe der spitzbogigen Durchfahrt fast unmerklich in nahezu quadratische Steine über, in deren Mitte eine Rosette herausgearbeitet ist. Ober dem Gesims, das aus dem Gliederungssystem abruzzesischer Kirchenfassaden übernommen wurde, verschwindet der wuchtige bossierte Stein vollends. Es steigt eine glatte Wandfläche auf, deren Quader nicht mehr mit erhabenen sondern in den Stein eingeschnittenen Rosetten verziert sind. Das Dach ist neu, ursprünglich ist eine Terrasse anzunehmen, die von Zinnen umgeben war. In unaufdringlicher Weise verwandte der Baumeister Spolien älterer Bauten. Die kapitellartigen Gebilde unter dem Spitzbogenansatz des großen, reich dekorierten Mittelfensters im oberen Wandabschnitt sind Friesfragmente aus römischer Zeit, auf denen links eine Jagd, rechts eine Opferszene dargestellt ist. Ober den Enden des Gesimses sind schöne mittelalterliche Kapitelle eingefügt, und über dem rechten Kapitell ist ein Löwe erkennbar, der unter den Tatzen ein Tier hält. Unter den später eingesetzten unschönen rechteckigen Öffnungen zu beiden Seiten des Mittelfensters sind die Wappen des Hauses Anjou angebracht.
Öffentliche Bauten
Gebäude, die der breiten Öffentlichkeit zugutekamen, sind in den Abruzzen und im Molise nur selten zu finden. Als Auftraggeber kamen die Könige, Stadtverwaltungen, Feudalherren und die Geistlichkeit in Frage. Ihre Wirksamkeit war minimal und ist eher in Dokumenten als an erhaltenen Bauten nachzuweisen.
Von öffentlichen königlichen Bauten ist nichts mehr zu sehen. 1240 ordnete Kaiser Friedrich 11. den Wiederaufbau des Hafens von Pescara an. Dieser Plan war Teil einer Gesamtdisposition, um die Hafenorte des Südreichs zu aktivieren. Im selben Jahr erfolgten ähnliche Anweisungen für die Häfen von Reggio Calabria und Bari.
Kaiser Karl V. war um das Wohl und die Sicherheit der Reisenden bemüht, die das unwirtliche Hochtal Cinquemiglia zwischen Sulmona und Castel di Sangro durchqueren mußten. Die Anzahl der Unglücksfälle war dort in strengen Wintern beträchtlich. Serafino Razzi beschreibt 157611577 diese kaiserlichen Anlagen: »Hier waren fünf Türme gebaut, für jede Wegmeile einer, damit dort die Reisenden bei schlechtem Wetter Unterkunft finden konnten. Außerdem wurden zwei weitere Türme beim Eintritt in das Hochtal errichtet, so daß sich der vorsichtige Wanderer, vom Unwetter überrascht, nicht in Gefahr zu geben brauchte.«
Nur sehr langsam kam es in den Gemeinden zur Errichtung öffentlicher Bauten. Die Eigenbefugnisse kleinerer Siedlungen, die durch die örtliche Universitas geregelt wurden, waren so gering, daß sie keine eigenen Bauten hervorbrachten. Zu Verwaltungszwecken dienten belanglose Schreibstuben. Nicht viel besser erging es zunächst den Behörden größerer Städte. Einiges ist darüber aus Teramo bekannt. Als dort der Kirchenbau im 13. Jh. eine erste Blüte erfuhr, war von städtischen Bauten noch keine Rede. Verträge mit umliegenden Ortschaften schloß die Stadt 1287 im Bischofspalast, und ein Stadtrichter sprach 1297 sein Urteil in einem Privathaus, das vielleicht von der Stadt gemietet worden war. Ein stadteigener Palast entstand erst im 14. Jh. gegenüber der bischöflichen Residenz. Er wurde in der Folgezeit außen und innen so verbaut, daß vom alten Zustand nur die für Teramo charakteristische Portikusanlage aus sorgfältig geschnittenen Quadersteinen übriggeblieben ist.
In L'Aquila entstanden im 14. Jh. Bauten für die Stadtregierung, die sich um die heutige Piazza del Palazzo gruppierten. Der wichtigste Bau war der Palazzo di Giustizia. Ursprünglich wohnte dort der Capitano, der im Auftrag des Königs mit den Stadtvätern von L'Aquila zu verhandeln hatte. Auch die Beamten der königlichen Justiz waren hier untergebracht. Dieser Palast, auch Palazzo dei Magistrato genannt, wurde 1573 als Wohnsitz der Statthalterin Margarethe von Österreich völlig umgebaut. Architekt dieser Neugestaltung war Battista Marchirolo aus Neapel. Das Erdbeben von 1703 vernichtete zum größten Teil diesen Wohnkomplex, von dem Ieronimo Pico Fonticulano 158:z. eine Beschreibung geliefert hat. Er erwähnt im Erdgeschoß die Gesindestuben, den großen, mit einem Säulenportikus ausgestatteten Innenhof mit dem Brunnen in der Mitte. Zum (S. 342) Hof öffneten sich hundert Fenster, eingefaßt mit weißem Marmor in feinster Machart. Zu diesem Palast gehörte der auch an anderer Stelle erwähnte Uhrturm von 1374 mit einer eingebauten Kapelle und Malereien vom Ende des 16. Jahrhunderts. An der Piazza del Palazzo stand weiterhin der Palazzo dei Comune. Er wurde 1703 vom Erdbeben vollständig zerstört, sein Aussehen ist nicht überliefert. Größer als die Piazza dei Palazzo war die Piazza dei Mercato vor dem Dom, wo seit dem J4. Jh. bis heute Markt abgehalten wird. Dieser Platz wurde zusammen mit den umliegenden Straßen 1305 im Auftrag der Stadtverwaltung gepflastert.
Von Rathäusern in den Abruzzen ist dasjenige von Campli verhältnismäßig gut erhalten. Das aus Haustein bestehende 43,50 m lange Gebäude befindet sich an einem größeren Platz gegenüber der Pfarr-und späteren Bischofskirche. Die Restaurierungen von 1888 waren so eingreifend, daß nur ein Teil der Fassade den Eindruck des Altbaus wiedergibt. Ober einem Portikus, dessen Rundbogen von Pfeilern getragen werden, erhebt sich ein einstöckiger Bau. Er wird von einem Gesims, einer Entlehnung aus dem abruzzesischen Kirchenbau, gegliedert, und darüber liegen sechs dreiteilige Fenster, deren mittlere Öffnung oben einen Dreipaß bogen zeigt, während die Seitenteile mit Rundbogen abschließen. Die Arbeiten an diesem Bau dürften sich vom 14. Jh. bis etwa 1520 hingezogen haben.
Die Feudalschicht kümmerte sich kaum oder gar nicht um öffentliche Bauten. Die von den Cantelmi in Popoli vorgenommene Errichtung eines Warenlagers diente wohl mehr dem eigenen Nutzen als dem Wohl der Bevölkerung. Die Taverna von Popoli (Tf. 218) gehört zu den besterhaltenen mittelalterlichen Lagerhäusern in den Abruzzen, wahrscheinlich von Giovanni Cantelmo (1333-1377), dem mächtigen Feudalherrn von Popoli, gegründet. Die ausgesucht günstige Lage an der von Rom nach Pescara führenden Landstraße vor der Talenge, die die Gebirgszüge des Gran Sasso und der Maiella scheidet, nahe dem Schnittpunkt der Wege nach L'Aquila und in das Königreich Neapel über Sulmona, ließ großen Umsatz und reiche Einkünfte erwarten. Ursprünglich hatte die Anlage einen doppelten Zweck. Von den abgabepflichtigen Bauern empfingen die Cantelmi hier die Erzeugnisse des Landes und verkauften sie an diesem Ort weiter. Das Gebäude stand einst isoliert. An die Rückseite des Hauses schloß sich die kleine Piazzetta della Scimmia an, die später nach der Familie Di Forniti umbenannt wurde, die 1875 Eigentümerin der Taverna wurde. Dank dieses Platzes war die Möglichkeit zum Aus-und Einladen gegeben. Der größte der fünf Räume im Erdgeschoß, der zur Straße hin lag und die gesamte Breite des Gebäudes einnahm, diente zur Abwicklung der Geschäfte, während die hinteren Magazine darstellten. Unmittelbar rechts neben der Haupttür befindet sich etwas über dem Straßenniveau ein zweiter kleinerer Eingang, der an die »porta dei morto«, die Totentür, erinnert, die an toskanischen und abruzzesischen Häusern des 14. und 15. Jh. zu finden ist. Derartige Eingänge waren vermauert und pflegten nur zum Heraustragen eines toten Familienmitgliedes geöffnet zu werden. Da bei den Restaurierungen dieses Jahrhunderts im Gewände dieses kleineren Portals aber Zapfen zur Anbringung einer schwenkbaren Holztür zum Vorschein gekommen sind, und angesichts der Tatsache, daß es sich hier um keine Privatwohnung handelte, muß die Tür anderen Zwecken gedient haben. Es führte von ihr eine Treppe vom Erdgeschoß in den ersten Stock als einzige Verbindung zwischen den beiden Etagen. Eine derartige Anlage zeigen auch andere mittelalterliche Geschäftshäuser der Abruzzen. Das Obergeschoß diente als Herberge für die Händler und bestand aus sieben Räumen, von denen ein größerer, der als Speisesaal benutzt wurde, über dem größten ebenerdigen Raum an der Straßenseite lag. Ein zweites großes rechteckiges Zimmer diente als Schlafsaal, an dessen rechter Seite sich die Zugänge zu Einzelzimmern und zu einer Latrine öffneten. Das Herbergsgeschäft sowie die Einnahmen aus dem Wegegeld müssen den Cantelmi gute Einkünfte gebracht haben. Im Jahr 1574 beauftragte der Herzog Ottavio Cantelmo die Stadt Popoli, unmittelbar rechts von der alten Taverna, eine neue Schenke zu errichten, die heute noch erhalten ist, und deren Eingang sich rechts von dem kleinen erwähnten Portal des früheren Baues befindet. Die beiden nebeneinanderliegenden Gasthöfe wurden um das Jahr 1680 unter Giuseppe III., dem 7. Herzog von Popoli, vereinigt und an die Stadt Popoli vermietet. Die ursprünglich getrennten Gebäude erhielten im Obergeschoß eine Verbindung durch Türen. Dadurch verlor die kleine Tür ihre Funktion, die von der Straße hinaufführenden Stufen wurden entfernt, und ihre Öffnung wurde zugemauert. Die beiden Herbergen wurden am 24. Dezember 1798 von Franzosen in Brand gesteckt und danach nur notdürftig restauriert. Das Erdbeben von 1915 vernichtete die Innenräume vollends, so daß vom alten Baubestand mit Ausnahme einiger Magazingewölbe nur noch die Fassade übriggeblieben ist. Sie wird durch ein Gesims in zwei Zonen gegliedert. Im unteren Teil sind acht Wappen nebeneinandergereiht, dazwischen erscheinen menschliche Figuren, Tiere und eine Rosette. Die Wappen gehörten den Feudalherren Cantelmi und den angeheirateten Familienmitgliedern. Ober dem Gesims liegen dicht nebeneinander, nur durch einen Pilaster getrennt, zwei spitzbogige Biforen. Sie gehören zum großen Speiseraum des Altbaus. Links wird die Fensteröffnung durch eine Säule, die auf einem Löwen aufsitzt, geteilt, rechts durch einen achteckigen Pfeiler. In Kapitellhöhe befinden sich zu seiten der beiden Fenster Ornamentstreifen, die wie Pilasterkapitelle wirken, und die seitlich von zwei aus der Wand vorkragenden Löwen gerahmt werden. Ein weiterer Löwe, der ein Lamm in den Pranken hält, befindet sich links über dem Fenster in der Wand. Der Löwe mit erhobener Tatze gehört zum Wappen der Cantelmi und erscheint im 4.,5. und 6. Schild der Wappenfolge unter dem Gesims.
Über die seelsorgerische Tätigkeit hinaus war die Geistlichkeit schon immer bemüht, sei es durch Schulunterricht oder durch die Armen-und Krankenpflege, Verbindung zum Volke zu bekommen. Die architektonischen Zeugnisse dieses Wirkens sind zum Teil aufwendig gebaute Siechen- (S. 343) und Krankenanstalten, die sich in den Abruzzen vor allem in Sulmona und L' Aquila nachweisen lassen. Eine frühe Gründung war das Hospital der hl. Agatha in Sulmona vom Jahre 1225, und andere Anstalten sind um das Jahr 1300 überliefert. Diese Einrichtungen verschwanden im Lauf der Zeit wegen der überragenden Bedeutung, die das Hospital der Annunziata erlangte, das wie die neben liegende gleichnamige Kirche 1320 gegründet wurde und sein heutiges Aussehen im 15. und 16. Jh. erhielt. Dieser Palazzo dell'Annunziata (Tf. 221) diente viele Jahrhunderte als Hospital, später als Sitz des Magistrats und beherbergt heute das Städtische Museum. Trotz der heterogenen Stilelemente als Folge der Entstehung in verschiedenen Zeiten gehört die Schauwand zu den schönsten Fassaden in Süditalien, und es gibt kein Beispiel in den Abruzzen, an dem sich der übergang von der Gotik zur Renaissance besser ablesen ließe als hier. Wir haben schon oft beobachtet, daß die breitgelagerten Schauwände der Kirchen für die Abruzzen charakteristisch sind. Man kann an vielen Bauten das Bestreben verfolgen, diese Wandflächen immer weiter auszudehnen, indem man an die Fassaden der Kirchen in gleicher Flucht weitere Schauwände anreiht, die mit jenen dann eine künstlerische Einheit bilden. Beispiele dafür bieten S. Maria della T omba und der Dom in Sulmona sowie S. Maria Maggiore in Lanciano. Die Fassade des Palazzo dell' Annunziata wir durch ein durchlaufendes, sehr reich skulptiertes Gesims in zwei Geschosse geteilt und nach oben über einem Wulstprofil durch kräftig vorgewölbtes Mauerwerk des 18. Jh. abgeschlossen. Es sind drei Bauphasen zu unterscheiden. Zur ersten von 1415 gehören im Erdgeschoß das linke Portal und die ersten vier Pilaster mit den bekrönenden Figuren sowie im oberen Wandabschnitt das große Fenster über dem zweiten und dritten Pilaster. In der zweiten Bauzeit -in den letzten Jahren des IS.Jh. entstand das Mittelportal mit dem darüberliegenden Fenster. Der übrige rechte Teil der Fassade stammt aus der Zeit zwischen 1 S1 9 und 1522. Bis auf den oberen vorgewölbten Abschluß hat die Schauwand anscheinend kaum durch das Erdbeben von 1706 gelitten, das wesentliche Partien der anschließenden Annunziatakirche vernichtete. Im 18. Jh. brachte man die Runduhr über dem linken Portal an. Die breite Freitreppe und die Gaskandelaber entstanden am Ende des vorigen Jahrhunderts.
Das linke Portal (Tf. 219) zeigt Einflüsse der spanischen Portal-und Fenstergotik, die sich während der Herrschaft des Hauses Aragon von Neapel aus im Königreich ausbreiteten. Neu ist die üppigkeit der Formen an den Kapitellen und an der Bogenlaibung, neu ist vor allem im oberen Teil des Portals das dekorative Spiel der Wulstbänder, die über den Halbsäulenvorlagen ansetzen. Die die spitzbogige Lünette rahmenden Wulstprofile steigen über dem Bogenscheitel senkrecht auf, werden durch zartere Bänder miteinander verschlungen, trennen sich wieder und biegen in die Horizontale um, wo Voluten aus ihnen herauswachsen, und wo sie sich schließlich mit den Rundstäben treffen, die sich über den Kapitellen der Halbsäulenvorlagen des Portals erheben. Der vertikale Zug der vorgelegten Säulen mit breiten Basen und pflanzlichen Ecksporen wird an verschiedenen Stellen durch reich dekorierte Wirtel unterbrochen. über dem Agnus Dei in der Mitte des Architravs befindet sich die Jahreszahl 1415. Die qualitätvolle Skulptur der Madonna mit Kind in der Lünette ist erst im vorigen Jahrhundert von anderer Stelle hierher versetzt worden, nachdem man sich nicht entschließen konnte, das hier vorhandene schlecht erhaltene Verkündigungsfresko zu restaurieren. Unter dem Scheitel des äußeren Bogens der Archivolte erscheint der etwas zierlich ausgefallene Michael mit dem Drachen zu seinen Füßen.
Freiskulpturen stehen auf sieben kräftigen Pilastervorlagen, die den unteren Wandabschnitt gliedern. Die ersten fünf Figuren zeigen stilistische Anklänge an die toskanischneapolitanischen Bildhauerwerkstätten des 14. Jahrhunderts. Es sind von links nach rechts die hll. Gregor d.Gr., Bonaventura, Augustin, Hieronymus und Pamphilus. Die beiden letzten Figuren, Petrus und Paulus, entstanden im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts. Das an anderer Stelle bereits erwähnte Fenster rechts neben der Uhr ist das großartigste Schmuckfenster des 15. Jh. in den Abruzzen.
Toskanisch beeinflußt ist das dreifach abgestufte Mittelportal, über dessen Architrav ein Dreieckgiebel aufsteigt. Die äußeren Pilastervorlagen der Tür zeigen in der Mitte Medaillons mit Jünglingsköpfen in üppiger Haartracht, die sicher ihr Vorbild an der Paradiesestür des Lorenzo Ghiberti am Baptisterium in Florenz haben. Das Ornament im Portalgewände läßt erkennen, wie sich zu dem alten Repertoire der abruzzesischen Schmuckformen, Gehänge und Gewinde von Blumen, Blättern und Früchten gesellen, antikisierende Formen, die ihren Weg aus der oberitalienischen Renaissance in den Süden fanden. Im Giebelfeld ist die Halbfigur einer Madonna mit Kind angebracht, die von vier Engeln angebetet wird. Der aus Tocco da Casauria stammende Maler Francesco Paolo Michetti (1851-1929), Freund des Dichters D'Annunzio, hat diese Gruppe in seiner Darstellung der Prozession des Corpus Domini wiedergegeben, ein Bild, das später in den Besitz des deutschen Kaisers gelangte.
Lombardische Einflüsse zeigt das spätgotische Fenster über dem Mittelportal, besonders deutlich in der Form der Stütze, die die Fensteröffnung in der Mitte teilt. über dem Scheitel des Rundbogens tragen zwei schwebende Engel ein Wappen mit den Lettern AMGP (Ave Maria gratia plena). Darüber erscheint nochmals in Breite des Fensters eine Schriftzeile mit den Worten »Ave Maria«, und darauf folgt unvermittelt die Bekrönung des Fensters. Das dritte Portal rechts außen ist 1519 datiert und zeigt in den Zwickeln zu Seiten seines Rundbogens zwei Medaillons mit der Darstellung der Verkündigung, während in der Mitte des mit Ranken und Masken verzierten Architravs Gottvater erscheint. An den Sockeln der äußeren Pilastervorlagen sieht man rechts das Stadtwappen mit der Aufschrift SMPE (Sulmona mihi patria est) und links das Wappen der Confraternita dell'Annunziata mit der beschädigten Aufschrift AMGP (Ave Maria gratia plena). Es wird von zwei Engeln getragen und wird wiederholt an dem über dem Portal liegenden Fen (S. 344) ster, das 1522 datiert ist. Dessen rahmende Pilaster zeigen reifen Renaissanceschmuck. Hinter der Fassade und zum Vico dell'Ospedale liegen große Innenhöfe des 15. und 16. Jh. mit einem spitzbogigen Portikus und rundbogigen Loggien in den Obergeschossen.
Von den alten Hospitälern der Stadt L'Aquila sind kaum Reste erhalten. Ebenso wie der Palazzo dell'Annunziata in Sulmona erfuhren die Krankenanstalten in L' Aquila Förderung durch die Bürger. Der berühmte und reiche Kaufmann Niccolò dei Gaglioffi aus L' Aquila hatte in der Nähe der Kirche S. Pietro di Sassa ansehnlichen Grundbesitz, den er zum Bau eines Hospitals S. Maria della Pieta, auch SS. Trinita genannt, zur Verfügung stellte. Diese Anstalt erlangte große Bedeutung. Ihre Ruinen sind nahe bei der Kirche der Addolorata zu sehen.
Völlig verbaut ist das Salvatorhospital, das 1455 Johannes Capestrano neben S. Bemardino gründete, und das heute als Schule dient. Ähnlich wie in Sulmona, wo durch den großzügigen Bau der Annunziata gleichartige kleinere Unternehmungen an Bedeutung verloren, war es auch in L' Aquila. In S. Salvatore gingen zwanzig kleinere Hospitäler auf, die sich in der Umgebung befunden hatten. Zu ihnen gehörten die Anstalten von Bariscianello, Pontanello, Bagno und Sassa. Vom alten Salvatorhospital sind einige Portale im Eingangsraum und im Innenhof übriggeblieben, eines davon ist 1457 datiert. In dessen seitlich vorgelegten Spiralsäulen leben alte abruzzesische Gewohnheiten weiter, während der gedrückte Portalbogen, in dessen Öffnung eine Reihung kleiner Dreipaßbogen eingehängt ist, und das breite kassettierte Portalgewände Formen zeigen, die in Neapel und Sulmona üblich waren.
Für die Öffentlichkeit waren auch die Theaterbauten der Abruzzen bestimmt. Sie sind von der zweiten Hälfte des 16. Jh. an zu verfolgen. Frühe Beispiele geben sich als Zimmertheater in Adelspalästen zu erkennen. An der Förderung des Theaters hatte auch der Klerus teil, der bestrebt war, religiöse Inhalte im geistlichen Drama zur Schau zu stellen. Am Ende des 18. Jh. hören wir von Musentempeln, die von privater Hand unterhalten wurden. Der Wunsch der Bürger, sich im Theater zu bilden, nimmt immer mehr zu; die Bauten des 19. Jh. entstanden ausschließlich im Auftrag der Städte. In dieser Zeit melden sich die Bewohner im adriatisehen Küstenstreifen zu Wort. Der wachsende Bildungsdrang kommt besonders in den Provinzen Teramo und Chieti zum Ausdruck.
Das früheste mir bekannte Theater in den Abruzzen ließ der kunstsinnige Mare Antonio Colonna (gest. 1584) in seinem Wohnkastell in Avezzano errichten. Es diente ihm, dem Hofstaat und der Bevölkerung, die er zu Aufführungen einlud. Diese fanden in den unteren Räumen der Burg statt. Noch längst nach Aufhebung des Feudalsystems erfreuten sich die Einwohner dieses Bühnenortes. Durch den ungeheuren Bevölkerungszuwachs der Stadt infolge der Trockenlegung des Fuciner Sees wurde der Andrang so groß, daß die Räumlichkeiten nicht mehr ausreichten. Um 1880 wurden die Vorführungen aufgegeben. Eine ähnliche Situation ist in Vasto anzutreffen. Die Familie D'Avalos errichtete 1587 ihren Stadtpalast, den sie bis zum Jahre 1798 bewohnte. Ein Saal dieses Baues diente als Theater. Das älteste erhaltene Theatergebäude wurde von den Colonna 1686 gegenüber von ihrem herzoglichen Palast in Tagliacozzo errichtet. Es wurde 1832. vergrößert.
Dem Zweiten Weltkrieg fiel das Theater von Roccaraso zum Opfer. Es wurde 1698 von dem Baron Donato Berardino Angeloni dem Älteren aus Pescocostanzo und von seiner Frau Agatha Florini gestiftet. Ein breites Portal führte auf einen ungedeckten Vorplatz, wo sich das Publikum versammeln konnte, und wo die Wagen abgestellt wurden, auf denen man die Bühnenausstattung herbeischaffte. Das Gebäude bestand aus einer Parterreanlage mit vorgestelltem Portikus und zwei Stockwerken darüber, die mit rundbogigen Loggien versehen waren. Im ersten Stock befanden sich Räume für gesellschaftliche Veranstaltungen und Feste. In der zweiten Etage lag der Theatersaal. über dem Haupteingang des Gebäudes prangte in schönen Lettern eine lange lateinische Inschrift, die das Baujahr, den Bauherrn und seine Frau nennt, und die Zweckbestimmung des Theaters erläutert »ad animorum solatium ae iuventutis profectum, ad propriae sobolis commoditatem« (zum Trost der Seele, zum Nutzen der Jugend und zum Vorteil der Nachkommenschaft). Neben dem Theater baute man eine Schenke, wo für das leibliche Wohl der Künstler und Zuschauer gesorgt wurde.
Einen großen Aufschwung nahm das Theaterleben in der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. über frühe Musenbauten in L' Aquila sind wir schlecht unterrichtet. Bereits am 23. Februar 1642. kam hier das Schäferspiel »Aminta« von Torquato Tasso zur Aufführung. Man weiß, daß 1759 in dieser Stadt mehrere Theater vorhanden waren. 1784 unterhielt das Salvatorhospital das größte und schönste Theater des Ortes. Es wird schon in der Mitte des 17. Jh. genannt und hieß 1790 »Regio Teatro«.
Die Stadt Chieti verfügte 1771 über ein öffentliches Theater, und dazu kam 1789 ein Privattheater. In Penne hören wir im Jahr 1772 von einem öffentlichen Theater. Die Errichtung eines öffentlichen Schauspielhauses bedurfte der Genehmigung des Königshauses. 1776 wandten sich die Bürger von Teramo an den Minister Bemardo Tanucci in Neapel mit der Bitte, einen Musensitz bauen zu dürfen »per rendere piu culta quella citta, ch'e la sede della provincia« (um die Kultur dieser Provinzhauptstadt zu heben). Tanucci lehnte ab und schrieb am 3. Mai 1776 an den Rand des Gesuchs »dovunque si sono permessi teatri, sono occorsi disordini« (wo auch immer Theater erlaubt wurden, kam es zu Wirren). Dennoch erhielt Teramo 1791 ein öffentliches Theater. Es wurde von der alten teramanischen Familie Corradi unterhalten und hieß Teatro Corradi. Der Giebel des Schauspielhauses trug die Aufschrift »Genio patriae et civium hilaritati« (Dem Geist des Vaterlandes und dem Frohsinn der Bürger). Diese private Anstalt bestand bis 1 868. Am Ende des 18. Jh. besaß auch Sulmona ein öffentliches Theater.
(S. 345)Die an vielen Orten erhaltenen Theaterbauten des 19. Jh. bezeichnen nicht das Aufblühen einer neuen Theaterkultur sondern stehen in einer langen Tradition. Mit Ausnahme von Lanciano bestanden in allen Städten, wo im 19. Jh. Schauspielhäuser errichtet wurden, bereits ältere Theater.
Zu Beginn des 19. Jh. hören wir von dem Bau einer neuen Schaubühne in Penne, die am Ende des Jahrhunderts umgestaltet wurde. Die Reihe der bedeutenden Theaterbauten des Ottocento beginnt in Chieti. Das Gebäude wurde 18 I 3 nach Entwurf von Eugenio Michitelli aus Teramo in klassizistischen Formen begonnen und 1818 fertiggestellt. Restaurierungen erfolgten 1970-1972. Anfänglich trug das Theater den Namen des Bourbonenkönigs Ferdinand I. (1759-1825) und erhielt nach der Einigung Italiens die Bezeichnung» Teatro Marrucino«. Die Fassade gleicht mehr einem ansehnlichen Bürgerhaus als einem Theater. Das Erdgeschoß verfügt über fünf Eingänge, von denen das Mittelportal durch größere Höhe betont wird. Über den Seitentüren liegen vier kleinere Fenster. Wie im 19. Jh. üblich, zeigen die Außenwände im Parterre imitiertes Bossenwerk. Die obere Etage wird durch fünf schlichte große Fenster gegliedert. Der Zuschauerraum ist hufeisenförmig angelegt mit vier Rängen. Das Theater in Chieti wurde als erstes in Italien mit elektrischem Licht ausgestattet. Erhalten hat sich der von Giovanni Ponticelli entworfene Bühnenvorhang mit einem ausgefallenen Thema aus der Antike. Denn in jener Zeit besann man sich auf die Ruhmestaten der Helden im Alterrum, die in der Ortsgeschichte eine Rolle spielen. Straßen und Plätze wurden mit römischen oder noch lieber vorrömischen Namen benannt. Die Taten der Alten wurden literarisch überhöht und einseitig und pathetisch ins Licht gerückt. In Ermangelung anderer Traditionen griff man in Chieti auf den 75 v.Chr. geborenen Asinius Pollio zurück, dessen Vorfahren aus dem Land der Marruciner nach Rom ausgewandert waren. Berühmt wurden seine militärischen Erfolge über die dalmatische Völkerschaft der Parthiner, und Glanzpunkt seiner Unternehmungen war die Einnahme von Salona, die auf dem Bühnenvorhang zur Darstellung gelangte.
Fünf Jahre später als in Chieti begann man 1818 in Vasto mit dem Bau eines öffentlichen Theaters, das 1830 vollendet wurde. Später benannte man den Musentempel nach dem berühmten in Vasto geborenen Dichter Gabriele Rossetti. Der Zweite Weltkrieg fügte dem Gebäude so schwere Schäden zu, daß es geschlossen werden mußte.
In Lanciano wurden die Baupläne immer wieder vereitelt. Zu einer städtischen Schaubühne kam es erst 1841, und 1847 wurde der Theaterbau unter dem Namen des Musikers Fedele Fenaroli (1730-1818) aus Lanciano eingeweiht. Die klassizistische Fassade aus Ziegelstein zeigt den im 19. Jh. gebräuchlichen Vorbau mit vier dorischen Säulen.
Die Stadt L'Aquila erhielt im Ottocento zwei neue Theaterbauten. Der frühere, die Sala Olimpica, entstand am Anfang des Jahrhunderts aus einem Umbau des Konvents von S. Agostino und ist heute Sitz der Landesregierung. Von diesem Theater existiert noch ein Holzmodell im Kastell von L'Aquila, und zwar im Auditorium, das in einer der Bastionen für kulturelle Veranstaltungen und vor allem als Konzertraum eingerichtet ist. Die klassizistische Fassade ist zweigeschossig und besitzt, ähnlich wie diejenige in Lanciano, einen Balkon, der von vier kannelierten Säulen getragen wird. Zwischen den beiden inneren Stützen liegt das schlichte Eingangsportal. Wie am Theater von Chieti betonte man das Untergeschoß durch imitiertes Bossenwerk, das im ersten Stock als Seitenverstärkung der Fassade erscheint. Eine hochrechteckige Fenstertür mit dreieckigem Giebeldach führt auf den Balkon. Der Zuschauerraum zeigt Sitzreihen im Parterre, zwei Ränge sowie eine Sitzreihe darüber. Die auf dem Bühnenvorhang dargestellte Szene ist der Äneis des Vergil entlehnt. Turnus, König der latialen Völkerschaft der Rutuler, ist der Gegenspieler des Äneas und greift diesen nach seiner Landung in Latium mit Unterstützung italischer Stämme an. Unter ihnen zeichnen sich die kriegerischen Marser aus. Diese Episode war auf dem Vorhang abgebildet. Der Entwurf stammte von Giuseppe de Mattia aus Salerno, die Ausführung besorgte der Maler Frantz Hille.
Von 1854 bis 1872 baute man an einem zweiten städtischen Musensitz, der heute als ständiges Theater einen hervorragenden Ruf genießt. Architekt war Luigi Catalano aus L' Aquila. Die Fassade ist die monumentalste innerhalb der abruzzesischen Bühnengebäude des 19. Jahrhunderts. Den wenig vorspringenden Mittelteil betonen im Erdgeschoß drei gleichförmige rund bogige Portale, die von vier dorischen Säulen auf Postamenten gerahmt werden, während im ersten Stock an dieser Stelle Rundbogenfenster auftreten, die von vier Säulen mit ionischen Kapitellen eingefaßt werden. Die Seitenteile der Fassade zeigen in beiden Geschossen je ein rechteckiges Fenster. Über der oberen Etage erhebt sich ein niedriger Wandabschnitt, dessen Mitte, analog der unteren Gliederung, vorgezogen ist und von vier dünnen Pilastern unterteilt wird. Als Bekrönung der Schauseite erscheint in ihrer gesamten Breite eine dreieckige Giebelfront. Catalano konnte sich in der Gestaltung seiner Wand auf andere Bauten in L'Aquila beziehen, die um die Mitte des 19. Jh. am Corso Vittorio Emanuele 11. entstanden. Beispielsweise befindet sich dort ein langgestreckter zweigeschossiger Palast, Sitz des Convitto Nazionale, der im Parterre eine rundbogige Portikusanlage mit dorischen Säulen zeigt, während die Rundfenster im ersten Stock von Säulen mit ionischen Kapitellen gerahmt werden, die in der Achse der unteren Stützen liegen.
In der zweiten Hälfte der 60er Jahre des 19. Jh. wurde das Städtische Theater in Teramo an der Porta S. Giorgio eröffnet. Als ein sehr verspäteter Nachzügler des abruzzesischen Theaterbaus des 19. Jh. kann das Stadttheater von Sulmona bezeichnet werden, das nach klassizistischen Vorbildern erst 193 I zur Ausführung kam.
(S. 346)Wohnbauten
Im Gegensatz zu den mittel-und nordeuropäischen Ländern sind in Italien Wohnsiedlungen, die die Jahrhunderte überdauerten, in Fülle erhalten. Sofern nicht Erdbeben, Bergrutsche und Kriege Zerstörungen verursachten, ist der Hausbau in den Abruzzen und im Molise glänzend überliefert. In großer Anzahl leben die Bewohner in Häusern wie zu Urväterzeiten und gehen darin ihrer Beschäftigung nach, allerdings sind ihre Behausungen mit modernem Zubehör ausgestattet, mit elektrischem Licht und dem fragwürdigen Zauber von Radio-und Fernsehapparaten. Es gehört zu den Reisevergnügen in unserer Landschaft, enge und oft steile Straßen ohne bestimmtes Ziel zu durchstreifen. Im Anblick der vielgestaltigen Fassaden, Außentreppen, Tore und Innenhöfe wird man ständig überraschungen erleben. Die Fülle der Beobachtungen ist unerschöpflich, aber in unserem Zusammenhang kann darüber nur höchst bruchstückartig berichtet werden.
Der häufig festgestellte Unterschied der Kultur zwischen dem adriatischen Küstenstreifen und dem gebirgigen Binnenland zeichnet sich auch im Wohnbau ab. Streusiedlungen im Hügelland kontrastieren mit geschlossenen Wohngemeinschaften im Gebirge; eindrucksvoll ist dies zu beobachten, wenn man aus den Bergen kommend die Schlucht von Popoli durchquert und die sanfteren Hügelzüge zur Adria hin erreicht. Einer übersicht von 1961 ist zu entnehmen, daß zu jener Zeit im Hochland der Provinz L'Aquila weniger als ein Prozent der Bewohner außerhalb geschlossener Ortschaften lebte. In der Provinz Chieti dagegen hatte 42 Prozent der Bevölkerung ihr Domizil verstreut auf dem Lande, und in der Provinz Teramo stieg der Anteil der Streusiedler auf 55 Prozent.
Ortschaften auf Berghöhen sieht man überall im italienischen Apennin. Die einzigartige, fast alpine Landschaft der Abruzzen verleiht jedoch der baulichen Geschlossenheit der Siedlungen oft ein ganz besonders pittoreskes Aussehen, z.B. in Pereto, Navelli und Scontrone. Meist sind die Straßen der Orte eng und gekrümmt, bedingt durch die Hanglage. In erdbebengefährdeten Gegenden werden einander gegenüberliegende Häuser durch kräftige Abstützbogen verbunden, so in L'Aquila oder in Barrea.
Platzanlagen, die in künstlerischer Absicht geschaffen wurden, sind in den kleineren Ortschaften nicht anzutreffen. Dennoch entstanden auch dort bauliche Nachbarschaften, die ungewollt fast ein Kunstwerk ergaben. Derartige Gebilde trifft man oft. Ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel bietet Citta S. Angelo. Dort führt eine getreppte Straße zur Fassade der Augustinerkirche des 18. Jahrhunderts. An deren rechte Seite schließt die kleinere Vorderfront eines Oratoriums aus derselben Zeit an. Das Nebeneinander dieser beiden Gebäude erinnert an eine Bühnendekoration. Bekannter ist die Piazza dell'Obeiisco in Tagliacozzo. In der Mitte sprudelt ein Brunnen, über dem sich ein Obelisk erhebt. Der umliegende Häuserkranz besitzt als Bekrönung Loggien und zeigt in seinen Fenstern ein weitgespanntes Formenrepertoire, von der Gotik bis zum Barock reichend.
Für den Städtebau des 14. und 15. Jh. ist die Gesamtplanung und das einheitliche Aussehen der Häuser kennzeichnend. Niemand durfte nach eigenem Gutdünken bauen. Der Einzelne war in seinem Handeln an übergeordnete Weisungen gebunden, die meistens von den Städten ausgingen und noch in vielen Statuten zu belegen sind. Derartige Bauvorschriften kann man auch aus dem Aussehen der Städte selbst ablesen. Die Strukturierung eines Stadtgefüges fußte auf Bestimmungen, an denen man durch Jahrhunderte festhielt. L' Aquila gehört zu den Städten Italiens, wo sich die Straßenzüge und die Disposition des Wohnbaus vom 13. Jh. bis in die moderne Zeit bewahrt haben. Ähnliches zeigt Sulmona, wo die Erweiterung der Stadt im 14. und 15. Jh. bis in Einzelheiten zu erkennen ist. Nach einem bestimmten Modell richtet sich z.B. vom 16. bis zum 18. Jh. der Wohnbau in Pescocostanzo. In einem Straßenzug kann man zweistöckige Reihenhäuser beobachten. An jedem führt eine Außentreppe zu einem Podest, wo dicht benachbart Türen liegen, eine als Eingang zum Untergeschoß, die andere als Zugang zur zweiten Etage. Die untere Wohnung zeigt zur Straße ein Fenster, die obere hingegen zwei. Die Raumverteilung mit einer Wohnstube und zwei Schlafzimmern ist in beiden Geschossen gleich. Die Treppengewände zeigen zur Straße hin Türöffnungen, die zu den ebenerdigen Räumen führen, die als Läden, Werkstätten oder Magazine dienen konnten. Zwischen zwei Häusern ist jeweils in der Tiefe des Treppenabsatzes eine steinerne Trennwand errichtet, die vom Podest bis zum Dach aufsteigt. Die Treppenläufe zweier Häuser stehen sich meistens gegenüber. Das Dach ist weit vorgezogen. Gelegentlich beträgt der Überhang drei Meter, gestützt von Holzkonstruktionen und den erwähnten Trennwänden. Diese Bauweise schützt die Hausbewohner vor Schneetreiben und eisigen Winden, denen sie in Pescocostanzo in einer Höhe von 1360 m ausgesetzt sind. Bei aller Schematisierung der Anlage sind indessen die Einzelformen der Reihenhäuser verschieden. Dekorierte Treppenpfosten zeigen Motive aus der Renaissance und dem Barock.
Im 15. Jh. gelangte im Wohnbau ein Portaltyp zur Anwendung, den die Italiener nach dem in Neapel residierenden Zweig der Anjou, den Durazzo, als »portale durazzesco« bezeichnen. Sicherlich ist das Modell neapolitanischen Ursprungs, und es ist besonders häufig in der den Anjou gewogenen Stadt Sulmona anzutreffen; aber auch in L' Aquila und den übrigen Abruzzen begegnet man ihm. Diese Standardlösung machte Fortune und findet sich auch in Latium wieder mit schönen Beispielen in Genazzano. Ein typisches Durazzoportal sieht man in Sulmona im Palast der Familie Sanita, der einst, wie frühere Lokalhistoriker berichten, der ara gon ischen Königsfamilie zur Verfügung stand. Wie üblich ist das Portal aus sorgfältig geschnittenen Quadern ausgeführt. Um hohe Lasten durch das Tor befördern zu können, verzichtete man auf den tiefliegenden Architrav. In Form von glatten Pfeilern stützen die Türpfosten kräftige profilierte Kapitelle. Diese besitzen eine doppelte Funktion. Sie tragen den gestelzten Flachbogen und zugleich die rechteckige Einfassung, die jenen überspannt.
(S. 347)Im abruzzesischen Wohnbau sind in den Erdgeschossen häufig dicht nebeneinanderliegende Eingänge zu beobachten, gut zu belegen in L'Aquila, Popoli, Castelvecchio Subequo. Da viele dieser Portale heute nicht mehr benutzt werden, hat man sie zugemauert, und ihre Funktion wurde bald mit Legenden ausgeschmückt. Die Bevölkerung glaubt heute noch, daß es sich um Totentüren handelt, um den Verstorbenen hinauszutragen. Die Wahrheit ist sehr viel einfacher. Die Doppeleingänge dienten verschiedenen Zwecken, der eine bot Zugang zur Privatwohnung, der andere zu den Geschäftsräumen. Unter vielen Beispielen erwähne ich nur einen Bau in L'Aquila ausführlicher. Die Häuserzeile, die den Namen »Le Cancelle« trägt, liegt heute in der Via Simeonibus Nr. 10-16. Sie stand ursprünglich am großen Marktplatz vor dem Dom. Als man das Grundstück zur Errichtung des häßlichen Post-und Telegraphenamtes benötigte, riß man» Le Cancelle« ab und baute die Anlage an der heutigen Stelle wieder auf. Es handelt sich um eine Häusergruppe des 15. Jh., ein Abbild des Gewerbefleißes von Kleinbürgern, bestehend aus Privatwohnungen und Ladenräumen. Zu ebener Erde zeigt der Baukomplex zur Straße hin acht Rundbogenöffnungen, die von glatten Pfeilern getragen werden. Zu einer Hausgemeinschaft gehören jeweils zwei in ihrer Größe verschiedene Türen. Die breiteren Zugänge mit etwas gestelzten Korbbogen, die Einflüsse des Durazzoportals erkennen lassen, gewähren Zutritt zu den Geschäftsräumen. Auf ihrer Schwelle erhebt sich etwa in halber Breite der Türöffnung eine als Ladentisch dienende Sockelbank. Man erledigte, wie es bereits aus dem antiken Ostia bekannt ist, seine Einkäufe von der Straße aus. An den dahinterliegenden Ladenraum schloß sich weiterhin ein Magazin an. Die schmaleren Zugänge, von denen im Innern Treppen in den ersten Stock gehen, liegen etwas höher als die Ladenöffnungen, doch sind sie heute entstellt und nicht mehr benutzbar, denn die von der Straße zu ihnen ansteigenden Stufen mußten auf Grund neuer Polizei verordnungen, welche Treppenansätze auf öffentlichen Wegen verbieten, entfernt werden. Von den Geschäftsräumen führten ursprünglich keine Stiegen zur ersten Etage. Entsprechend aquilanischen Gewohnheiten markierte ein durchlaufendes Profilgesims die Trennung von Erd-und Obergeschoß. Jede Familie verfügt über ein Fenster zur Straße. Dessen Öffnung ist rechteckig und zeigt, ähnlich wie beim 1457 datierten Portal des Hospitals S. Salvatore in L'Aquila, eine in die Öffnung eingehängte Reihung von Rundbogen, die wie eine Draperie erscheint.
Eine Sammlung von Inschriften an abruzzesischen Hauswänden würde wahrscheinlich ein umfangreiches Material ans Tageslicht bringen. Sie überliefern meistens Daten, Besitzanzeigen und Wappensprüche. Vereinzelt erscheinen ausführlichere Sprüche. In Isola del Gran Sasso, wo der alte Wohnbau gut erhalten ist, liest man an der Sonnenuhr eines Hauses »Pereunt et non imputantur« (Die Stunden verrinnen und verpflichten sich zu nichts). In Campli wohnte der sprichwortfreudige Arzt Pancrazio Caravelli. Er stattete sein noch erhaltenes zweistöckiges Haus an den Fenstersimsen mit Wahl-und Sinnsprüchen in lateinischer Sprache aus. Am selben Ort besaß er noch eine Apotheke mit einer Loggia aus dem späten 16. Jahrhundert. Am Portal architrav seines Hauses in Castelli ließ der Kardinal Silvio Antoniano das Datum 1602 anbringen und das lateinische, im Deutschen nicht wiederzugebende Wortspiel .. Ostium non hostium« (Eingang fürwahr, doch nicht für feindlich Gesinnte).
Am besten von allen Städten in den Abruzzen ist der Wohnbau in L'Aquila überliefert, trotz vieler Erdbeben und Zerstörungen. Allerdings ist kein Haus des 13. und 14. Jh. vollständig erhalten, aber einzelne Teile wie Portale, Fenster, Kapitelle und Grundmauern, die bei Neubauten wiederverwendet wurden, sind in reicher Anzahl zu finden. Die Wohnhäuser des 14. Jh. waren zweistöckig. Im Erdgeschoß zur Straße lagen die Geschäftsräume, an die Rückfront schlossen sich teilweise ausgedehnte Gärten an. Im 15. Jh. verschwinden allmählich die Verkaufsstätten zur Straße hin, und die Magazine werden in den rückwärtigen Teil des Hauses verlegt, wo man sie durch gewölbte Korridore erreicht. Das Erstarken des Bürgertums brachte die Verfeinerung des Wohnbaus mit sich.
Den Übergang von der Gotik zur Renaissance verdeutlicht das Haus des reichen Kaufmanns Jacopo di Notar Nanni in der Via Bominaco Nr. 20-24. Sein Vater, der Notar Nanni, zog um 1400 von Civitaretenga nach L'Aquila. Jacopo kam zu Wohlstand, besaß in L'Aquila zahlreiche Häuser und ist ein großer Mäzen der Stadt gewesen. Er stiftete die Gelder zum Bau des Mausoleums des hl. Bernhardin und spendete vorzugsweise für die Errichtung von Marienkirchen, S. Maria dei Popolo, S. Maria del Ponte und Madonna dei Soccorso. Die drei Portale im Erdgeschoß seines Hauses könnte man auf Grund ihrer Formen früheren Zeiten zuschreiben. Jedoch erscheint im Schlußstein einer Tür das Wappen des Jacopo und die Devise des hl. Bernhardin mit der Sonne im Strahlenkranz, so daß sich der Zugang als ein Werk des 15. Jh. kundtut. Der erste Stock besitzt eine Reihe von Fenstern, rechts einige in gotischen Formen, die übrigen im Stil der Renaissance. Das Haus wird von einer Loggia bekrönt, die sich nach zwei Seiten in je drei Rundbogen auf schlanken Säulen öffnet. Gleichgeformten gotischen Fenstern begegnet man wieder an dem kleinen Palast Colantoni an der Piazza Paganica Nr. 17. In L'Aquila bestand eine Vorliebe für Loggien, und bereits geraume Zeit vor dem Haus des Nanni entstand dasjenige mit einem dreibogigen Altan in der Via Casella Nr. 2. Schon in der zweiten Hälfte des 15. Jh. nimmt der Wohnbau der reichen Bürger solche Formen an, daß die Häuser wie prächtige Paläste erscheinen und eine Entwicklung einleiten, die in den Abruzzen einmalig ist.
Konservativer als L' Aquila verhielt sich im 15. Jh. Sulmona im Wohnbau. Das Rezept des aus Neapel eingeführten Durazzoportals wurde beibehalten, und man versuchte sich vorerst nicht an neuen Lösungen. Auf Grund von Erdbeben und modernen Eingriffen ist nur wenig über die Gestaltung der Innenräume auszusagen.
Ein typisches Beispiel liefert der Palazzo Sardi, der unge (S. 348) fähr 1420 entstand, als Lotto de Sardis (gest. 1445) Bischof der Ovidstadt wurde. Er stammte aus Pisa, seine Familie folgte ihm nach Sulmona und schlug hier ihren Wohnsitz auf. Vergleicht man das Durazzoportal des Palazzo Sardi mit demjenigen des Palazzo Sanita, beobachtet man gewisse Abweichungen. Statt der rechteckigen Einfassung des Flachbogens findet man hier einen Kielbogen, dessen Spitze von einer Knospe bekrönt wird. Vorn trapezförmigen Innenhof des Palastes führt eine Außen treppe zu dem auf drei Seiten erhaltenen umlaufenden Balkon, von dem aus die Privaträume zu erreichen waren. Aufgang und Balkon werden von einern Dach bedeckt. Dieses wird von einern achteckigen Pfeiler abgestützt, der sich auf der Brüstung neben dem Treppenaufgang erhebt und als Basis einen kauernden Löwen mit dem Wappen der Sardi zwischen den Klauen zeigt. Es erscheint noch einmal in einem Lorbeerkranz an den vier Seiten des Kapitells.
Das Erdbeben von 1706 vernichtete den Palast der Barone Tabassi fast völlig. Erhalten blieb das Portal, an dem sich in einer Inschrift der Baumeister Petri aus Corno mit dem Datum 1449 nennt. Dieser Steinmetz kopiette getreu ein Durazzoportal, es sind an der Tür keine lombardischen Einflüsse zu spüren. In Technik und Stil unterscheidet es sich von dem etwas späteren Fenster über dem breiten Rundbogen des Eingangs. Hier wird in außerordentlicher Qualität noch einmal die abruzzesische Lust am Dekorieren lebendig mit kunstvollem Maßwerk und Rosetten. Es gehört zu den schönsten Fenstern in den Abruzzen und steht dem dreiteiligen Fenster an der Fassade der Annunziata in Sulmona so nah, daß man an eine gemeinsame Werkstatt denken kann.
Den Eingang zum Palazzo Sanita hatten wir bereits früher als Paradebeispiel für Durazzoportale in Sulmona erwähnt. Bemerkenswert ist ein kleines schlecht erhaltenes Fresko über einem Bogen im Treppenaufgang dieses Hauses, das die Madonna mit Kind darstellt. Wahrscheinlich ist dieses Bild um 1450 zu datieren und Andrea Delitio zuzuschreiben. Ein anderes Durazzoportal stammt vom ehemaligen Palazzo Colombini in der Via Roma. Allein dieser Bauteil, der heute als Straßendurchfahrt dient, überlebte das Erdbeben von 1706. Im Schlußstein des Bogens erscheint das Wappen der Colombini, eine Taube mit dem Palmzweig im Schnabel. über dem Bogen sieht man zwei Wappen des Hauses Durazzo. Beim selben Erdbeben wurde der Palast des Giovanni dalle Palle beschädigt. Dieser war ein reicher Kaufmann aus Venedig und ließ laut Inschrift sein Haus 1484 errichten. Es beherbergt heute eine Filiale des Banco di Napoli, eine Front weist zum Corso Ovidio und eine andere zur Piazza xx Settembre. Das Portal am Corso entstand nach dem Erdbeben von 1706, während zum Platz hin zwei Durazzoportale erhalten geblieben sind.
Am Ende des 15. Jh. distanzierte man sich in Sulmona im Wohnbau von dem neapolitanischen Leitbild, und nun konnte L'Aquila Einfluß gewinnen. Ein Beispiel für diesen Vorgang zeigt das Portal des Palazzo Faciani. Kraftlos hält man an traditionellen Formen fest. Anstelle der glatten Türpfosten des Durazzomodells werden hier den Pfeilern an den Seiten kannelierte Halbsäulen vorgesetzt, deren Kapitelle die rechteckige Einfassung des Bogens tragen. Dieses Verfahren war in L'Aquila gängig, zu belegen etwa am Palazzo Dragonetti-Cappelli.
Ein Wohnhaus des Quattrocento ist heute in Sulmona Sitz der Banca Agricola. Der rundbogige Eingang zeigt eine reiche Ausgestaltung mit Quadern im Diamantschnitt; sie erscheinen an den Türpfosten, der Bogenrundung und am obersten waagerechten Abschluß des Portals. Durch einen Korridor gelangt man in einen Innenhof, wo eine elegante Außentreppe in den ersten Stock führt. Entsprechend dem aquilanischen Stil zeigt der Innenhof eine Portikusanlage mit Pfeilern, die zierliche Rundbogen tragen, deren Unterzug von Rosetten belebt wird. Die vier Fenster in der ersten Etage wiederholen in der Struktur den Aufbau eines Durazzoportals.
Nirgends in den Abruzzen ist der Wohnbau so gut erhalten wie in L'Aquila und Sulmona, wo er in geschlossenen Komplexen zu studieren ist. Eine eigentümliche Situation stellt sich in Teramo dar. Dort stritten im Mittelalter zwei Familien beharrlich um die Vormachtstellung in der Stadt, die Melatini und die Antonelli. Zufällig kennen wir die Wohnsitze beider Sippen, während vom übrigen Wohnbau dieser Zeit kaum etwas erhalten ist. Das Haus der Melatini steht noch in sehr verbautem Zustand, der Bau der Antonelli wurde in moderner Zeit abgerissen und ist nur noch durch alte Photographien dokumentiert. Die Casa Melatini ist ein dreistöckiger Ziegelbau. Das Erdgeschoß bestand ursprünglich aus dem in Teramo beliebten Portikus mit Spitzbogen, der später durch Läden und Magazine verbaut wurde. Im ersten Stock lagen die heute verunstalteten Repräsentationsräume, deren rechteckige Fenster zur Straße erhalten sind. Einige von ihnen werden durch verschiedengestaltete Säulen in der Mitte geteilt. Eine dieser Stützen ist glatt, eine andere ist spiralförmig gebildet, und um den Schaft einer dritten windet sich eine Schlange mit dem Kopf eines Weibes, als Anspielung auf Eva im Paradies. Kleiner, aber besser erhalten war das aus Bruchstein errichtete Haus der Antonelli am Corso Porta Romana (Tf. 224). Die beiden ebenerdigen Eingänge des zweistöckigen Hauses führten in die Geschäftsräume, von denen einer, wie die Häusergruppe »Le Cancelle« in L'Aquila, die Verkaufsbank an der Türschwelle aufwies. Ein anmutig gebildetes Gesims aus Ziegelstein setzte die erste Etage vorn Erdgeschoß ab. Das obere Stockwerk zeigte rechteckige Fenster, die von Säulen in der Mitte unterteilt wurden. Als Basen dienten ihnen Löwen und Menschenfratzen. Beachtenswert sind die Wappen beider Häuser mit kernigen Sinnsprüchen. Das der Melatini trägt die Jahreszahl 1372, die der Entstehungszeit des Baus entspricht. Der Wahlspruch in abruzzesischer Mundart lautet: »Io so Bracchu rissoso per natura d'offendere ad chi me sdengna te procura« (Ich bin Bracchu, raufsüchtig von Natur, bereit, jeden anzugreifen, der mich erzürnt. Hüt du dich). Das Wappen der Antonelli gelangte in das Stadtmuseum von Teramo. Das Motto heißt: »A lo parlare agi mesura« (Beim Sprechen halte Maß). Auf dem Wappenbild stehen sich zwei (S. 349) männliche Halbfiguren gegenüber, die übertriebenlange Zungen herausstrecken, deren Spitzen auf den Schenkeln eines Zirkels aufgespießt sind.
Der spätmittelalterliche Wohnbau erweist sich in den Abruzzen und im Molise als konservativ und läßt nur wenig Spielraum für originelle Leistungen. Einmal gefundene Lösungen verbreiten sich über das ganze Land. Der aquilanische Innenhof mit der Treppe zur Loggia im ersten Stock wird eine beliebte Bauform der reicheren Bevölkerungsschicht, beispielsweise zu sehen an den Überbleibseln des Hauses der Cantelmi in Popo Ii. Portale des Durazzotyps finden wir in Lanciano wieder, ebenso wie den Ladentisch an der Türschwelle eines Baues, den sich 1434 ein Nikolaus Rubeus errichten ließ. Süditalienische Einflüsse sind im Wohnbau, mit Ausnahme des Durazzoportals, selten. Die Löwenkapitelle des spitzbogigen 1488 datierten Fensters am Hause Oe Marco in Atessa erinnern an Apsidenfenster apulischer Kathedralen, und das manierierte spätgotische Fenster eines Hauses in Bagnoli del Trigno läßt an neapolitanische oder gar spanische Vorbilder denken.
Bislang hat man noch nicht die Frage gestellt, wieweit auch der geistliche Stand am Wohnbau in unserer Region beteiligt war. Denn selbstverständlich trat auch der Klerus als Auftraggeber solcher Bauten auf. Die Priester lebten in eigenen Pfarrhäusern, und es wurden Seminare zur Ausbildung und Unterkunft des Nachwuchses unterhalten. So gehört z. B. das Priesterseminar in Chieti zu den bestgelungenen Bauten des 16. Jh. in dieser Stadt.
Am ehesten ist die Bautätigkeit des geistlichen Standes an den Wohnsitzen der Bischöfe greifbar. Ein frühes und überaus seltenes Beispiel dieser Art stellt der Bischofsturm von Corfinio dar. Er lehnt sich an das Oratorium S. Alessandro an. Dessen Schmalseite bildet zugleich die kürzere Wand der Residenz, deren Grundriß ein Rechteck bildet. Dieser Turm, von dem wir zum ersten Mal in einer Schriftquelle von 1191 hören, diente nicht, wie öfter gesagt wurde, als Glockenturm sondern als Behausung des Bischofs (sedesepiscopalis). Wir wissen, daß die Wahl des Bischofs Wilhelm von Valva (1191 -1206) in diesem Bauwerk erfolgte. Gleichzeitig diente der Turm als Verteidigungsanlage in kriegerischen Zeiten. Er ist zweigeschossig; der obere Teil ist nicht mehr vollständig erhalten und heute von einem schräglaufenden Dach abgeschlossen. Die drei Außenwände mit Eckverstärkungen werden jeweils in der Mitte von Lisenen unterteilt, während die beiden Stockwerke durch die in Corfinio oft angewandte Blendarkatur unter einem kräftig vorkragenden Gesims voneinander abgesetzt werden. Im Erdgeschoß sind an den beiden Ecken des Turmes mächtige antike Spolien, die ehemals als Kapitelle dienten, in die Mauer eingelassen. Da die Blendarkatur auf der Apsisseite des Oratoriums S. Alessandro mit der des Turmes in gleicher Höhe verläuft und überdies beide in den Formen übereinstimmen, kann, auch in Anbetracht der gleichen Gestaltung des Mauerwerks, die Entstehung beider Bauten zeitlich nicht weit auseinanderliegen. Die zweigeschossige Gliederung des Außenbaus findet eine Entsprechung im Innern. Das Erdgeschoß wird durch einen nach benediktinischer Gewohnheit abgestuften Bogen in zwei gleichgroße Räume mit Kreuzgratgewölben geteilt.
In Teramo liegt der völlig verbaute Bischofspalast neben dem isoliert stehenden Campanile der Kathedrale. Spuren des 14. Jh. findet man im Außenbau in der für Teramo charakteristischen Portikusanlage mit fünf Spitzbogen, die von kräftigen Pfeilern gestützt werden. Die Räume gruppierten sich in zwei Stockwerken um einen Innenhof, von dem eine Treppe auf eine umlaufende Loggia führte. Drei Säulen, die dort die Bogenöffnungen trugen, kamen im 2.o.Jh. wieder zum Vorschein. Teils sind sie schraubenförmig gebildet, teils zeigen sie das Fischgrätenmuster und setzen mit runden Basen über achteckigen Plinthen auf den Rücken von Löwen an, die stilistisch mit den Löwen an der breiten Freitreppe des Domes übereinstimmen.
Wie in Corfinio wurde die Bischofsresidenz in Chieti in Form eines mächtigen Turmes errichtet. Bauherr war Bischof Colantonio Valignani im Jahr 1470. Der hohe Rechteckturm zeigt als oberen Abschluß einen Zinnenkranz und darunter einen umlaufenden Blendfries aus Kreuzbogen. Als Verzierung verwandte man auch Scheiben aus Majolika.
Der gebildete Amico Agnifili, der als Bischof von L' Aquila von 1451-1476 amtierte, wohnte wahrscheinlich zunächst in dem bischöflichen Palast, der nach dem Erdbeben von 1703 durch einen Neubau ersetzt wurde. Um die Jahrhundertmitte legte er in der heutigen Via dei Cardinale den Grundstein zu einem eigenen Haus, einem Renaissancebau mit mittelalterlichen Reminiszenzen in den Einzelformen. Der Akzent der Gestaltung liegt nicht mehr auf der Fassade zur Straße, sondern das Zentrum des Baugefüges bildet, toskanischen Vorbildern folgend, der Innenhof, wohl der früheste im aquilanischen Palastbau. Man erreicht ihn durch eine breite und tiefe Einfahrt, die sich aus drei Jochen mit Kreuzgratgewölben zusammensetzt. Im letzten Abschnitt führt eine Innentreppe zum ersten Stock. Die Einfahrt öffnet sich zum quadratischen Hof in einem weitgespannten gepreßten Rundbogen. Lediglich die gegenüberliegende Seite des Innenhofs verfügt über einen Portikus mit drei Rundbogen. Diese werden von Säulen gestützt, deren attische Basen noch mit altertümlichen Eckblättern versehen sind, während die Bogenrundungen von Bändern mit dem mittelalterlichen Zahnschnitt begleitet werden. Auf der linken Seite des Hofes befindet sich ein Balkon, der von einer dichten Abfolge von Konsolen abgestützt wird. Ihre im aquilanischen Palastbau nicht wieder anzutreffende Form erinnert an die Militärarchitektur, bei der die vorkragenden Brustwehren von ähnlichen Gebilden getragen werden, oder an hölzerne Stützen, die im abruzzesischen Hochgebirge die überhängenden Dächer absichern.
Der auf dem Konzil von Trient auftretende Pompeo Zambeccari aus Bologna war 1547-1571 Bischof von Sulmona und Valva. Wahrscheinlich wohnte er in dem von ihm restaurierten bischöflichen Palast in Sulmona. Über eine zweite Residenz verfügte er in Corfinio in der heute nach ihm benannten Straße, wo noch die Fassade des Baus aus dem 16. Jh. zu sehen ist. Bischof Boccapaduli (1638-1647) (S. 350) verschönerte den Bischofspalast in Sulmona durch Neubauten und vor allem durch die Anlage einer breiten Treppe.
Papst Pius VI. Braschi (1775-1799) machte Capitignano in den Abruzzen zur Sommerresidenz. Er bewohnte dort den Palazzo Ricci aus dem 16. Jh., den er auf eigene Kosten durch seinen Architekten Giovanni Stern aus Rom restaurieren ließ.
Paläste und Villen
Der Wohlstand des Adels und des Bürgertums äußert sich seit der zweiten Hälfte des 15. Jh. auch in der Gestaltung ihrer Häuser. Aus schlichten Wohnungen entwickeln sich ansehnliche Paläste und Villen. Tonangebend war durch Jahrhunderte hindurch die Stadt L'Aquila. Der selbstbewußte Besitzer eines vornehmen Baus verbirgt sein Tun diskret hinter den Mauern seines Hauses. Die Geschäftsräume sind nicht mehr von der Straße einsehbar, und ebenso entzieht sich sein privates Leben fremdem Blick. Wie gesagt, entwickelt sich der Cortile, der Innenhof, in der Renaissance zum Zentrum des Palastes, und die Außentreppe an der Fassade verschwindet.
Ein charakteristisches Beispiel für den Übergang von der Gotik zur Renaissance bietet der Palazzo Pica-Alfieri in der Via Fortebraccio. Die Fassade ist in drei Geschosse gegliedert mit dem traditionellen Gesims zwischen Parterre und erstem Stock. Herkömmlich ist das Durazzoportal, während die Fenstergestaltung folgewidrig wirkt. In der ersten Etage treten Renaissancefenster auf, wohingegen das darüberliegende Stockwerk eine dichtere Reihung von gotisierenden Öffnungen mit Mittelsäulen zeigt. Die eigentliche Renaissance kündigt sich im Binnenteil des Palastes an. Er gruppiert sich um zwei Innenhöfe, deren größerer Spitz-und Rundbogen in der Art eines Kreuzgangs besitzt. Darüber öffnet sich auf allen vier Seiten eine Loggia zum Hof.
Fortschrittlicher verhält sich der etwas später um 1500 zu datierende Palazzo Benedetti in der Via Accursio. Der Innenhof verfügt auf drei Seiten über hohe rundbogige Säulengänge und im ersten Stock über eine umlaufende Loggia, deren Öffnungen später zugemauert wurden. Die dem Hofeingang gegenüberliegende Seite ist als großartiger Treppenaufgang gebildet. Über breiten Stufen erhebt sich das weite rundbogige Portal, gerahmt von zwei kannelierten Halbsäulen, die das breite Gesims über dem Scheitel des Türbogens stützen. Die besten Bildhauer der Stadt schmückten diesen Bauteil. In den Kapitellen der vorgelegten Halbsäulen erscheinen sehr plastisch ausgearbeitete Sphingen, die auf ihren Köpfen die Deckplatten tragen. In den Bogenzwickeln sitzen zwei Pfauen. In etwas vergröberter Form wird dieses Portal im Innenhof des Palazzo Fiore (Tf. 225) in der Via Sassa wiederholt.
Die Reihe der bedeutsamen Innenhöfe in der ersten Hälfte des 16. Jh. beschließt der 1966 restaurierte Palazzo Dragonetti-Cappelli (Tf. 223) in der Via Giusta. Der Hofraum ist so beschränkt, daß man sich entschloß, nur eine zweiseitige Portikusanlage zu schaffen, bestehend aus Monolithsäulen und drei Bogen auf der längeren sowie zwei Bogen auf der kürzeren Seite. Der Mangel an Fläche wird durch die Vermehrung der Etagen ausgeglichen. über dem Portikus im Erdgeschoß erheben sich, als Seltenheit im aquilanischen Palastbau, zwei Loggien übereinander; die untere wiederholt die Disposition der ebenerdigen Säulengänge, während die Säulen der oberen Loggia ein Gebälk tragen, auf dem das Dach ruht. Interesse verdient ferner die Außenansicht des dreistöckigen Palastes, der nach allen vier Richtungen freisteht. Das Hauptportal zeigt noch den Durazzotyp, indessen fügte man, wie auch in einigen anderen Fällen, seitlich Stützen hinzu, die die rechteckige Einfassung des Bogens tragen. Die Freude an Loggien bekundete man auch im luftigen dritten Stock, wo sich an zwei fortlaufenden Seiten des Hauses Altane mit je drei Rundbogen auf Säulen befinden. Darunter schmückt die Ecke des Baus das große Wappen der Dragonetti mit dem Drachen, und über ihm erscheint eine plastisch gebildete Sphinx, die wir bereits an den Palästen der Benedetti und der Fiore in ganz ähnlicher Form antrafen.
In der zweiten Hälfte des 16. Jh. herrscht der dreistöckige Palast mit gegliederten Außenwänden vor. Ganz allgemein ist an vielen aquilanischen Palästen der Renaissance eine Unstimmigkeit zu beobachten. Die Gestaltung des Erdgeschosses mit einfachen Türen und Durazzoportalen erscheint zumeist rückständig im Vergleich zu den oberen Stockwerken. Grundsätzlich wäre zu fragen, ob derartige Untergeschosse gelegentlich von Erdbebenkatastrophen verschont wurden, und ob man darüber dann den Neubau nach modernen Geschmacksvorstellungen errichtete. Diese Überlegung drängt sich bei der Betrachtung des Palazzo Gentileschi in der Via Garibaldi auf. Das Untergeschoß zeigt drei Portale von ungleicher Größe und verschiedener Gestaltung, während die beiden oberen Stockwerke architektonisch straff und einheitlich ausgeführt sind. Aus Florenz übernahm man die Reihung von Rundfenstern unter dem Dach, hinter denen sich die Räume für die Bediensteten befanden. Zwei dieser Öffnungen wurden durch häßliche rechteckige Fenster ersetzt. Die fünf außerordentlich qualitätvollen Rechteckfenster mit gleicher Rahmung im ersten Stock, die in der Achse der fünf oberen Rundfenster liegen, sind in L' Aquila einmalig.
Die dunkelste Zeit im aquilanischen Palastbau ist das 17. Jahrhundert. Man bediente sich Formen früherer Zeiten. Eine Ausnahme bildet der kleine Palazzo dei Nobili in der Via Camponeschi. Das schlichte Seitenportal mit dem Adlerwappen ist 1604 datiert. Die Schaufassade zeigt ein für diese Stadt völlig ungewöhnliches Aussehen. Wohl wird die Zweigeschossigkeit durch das herkömmliche Gesims betont, neu sind jedoch die drei großen Nischen im Obergeschoß, denen drei querelliptische Fenster im Parterre entsprechen. Zwischen diesen öffnen sich wiederum Nischen, die bis zum Gesims reichen, und die im Erdgeschoß Balustraden aufweisen.
Das Erdbeben von 1703 stellte den Palastbau vor völlig neue Aufgaben. Die Gelder für die Wiederherstellung waren knapp, und nur selten wurden die Gebäude von Grund auf (S. 351) neu errichtet. Man beschränkte sich auf das Nötigste, meistens nur auf neue Fassaden. Dabei zog man Architekten aus Rom zu Rate. Ähnlich wie es beim Neubau der Kirchen geschah, hielten sich die Baukünstler so kurz wie möglich in L'Aquila auf, oft fertigten sie ihre Entwürfe in Rom an und ließen sie von Baumeistern an Ort und Stelle ausführen. Die römischen Architekten legten also ihren Werken in L'Aquila keine große Bedeutung bei, und so begegnen wir hier auch keinen Bauten, deren Qualität sich mit römischen Palästen messen kann.
Seit 1710 entstehen in L'Aquila Barockpaläste, und der späteste in der Reihe ist der 1776 errichtete Palazzo Centi (Tf. 228). Aus Mangel an Inschriften oder anderen Hilfsquellen ist die Datierung der Paläste in der ersten Jahrhunderthälfte äußerst schwierig. Zu den wichtigsten Bauten dieses Zeitraums gehören der Palazzo Pica-Alfieri in der Via Bafile, der Palazzo Quinzi in der Via Indipendenza, der Palazzo Dragonetti in der Via Roio, der Palazzo Manieri in der Via Bazzano, der Palazzo Ciavoli-Cortelli in der Via Roma und der Palazzo Antonelli in der Via Sassa. Seit der Jahrhundertmitte sind die Paläste meistens datiert, 1749 entsteht der Palazzo Ardinghelli-Franchi an der Piazza Paganica, 1757 der Palazzo Cipollone in der Via Cavour, 1760 der Palazzo Bavona-Bonanni in der Via delle Bone Novelle, 1769-1778 der Palazzo Rivera an der Piazza S. Maria di Roio und 1776 als letzter der Palazzo Centi-Colella. Weiterhin gehören in die zweite Hälfte des 18. Jh. undatierte Bauten wie der Palazzo Persichetti an der Piazza S. Maria di Roio und der Palazzo Antinori in der Via Garibaldi.
Die aquilanischen Paläste des Settecento weisen erstaunliche Gemeinsamkeiten auf. Im Gegensatz zur Renaissance präsentiert sich der Palast zur Straße oder zum Platz hin, und in der Fassade spiegelt sich die Vornehmheit der Behausung. Sie erscheint schlicht und ohne Übertreibungen, man vermeidet Vor-und Rücksprünge der Bauelemente sowie übersteigerte Kurvaturen und Linienspiele und unterdrückt die im Barock so beliebte Anbringung von Kartuschen und Ornamenten. Ein vorbildliches Beispiel für einen Bau, dessen Gestaltung sich nur auf die tektonischen Teile beschränkt, ist der Palazzo Manieri. Mit Ausnahme des zweistöckigen Palazzo Bavona sind alle aufgezählten Gebäude dreigeschossig. Man ist bemüht, die Fassaden, soweit es die Liegenschaft erlaubt, möglichst breit anzulegen. Die Anzahl der Fenster im Piano Nobile ist stattlich. Allerdings mußte man sich beim Palazzo Cipollone mit nur drei Öffnungen begnügen. Fünf Fenster zeigen die Paläste der Manieri, Ardinghelli und Antinori, sechs der Palazzo Ciavoli, der Palazzo Antonelli und der Palazzo Pica-Alfieri, sieben der Palazzo Centi. Die Paläste der Quinzi, Bavona und Persichetti bringen es auf neun Fenster, und die Höchstzahl erreicht der Palazzo Dragonetti mit vierzehn Fenstern.
Der Hauptakzent im aquilanischen Palastbau des 18. Jh. liegt auf der Gestaltung der Fenster des Piano Nobile. Sie sind alle mit klar durchgebildeten Giebeln ausgestattet, weiche von Grundformen ausgehen, die im stadtrömischen Barock geläufig waren. Doch ist die Fülle von Variationen erstaunlich, kaum eine Giebelflucht gleicht der anderen. Der Palazzo Manieri zeigt in der Fensterreihe des Piano Nobile fünf gleichgeformte Dreieckgiebel, ebenso der Palazzo Ciavoli, nur ist dort der Fenstergiebel über dem Hauptportal gesprengt. Einen rhythmischen Wechsel von Dreieckgiebeln und gebrochenen Dreieckgiebeln weist der Palazzo Antonelli auf. Beim Palazzo Bavona alternieren Dreieckgiebel mit Segmentgiebeln. Ebenso beim Palazzo Quinzi, dort aber ist der Segmentbogen des Fensters über dem Haupteingang gebrochen, und in der Lücke ist ein Wappen angebracht. Der Palazzo Pica-Alfieri zeichnet sich durch eine Reihung von Segmentgiebeln aus, in die nochmals Dreieckgiebel eingefügt sind. Die Abfolge der Segmentbogen unterbricht bei den Palästen der Cipollone und Centi in der Achse des Hauptportals ein gebrochener Giebel, dessen Schrägen als ansteigende Voluten gebildet sind und ein Wappen einschließen. Am Palazzo Rivera sieht man sieben gleichförmige Giebel, die jeweils aus zwei ansteigenden Voluten gebildet sind.
In einer anderen Gruppe von Fenstergiebeln bevorzugt man anstelle des Segmentbogens konkav und konvex ausschwingende Bogen. Es gibt solche, die konkav ansetzen und nach oben in eine konvexe Krümmung übergehen, andere bestehen aus zwei konkav geschwungenen Schenkeln, die sich in einer Spitze treffen. Die erste Form kommt beim Palazzo Ardinghelli zur Ausführung, wo der Scheitel des Giebels in der Achse des Hauptportals durch die Einfügung eines Wappens durchbrochen wird. Beider Schwingungsformen bediente man sich am Piano Nobile des Palazzo Bavona, wo sie alternieren, während an den Giebeln der Fenster im Erdgeschoß nur die aus konkaven Segmentteilen bestehende Form zur Anwendung kam. Komplizierter ist die Giebelabfolge an den fünf Fenstern des Palazzo Antinori. Die Bedachungen links und rechts außen zeigen die Verbindung der konkaven Linienführung mit der konvexen, die anschließenden die beiden konkaven Segmente, während der Mittelgiebel über dem Hauptportal aus einem gebrochenen Segmentbogen besteht. Von den neun Fenstern des Palazzo Persichetti zeigen acht eine Bekrönung aus konkav anlaufenden Bogen, während der Giebel des Mittelfensters über dem Hauptportal durch einen gebrochenen Bogen mit Voluten und einem eingefügten Wappen hervorgehoben ist.
Die Fassade sollte nicht nur Aufmerksamkeit von der Straße aus erregen, auch der Bewohner wollte vom Piano Nobile Ausschau auf das Treiben vor seinem Hause halten. Im 18. Jh. war deshalb die Anbringung von Balkonen an dieser Etage keine Seltenheit. Sie liegen stets in der Achse der ebenerdigen Eingänge und besitzen eine Fenstertür, die man häufig durch ein besonderes Giebelwerk betonte. Beispiele für diese Disposition liefern die Paläste Manieri, Ciavoli, Antonelli, Antinori und Persichetti. Bei ihren Bewohnern war die Lust, das Straßen leben zu beobachten, relativ gering, denn ihre Vorbauten sind schmal. Andere wollten in größerer Bequemlichkeit Ausschau halten, und so entwickelte sich der Balkon zu monumentaler Form. Langgestreckte Fassaden wie diejenigen der Paläste Dragonetti (S. 352) und Quinzi verfügten über zwei Balkone, die über den beiden Portalen im Parterre angebracht waren. Anders verfuhr man beim Palazzo Pica-Alfieri mit seinen sechs Fenstern im Piano Nobile. Den beiden mittleren Öffnungen ist ein Balkon vorgebaut. Er wird von vier Säulen auf hohen Postamenten gestützt, die gleichzeitig die beiden ebenerdigen Eingänge rahmen. Ein ähnliches System kommt am Palazzo Centi-Colella zur Anwendung, wo drei Fenstertüren auf einen langgestreckten Balkon mit einer vor-und rückspringenden Balustrade gehen, der zusammen mit den ihn stützenden Doppelsäulen die Mitte des Palastes wirkungsvoll akzentuiert. Eine neue Lösung fand man am Palazzo Ardinghelli. Auch dort führen drei Fenstertüren auf den Balkon. Da die mittlere Tür wegen des unter ihr liegenden hohen Portale ingangs höher liegt als die beiden seitlichen, wurde der Balkon in eine Treppenanlage umgeformt. Die Niveauunterschiede kommen in der kunstvoll geschwungenen Balustrade, die als Treppenwange dient, zum Ausdruck.
Die Eingänge sind im aquilanischen Palastbau des 18. Jh. sehr schlicht gehalten. Zuweilen verstärkte man die Türpfosten durch Bossenquader, z. B. an den Palästen Pica-Alfieri und Ardinghelli. Am Portal des Palazzo Ciavoli verwandte man, wie bereits geraume Zeit früher am Portal des Kastells von Avezzano, Diamantquader in einer doppelten Reihe, die um die Bogenöffnung herumgeführt wird.
Wie im stadtrömischen Barock akzentuierte man auch in L'Aquila das Konsolengesims unter der Dachtraufe. Es läuft über die gesamte Breite der Fassade und betont mit den übrigen Gesimsen, die die Stockwerke voneinander absetzen, die horizontale Gliederung des Palastes. Vettikale Elemente werden möglichst vermieden. Beachtenswert ist die gleichförmige Reihung von Konsolen unter dem Dachansatz an den Palästen Manieri, Ciavoli, Antonelli, Quinzi und Centi. Bei diesen Bauten besteht zwischen den Konsolen und dem Abschluß der obersten Fensterreihe immer ein niedriger freier Wandabschnitt. Bei einer anderen Gruppe setzen die Konsolen in Höhe des oberen Fensterabschlusses an, und diejenigen über den Fensterpfosten verbinden sich mit den letzteren. Dieser bizarren Verzahnung begegnet man an den Palästen Pica-Alfieri, Ardinghelli, Persichetti und Antinori.
Der mit viel Geschmack und Sorgfalt gepflegte Innenhof der Renaissance hat im aquilanischen Barock keine bedeutende Nachfolge gefunden. Es entstanden mehr oder minder Hofschächte wie bei den Palästen Pica-Alfieri und Ciavoli, oder aber Innenhöfe in sehr reduzierten Dimensionen wie in den Palästen Rivera und Centi. Beim spätesten, 1776 errichteten Barockpalast Centi wäre noch zu untersuchen, wieweit die Gartenanlage ursprünglich in den Baukomplex einbezogen war.
Die Geschichte des Palastbaus im übrigen Teil der Abruzzen ist kaum bekannt und für die Forschung noch ein weites Feld. Daß der Palastbau bestimmend für das Stadtbild ist, wie wir es in L'Aquila gesehen hatten, ist vielleicht noch für Penne anzunehmen. Im übrigen bleiben die Paläste isolierte Erscheinungen, die nicht das Aussehen einer Stadt prägten.
Zu den frühesten Palästen des 15. Jh. gehört der Bau der Caracciolo in Venafro (Tf. 222), in seiner Mischung von Verteidigungs-und Wohnbau ein Typ, der sonst im Molise und in den Abruzzen nicht wiederzufinden ist. Er liegt im Zentrum der Stadt und erscheint über quadratischem Grundriß als würfelförmiger Baukörper mit zwei Etagen. Unter dem Dach befanden sich außerdem noch niedrige Räume zur Unterbringung des Dienstpersonals. Der Palast wird von einem Kranz rechteckiger Zinnen bekrönt, der über einem kräftigen Wulstprofil ansetzt. Die Fassade zeigt im Erdgeschoß drei Eingänge, von denen der mittlere in Form eines Durazzoportals gebildet ist. Die darüber aufsteigende Wandfläche aus Bruchstein zeigt wenige Fenster, jedoch um so zahlreichere Schießscharten und Pechnasen. Ein Stich des 18. Jh. läßt erkennen, daß das Gebäude in die äußere Verteidigungsmauer der Burg einbezogen war, und so erklärt sich der Doppelzweck der Anlage als Fortifikationsbau und zugleich als Feudalsitz.
Die Tradition überliefert, daß Antonio Acquaviva (gest. 1415), seit 1407 Herzog von Atri, den Palast in Atri als eigene Residenz erbaut habe (Tf. 226). Das über einer römischen Zisterne errichtete Gebäude ist heute der Sitz der Stadtverwaltung. Zum alten Baubestand gehören die weitgespannten Spitzbogen auf kräftigen Pfeilern, die den Innenhof umgeben. Der Baukomplex hat viele Umgestaltungen durchgemacht, und die breitgelagerte Fassade ist das Ergebnis des 18. Jahrhunderts. Der Bau besteht aus einem Kellergeschoß und zwei weiteren Etagen. Die acht Fensteröffnungen im oberen Stockwerk sind rechteckig mit schlichten Einfassungen. Ober der Durchfahrt befindet sich eine Fenstertür, die auf einen Balkon führt. Das Dach wird von einer Reihe kräftiger Konsolen gestützt.
Der herzogliche Palast in Tagliacozzo wurde am Ende des 14·Jh. von Roberto Orsini begonnen und erst im 16. Jh. fertiggestellt. Aufschlußreich ist die Schauseite des Baus mit ihrer Anböschung bis zur obersten Fensterreihe. Das Erdgeschoß mit vier rundbogigen Eingängen war gewölbt und enthielt Vorratsräume, ein Gefängnis sowie Kammern für die Dienerschaft. Die herzogliche Verwaltung befand sich in der ersten Etage. Diese zeigt vier rechteckige Fenster, die in der Mitte durch schlanke polygonale Pfeiler unterteilt werden. Das Erdgeschoß und das darüberliegende Stockwerk gehören zum Gründungsbau. Einen völlig anderen Eindruck erweckt die Fensterflucht unter der Dachtraufe. Die vier Fenster liegen in der Achse der unteren Öffnungen. Sie sind rundbogig und ohne Architrav. Ihre Rahmungen bilden breite Pilaster mit Ornamenten des vorgerückten 16. Jahrhunderts. Eine der Fenstereinfassungen ist mit Reliefs ausgestattet. Auf den Pfeilerflächen sind zwei geharnischte Krieger dargestellt. Ober den Kapitellen der Pilaster erscheinen zwei Helme mit Federbüschen und im Bogenscheitel halten zwei Putten einen Kranz mit einem Wappen. Diese Fenster gehören zu Schlaf-und Empfangsräumen der herzoglichen Familie.
Nach erbitterten Fehden wurde 1496 das Haus Orsini in Tagliacozzo von den Colonna abgelöst. Diesem Geschlecht ist der Ausbau des zweiten Stockwerks der Schaufassade (S. 353) zuzuschreiben. Daß die Colonna am Weiterbau des Palastes beteiligt waren, beweist ihr Familienwappen am Haupteingang. Es zeigt eine geneigte Säule als Wahrzeichen der Colonna, die die Kraft der Gegner Orsini, zugleich aber die Stärke der Colonna andeuten soll, die nicht zu stürzen waren. Darauf bezieht sich die Inschrift darunter: »Recta est [colonnal obliquam non timet invidiam«. Ein anderes Emblem für die überlegenheit der Colon na über die Orsini beobachten wir im nahgelegenen Avezzano an dem von den Colonna errichteten Portal des Kastells von 1565.
Neben diesen beiden weit auseinanderliegenden Bauzeiten ist am Palast in Tagliacozzo noch eine andere in der zweiten Hälfte des 15. Jh. zu erkennen. Damals entstand an einer Seite des Palastes eine Loggia im ersten Stock mit Ausblick auf den Garten und das Tal des Flusses Imele. Sie ist die prächtigste ihrer Art in den Abruzzen. Das Panorama öffnet sich zwischen sechs Säulen auf attischen Basen mit Eckblättern sowie Pflanzenkapitellen, auf denen der hölzerne Dachbalken ruht. Die Holzdecke zeigt ornamentale Malereien. Die Terrasse erreicht man durch meisterhaft gearbeitete Renaissanceportale, die einem Nachfolger des Francesco di Giorgio Martini zugeschrieben werden. Die Loggia war einst vollständig mit Fresken aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. ausgeschmückt, von denen noch Spuren erhalten sind. Wahrscheinlich war der Künstler identisch mit dem der Fresken in der angrenzenden Palastkapelle.
In Ortona sollte die Residenz der Margarethe von Österreich, der natürlichen Tochter Karls V., entstehen. Auftraggeber des Palastes war der Kardinal Alessandro Farnese (1519-1589). In seinen Diensten stand der Architekt Giacorno Della Porta (ca. 1540-1602). Da dieser Baukünstler mit Aufträgen in Rom -er arbeitete u. a. an der von Vignola unvollendet hinterlassenen Kirche II Gesu -überreichlich versehen war, konnte er die Leitung in Ortona nicht selbst übernehmen, und man mußte sich mit einer von ihm in Rom angefertigten Entwurfszeichnung begnügen. Der Grundstein wurde am 12. März 1584 gelegt. Anläßlich dieses Ereignisses gab man Gedenkmedaillen aus Bronze mit dem Bildnis der Margarethe heraus und mit der Umschrift »Margareta ab Austria Caroli V. Caesaris filia«. Zur überwachung der Arbeiten schickte Giacomo Della Porta seinen Mitarbeiter, den Architekten Gregorio Caronica. Dieser reiste am 12. Juni 1585 von Rom nach Ortona. Doch fühlte er sich dort nicht wohl und war von Krankheit geplagt, so daß er wenig ausrichten konnte. Kurze Zeit darauf, als der Palast noch weit von seiner Vollendung entfernt war, starb Margarethe am 18. Januar 1586 in Ortona. Doch nach ihrem Tod verloren die Farnese jegliches Interesse an diesem Bau. Die Arbeiten wurden eingestellt, und bereits am 25. Januar 1586 reiste Caronica von Ortona nach Rom zurück. Damit handelte man gegen die testamentarischen Bestimmungen der Margarethe, die gewünscht hatte, daß ihr Palast in Ortona nach dem Projekt des Giacomo Della Porta (conforme al disegno di Jacopo della Porta architetto) innerhalb von drei Jahren nach ihrem Tode fertigzustellen sei.
Der Palast der D'Avalos in Vasto (Tf. 227) hat eine reiche Geschichte hinter sich. Schon im 14. Jh. stand an der Stelle der heutigen Anlage ein Herrensitz. Ein Neubau fand 1427 unter dem Feudalherren Giacomo Caldora statt. Die Türken steckten den Bau, der kurze Zeit der Vittoria Colonna (gest. 1547), der Gemahlin des Ferrante D'Avalos, als Residenz gedient hatte, 1566 in Brand. Ein abermaliger Neubau mit rechteckigem Grundriß und einem rechteckigen Innenhof erfolgte 1587 nach einer Zeichnung des Franziskaners Valerio de Santis. Das Innere ist völlig verbaut, nur in einigen Räumen sind Stukkaturen erhalten. Bemerkenswert ist die zweigeschossige Fassade, die in der oberen Zone durch sieben Rechteckfenster mit dreieckigen Giebeldächern gegliedert wird. Die beiden Etagen trennt ein Gesims, und die Durchfahrt ist durch Bossenquader eingefaßt.
Die Fassade des im 1 8. Jh. entstandenen Palazzo Marchesani in Vasto ist erwähnenswert, weil die Fenstergiebel die Form des geschwungenen Bogens zeigen, der konkav ansetzt und oben in eine Konvexkrümmung übergeht. Ganz ähnliche Gebilde sahen wir in L' Aquila, z. B. am Palazzo Ardinghelli. Trotzdem ist kein Einfluß von L' Aquila auf Vasto anzunehmen. Das gemeinsame Vorbild für beide waren römische Baugewohnheiten, und diese Tatsache deutet an, daß der stadtrömische Barock auch in die adriatischen Provinzen der Abruzzen eindrang.
Die zahlreichen Beispiele für den Palastbau in den Abruzzen beschränken sich auf die Städte. Wir wissen hingegen kaum etwas von bedeutenden Herrensitzen auf dem Lande, im Gegensatz zu den anderen Landschaften Italiens, wo wir Landvillen finden, die berühmt sind durch die Gestaltung ihrer Gärten und den Reichtum an Kunstwerken, die sie beherbergen. Indessen hat es solche Bauten und solche Gartenanlagen auch in unserer Region gegeben, nur fielen sie den Zeitläuften zum Opfer. Bei ihrer Rekonstruktion sind wir auf Beschreibungen oder auf alte Baupläne angewiesen.
Die Feudalfamilie Cantelmo verfügte in Popoli über Besitzungen, die verschiedenen Zwecken dienten. über dem Ort lag ihre ansehnliche Burg, in der Stadt bewohnten sie einen eigenen Palast, und ihre Handelsgeschäfte wickelten sie in der Taverna Ducale ab. Von all diesen Baukomplexen sind Teile erhalten. Hingegen ist die Landvilla der Cantelmi zerstört. Sie befand sich ungefähr 500 m außerhalb des Ortes nahe der Via Valeria. Heute noch wird die Stelle des ehemaligen Parks »Giardino« genannt, und Giardino heißt auch der kleine Wasserlauf, der unweit der Villa unter einem Felsen entspringt und sein Wasser durch den Garten der Villa der nahen Pescara zuführt. Dieser Landsitz bestand bereits im 16. Jahrhundert. überliefert ist ein einst in Stein gemeißeltes Sonett, worin die Villa beschriehen ist. Als Verfasser des Gedichts gilt der Vater des Torquato Tasso, Bernardo Tasso, der den Herzog Giovan Giuseppe Cantelmo (1509? bis 1560) in Popoli besucht hat. Nicola Amore De Cristofaro hat die Villa 1967 in ihrem ruinösen Zustand beschrieben. Das Gebäude war nicht groß. Zu ihm führte eine niedrige, aber breite Treppe herauf, an deren Seiten stark beschädigte Statuen antiker Gottheiten standen, deren Köpfe abgeschlagen waren. Der Aufgang mündete auf eine kleine, (S. 354) von Skulpturen umstandene Terrasse. Von dort aus betrat man durch eine Tür die Villa. Sie war reich ausgestattet mit Inschriften, ornamentierten Steinen, Kapitellen, Vasen usw. Genauere Angaben konnte noch Colarossi in seiner 1911 erschienenen Geschichte von Popo li machen. Der rechteckige Hauptsaal der Villa war weiträumig, an den Wänden waren Statuen und Büsten von Faunen und Satyrn aufgestellt, die als Wasserspeier dienten und die Besucher benässen konnten. Gleiches konnte auch durch Vorrichtungen im Gewölbe und in den Ecken des Saales geschehen. Colarossi hat noch das Netz der Wasserröhren im Mauerwerk feststellen können. Die Villa wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jh. immer mehr zum Museum umgestaltet. Ein besonders eifriger Sammler war der Kardinal Giacomo Cantelmo (gest. 1702.). Er bezog seine Objekte aus dem antiken Corfinio. Dort hatte man am Ende des 15. Jh. den Zeustempel entdeckt, zu dem u. a. ein Adler aus Marmor gehörte, den der Kardinal in den Garten von Popoli brachte. Ferner gelang es ihm, Skulpturen und Inschriften aus Corfinio zu gewinnen und im Park aufzustellen. Bereits am Ende des 18. Jh. waren Villa und Garten vom Verfall bedroht.
Für die Anlage von Villen und Jagdgründen sorgte im 18. Jh. die Königsfamilie der Bourbonen in Neapel. Das Gebiet von Venafro gehörte zu den großen Revieren, die die Bourbonen in und um Neapel anlegten. Man erwarb das Land um den Ort Capriati al Volturno und verband das Revier mit Venafro, indem man eine Brücke über den Fluß Volturno legte. Um der königlichen Familie und dem Hofstaat ein bequemeres Reisen zu ermöglichen, baute man die Straßen von Neapel nach Venafro aus und legte im Ort selbst neue Straßen an. In dem umfangreichen Briefwechsel des Architekten Luigi Vanvitelli (gest. 1773) kommt immer wieder zum Ausdruck, wie häufig die königliche Familie in Venafro weilte. C. Celeno veröffentlichte 1792. eine Schrift über die Residenzen der Bourbonen, in der er den Zustand des Reviers von Venafro im Jahr 1771 beschreibt. Das Jagdgelände war gut gepflegt und erschien wie ein köstlicher Garten inmitten von Wäldern. Darin verstreut lagen Fischteiche und ein sehr schönes Casino, das dem König zum Ausruhen diente. Ansonsten wohnte er in Venafro in seinem Palast. Von diesem Stadtsitz sind 1976 im Staats archiv von Neapel Grundrisse aufgetaucht, aus denen die Verteilung der Räumlichkeiten hervorgeht. Im Erdgeschoß befanden sich 23 Zimmer und im Obergeschoß elf. Zwei Treppen führten in diese höherliegenden Gemächer. Dem Baukörper fehlte die organische Einheit, weil er aus bereits bestehenden Bauteilen zusammengestückelt wurde, ein Verfahren, das uns auch bei anderen Jagdschlössern der Bourbonen begegnet, z. B. am Schloß von Procida, für dessen Bau noch Reste des Kastells der Herren D'Avalos verwendet wurden.
In der Nähe der Eisenbahnstation von Capracotta liegt die Staatsdomäne Montedimezzo Fentozzo mit einem Casino, das einst den Bourbonen als Sommerresidenz diente, und worin heute eine landwirtschaftliche Schule untergebracht ist.
Brunnen und Aquädukte
Die Gebirgsbäche der Abruzzen und des Molise liefern reichliches und köstliches Wasser. Dieses von der Natur geschenkte Gur zu pflegen und durch Brunnenanlagen auszuzeichnen, war das Bestreben fast jeder Siedlung. Da die Ortschaften oft auf einer Bergkuppe liegen, war man gezwungen, das Wasser von tiefer gelegenen Stellen in Krügen in die Häuser hinaufzutragen. Dem Ab-und Aufstieg zu und von den Brunnen zuzuschauen, vermittelt oft die anmutigsten Bilder. Aber die moderne Zivilisation zeigt sich auch in diesem Bereich auf erschreckende Weise. Heutzutage erscheint häufig als Bekrönung einer Ortschaft der häßliche Wasserturm, der mit verzweigten Zufuhrleitungen die Häuser versorgt. Damit wurde eine große Zahl von Brunnen und Waschhäusern funktionslos und verfällt, aber die Denkmalpflege steht vor größeren Aufgaben, als sich um diese oft wertvollen Relikte der Vergangenheit zu kümmern.
Einer der frühesten mittelalterlichen Brunnen ist in S.Maria della Strada bei Matrice im Molise zu sehen. Er ist nur in Resten erhalten und dürfte gleichzeitig mit der nebenstehenden 1148 geweihten Kirche entstanden sein. Die Grundform des Wasserspenders ist ein mannshoher zylinderförmiger Kalkstein, der in Augenhöhe in sehr verderbter Inschrift den Zweck der Aufstellung verkündet: »ut sitiens bibat hoc claro de fonte devote« (damit der Dürstende demütig aus dieser klaren Quelle trinken möge). Ober der Inschrift ziehen sich zwei Wulstprofile um den Brunnen. Sie rahmen einen Streifen mit Reliefdarstellungen. Das Hauptmotiv sind, auf der Wandung einander gegenüberliegend, zwei sehr plastisch gebildete samnitische Stierköpfe. Sie dienten als Wasserspeier, aus Ohren und Nasen strömte das Trinkwasser hervor. Zwischen ihnen erscheinen schwer definierbare Lebewesen.
In der zweiten Hälfte des 13. Jh. hören wir von anderen Wasserkünsten. Ein bedeutender Brunnenarchitekt muß ein Lucas aus Manoppello gewesen sein. Wir erfahren von ihm aus zwei Inschriften. Die erste bezieht sich auf Ortona a Mare und besagt, daß Lucas 1251, im ersten Regierungsjahr des Königs Konrad IV., im Auftrag von Roger de Pitiis, dem »rector« von Ortona, den Brunnen in dieser Stadt angefertigt habe. Die zweite Mitteilung betrifft seine Anwesenheit in Teramo, wo er an der Porta S.Spirito 1270 einen Brunnen zu erstellen hatte. Darüber berichten die kapriziösen leoninischen Verse auf einem Stein, der heure im Tnnern der Kirche S.Giuseppe in Teramo eingemauert ist: »Magister Lucas de Manoppello fecit hoc opus. Advena me temta. Fons sum, mea iusta, fluenta. Cum veneris dic ave. Poculum tibi fundo suave. Me, Deus te salve, iunxit in angulo valve. Annis millenis ducentis septuagenis. Gratia« (Meister Luca aus Manoppello führte dieses Werk aus. Fremdling, nähere Dich mir. Ich bin die Quelle, aus eigenem Vermögen ströme ich. Wenn Du herangetreten bist, sprich das Ave Maria. Ich spende Dir köstlichen Trank. Gott behüte Dich. Mich verband man vor kurzem mit der Ecke des Türflügels. Im Jahre 1270. Hab Dank).
Im 13. Jh. endete der südliche Stadtteil von Sulmona an der (S. 355) jetzigen Piazza Garibaldi, und die ehemalige Porta dei Salvatore zwischen der Fonte dei Vecchio und der Kirche S.Francesco bildete den Eingang in die Stadt. Das Gelände der Piazza Garibaldi lag früher tiefer an einem Seitenarm des Flüßchens Gizio. Wegen des Höhenunterschiedes wurde an dieser Stelle der Bau eines großen Aquädukts (Tf. 229) notwendig, dessen Arkaden von der Bevölkerung »colossi« genannt wurden. Die Wasserleitung wurde 1962 freigelegt, indem man die an-und übergebauten Häuser abriß. So ist erst seit kurzem die früheste mittelalterliche monumentale Wasserleitung der Abruzzen in ihrem ganzen Umfang wieder ans Tageslicht gekommen. Der nicht geradlinig verlaufende Aquädukt besteht aus 21 Arkaden auf breiten Pfeilern, davon sind 19 spitzbogig, und die beiden rundbogigen sind das Werk einer älteren Restaurierung. Am siebenten Pfeiler befindet sich zum Largo Nunzio Federigo Faraglia hin eine Inschrift, aus deren leoninischen Versen wir erfahren, daß der Bau 1256 von dem Meister Durante vollendet wurde.
Für 1270 ist die Erneuerung eines Brunnens in Giulianova belegt. Wichtiger ist die monumentale Brunnenanlage in L' Aquila an der tiefsten Stelle der Stadt in unmittelbarer Nähe der Porta Rivera, die Fontana delle 99 cannelle (Tf. 232). Sie besteht aus einem geräumigen trapezförmigen Hof, der an drei Seiten von Mauern eingeschlossen wird, während an der vierten und breiteren Seite von der Stadtmauer aus eine breite Treppe in die Anlage hinunterführt, die von einem modernen Eisengitter abgeschlossen werden kann. Die drei Mauern sind ähnlich wie die Fassade der Collemaggio und die der Madonna dei Soccorso aus roten und weißen Steinen gefügt. Unter einem sich über alle drei Wände hinziehenden Profilband sind im Wechsel mit Rosetten in kassettenförmiger Rahmung 93 -und nicht 99 wie der Volksmund sagt -Köpfe angebracht, aus deren Mündern Wasser in eine steinerne Mulde und von dort in die tiefer gelegenen Becken fließt, die zum Waschen, zum Schöpfen und als Tränke dienten. Die Wasserspeier sind ganz verschiedenartig gebildet, sie zeigen alle möglichen Köpfe, von Männern, jugendlichen Frauen, Putten, es erscheinen ein Mönch, ein Faun, ein Löwe, ein Hund und ein gekrönter König. Der Farbwechsel der Steine und die Reihung der Wasserspeier lassen auf einen künstlerischen Entwurf der Anlage aus der ersten Hälfte des 15. Jh. schließen, doch ist die Ausführung zeitlich nicht so einheitlich, wie es den Anschein hat. Die Köpfe entstanden zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert. Die nach Norden gelegene Brunnenmauer wurde, so wie sie sich uns heute darstellt, erst gegen 1582 von dem Künstler Alessandro Ciccarone aufgerichtet. In der Mitte der der Treppe gegenüberliegenden Wand sind Inschriften und Wappen übereinander angebracht. Zuunterst liest man die Daten der Restaurierungen von 1744 und 1871. Darüber befindet sich eine dreizeilige Inschrifttafel mit der Nennung des Brunnenkünstlers: »A.D. 1272 Magister Tancredus de Pentoma de Valva feeit hoc opus«. Darauf folgt die nicht mehr vollständig leserliche, aber von Gelehrten der Barockzeit überlieferte neunzeilige Gedenkinschrift des 15. Jh., die besagt, daß an gleicher Stelle im 13. Jh. bereits eine Brunnenanlage vorhanden gewesen ist, an deren Errichtung der Capitano der Stadt Luchisinus, mit Beinamen Aleta, maßgeblich beteiligt war. Er stammte aus einer vornehmen florentinischen Familie, und sein Name ist durch eine Inschrift auch im Zusammenhang mit der Errichtung der Stadtmauer von L'Aquila um das Jahr 1276 überliefert. Die Brunneninschrift des Quattrocento ist in einen hochrechteckigen Stein eingemeißelt, dessen äußerer Rand als Profilleiste gestaltet ist. über dem Text erscheinen nebeneinandergereiht drei Wappen sowie darüber drei Lilien. Auf den Inschriftstein folgt ein anderer, der ein mit Zierbändern eingefaßtes Wappen mit einem Adler zeigt. Als Bekrönung dient diesem ein Dreieckgiebel, dessen Seiten nach Art venezianischer Bilderrahmen mit Kriechblumen versehen sind.
Wasserleitungen des 14. Jh. sind in den Abruzzen keine Seltenheit. Ähnlich wie in Sulmona mußten auch in L' Aquila Geländeunterschiede durch Wasserleitungen überbrückt werden. Buceio di Ranallo (gest. 1363) erzählt, daß im Stadtteil Sant'Ansa, in der Gegend des heutigen Kastells, 1308 im Auftrag der Stadt ein Aquädukt errichtet wurde. Die Leitung des Unternehmens wurde einem Mönch namens Janni (Giovanni) anvertraut. Die Brunnen L'Aquilas in den Innenhöfen und auf den Plätzen wären noch genauer zu untersuchen. Das Wasserbecken rechts von der Fassade von S.Giusta stimmt stilistisch mit der 1349 datierten Schauwand der Kirche überein. Etwas später als diese Anlage ist wohl der anmutige Brunnen vor der Fassade von S.Marciano entstanden. Wir wissen, daß 1557 in L'Aquila 32 öffentliche Brunnen existierten.
Das älteste erhaltene Baudenkmal in Scanno ist in der Strada Abrami zu sehen. Dort liegt der »Saracco« genannte Wandbrunnen mit zwei Rundbogen, vier Maskengesichtern und einem 1332 datierten Verkündigungsrelief. Der Wandbrunnen in Cocullo öffnet sich in drei Bogen und zeigt das Wappen des legendären Herzogs Sarchia. Auf der Zufahrt zum Kastell von Gagliano Aterno befindet sich auf einer platzartigen Erweiterung eine Brunnenanlage aus gotischer Zeit, deren querrechteckiges Becken einen überbau aus drei spitzbogigen Arkaden aufweist.
Der Brunnenhof und der Brunnen von Fontecchio entstanden in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Drei Stufen führen zu einem polygonalen freistehenden Becken, das sich aus 14 gleichgroßen Wandabschnitten zusammensetzt, deren Ecken durch Pilaster verstärkt sind. In der Mitte des Brunnenbodens erhebt sich eine restaurierte Säule. Die vier Masken in halber Höhe ihres Schaftes brachte man 1755 an. Hingegen ist die Ädikula auf der Säule alt. Sie erscheint wie eine kleine Kirchturmspitze und ist als sechseckiges Gehäuse gebildet, dessen Seiten sich in Spitzbogen auf niedrigen Polygonalpfeilern mit Kapitellen öffnen. Die Bekrönung besteht aus einer massiven pyramidalen Bedachung mit einer Kugel auf der Spitze. Wahrscheinlich spielen bei dieser Anlage latiale Vorbilder eine RoUe. Zu vergleichen wäre etwa der 1367 datierte Brunnen, die Fontana Pianoscarano, in Viterbo.
(S. 356)Im Zweiten Weltkrieg wurde die Fontana Fraterna in Isernia (Tf. 230) zerstört, aber bald darauf wieder zusammengesetzt. Der Ausdruck Fraterna ist wohl eine volkstümliche Abkürzung für Confraternitä (Bruderschaft). Die Bezeichnung ergab sich entweder aus dem Umstand, daß in der Nähe des Brunnens die Chiesa dell'Immacolata mit dem Sitz einer Bruderschaft lag, oder daraus, daß eine Bruderschaft Auftraggeber dieser Anlage des J4. Jh. war. Sie ist ein Wandbrunnen, der von einem römischen Aquädukt gespeist wurde. Das Gehäuse besteht aus einer Reihung von sechs Rundbogen, die auf verschieden gearbeiteten Kapitellen ansetzen. Auch die Form der Stützen wechselt; sie zeigen glatte oder kannelierte Säulenschäfte. Sie stehen auf Basen mit Ecksporen. Der obere Abschluß der Brunnenfassade wird von einer Blendarkatur auf Konsolen verziert. Der Reichtum an antiken Spolien ist in Isernia erstaunlich groß. Die Arkaden des Brunnengehäuses erheben sich auf einem Sockel, den man aus antiken Inschriftenplatten errichtete, und in dessen Mitte das Bruchstück eines qualitätvollen rechteckigen Schmucksteins erscheint, der in Relief ursprünglich ein übereck gestelltes Quadrat mit einem Ornament in der Mitte zeigte. In den Zwickeln neben dem Quadrat sind spiegelbildlich zwei Delphine dargestellt.
Zu den bekanntesten Brunnen des 15. Jh. gehört die 1706 vom Erdbeben beschädigte und danach wiederhergerichtete Fontana del Vecchio in Sulmona (Tf. 231). Sie liegt am Ende des Aquädukts von 1256 an der Porta del Salvatore zur Innenstadt hin. Sie gehört zum Typ der Wandbrunnen und wurde 1474 vom königlichen Gouverneurin Sulmona, Polidoro Tiberto aus Cesena, gestiftet. Ober dem Bassin erhebt sich in dessen ganzer Breite die rückwärtige Wand mit dem Wasserspeier. Zu seiten seines Kopfes befinden sich zwei Rosetten, die einstmals ebenfalls Wasser spendeten, und zwischen denen eine Inschrift breiten Raum einnimmt. Darüber ist eine Schmuckzone, bestehend aus Ornamentfriesen, die durch Profilleisten voneinander abgesetzt sind. Den oberen Abschluß der Wand bildet ein kräftig vorkragendes Gesims, über dem sich ein halbkreisförmiger Bogen erhebt, worin das aragonische Wappen in einem von zwei geflügelten Putten gehaltenen Blattkranz angebracht ist. Ober dem Scheitel des Bogens ist ein Aufsatz mit dem Kopf eines bärtigen Mannes. Dieser ruht auf zwei Voluten, die ein Band verknüpft, auf dem »Vecchio« geschrieben steht, der Alte, nach dem die Brunnenanlage im Volksmund genannt wird.
Das Einbeziehen des Wassers in die Baukunst ist ein besonderes Anliegen der Renaissance und des Barock. Erwähnenswert sind die kunstvollen Wasseranlagen in Pescocostanzo. Auf der Piazza Umberto I. liegt vor dem Rathaus erhöht auf zwei Stufen eine freistehende runde Brunnenanlage. In der Mitte des unteren Beckens ist ein Aufbau mit Figuren, die als Wasserspeier fungieren. Darüber erhebt sich eine breite Schale, in deren Mitte auf einem Sockel eine Marienstatue erscheint. In der Via della Fontana kommt ein anderer Brunnentyp innerhalb einer grandiosen Waschanlage vor. Diese besteht aus einem schmalen langgestreckten Becken, das von einer hohen, aus quadratischen Steinen errichteten Rückwand und vorne von einem niedrigen Kalksteinsockel eingefaßt wird, auf dem die Frauen wuschen. Diese Waschanlage wird an einer Stelle durch einen der Rückwand vorgesetzten Brunnen zum Wasserschöpfen bereichert. Zwei Stufen führen zu ihm herauf, er ist durch vier Rundbogen akzentuiert, und die Rückwand zeigt an dieser Stelle ein langes querrechteckiges Relief mit wasserspeienden Masken, Meerweibern und Tieren.
Unbeachtet blieb bisher der barocke Wandbrunnen in Macchiagodena unterhalb der Ostseite des Kastells. Das konvex geschwungene Becken wird von einer durch vier Lisenen gegliederten Wand hinterfangen, deren Bekrönung ein Volutengiebel bildet. Die kleine Stadt Bonefro stellt zwei Brunnen zur Schau, die Fontana dei Ciechi und die Fontana a pie della terra. Letztere erscheint wieder als barocker Wandbrunnen mit sechs von Pilastern eingerahmten Wasserspeiern. In Casacalenda ist der barocke Wandbrunnen 1697 datiert. Drei wasserspeiende Masken sind überdacht, und die Anlage ist durch eine lange Inschrift sowie das Wappen der Stadt bekrönt.
Die Form der Renaissancebrunnen lebte noch im 19. Jh. nach. In Pettorano sul Gizio wurde 1897 ein freistehender Brunnen in Bronze neben der Pfarrkirche S. Dionisio aufgestellt. Eine kompliziert gebildete Trommel trägt eine im Renaissancestil gebildete große runde Schale, über der sich ein kleineres Rundbecken erhebt.
Skulptur
Vorbemerkung
Die Bildhauerkunst in den Abruzzen und im Molise in der Zeit nach 1250 wurde noch nie im Zusammenhang betrachtet. Wohl gibt es einige ausgezeichnete Abhandlungen, die sich mit einzelnen Objekten beschäftigen, aber hunderte von Werken blieben von der Forschung unberücksichtigt, weil sie kunsthistorisch belanglos erschienen. Diese Beurteilung ist weitgehend unwiderlegbar, denn die Grundhaltung der Bildhauer bleibt traditionsgebunden, rustikal, ohne künstlerische Ambitionen. Mit dem Ende der benediktinischen Kultur erlosch auch die Eigenständigkeit und Spontaneität in der plastischen Gestaltung. Die Situation wandelte sich entscheidend. Die Erzeugnisse früherer Epochen, fast ausschließlich Reliefs, waren eng mit der Architektur des Gotteshauses verbunden und traten an Fassaden, an Portalen, Fenstern und Kapitellen auf, im Innern an Ikonostasen und (S. 357) Kanzeln. Die wachsende Andachtsfreudigkeit der Menschen stellte die Künstler seit der Mitte des 13. Jh. vor völlig neue Aufgaben. Die Bildhauerarbeiten standen nicht mehr ausschließlich im architektonischen Verbund, es entwickelte sich die Freiplastik. Eine bisher nie gesehene Menge von Madonnen, Kruzifixen und Heiligen schmückte die Altäre und das Innere der Kirchen. Das Aufkommen der Freiskulptur war mit einem Wechsel des Materials verbunden. Die jahrhundertelange Erfahrung mit dem Stein wurde aufgegeben, stattdessen bediente man sich des Holzes; der Bildschnitzer löste den Steinmetz ab. Dieser radikale Umschwung in den Abruzzen findet im übrigen Italien wohl kaum Parallelen. Nahezu 150 Jahre lang wurden die für den Innenraum bestimmten Skulpturen nur aus Holz gearbeitet. Das billige, anfällige Material wurde sogar für Werke am Außenbau verwandt. Als Bekrönung des Campanile des Domes von L'Aquila diente seit dem 14. Jh. eine hölzerne monumentale Madonnenfigur, die bei den ungünstigen klimatischen Bedingungen der Stadt so verwitterte, daß man sie abgenommen und als fast unkenntlichen Gegenstand ins Nationalmuseum von L'Aquila gebracht hat.
Erst am Ende des 15. Jh. begegnen wir wieder Werken in Stein und den ersten Arbeiten in Terrakotta. Die Ton bearbeitung erreichte im 16. Jh. in der Provinz L'Aquila einen künstlerischen Höhepunkt, während Steinstatuen in dem uns interessierenden Zeitraum in den Abruzzen nur ein Schattendasein führten, denn die Holzskulptur behielt bis zum Ende des 18. Jh. die Vorherrschaft. Arbeiten in Marmor oder anderem kostbaren Stein sind große Seltenheiten. Zu den Ausnahmen zählt z.B. eine Madonna mit Kind des 15. Jh. in S. Giuliano bei L'Aquila. Die kleine, 47 cm hohe Gruppe ist aus Alabaster gefertigt. Von der Wachsplastik in den Abruzzen haben wir nur ganz sporadisch Kunde. Am bekanntesten ist die wunderbare Totenmaske des hl. Bernhardin im Museo Diocesano d'Arte Sacra in L'Aquila. Im Diözesanmuseum in S. Domenico in Chieti zeigt man einen Wachskopf des hl. Giuseppe Calasanzio von 1648 und in S. Cristina in Sepino die Wachsmaske des hl. Carlo Borromeo.
Zur Zeit der internationalen Gotik erlebte die Freiplastik in den Abruzzen eine erste Blütezeit und empfing von Ländern nördlich der Alpen mittelbar und unmittelbar die stärksten Anregungen. Dabei verhielten sich die Abruzzesen sehr sensibel. Man gab die eigene Tradition nicht auf sondern verband sie mit nördlichen Elementen, deren man sich in vereinfachender Form bediente. Die Abruzzen übernahmen anfänglich Anregungen aus dem von den Anjou regierten Neapel, wo französische Künstler, vorwiegend in der Architektur und im Kunstgewerbe zu belegen, tätig waren. Die Vorherrschaft der Franzosen wurde eingeschränkt, als sich die Anjou anschickten, toskanische Künstler in ihre Dienste zu nehmen, Literaten, Maler und Bildhauer. Für die Skulptur erlangte vor allem der sienesische Bildhauer Tino da Camaino (gest. 1337) Bedeutung, der seit 1323 in Neapel mit wichtigen Aufträgen beschäftigt war, die er nur mit Hilfe zahlreicher Mitarbeiter erledigen konnte, deren Kunstfertigkeit indessen kaum das Niveau des Meisters erreichte. Auch Tino war mit der französischen Formenwelt vertraut. Beides, die direkten französischen Einflüsse und die Erfahrungen des Tino, wurde in den Abruzzen bekannt. Hier waren anfänglich meist heimische Künstler am Werk, die sich von der Technik der Steinbearbeitung auf die Praktiken der Holzschnitzerei umzustellen hatten. Neapel blieb, wie gesagt, nicht alleiniger Vermittler modernen Geschmacks. Dieser wirkte auch ohne den Umweg über die Hauptstadt des Südreichs direkt aus den nördlich von den Abruzzen gelegenen Regionen auf das Bergland ein, vor allem aus Umbrien und seinem künstlerischen Zentrum Orvieto. Die abruzzesische Renaissanceskulptur, die sich in L'Aquila entwickelte, streckte ihre Fühler noch weiter nach Norden aus und holte sich ihre Anregungen aus Siena, Florenz und Urbino. Gleichzeitig machte sich längs der Adriaküste der Einfluß Venedigs geltend. Die geschickt taktierende Handelsstadt verbreitete ihre Kunst gern unvermittelt, nämlich durch den Export von Kunstwerken.
Seit dem 16. Jh. geraten die Abruzzen und das Molise von neuem völlig unter den Einfluß Neapels. Entweder wurden zweitrangige neapolitanische Künstler in unserer Region tätig, oder aber es waren ortsansässige Meister am Werk, die in Neapel gelernt hatten. Das 19. Jh. wird von neoklassizistischen Formen beherrscht, die kaum noch regionale Besonderheiten erkennen lassen.
Im Gegensatz zu anderen italienischen Landschaften verfügten die Abruzzen und das Molise, mit Ausnahme zur Zeit der Renaissance in L'Aquila, über keine Bildhauerwerkstätten und Kunstzentren, von denen entscheidende Impulse in der Formbildung ausgingen. Die Anfertigung von Skulpturen erfolgte in allen Teilen des Landes und blieb im Bereich des Handwerklichen stecken. Es fehlte der Abnehmerkreis, der sich nicht mit Werken in billigem Material wie Holz und Terrakotta zufriedengab. Man hat die gewaltige Zahl von Skulpturen in den Abruzzen mit den dortigen unzähligen Werken der Goldschmiedekunst verglichen. Die Gemeinsamkeit beider ist jedoch höchstens die Quantität. Denn im Gegensatz zur Bildhauerei gab es für Gegenstände der Metallkunst viele Auftraggeber und Kunstzentren, wie z.B. Sulmona, L'Aquila, Guardiagrele oder Agnone; und diese Situation spiegelt sich in der hohen Qualität der Werke der Goldschmiedekunst.
Bei der Entstehung der meisten Skulpturen stand also nicht die künstlerische Formgebung im Vordergrund. Noch das 15. und gelegentlich das 16. Jh. zeigen Rückgriffe auf romanisches Formengut. Eine Datierung ist daher oft äußerst schwierig, und die Forschung liefert Beispiele, wie die zeitliche Einordnung einer Skulptur um Jahrhunderte differieren kann. Die genannten verschiedenartigen Einflüsse lassen sich natürlich bei fortschrittlichen Werken am leichtesten ablesen. Schwieriger ist die Bestimmung mittelmäßiger Objekte, bei denen sich der Künstler begnügte, ein Andachtsbild herzustellen, ohne sich nach dem herrschenden Kunststil zu richten. Ein naiver ungekünstelter Glaube kennzeichnet die bescheidene Bergbevölkerung. Die Aufnahmebereitschaft für wesensfremde Formen war gering. So (S. 358) konnte es im 15. Jh. geschehen, daß an vielen Orten der Abruzzen deutsche Künstler tätig waren, ohne daß dort ein bleibender Niederschlag ihrer Anwesenheit festzustellen wäre. Ähnlich erging es den zahlreichen, vor allem in den Städten wirkenden lombardischen Künstlern. Es gelang ihnen kaum, heimische Stilformen in unsere Landschaft einzuführen; meistens paßten sie sich abruzzesischen Gewohnheiten an, so daß lombardische Formbildungen Einzelleistungen bleiben.
Es gab in den Abruzzen keine Gesellschaftsschicht, die das künstlerische Leben trug, wie z.B. in Neapel, Florenz oder Venedig, wo man größeres Verständnis für Kunstwerke besaß und neue Geschmacksrichtungen sofort erkannte und diskutierte. Das Bildwerk war für den Abruzzesen vornehmlich Vermittler einer übersinnlichen Welt. Beispiele sind in diesem Land nicht selten, wo das Standbild nicht nur stellvertretend für einen Glaubensinhalt steht sondern selbst zum Agens wird. Es ist selbst heilig, bewirkt Wunder und genießt göttliche Verehrung.
Der treuherzigen Beziehung zum Bild entspricht eine äußerst reduziette Thematik. Die größte Verehrung erfuhr die Madonnä mit dem Kind, sodann folgen der gekreuzigte Christus und die Ortsheiligen. Sogar eine der Renaissance aufgeschlossene Stadt wie L'Aquila kennt nicht den im übrigen Italien in jener Zeit weitgespannten Themenkreis. Mythologische oder historische Darstellungen blieben so gut wie unbekannt. Immerhin hatte sich der abruzzesische Humanismus mit der Antike, mit ihrer Mythologie und ihrer Geschichte, auseinandergesetzt. Diese Gedankenwelt wurde aber in unserer Region kaum in Werken der bildenden Kunst zur Anschauung gebracht.
Im Gegensatz zu den Portalen ist die Freiplastik selten datiert. In der zweiten Hälfte des 13. Jh. fehlen die Jahreszahlen völlig, und im Trecento sind nur zwei datierte Werke ohne größere Bedeutung im Molise überliefert. Aus dem Jahr 1332 stammt ein steinernes, gleich noch näher zu beschreibendes Kreuz in S. Elia a Pianisi, und links von der Kirche S. Giorgio in Campobasso befindet sich ein einst zum Friedhof gehörendes steinernes Kreuz mit dem Relief des gekreuzigten Christus, das 1382 ein Maestro Paolo aus Popoli gefertigt hat. Karg ist auch die Überlieferung von Daten und Künstlernamen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Reichlichere Nachrichten besitzen wir seit der Renaissance.
In der Reliefplastik hat das Molise im Mittelalter einen Typ entwickelt, dem wir in den Abruzzen kaum begegnen. Es handelt sich um Steinkreuze, die am Eingang eines Dorfes standen oder einen Besitz abgrenzten. Sie zeigen keine hohe künstlerische Qualität. Das genannte steinerne Kreuz von S. Elia a Pianisi steht am Anfang der Via Cruds. Ein polygonaler Schaft mit Knauf trägt einen Ring, der ein Kreuz einschließt. Es zeigt in Reliefform auf der Vorderseite den gekreuzigten Christus und zu seinen Seiten an den Enden der Kreuzarme die Halbfiguren zweier Evangelisten. Zu Füßen des Heilands erscheint ein Totenschädel. Auf der Rückseite erkennt man an den entsprechenden Stellen den segnenden Christus und zwei weitere Evangelisten. Ein anderes Objekt dieser Art findet man in etwas abgewandelter Form in der Kirche S. Bartolomeo in Gambatesa. Zu dieser Gruppe gehört auch das Kreuz von Roccamandolfi. Auf dessen einer Seite sieht man den Gekreuzigten in Hochrelief und darüber einen Engel, auf der anderen den segnenden Christus. Der das Kreuz umschließende Ring ist ornamentiert. Ein ähnliches Kreuz verwahrt die Biblioteca Comunale in Isernia. Die Herstellung solcher Objekte war lange Zeit üblich. Datiert ist ein Exemplar von 1416 in Civitanova del Sannio. Ob das vor nicht langer Zeit aufgefundene kleine Steinkreuz in der Kirche S. Croce in Vinchiaturo als Grenzmarkierung diente, ist nicht gesichert. Es fehlt ihm der Ring. Die Kreuzbalken enden in Dreipaßbogen, und unter dem Gekreuzigten sieht man den Totenschädel.
Das Studium der Skulptur wird heutzutage sehr erschwert, denn das bewegliche Kunstgut erfuhr und erfährt in den Abrozzen durch Diebstähle einen Schwund von erschreckendem Ausmaß. Was noch übriggeblieben ist, wird oft seines originalen Standortes beraubt. Die Objekte werden häufig in Räumen sichergestellt, zu denen die Zugangserlaubnis nicht leicht erteilt wird. Besonders aus den Landkirchen, die nur schwer vor Diebstählen zu schützen sind, werden Skulpturen in die nächstgelegenen Städte verbracht, oder sie verlieren sich in der Obhut der Denkmalpflege.
Die Holzskulptur in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und im 14. Jahrhundert
In den Abruzzen begegnet man zwischen dem späten 13. und dem ausgehenden 15. Jh. häufig Statuen in der Mitte eines dreiteiligen Altaraufsatzes, dessen Flügel geschlossen werden können. Derartige Figuren bleiben anfänglich auf ihrer Rückseite unbearbeitet. Der obere Abschluß des Mittelteils ist oft in Dreieckform gebildet. Die Seitenteile zeigen im geöffneten Zustand Reliefs oder Malereien in rechteckigen Feldern mit Darstellungen aus dem Leben des Heiligen, dem der Altar gewidmet ist. Das bekannteste und besterhaltene Beispiel dieser Art, etwa 1350 entstanden, zeigt die Pfarrkirche S. Maria Assunta in Fossa (Tf. 239). Im dreieckig abschließenden Mittelteil steht die Holzfigur der Maria. Die Flügel zeigen auf jeder Seite drei gemalte Szenen, links von oben nach unten die Verkündigung, die Anbetung der Könige und die Darbringung im Tempel, rechts von unten nach oben den Judaskuß, die Geißelung und die Kreuzigung. Den Aufbau von Fossa wiederholt in etwas variierter Form noch 150 Jahre später der dreiteilige Altaraufsatz in der Pfarrkirche S. Lucia in Rocca di Cambio. Ein frühes Beispiel aus dem Anfang des 14. Jh. sieht man in der Kirche S. Pietro in Caporciano, mit der Holzstatue des Petrus in der Mitte und Malereien auf den Seitenflügeln. Diese Art von Altaraufsatz entwickelte sich wahrscheinlich bereits am Ende des 13. Jahrhunderts. Aus dieser Zeit verwahrt das Nationalmuseum in L'Aquila eine Holzmadonna aus der Pfarrkirche in Scoppito (Tf. 234). Die thronende, auf der Rückseite unbearbeitete Figur der Maria wird von einer dreieckig zugespitzten Holzplatte hinterfangen, zu der ver (S. 359) mutlich heute verlorene Seitenteile gehörten. Ein ähnlicher Zustand ist für die Holzmadonna des späten 13. Jh. in der Kirche S. Nicola da Bari in Corcumello zu postulieren. Das Nationalmuseum in L'Aquila besitzt zwei bemalte, 1,73 m hohe Flügel, die in je drei rechteckigen Feldern übereinander das Martyrium der hl. Katharina vorführen. Die Tafeln stammen aus dem Konvent der hl. Katharina in L'Aquila. Im selben Museum befindet sich auch die 1,38 m hohe Statue einer Katharina unbekannter Provenienz. Diese Figur und die vorgenannten Flügel sind kurz vor der Mitte des 14. Jh. zu datieren, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie zusammengehören und ursprünglich einen der beschriebenen dreiteiligen Altäre bildeten.
Die Tradition der Dreiteiligkeit hat sich auch in den Glanztagen der aquilanischen Renaissance erhalten. Der Bildhauer Silvester von L'Aquila stipulierte zwei Verträge, in denen von einer Mittelfigur in Holz und von gemalten Seitenflügeln die Rede ist. Der Kaufmann Paparisco aus Tornimparte unterhielt im Dom von L'Aquila eine Privatkapelle. Für diese sollte Silvester die Statue des Jacobus Maior anfertigen. Er verpflichtet sich 1476 zu deren Ausführung »cum tabernaculo historiato de historiis spectantibus ad dictarn imaginem [Iacobi] cum auro et coloribus bonis et perfectis« (mit einem Tabernakel, das mit Bildern verziert ist, die sich auf die genannte Statue des Jacobus beziehen und mit Gold und guten einwandfreien Farben ausgeführt sind). Dieses Werk des Silvester ist verloren. Erhalten ist im Nationalmuseum in L'Aquila eine andere seiner urkundlich überlieferten Arbeiten, ein hl. Sebastian, der die reifste Skulptur der Renaissance ist, welche diese Sammlung zeigt. Auf diese Statue bezieht sich ein Vertrag von 1478, worin es heißt »Magister Silvester Iacobi de Sulmona, civis aquilanus, promisit laborare ymaginem S. Sebastiani ... cum tabernaculo, portis et suis historiis« (Meister Silvester, Sohn des Iacobus aus Sulmona, Bürger von L'Aquila, verspricht, das Standbild des hl. Sebastian zu fertigen ... mit dem Schrein, den Türflügeln und der diesbezüglichen Lebensgeschichte).
Seit der zweiten Hälfte des 13. Jh. vollzieht sich ein sehr folgerichtiger Wandel der Formen. Am Anfang steht die ganz einfach und ungekünstelt gestaltete Holz statue. Der Block wird mit sparsamsten Mitteln nur so weit bearbeitet, daß sich die Figur in großen Zügen abzeichnet. Aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sind ausschließlich Sitzmadonnen in Frontalansicht überliefert. Eigentümlich ist die Haltung des Sitzens, die nur sehr undeutlich zum Ausdruck kommt. Der untere Teil des Rumpfes ist kaum abgewinkelt, und die Figur scheint weniger auf einem Sitz zu ruhen als vielmehr an einer schiefen Ebene zu lehnen, von der sie abzurutschen droht. Zur ältesten Gruppe gehören die gekrönte Maria aus Olivenholz aus dem Santuario dei Bisognosi, zwischen Pereto und Rocca di Botte gelegen, sowie die ungekrönte Madonna aus dem Dommuseum in Atri. Auf latiale Vorbilder geht die Marienfigur in S. Maria in Cellis in Carsoli zurück. Sie ist ungekrönt und hält den gleich ihr in Frontalansicht dargestellten Jesusknaben auf ihrem Schoß. Ihr entstellter, starrer Gesichtsausdruck ist das Ergebnis späterer schlechter Übermalungen. Zwei gekrönte Madonnen aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. besitzt das Nationalmuseum in L'Aquila. Die stilistisch etwas ältere Figur stammt aus der Pfarrkirche in Scoppito, die andere aus der Kirche S. Doroteo Abate in Civitatomassa (Tf. 233). Zu den bekanntesten Statuen dieser Zeit gehört die 1,25 m hohe »Madonna del Colle« aus der Kirche S. Maria del Colle in Pescocostanzo. Die auf latiale Prototypen zurückzuführende gekrönte Maria sitzt auf einem Thron, dessen Wangen oben Löwenköpfe zeigen. Auf ihrem linken Knie steht das bekleidete Christuskind. Eine Inschrift auf dem Thronsitz besagt, daß die Statue 1588 restauriert wurde. Die Wiederherstellung scheint sich auf die Bemalung zu beziehen. überarbeitet wurde auch die Marienfigur aus der Kirche S. Nicola da Bari in Corcumello. Die ungekrönte, 1,42 m hohe Madonna mit einem ovalen edel geformten Gesicht hält mit beiden Armen den Sohn vor sich. Erneuert wurden die Hände des Kindes, auch die Bekleidung der Murter ist eine spätere Zutat aus Papiermache; eine häßliche spätere Beigabe sind weiterhin die Strahlenkrone und die Barockengel zu seiten des Marienkopfes.
Um 1300 vollzieht sich in den Abruzzen in der Formgebung eine entscheidende Wandlung. Wir begegnen einer anderen Gruppe von Sitzmadonnen; alle sind, mit Ausnahme derjenigen in Castelli, ungekrönt. Die Statuen verlieren ihr blockhaftes Aussehen und die starre unbewegte Haltung. Die Lust zu differenzieren drückt sich auf mannigfache Weise aus. Die archaisierenden Antlitze mit dem hieratischen Ausdruck wandeln sich zu lebensnahen, alltäglichen Gesichtern. Der Körper zeichnet sich unter dem Gewand ab, und der Faltenwurf gestaltet sich zum linearen Formenspiel. Diese neue Art des Sehens entwickelt sich durch den Einfluß der internationalen gotischen Formenwelt. Doch erfolgte das bildnerische Umdenken nicht abrupt, und überkommene Formeln wurden weiter tradiert. Eine Anzahl von Kennern abruzzesischer Skulptur weist die Gruppe der zu besprechenden Statuen noch dem Ende des 13. Jh. zu, während angesichts der sich hier einschleichenden neuen Formen ihre Entstehung am Anfang des nachfolgenden Jahrhunderts wahrscheinlicher ist. Die älteste Madonna dieses Kreises scheint die von der Forschung kaum beachtete Madonna aus Pizzoli zu sein, die heute im Nationalmuseum in L'Aquila aufbewahrt wird. Die weiche Modellierung der Maria und des vor ihr stehenden Sohnes, der in Frontalansicht gegeben ist, erinnert an umbrische Vorbilder. Der noch blockhafte Körper der Mutter wird von einem Gewand eingehüllt, das Schüsselfalten bildet. Das Kopftuch setzt sich deutlich vom Haar ab.
In den Umkreis der Madonna von Pizzoli lassen sich zwei weitere, später entstandene Madonnen im Nationalmuseum in L'Aquila einreihen. Die erste stammt aus der Kirche S. Agostino in Penne und zeigt eine ähnliche Gewanddrapierung wie die Madonna von Pizzoli, nur ist der Faltenwurf bewegter und plastischer herausgearbeitet. Die zweite in der Struktur vergleichbare Madonna kommt aus der Kirche S. Maria di Picenze in Villa di Mezzo in der Gemeinde von (S. 360) Barisciano. Die Formen des Oberkörpers sind nur angedeutet, während die Bildung der Arme zierlicher und verfeinerter ist im Gegensatz zu den kräftig geformten Armen der Madonna von Pizzoli. Noch raffinierter erweist sich die jüngst restaurierte Madonna in der Kirche S. Giovanni Battista in Castelli; sie war ursprünglich in der heute zerstörten Kirche S. Salvatore in Castelli aufgestellt. Das Gesicht Mariens wirkt gütig und bestimmt, mit einem Anflug von Freude. Auf detaillierte Behandlung, die die Vornehmheit von Mutter und Kind herausstellt, wird besonderer Wert gelegt. Um das Hoheit ausstrahlende Gesicht der Madonna legt sich ihr kunstvoll mit Bändern durchflochtenes Haar. Am Hals sind durch feine Strichelung Unter-und Obergewand voneinander abgesetzt. Die Kronen der Maria und des in frontaler Haltung sitzenden Christuskindes scheinen wie nach einem Modell gebildet.
Den Übergang von romanischer Blockhaftigkeit zum Linienspiel der Gotik zeigt auch die Anna Selbdritt im Diözesanmuseum in Chieti. Die sitzende Anna hält mit beiden Händen die in Frontalansicht dargestellte sitzende Maria, die ihrerseits auf dem linken Knie das Jesuskind trägt und in der Hand eine Schreibtafel zur Belehrung ihres Sohnes bereithält. Die Körperhaftigkeit der einzelnen Figuren kommt deutlich zum Ausdruck. Diese sehr gut erhaltene Gruppe wurde 1930 in der Kirche S. Chiara in Chieti gefunden. Die reifste und bekannteste Madonna aus der Übergangszeit ist die Maria in der Pfarrkirche in Pietransieri bei Roccaraso. Eindrucksvoll ist der an den Seiten der Mutter weit ausbuchtende Mantel, dessen Falten zarte Stege bilden, und der das Kind einhüllt.
Auf der Schwelle zwischen Romanik und Gotik sind Madonnen im Molise selten. Die reizvollste Figur befindet sich in der Kirche S. Carlo Borromeo in Frosolone (Tf. 235), eine in frontaler Haltung sitzende Maria mit Kind. In seiner blockhaften Gestaltung bedient sich der Meister noch völlig der romanischen Formensprache. Dennoch ist der Einfluß der neapolitanischen Werkstatt des Tino da Camaino mit dessen toskanischer Ausdrucksweise ohne Anhauch französisierender Lieblichkeit erkennbar. Die strenge Formung des Kopfes (Tf. 236) mit der großflächigen Stirn und ebensolchen Wangen partien ist eine Übersetzung der Skulptur des Tino aus Stein in Holz. Übernommen von ihm wird ebenfalls die glatte zylinderförmige Gestaltung des Halses, die Bildung der Augenlider, die sich wie ein Wulstring um den großen Augapfel legen, und vor allem das bei Tino beliebte Kopf tuch, das die Madonna unter der Krone trägt. Eine andere Erscheinungsweise zeigt die Marienfigur in der Kirche S. Maria delle Grotte in Rocchetta al Volturno. Der Holzstamm, aus dem sie geschnitzt wurde, ist noch spürbar. Die mehr rutschende als sitzende Haltung vor der kleinen Thronbank verbindet die Gottesmutter mit alten Vorbildern. Gotisch-französische Einflüsse werden in dem leicht zur Seite geneigten Haupt erkennbar, in dem wellenförmig die Gesichtskonturen begleitenden Kopf tuch und vor allem in dem menschlichen Lächeln als Ausdruck der Freude.
Zu den frühen Holzmadonnen gesellen sich bald die Statuen von Heiligen. Zur Übergangszeit rechnet man den segenspendenden Petrus aus dem Anfang des 14. Jh. in der Kirche S. Pietro in Caporciano und einige Holzfiguren im Diözesanmuseum von Chieti. Dazu gehört der sitzende Benedikt. Die Skulptur, deren unterer Teil fehlt, wurde 1933 in der Pfarrkirche in Fara Filiorum Petri gefunden, und drei Jahre später kam ebendort die Standfigur des hl. Antonius Eremita zutage. Er erscheint im Eremitengewand, in der Linken hält er ein Buch und das Bettelglöcklein. Die rechte Hand fehlt. Die Statue gehört zu den ältesten Darstellungen des Antonius in den Abruzzen.
Eine knappe Generation später, etwa im zweiten Jahrzehnt des 14. Jh., werden gotische Formen in den Abruzzen voll wirksam. Wieder haben wir es mit Sitzmadonnen zu tun, die das Kind auf ihrem linken Knie halten. Den Anfang der Reihe eröffnet eine der am schönsten durchgebildeten Skulpturen des abruzzesischen Trecento, eine 1,53 m hohe gekrönte Madonna aus S. Silvestro in L'Aquila (Tf. 237), die heute im dortigen Nationalmuseum aufbewahrt wird. Der abruzzesische Künstler schuf, unbelastet von heimischer Tradition, mit raffinierten Mitteln eine lebensnahe Figur. Kopf, Oberkörper und Beine sind durch eine weiche Schwingung aus der Mittelachse verschoben. Durch eine sehr behutsame Differenzierung des Körpers, durch das üppige gewellte Haar, durch die fließende, den Liebreiz der Gestalt steigernde Gewandung wird eine diesseitige Schönheit vorgestellt, die wohlgestaltete und anmutige Frau, die dem Ideal der gotischen höfischen Zeit entspricht. Dieses Schönheitsbild scheint dem naiven bäurischen Charakter des Abruzzesen zu widersprechen, dennoch ist festzustellen, daß die abruzzesischen Bildhauer zuweilen gerade das Raffinierte und gelegentlich an Suffisance Anklingende suchten. Die Vorbilder für die Madonna aus S. Silvestro sind in der Hofkunst Neapels anzunehmen. Eine ganz ähnliche, kurz nach 1310 entstandene Madonna begegnet uns in S. Maria delle Grazie in Pugliano (Montecorvino Pugliano) östlich von Salerno. Gewiß ist die Madonna aus S. Silvestro nicht von der in Pugliano abzuleiten. Die gemeinsame Wurzel liegt in Neapel. Die Struktur beider Marienbilder ist ohne Kenntnis der Werke des in Neapel wirkenden Tino da Camaino nicht vorstellbar. Über die Einwirkungen dieses Künstlers hinaus finden sich in den beiden Madonnen durch Neapel vermittelte französische Einflüsse, wie die Schwerelosigkeit des Körpers und die Anmut des Gesichtsausdrucks.
Von der Madonna aus S. Silvestro ist stilistisch diejenige in der Marienkirche in Scurcola (Tf. 238) abhängig. Die geschichtliche Überlieferung hat uns einen Streich gespielt; denn ihr zufolge hielt man die Figur in Scurcola für die in Schriftquellen genannte Madonna, die Karll. Anjou etwa 1278 zum Dank seines Sieges über Konradin seiner Siegeskirche bei Scurcola vermachte. Erst eine genauere Prüfung und das Heranziehen von Vergleichsbeispielen haben die frühe Datierung dieser Figur widerlegt. Die 1,54 m hohe Skulptur aus Olivenholz wurde 1627 unter den Trümmern der durch ein Erdbeben zerstörten Kirche S. Maria in Scurcola gefunden. Die sitzende Madonna, die undatiert ist und (S. 361) keine Dedikationsinschrift trägt, hat ihren schmalen, steil aufgerichteten Oberkörper leicht nach rechts geneigt, um der Schwere des bekleideten Kindes ein Gegengewicht zu bieten. Der Sohn hält mit der Linken die Weltkugel, während die andere Hand das von einem zarten Schleier bedeckte Haar der Mutter streichelt. Die Statue steht auf einem sechseckigen Sockel. Bei gleicher Struktur beider Madonnen ist der Faltenwurf der Maria aus S. Silvestro weicher und fließender, während bei der Figur von Scurcola die Faltenstege starrer herausgearbeitet sind. Beide Madonnen gaben das Vorbild für weitere Statuen des Trecento ab. Als ziemlich gen aue Replik der Statue von Scurcola ist die 1,55 m hohe Marienfigur in der Pfarrkirche S. Maria Assunta in Fossa anzusehen, ein um 1350 angefertigtes Werk. Zu dieser Gruppe gehört ferner die in etwas vereinfachter und verkleinerter Form ausgeführte, 1,20 m hohe Madonna mit Kind vom Ende des 14. Jh. in der Kirche S. Berardo in Pescina.
Während sich der durch Neapel vermittelte gotische Stil in den Abruzzen verbreitete, erreichten die Landschaft gleichzeitig andere gotisch-französisierende Einflüsse, die über Umbrien, vor allem aus Orvieto, kamen. Als Beleg dafür gilt die vornehme Gestalt der hl. Balbina aus der Pfarrkirche in Pizzoli (Tf. 241), heute im Nationalmuseum in L'Aquila. Die hohe würdevolle Erscheinung mit dem großflächigen ovalen Gesicht zeigt bei aller Verhaltenheit der Bewegung eine leicht geschwungene Körperhaltung. Die Gewandfalten, die so häufig ohne Rücksicht auf die Anatomie des Unterkörpers ein spielerisches Eigenleben führen, werden hier glaubhaft, indem die Heilige mit ihrer linken Hand in Taillenhöhe das Kleid rafft, so daß der von Taille bis Fuß durchgehende Faltenzug in diesem Fall natürlich erscheint. Zwei 55 cm hohe Engelsstatuetten im Nationalmuseum in L'Aquila werden in ihrer schmiegsamen Körperhaltung und in der weichen Modellierung des Gewandes durch die gleichen Merkmale gekennzeichnet. In derselben Sammlung zeigt der aus der Abteikirche S. Bartolomeo in Carpineto della Nora stammende hl. Bartholomäus (Tf. 240) starke transalpine Einflüsse, die über Orvieto eindringen konnten. In der Rechten hält die 2,10 m hohe überlebensgroße Gestalt das Schabmesser und in der Linken ein aufgeschlagenes Buch mit den Worten »Sante Bartolomee ora pro nobis«. Zur gleichen Gruppe gehört im selben Museum die prächtige, 1967 restaurierte Gestalt des Erlösers, der mit der linken ein Buch umfaßt. Auch hier weist die weiche Modellierung der Statue auf Umbrien hin. Der Einfluß dieser Landschaft ist auch in der Gegend von Teramo spürbar. Man übernahm dort die Gestaltung gotischer Sitzmadonnen, von denen sich die reifste im Dom von Teramo befindet. Sie ist 1,05 m hoch und erscheint in vornehmer, frontaler Haltung mit einem ovalen Gesicht. Mit ihr verwandt, aber unbeholfener, ist die Madonna in der Kirche Sant'Abbamano in der Gemeinde Sant'Omero.
Bei zwei Holzskulpturen ist das französisierende Element so augenfällig, daß man geneigt ist, direkte Einflüsse von Frankreich auf die Abruzzen anzunehmen. Das trifft zunächst für die von Enzo Carli in die Kunstliteratur eingeführte Figur in der Krypta von Assergi zu. Die lebensgroße Gestalt aus den ersten Jahrzehnten des 14. Jh. stellt wahrscheinlich die hl. Elisabeth von Ungarn dar und bildet den Deckel eines großen Reliquienkastens. Die rechte Hand dieser Liegefigur liegt über der Brust, während die linke den Kopf stützt. Die Liegestellung ist in dieser Zeit einmalig in den Abruzzen und auch im übrigen Italien selten anzutreffen. Thematisch vergleichbar wären die im 14. Jh. entstandene ruhende Madonna im Museo S. Martino in Neapel aus der dortigen Kirche S. Chiara, die aus der ersten Hälfte des 14. Jh. stammende Maria mit Kind in S. Nicola da Tolentino in Tolentino und eine Madonna im Museum des Palazzo Venezia in Rom. Stilistisch besteht indessen keine Beziehung zu diesen Werken. Bis in das kleinste Detail der Faltenführung läßt sich die Heilige von Assergi jedoch mit Liegefiguren in Darstellungen der Geburt Christi an nordfranzösischen Kathedralen in Verbindung bringen. Die zweite Statue mit starkem französischem Einschlag ist die stehende gekrönte Maria aus Pacentro, heute im Palazzo Venezia in Rom. Die Eleganz der Körperbewegung und der üppigen Gewandung wird in dieser Zeit in den Abruzzen kaum wieder erreicht. Doch verrät sich der einheimische Künstler durch eine gewisse Unbeholfenheit in der Gesichts-und Faltenbildung.
Die meisten gotischen Madonnen des 14. Jh. zeichnen sich durch höfische Eleganz und Vornehmheit aus. Das Gegenteil zeigt eine in den Abruzzen einzigartige, 1,38 m hohe Madonna mit Kind aus Roccacinquemiglia, etwa am Ende des 14. Jh. entstanden. Die Maria erscheint in Frontalansicht, breitbeinig sitzend, und trägt auf ihrem linken Knie das segnende Christuskind, das in der Hand eine kleine Weltkugel hält. Die volkstümliche Figur ist mit einem bizarren Gewand bekleidet; der rechte Mantelsaum ist seltsam verknittert, und die Gewandpartie über ihrem Leib erscheint unordentlich und verworren. Das Lässige und Unbefangene in dieser Figur leitet Raffaello Causa von iberischen Madonnen ab.
Es ist leichter, in der abruzzesischen Plastik des 14. Jh. fremde Einflüsse zu konstatieren als einen abruzzesischen Lokalstil zu bestimmen. Werke einheimischer Meister, die sich der modernen von außerhalb eindringenden Formenwelt mehr oder weniger verschließen, erreichen kaum Qualität und sind künstlerisch bedeutungslos. Im besten Fall stellen diese Arbeiten Derivationen der qualitätvolleren abruzzesischen Skulpturen dar. So gehört z. B. die Statue der hl. Katharina aus dem Konvent S. Caterina in L'Aquila, heute im dortigen Nationalmuseum, in den Umkreis der Madonna aus S. Silvestro. Konventionell ist auch die in den Abruzzen entstandene gekrönte Sitzmadonna im Palazzo Venezia in Rom, die sogenannte »Madonna del latte«, ebenso die Gottesmutter aus S. Maria della Valle in Scanno, die Gavini in seinem »Sommario della storia della scultura in Abruzzo« 1932 abbildet. Erwähnenswert ist der hl. Giuliano aus S. Pietro in Coppito in L'Aquila, heute im dortigen Nationalmuseum. In S. Francesco in Castelvecchio Subequo birgt (S. 362) eine obere Nische des grandiosen Barockaltars die Holzstatue des hl. Ludwig von Toulouse aus dem Trecento.
Im Gegensatz zu den Abruzzen ist die Holzskulptur des Trecento im Molise nicht sehr originell und wurde daher kaum von der Forschung studiert. Dort ist der gotische Stil völlig von Neapel abhängig, besonders eindringlich an der Madonna aus dem Sanktuarium in S. Maria della Libera in Cercemaggiore zu sehen. Die bekrönte stehende Madonna ist in der Taille gegürtet. Das Gewand ist am Oberkörper glatt, während am Unterkörper seitlich Schlüsselfalten und in der Vorderansicht lange vertikale Faltenzüge erscheinen. Die Figur zeigt angewinkelte Arme und hält dem Beschauer die großen Handflächen entgegen. Zum selben Typ gehört die 1,09 m hohe stehende Maria in der Kirche S. Maria della Croce in Campobasso, die, ich weiß nicht aus welchem Grunde, in das Jahr 1364 datiert wird. Die geschmacklose übermalung erschwert die Beurteilung der Holzstruktur. Zu dieser Gruppe gehört weiterhin die gekrönte Maria in der Krypta des Domes von Trivento. Sie ist im unteren Teil völlig zerstört. Aber man erkennt noch gut den Gürtel um die Taille, den sehr sparsam bearbeiteten Oberkörper und die Gewandfalten des Unterkörpers. Ihr rechter Arm ist abgebrochen, während der andere noch einen angewinkelten Stumpf erkennen läßt. Ob die beiden Hände dem Beschauer entgegengestreckt waren, oder ob sie den Christusknaben hielten, ist schwer festzustellen.
An Heiligenstatuen besitzen wir in Termoli den Stadtheiligen Bassus im Dom, weiterhin kennen wir die 1,18 m hohe Skulptur eines Bischofs aus dem Dom in Larino und heute im Nationalmuseum von L'Aquila. Die Standfigur in Frontalansicht und im langen Meßgewand weist stilistisch auf Neapel hin.
Christus am Kreuz und der Kreuzabnahme begegnen wir in Oberitalien, in der Toskana, im franziskanischen Umbrien und in Latium häufiger als in den Abruzzen, wo man die Darstellung Mariens und der Heiligen bevorzugte. Daher handelt es sich bei den wenigen Gestaltungen dieser Art mangels eigener Tradition meistens um Formübernahmen aus anderen Kunstkreisen. Die qualitätvolle Christusfigur, die zu einer Kreuzabnahme gehörte und an der linken Langhausseite des Domes von Penne aufgestellt ist, blieb kunstgeschichtlich bisher unbeachtet. Sie gehört in die Gruppe umbrisch beeinflußter Werke und steht vor allem dem Kruzifix aus S. Maria di Roncione bei Deruta nahe, von dem die Inschrift des 18. Jh. glaubhaft aussagt, daß es 1326 entstanden sei. Es wird heute in der Nationalgalerie von Perugia aufbewahrt. Beiden Werken ist die weiche Modellierung eigen, wobei der Christus in Penne noch sensibler behandelt ist als der Gekreuzigte in Roncione. Weiterhin ähneln sich die Christusfiguren in der Form des ovalen Gesichtes mit dem gescheitelten Haar, sodann in der Armhaltung, in der parallelen Stellung der Füße und in der Art des kurzen geknoteten Schurzes.
Ein etwa 1,60 m hohes Kruzifix im Diözesanmuseum in Chieti stammt aus S. Maria Assunta in Casacanditella zwischen Chieti und Guardiagrele und ist wohl am Anfang des 14. Jh. entstanden. Nennenswert ist das 1,57 m große Kruzifix in der Pfarrkirche von Roccamorice mit dem skelettartigen, geschwungenen Körper und der Dornenkrone. Wie wenig es zu eigener Stilbildung kam, verdeutlichen zwei Kruzifixe des 14. Jh. in Sulmona, die man sich verschiedenartiger kaum vorstellen kann. Das eine ist nach einer neuerlichen Restaurierung im rechten Seitenschiff des Domes zwischen dem vierten und fünften Langhauspfeiler aufgestellt worden (Tf. 242). Die 1,85 m hohe Figur drückt extremes Leiden aus. Die Arme hängen weit nach unten durch, so daß der lange Torso in sich zusammengesackt erscheint, und der Christuskopf ein beträchtliches Stück unter dem Schnittpunkt der Kreuzbalken liegt. Das schmerzvolle Gesicht mit der Dornenkrone neigt sich weit auf die rechte Schulter. In der Seitenansicht der Skulptur kommt in dem kantigen gebrochenen Kontur das Leidvolle der Gestalt eindringlich zum Ausdruck. Arme und Beine sind dünn und sehnig. Mit bizarrem Naturalismus wurden die Rippen betont, deren Anzahl größer ist als es die Anatomie erlaubt. Derartig leidende Gestalten sind nördlich der Alpen, vor allem in Deutschland, geläufig und üben einen starken Einfluß auf die spanische Skulptur aus, die vielleicht über Neapel auf die Abruzzen eingewirkt hat. In völlig entgegengesetzter Auffassung erscheint der 1,77 m hohe Gekreuzigte vom Ende des 14. Jh., der sich im Museo Civico in Sulmona befindet. Der Kopf ist nur leicht geneigt, die Rippen sind kaum angedeutet, das Haar legt sich dekorativ in Locken auf die Schultern, und der schmale Torso ist in umbrischer Weise weich modelliert. Die Arme des Gekreuzigten sind nicht erhalten. Die Statue stammt aus der 1915 vom Erdbeben zerstörten Kirche S. Orante in Ortucchio. Kaum beachtet ist ein Kruzifix des 14. Jh. im Nationalmuseum in L'Aquila. Der Kopf ist nach vorn geneigt, und das Haar fällt in einzelnen Strähnen auf die Schultern. Das Lendentuch reicht über die Knie herab, die Füße legen sich übereinander und sind von nur einem Nagel durchbohrt, wie auch bei den Kruzifixen in Sulmona. Der Körper zeigt eine weiche Modellierung mit Andeutung der Rippen. Das Kreuz stammt aus der Kirche S. Antonio fuori Porta Romana in L'Aquila.
Die Skulptur im 15. und 16. Jahrhundert
Holzskulpturen
Wie im übrigen Kunstschaffen der Abruzzen des 15. Jh. ist auch in der Holzskulptur dieser Zeit eine archaisierende Haltung unverkennbar. Ein drastisches Beispiel bietet die für die Holzschnitzerei interessante Kirche S. Maria della Neve in Bugnara. Dort ist die ovale Form der Thronbank der ungekrönten Maria alten byzantinischen Vorbildern entlehnt. Den Trecentostil der neapolitanischen Bildhauerei tradiert in S. Mafia di Canneto die gekrönte Madonna in Frontalansicht mit dem segnenden bekleideten Jesuskind. Gotische Faltenwürfe zeigen die kleine, 0,53 m hohe Verkündigungsmadonna aus der SS. Annunziata in Sulmona, heute im dortigen Museo Civico, ebenso die 1,57 m hohe, stehende Madonna mit Kind in S. Francesco in Castelvec (S. 363) chio Subequo und die unpublizierte sitzende Maria mit bekleidetem Kind in SS. Rufino e Cesidio in Trasacco.
Die Vorliebe für schmale, hohe, gotische Madonnengestalten bleibt noch im 15. Jh. wirksam. Freilich fehlt das Schwingende der Kontur. Die Figuren werden standfester. Das zeigt z.B. die vornehme, 1,55 m hohe Himmelskönigin in der Kirche S. Maria di Loreto in Magliano de'Marsi. Der lang herabfallende Mantel ist vergoldet und zeigt ein blaues Futter. Mutter und Sohn tragen Kronen. Anmutiger erscheint die schlanke Madonnenfigur in S. Maria della Strada mit geneigtem, lächelndem Gesicht, wie es im Molise üblich ist.
Den von der Toskana beeinflußten ungekrönten Sitzrnadonnen fehlt die französisierende Eleganz. Sie sind gedrungener und verinnerlichter im Ausdruck. Ganz anders als die Madonna von Magliano erscheint die 1,12 m hohe Figur der Gottesmutter des frühen 15. Jh. aus der Confraternita del Carmine in L'Aquila, die das dortige Nationalmuseum zeigt. Die Züge des Antlitzes sind gedankenschwer und verraten sibyllinische Vorausschau auf die Zukunft des Sohnes. Ihre rechte kräftig gebildete Hand umfaßt mit eindringlicher Geste das Gebetbuch.
Aus der ersten Hälfte des 15. Jh. sind noch zwei weitere Madonnen erwähnenswert, zunächst die Mutter mit Kind im Nationalmuseum in L'Aquila aus der Kirche S. Maria a Graiano in S. Pio bei Fontecchio. Sie besitzt nichts von der Verinnerlichung der vorhergenannten Madonnen. Der am Hals durch eine Schnur zusammengehaltene Mantel zeigt einen bemalten Saum und fällt links in weich gerundeten Faltenzügen über den Ellbogen herab. Die Mutter mit dem ovalen Gesicht hat ihren Blick auf den Beschauer gerichtet, ohne Bezug zu dem bekleideten Kind, das auf ihrem linken Knie sitzt. Die zweite Figur ist die breitgesäßige, 1,20 m hohe Maria in der Kirche S. Paolo in Campo di Giove. Podest und Statue sind aus einem einzigen Holzblock gearbeitet.
Im Nationalmuseum in L'Aquila sind drei Madonnen aufgestellt, die mit zwei anderen in Bugnara gewisse Gemeinsamkeiten zeigen, alle sind um die Mitte des 15. Jh. entstanden. Ihre Formen sind kraftvoll modelliert. Die Gestalten sind hoch gegürtet, so daß der Unterkörper langgestreckt ist, betont durch parallellaufende vertikale Falten. Zwischen den Knien erscheinen Schüsselfalten, während das Gewand an der linken Seite in schrägen Zügen zu Boden fällt. Alle Madonnen zeigen gewelltes Haar. Den Anfang dieser Reihe bilden die ein Meter hohe »Madonna del Parto« und die 1,25 m hohe Marienstatue aus S. Francesco in Castelvecchio Subequo. Ihnen stehen nahe zwei Madonnen in S. Maria della Neve in Bugnara, die sich derart gleichen, daß sie vom selben Meister gearbeitet erscheinen. Den Beschluß dieser Gruppe bildet die 1,18 m hohe Madonna, die ehemals in der Pfarrkirche S. Lucia in Rocca di Cambio stand.
Soweit nicht die Werkstatt des Silvester von L'Aquila wirksam wurde, zeitigte das 16. Jh. in der Anfertigung von Holzmadonnen keine besonderen Leistungen. Erwähnenswert ist eine polychrome und mit Gold bemalte Madonna in der Chiesa del Rosario in Palena, während die 1,22 m hohe Statue in S. Maria Assunta in Paganica von herkömmlicher Machart ist. Ihr Mantel wird am Hals von einer großen Brosche zusammengehalten, und der frontal ausgerichtete Jesusknabe hält in der Linken einen Vogel.
Der wachsende Andachtskult förderte die Herstellung von Heiligenstatuen. Sie finden sich in fast allen Kirchen, aber die Quantität entbehrt einer entsprechenden Qualität. Die Faltengebung des Trecento ist auch noch für das kommende Jahrhundert verbindlich, spürbar z.B. in der polychromen Statue in S. Clemente al Vomano, die den Papst Clemens I. mit durchgeistigtem und väterlichem Ausdruck darstellt. Sitzend segnet er mit dem lateinischen Gestus. Die hohe konische Tiara ohne Kronreifen betont den länglichen Gesichtsschnitt. Etwa gleichzeitig entstand die schlanke Figur des Nikolaus von Bari in der Pfarrkirche von Monticchio. Er zeigt den gleichen Segensgestus wie Papst Clemens; und sein Gewand weist unter der erhobenen Hand die gleiche Faltenbildung auf wie bei diesem. Trotz des mangelhaften Erhaltungszustandes ist die farbige Bemalung noch erkennbar. Das Meßgewand ist mit Malereien versehen, von denen auf der Brustpartie die Halbfigur des segnenden Christus zu sehen ist, während die nach oben spitzzulaufende Bischofsmütze mit Edelsteinen verziert erscheint.
Einen Anhaltspunkt für die zeitliche Einordnung von Skulpturen bietet der 1425 datierte hl. Cesidius in der Kirche SS. Rufino e Cesidio in Trasacco. Die lateinische Inschrift in gotischen Lettern, die sich um den Sockel der Standfigur zieht, sagt aus, daß in der Statue die Reliquien der hll. Cesidius und Rufinus und anderer Märtyrer eingeschlossen sind. Auftraggeber war Abt Alexander Jacobuzzi von SS. Rufino e Cesidio. Er ließ das Werk im April 1425 zum Heil seiner eigenen Seele und zu demjenigen der Wohltäter der Kirche anfertigen. Obwohl in dem kräftig modellierten Faltenwurf noch Formen des Trecento nachleben, kündigt sich doch das dingliche Sehen der Renaissance an. Die segenspendende Hand ist bis ins Detail durchgearbeitet, erkennbar an den Handballen, der Haltung der Finger und dem kostbaren Ring am Zeigefinger, ebenso durchgebildet ist die andere Hand, die ein rot eingebundenes Buch trägt. Das Gesicht über dem langen zylindrischen Hals zeigt fast weibliche Züge, die durch das goldene herabfallende Haar nochmals betont werden. Den Kopf schmückt eine metallene zwiebelförmige Krone, die in Filigran gefertigt ist_ In derselben Kirche stellte man in neuerer Zeit im ersten Joch an der rechten Langhausseite eine Figur des 15. Jh. auf, deren architektonische Rahmung in den Abruzzen höchst ungewöhnlich ist. Die Vollplastik der hl. Katharina, die in ihrer Linken ein Buch und das Wagenrad hält, steht in einer reich geschmückten spätgotischen Ädikula. Der Rundbogen des Baldachins wird nicht, wie man erwarten sollte, von Säulen gestützt, vielmehr sind diese durch kelchtragende Engel ersetzt, die auf Konsolen stehen und gleichsam die Funktion von Karyatiden erfüllen.
Eine weitere datierte Holzstatue ist die 1,28 m hohe Standfigur des Nikolaus von Bari im Monastero delle Bene (S. 364) dettine in Tagliacozzo. In schwarzen gotischen Lettern ist am Sockel das Jahr 1430 verzeichnet. Die rechte Hand des Heiligen spendet den Segen, und die linke umfaßt ein Buch.
Den Figuren, die sich um die »Madonna del Parto« aus S. Francesco in Castelvecchio Subequo gruppieren, ist stilistisch verwandt die 1,22 m hohe Sitzfigur des hl. Bischofs Eutizio. Sie gelangte aus der Pfarrkirche von Marano dei Marsi in das Nationalmuseum in L'Aquila und dürfte um die Mitte des 15. Jh. entstanden sein. Weiterhin erwähnenswert ist die bereits an anderer Stelle genannte, 1,44 m hohe Figur einer hl. Lucia in einem Tabernakel mit gemalten Seitenflügeln in S. Lucia in Rocca di Cambio, eine Statue in Frontalansicht mit erhobener rechter Hand und mit einem Buch in der linken. Die Datierung des 1,55 m hohen, stehenden Leonhard aus der zerstörten Kirche S. Leonardo in L'Aquila, heute im dortigen Nationalmuseum, schwankt in der Forschung von der Mitte des 14. Jh. bis zum 16. Jahrhundert. Eine zeitliche Ansetzung um 1500 scheint möglich. Vor dem Heiligen kniet ein anbetendes Kind, das mit einem weißen Hemd bekleidet ist. Beide Figuren wurden aus ein und demselben Holzblock geschnitzt. Um die Jahrhundertwende dürfte auch die 1,40 m hohe Standfigur des Antonius von Padua entstanden sein, früher in der Pfarrkirche SS. Pietro e Lorenzo in Acciano, heute im Nationalmuseum von L'Aquila. In derselben Kirche wären noch weitere Holzskulpturen des 16. Jh. zu untersuchen.
Am Anfang des Cinquecento erlangte die hl. Giusta eine weitverbreitete bildliehe Verehrung, und die früheste Darstellung finden wir in der Kirche S. Giusta in Bazzano. Die dortige 1,35 m hohe Standfigur der Heiligen wurde wegen des schadhaften Holzes im unteren Teil beträchtlich verkürzt und am Kopf restauriert. Sie ist heute im Museum des Palazzo Venezia in Rom zu sehen. Eine ähnliche hl. Giusta verwahrt die Kirche S. Maria im unweit von Bazzano gelegenen Ort S. Maria del Ponte bei Fontecchio. Die 1,05 m hohe hl. Giusta im Nationalmuseum in L'Aquila stammt aus der Kirche S. Maria delle Grazie in L'Aquila. Die Bemalung des Gewandes der kleinen, grazilen, leicht dem Beschauer zugeneigten Heiligen ist tadellos erhalten.
Im vorgeschrittenen 16. Jh. verliert die Gestaltung der Heiligenstatuen in Holz völlig an Bodenständigkeit. Der 1,65 m hohe Sebastian aus der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Pfarrkirche in Roccaraso lehnt sich stark vergröbernd an Vorbilder Michelangelos an, und die Büste des hl. Equizio aus S. Margherita in L'Aquila, jetzt im dortigen Nationalmuseum, zeigt Einflüsse aus dem Umkreis des Bildhauers Daniele da Volterra, der 1566 in Rom starb.
Ebenso wie die Malerei unterliegt auch die Skulptur in den Abruzzen starken Einflüssen aus Venedig. Am besten ist diese Tatsache im Dom von Atri zu sehen, wo die Holzskulptur des 15. Jh. glänzend vertreten ist. Die zu erwähnenden Altaraufsätze sind aus dem Dom in das benachbarte Dommuseum gebracht worden. In die erste Jahrhunderthälfte ist ein großer Schnitzaltar zu datieren. In der Mitte steht fast lebensgroß Jacobus Maior mit Stab und Buch in der Hand. Die Seitenteile zeigen 18 Szenen in Relief aus der Lebensgeschichte des Heiligen nach der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine. Je drei Reliefs sind in drei Reihen übereinander angeordnet. Unter diesen Darstellungen erscheinen in niedrigeren Feldern jeweils zwei gemalte Heiligenbüsten auf Goldgrund. Auf Venedig weisen die Holzreliefs und vor allem die Rahmung des Retabels. Zu vergleichen wäre etwa die Altartafel aus der Kirche Corpus Domini in Venedig, jetzt im Museo Correr, die der Werkstatt der Moranzoni nahe steht. Abhängig von Venedig zeigt sich auch das Renaissanceretabel mit Muscheldach und drei prächtigen, ornamentierten Nischen, in deren mittlerer Maria mit dem Kind thront. Zu ihren Seiten stehen rechts Johannes d. T. und links der hl. Biagio. In der Predella erscheint eine Reihe geschnitzter Halb figuren, in der Mitte Christus und zu beiden Seiten je sechs namentlich bezeichnete Apostel. In bestimmten Abständen, und zwar entsprechen diese dem oberen architektonischen Aufbau, sind Säulchen zwischen die Figuren eingestellt. Derartige außerabruzzesische Einflüsse lassen sich noch lange Zeit später verfolgen. Wie konservativ man verfuhr, zeigt ebenfalls im Dommuseum von Atri das fünfteilige Holzretabel mit Maria in der Mitte. Der Täufer links außen scheint eine Ergänzung späterer Zeit zu sein. Dieser etwa drei Generationen später als die vorgenannten Arbeiten entstandene Altaraufsatz stimmt in den Zierformen mit dem Jacobusretabel überein.
Die Holzkruzifixe des 15. und 16. Jh. zeigen keine besonderen Formmerkmale. Bei einer Reihe von Werken will es scheinen, als habe der Bildschnitzer die Ausarbeitung des Körpers seiner Werkstatt überlassen, und er selbst, mit größerer Kunstfertigkeit begabt, sei nur an der Durchführung des Christuskopfes beteiligt gewesen. Jedenfalls tritt der qualitative Kontrast zwischen dem Haupt des Gekreuzigten und dem Körper auffallend in Erscheinung.
Eine andere Eigentümlichkeit betrifft die Kunstgeographie. Das Thema des Gekreuzigten fand in der Holzskulptur in und um L'Aquila geringe Beachtung. Der vorzügliche Bestand an Holzskulpturen im Nationalmuseum in L'Aquila, der sich aus Objekten der Stadt und der Umgebung zusammensetzt, zeigt aus dieser Zeit kein künstlerisch interessantes Holzkruzifix. Dagegen beobachtet man vom 14. Jh. an in zunehmendem Maße eine Vorliebe für dieses Thema in Sulmona. Das Molise, das in der Plastik nur selten wirksam wurde, entfaltet in dieser Zeit in der Darstellung des Gekreuzigten eine rege Tätigkeit.
In der Kirche S. Pietro in Sulmona sind zwei Kruzifixe des 15. Jh. zu sehen. Das eine zeigt den Heiland in natürlicher Größe, mager, mit stark hervortretenden Rippen, und, ähnlich wie den Gekreuzigten des Domes, mit tief durchhängenden Armen. Die Haare fallen in Strähnen auf die Schultern. Der untere Teil des Kreuzstammes ist ersetzt. Die Kreuzenden sind als Vierpässe gebildet und bemalt. Man sieht an den Seiten die trauernden Maria und Johannes, während oben der segnende Gottvater mit einem geöffneten Buch erscheint. Auch bei dem zweiten lebensgroßen Gekreuzigten sind die Rippen kräftig ausgearbeitet, während die Taille stark eingeschnürt ist. Der länglich geformte Kopf mit dem (S. 365) in der Mitte gescheitelten Haar, das die Schultern bedeckt, zeigt einen durchgeistigten und gütigen Gesichtsausdruck und steht im Gegensatz zu der etwas groben Ausarbeitung der übrigen Gestalt. Aus dem Anfang des 16. Jh. verwahrt die Confraternita della SS. Trinita in Sulmona ein 1,75 m hohes Kruzifix, wobei die Arme des Heilands wie bei dem Gekreuzigten in S. Pietro tief durchhängen. Die Kreuzbalken sind modern. Ein anderes Beispiel eines Gekreuzigten des 16. Jh. verwahrt die Kirche S. Gaetano. Die Rippen der Figur sind kräftig modelliert, und das Haupt des Erlösers neigt sich leidend zur Seite. Aus der zweiten Jahrhunderthälfte sieht man in der Kirche S. Francesco della Scarpa rechts vom Eingang unter der Orgel ein stark geschwärztes, 1,50 m hohes Kruzifix mit dem üblichen Gegensatz von summarisch gearbeitetem Körper und fein durchgebildetem Kopf.
In den übrigen Abruzzen sind aus dem 15. Jh. ein Kruzifix in der kleinen Kirche S. Antonio Abate in Tossiccia erwähnenswert sowie ein anderes, 1,65 m hohes in SS. Rufino e Cesidio in Trasacco. Dort sind die unschönen Füße das Ergebnis schlechter Restaurierung. Der Körper zeigt noch eine gotische Schwingung, und die sensible Gestaltung der Figur kommt vor allem in der Behandlung des Kopfes zum Ausdruck. Er fällt etwas nach vorn und ist mit halbgeöffnetem Mund zur Seite geneigt. Das 1,70 m hohe Kruzifix in S. Francesco in Tagliacozzo gehört zu den qualitätvollsten Werken dieser Art des 16. Jh. in den Abruzzen. Der Künstler beherrscht sicher die Anatomie des Körpers, was sich vor allem an der Muskulatur der leicht durchhängenden Arme zeigt.
Genauer zu studieren wären die zahlreichen künstlerisch jedoch nicht zu hoch zu bewertenden Kruzifixe des 15. und 16. Jh. im Molise. Einen in der Körperdrehung noch gotisch empfundenen Erlöser sieht man in der Kirche S. Francesco in Agnone; er trägt eine Dornenkrone, die Arme hängen weit durch, und sein Gesichtsausdruck ist schmerzensreich. In Venafro sind gleich drei Kruzifixe überliefert. Eines ist in S. Martino, ein anderes in der Kirche S. Nicandro. Letztere Figur zeigt, ähnlich wie der Gekreuzigte im Dom von Sulmona, sehr viel mehr Rippen als es die Anatomie zuläßt. Ein drittes, späteres Kruzifix, vielleicht schon dem 16. Jh. zuzurechnen, verwahrt die Kirche der Annunziata in Venafro. Konventionelle Darstellungen des 15. Jh., die Christus am Kreuz zeigen, sieht man in der Antoniuskapelle in S. Francesco in Isernia und in der Chiesa dell'Annunziata in Frosolone. Die weiche Modellierung und das genaue Studium der menschlichen Anatomie lassen erkennen, daß der Gekreuzigte in S. Maria della Strada dem 16. Jh. zuzuweisen ist.
Deutsche Bildhauer des 15. Jahrhunderts in den Abruzzen
Der sich reich entfaltende Handel in den Abruzzen, der einen gewissen Wohlstand mit sich brachte, lockte die Fremden in unser Bergland. Die Invasion der Lombarden, die sich als Kaufleute und Künstler ansiedelten, war beachtlich. Bei den regen Wirtschaftsbeziehungen, die L'Aquila und Lanciano zu Städten wie Augsburg und Nürnberg unterhielten, ist es nicht verwunderlich, daß sich auch deutsche Meister anschickten, ihre Werke in den Abruzzen abzusetzen. Allerdings machte sich keine Elite auf den Weg, und diejenigen, die kamen, waren Einzelgänger. Seit dem zweiten Jahrzehnt des 15. Jh. ist die Anwesenheit von Deutschen in den Abruzzen zu belegen, die meisten von ihnen sind jedoch erst im letzten Viertel des Quattrocento nachzuweisen. Die Aufträge, die ihnen hier zufielen, waren mannigfacher Art. Sie arbeiteten Altäre und Ziborien, auf die wir noch später zurückkommen werden. Besonders erfolgreich war Gualterius de Alemagna, der im Auftrag hochmögender abruzzesischer Familien Grabbauten bei Sulmona und in L'Aquila anzufertigen hatte. Seine Tätigkeit wird bei der Behandlung der Grabbauten der Abruzzen besprochen werden.
Die Lust der Kunst-und Lokalhistoriker, Zuschreibungen vorzunehmen, hat viel Unheil angerichtet. Man holte aus Dokumenten die Namen von beiläufig genannten Bildhauern hervor und wies ihnen Werke zu, die wahrscheinlich gar nichts mit ihnen zu tun haben. So glaubt man, Arbeiten eines Henrico Teutonico zu kennen oder eines Niccolo Teutonico, der 1485, nach anderer Aussage 1498, das große expressive und polychrome Kruzifix aus Holz in der zweiten rechten Kapelle des Domes von Chieti gefertigt haben soll. Ein Pietro Alemanno, der nicht mit dem gleichnamigen in den südlichen Marken urkundlich gesicherten Maler zu verwechseln ist, arbeitete als Bildhauer in Neapel, wo er 1478 in einem Vertrag mit der Anfertigung einer Weihnachtskrippe für die Kirche S. Giovanni a Carbonara betraut wurde, von der noch Reste erhalten sind. Das Dokument sagt aus, daß an dieser Arbeit noch ein Giovanni Alemanno, wahrscheinlich ein Bruder oder Sohn des Pietro, beteiligt war. Die Fertigstellung zog sich lange hin, und 1484 wurde Francesco de Felice, genannt Torio, mit der Fassung der Holzfiguren beauftragt. Beim Stand der Dinge ist es unmöglich, eine Händescheidung bei den sicherlich deutsch beeinflußten Krippenfiguren vorzunehmen, doch haben die Abruzzesen dem Pietro Alemanno den Hauptanteil zugewiesen mit der Folge, daß man den Künstler dann natürlich auch in unserem Bergland tätig werden ließ, wo er als Urheber von allerlei Werken gilt, die deutsche Einflüsse erkennen lassen. Das Auftreten deutscher Künstler in den Abruzzen müßte aufs neue von berufener Seite untersucht werden. Gesicherte Daten und Namensnennungen deutscher Künstler sind in der uns interessierenden Zeit selten. Die profilierteste Gestalt, Gualterius de Alemagna, signiert und datiert 1412. das Grabmal der Caldora in der Badia Morronese bei Sulmona. Mit diesem Monument verbinden sich stilistisch weitere Werke.
Datiert und signiert sind Skulpturen, die sich im Lünettenfeld des Portals von S. Maria Maggiore in Caramanico befinden. Die Rahmenleiste unter der Marienkrönung enthält die Inschrift ..Johannes Biomen ... Fi. 1476 Theatonicus de Lubec«. In seinen wildbewegten Faltenwürfen führt Johannes Biomen aus Lübeck Formen vor, die nördlich der Alpen verbreitet waren. Das eigenwillig behandelte Thema der Krönung wird in einer Mischung von Relief und Vollplastik behandelt. Auf einer langen, die Breite der Lünette einneh (S. 366) menden Steinbank mit Rückenlehne sitzt in der Mitte die bereits gekrönte Maria. Gottvater und Christus, mit gewaltigen Bärten versehen, haben soeben den Krönungsakt vollzogen, wobei ihre Hände noch den Reif auf dem Haupte Mariens berühren. Vor der Thronbank knien an den äußeren Enden zwei anbetende Engel, und über dem Kopf Mariens erscheinen drei weitere Engel, von denen die beiden seitlichen, die fast vollplastisch gebildet sind, auf Instrumenten spielen. Die Gestalt des dritten Engels an oberster Stelle stößt aus dem Hintergrund hervor. Seine Hände, die vordem wohl ebenfalls ein Musikinstrument hielten, sind abgebrochen.
Mario Chini erwähnt 1954 in seinem Buch über Silvester von L'Aquila einen Maestro Tedesco, der zur Werkstatt Silvesters gehörte und in diesem Zusammenhang 1494 ein Tabernakel in der Kirche S. Maria del Ponte, auch S. Maria del Popolo di Roio genannt, anzufertigen hatte, das Chini mit demjenigen identifiziert, das heute noch in der Kirche erhalten ist. Sie liegt außerhalb der Stadtmauer am Aterno, auf dem Weg in das benachbarte Roio.
In der abruzzesischen Skulptur des 15. und 16. Jh. sind die zahlreichen Vesperbilder zu beachten, die Maria mit dem Leichnam Christi auf ihrem Schoß zeigen. Seit dem 13. Jh. wurde dieses Thema besonders in Deutschland gepflegt, und Bildwerke mit Darstellungen der Marienklage drangen von dort über Friaul, Venetien, die Marken und Umbrien weit nach Süden vor. Die Gestaltung neigt entweder zur deutschen Auffassung, die die Grausamkeit der Passion und die Qual von Mutter und Sohn betont oder zu einer italienischen Interpretation, die ihren Höhepunkt in Michelangelos Pietä in Rom erreicht, und wo eine versöhnliche Stimmung zum Ausdruck kommt. Dieser Kontrast der Auslegung ist auch in den Abruzzen spürbar. Die Pietä in S. Maria delle Grazie in Rosciolo aus dem 15. Jh. zeigt eine verzweifelte Mutter, das dürre Gerippe ihres Sohnes, dessen Mund halbgeöffnet ist, auf ihrem Schoße bergend, während in der Pietä in S. Biagio in L'Aquila die Wogen des Leidens geglättet sind, vor allem im liegenden Christus, der weich modelliert mit entspanntem Gesicht wie ein Schlafender von der Mutter gehalten wird. Die Figurengruppe ist als Relief in einer Nische vor einem Vorhang dargestellt. Zwischen diesen Extremen liegt der Ausdruck der übrigen Vesperbilder, wie z.B. die kleine Pietà des 15. Jh. in S. Maria di Propezzano am zweiten Seitenaltar im rechten Seitenschiff zeigt. Wohl ein deutscher Meister fertigte in Castel di Sangro an der Kirche S. Maria Assunta an der Rückwand der rechten Loggia ein heute beschädigtes, farbiges Hochrelief der Pietä. Die Qualität ist nicht allzu hoch. Bemerkenswert jedoch sind drei in gotischen Formen gebildete Arkaden über der Figurengruppe und die Harmonie, mit der sich der Kopf Mariens in den mittleren Dreipaßbogen einfügt. Aus der Pfarrkirche in Rocca di Cambio stammt die hölzerne Pietä im Nationalmuseum in L'Aquila. Die altertümlich wirkende Darstellung des 15. Jh., die an deutsche Vorbilder erinnert, war ursprünglich bemalt. Die Marienklagen hatten in den Abruzzen noch im 16. Jh. ein Nachleben. Eine volkstümliche Pietà aus dieser Zeit in Terrakotta ist in der Kirche S. Nicola in Pretoro zu sehen.
Der deutsche Einfluß ist in den Vesperbildern am deutlichsten fühlbar, aber auch an anderen Werken der Bildhauerei nachzuweisen. Das Nationalmuseum in L'Aquila bewahrt z.B. einen kleinen, 35 cm hohen, kandelabertragenden Engel des 15. Jh. aus dem Konvent S. Maria Valleverde in Celano. Die Gestaltung des vergoldeten Figürchens, dem Hände und Füße fehlen, zeigt den Einfluß deutscher, wahrscheinlich in Neapel tätiger Künstler.
Silvester von L'Aquila und sein Umkreis
In den Abruzzen vollzieht sich der übergang von der Gotik zur Renaissance innerhalb des 15. Jh. in den einzelnen Kunstgattungen zeitlich ganz verschieden. Das Dreigestirn der abruzzesischen Renaissance bilden Nikolaus von Guardiagrele, Andrea Delitio und Silvester von L'Aquila. Der erste war Goldschmied, durch Dokumente und seinen Stil als Schüler Ghibertis gesichert. Das Hauptwerk des Nikolaus, die silberne Altartafel im Dom von Teramo, wurde 1433 begonnen und 1448 zum Abschluß gebracht. Die Tätigkeit des Malers Delitio ist von der Jahrhundertmitte an zu belegen, und sein Hauptwerk, die Fresken im Dom von Atri, ist gegen Ende des Jahrhunderts entstanden. Die ersten Arbeiten des Bildhauers Silvester sind 1476 überliefert. Er starb 1504, und die große Bildhauerschule, die sich aus seiner Werkstatt entwickelte, entfaltete ihre Wirksamkeit am Ende des 15. Jh. und noch intensiver im 16. Jahrhundert.
Silvester führt in der Bildhauerei eigenmächtig und abrupt die Renaissance in L'Aquila ein, sich an Meisterwerken der Toskana bildend. Wie andere Künstler der italienischen Renaissance arbeitet er nicht nur in einer Kunstgattung, sondern er war auch in der Architektur und in der Malerei aktiv. Innerhalb der Bildhauerei, wo er ebenso gute Reliefs wie gute Freiskulpturen schuf, bediente er sich verschiedener Materialien. Er arbeitete in Holz und in Stein, er machte Terrakotten und gab diesem Handwerk durch seine Leistungen außerordentliche Impulse.
Im Gegensatz zu Nikolaus von Guardiagrele und Andrea Delitio ist Silvester der erste abruzzesische Künstler der Renaissance, dessen Leben und Werke wir aus reich überlieferten zeitgenössischen Dokumenten rekonstruieren können. Sein Vater, Giacomo di Paolo, wohnte in Sulmona. Ob Silvester dort geboren wurde, wissen wir nicht. Jedenfalls ist er bereits in jugendlichem Alter als Bürger von L'Aquila eingetragen. Er war verheiratet und blieb kinderlos. In Urkunden wird er zum erstenmal 1471 in einem Mietvertrag genannt, den er abschloß, um in L'Aquila eine Werkstatt einzurichten. Setzt man voraus, daß er zu jener Zeit seine Lehre beendet hatte, dürfte er etwa zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt gewesen und zwischen 1440 und 1450 geboren sein. 1476 schließt er einen bereits an anderer Stelle erwähnten Vertrag, wonach er auf Bestellung des Kaufmanns Paparisco di Tornimparte die heute verschollene Holzstatue des hl. Jacobus Maior und den dazugehörigen mit Malereien versehenen Tabernakel im Dom von L'Aquila auszuführen (S. 367) hatte. Am 17. September 1477 verpflichtet er sich zur Anfertigung eines kunstvollen, nicht mehr erhaltenen Taufbeckens für die Kirche S. Biagio in L'Aquila. Im seiben Jahr arbeitet er das Grabmonument des 1476 gestorbenen Bischofs von L'Aquila, Agnifili. Zahlungen für diese Tätigkeit erhält der Künstler 1477, im März und April 1478, im März 1479 und die letzte im August 1479. Während seiner Arbeit am Agnifiligrab verpflichtet er sich in einem Vertrag, für die Kirche S. Maria dei Soccorso in L'Aquila den hl. Sebastian aus Holz in einem bemalten Tabernakel anzufertigen. Daß sich Silvester auch als Maler zu bewähren hatte, ergibt sich aus einem Dokument von 1481, in dem gesagt wird, daß er Gemälde für die Kapelle der Lombarden im Dom von L'Aquila auszuführen habe. Bei unserem Meister bestellt Maria Camponeschi 1488 für sich und ihre jung verstorbene Tochter ein gemeinsames Grabmal in der Franziskanerkirche S. Bernardino in L'Aquila. Die Arbeiten daran waren 1490 noch nicht beendet. In einem Vertrag vom 9. September 1489 verspricht Silvester, eine Madonna aus Holz für die Kirche in Ancarano zu liefern. 1494 bestellte Vannuccia deli i Vegna della Genga bei Silvester für 60 Dukaten eine Maria mit Kind in Terrakotta für die Kirche S. Bernardino in L'Aquila, eine Figur, die nach der Auftraggeberin »Madonna dei Della Genga« genannt wird. Zahlungen dafür erfolgten an Silvester in den Jahren 1494, 1495 und 1500. Immer wieder wurde Silvester mit Arbeiten für S. Bernardino in L'Aquila betraut. Auftraggeber für das dortige Mausoleum des hl. Bernhardin war der Mäzen Jacopo di Notar Nanni. Ungefähr vier Jahre vor seinem Tod verfaßte er am 9. Juli 1500 sein Testament und erklärte darin, daß Silvester auf Kosten seiner Erben das in Bau befindliche Monument zum Abschluß bringen solle.
Wir haben an dieser Stelle nur die Freiskulptur des Silvester zu besprechen. Trotz reicher dokumentarischer Überlieferung ist von seinen Statuen allein der hl. Sebastian (Tf. 245) von 1478 völlig gesichert. Die farbig gefaßte, 1,78 m hohe Holzskulptur ist ein Frühwerk des Meisters und die bedeutendste abruzzesische Bildhauerarbeit der Renaissance, heute im Nationalmuseum in L'Aquila zu bewundern. Die Inschrift auf dem quadratischen Sockel besagt, daß das Werk 1478 im Auftrag des Domenico dei Caprini aus L'Aquila gefertigt wurde. In wohlausgewogenem Kontrapost steht der jugendliche Heilige vor einem Baumstamm, an den er mit den Händen auf dem Rücken gefesselt ist. Das Gesicht, gerahmt von rötlichen Haarlocken, zeigt einen schmerzvoll geöffneten Mund, während der Blick zuversichtlich nach oben gerichtet ist. Mit vollendeter anatomischer Kenntnis ist der weiche, elfenbeinfarben bemalte Körper gebildet. Wie in den späteren Werken des Meisters ist auch hier die Bindung an florentinische Vorbilder unverkennbar. Am nächsten steht der Sebastian in seiner Gestaltung dem bronzenen David des Verrocchio im Bargello in Florenz. Auch die Behandlung des üppigen Haares ist bis in Einzelheiten von dieser Figur entlehnt. Die Ausstrahlung des Bildhauers Silvester blieb nicht allein auf die Stadt L'Aquila beschränkt. Im adriatischen Küstengebiet setzte man sich bereits früh mit den Leistungen dieser aquilanischen Werkstatt auseinander. In der Kunstgeschichte spricht man so häufig von Einflüssen, ohne sich recht klar zu machen, wie derartige Phänomene in der Praxis entstehen. Im vorliegenden Falle sind wir in der seltenen Lage, die Kräfte aufzuspüren, von denen die Wirkung ausging.
Im September 1489 erhielt die Silvesterwerkstatt aus zwei kleinen benachbarten Orten in der Provinz Teramo, aus Civitella del Tronto und aus Ancarano, Bestellungen für die Anfertigung einer Madonna. Die Verträge sind erhalten. Für den Konvent S. Maria dei Lumi bei Civitella forderte man eine Madonna aus Holz bei dem Bildschnitzer Giovanni di Biasuccio an. Aus dem Mietvertrag des Silvester von 1471 wissen wir, daß dieser Meister bereits damals zu seiner Werkstatt gehörte. Der Auftrag an Giovanni läßt folgern, daß er kein Geselle sondern Sozius des Silvester war, was ihm erlaubte, selbständig Verträge abzuschließen. Er stammte aus Fonteavignone, einem Weiler bei Rocca di Mezzo. Sein Vater war um 1461 gestorben, und Giovanni gründete seinen Hausstand in L'Aquila. Giovannis Madonna mit Kind zeigt bereits alle Merkmale der zahllosen Marienbilder, die sich auf die Werkstatt des Silvester zurückführen lassen. Gemeinsam ist allen die Pathetik, mit der die Mutter ihr Kind anbetet, ein Motiv, das in der Malerei der Toskana und vor allem im Venezianischen verbreitet war. Maria hat ihre Hände unter dem Kinn im Gebetsgestus zusammengelegt. Das Gesicht der Madonna ist stets von ausgesuchter Schönheit, edel und etwas hochmütig, und häufig zeigt es ein raffiniert süffisantes Lächeln, gleichsam als Vorgriff auf eine rokokohafte Ausdrucksform. Die Sitzhaltung des Madonnentyps ist auffallend breitbeinig, und die charakteristischen Schoßfalten sind immer in der Form eines M gebildet. Die Drapierung besteht in allen Fällen aus einem weiten Mantel, der sich wie eine Kapuze über das Haupt legt. Das Christuskind nimmt durchweg eine liegende Stellung ein.
Der Nachbarort Ancarano ließ mit einer Bestellung in derselben Werkstatt nicht lange auf sich warten. Man wandte sich dieses Mal an Silvester selbst. Der Vertrag, der am 9. September 1489 in L'Aquila in der Werkstatt abgeschlossen wurde, ist hochinteressant. Die Auftraggeber erbaten eine Madonna aus Holz mit dem Kind auf dem Schoß. Die Darstellung sollte dem Marienbild des Biasuccio für die Kirche S. Maria dei Lumi gleichen: »Quae ymago sit et esse debeat ad similitudinem et forman cuiusdam ymaginis, facte per magistrum Johannem Blasutii in castro Civitelle, sub vocabulo gloriose Marie Luminis.« Weiterhin fügte man im Vertrag jedoch hinzu, daß die Maria für Ancarano schöner ausfallen solle als die Madonna von Civitella, so schön, wie es eben den Fähigkeiten des Silvester entspreche. Diese Forderung ist für einen kleinen Ort wie Ancarano erstaunlich, wird aber ebenfalls im Vertrag begründet. Die Kunstsachverständigen sollten nämlich sofort erkennen, daß die Madonna in Ancarano in der Gestaltung schöner und reicher sei und aufwendiger im Schmuck als die in Civitella: »Et plus, quod ab hominibus expertis ac peritis in arte iudicetur (S. 368) ac videatur essere pulchriorem ac ditiorem in opere et sumptu ac ornamentis.« Für das Werk waren die Besteller bereit, 50 Dukaten zu zahlen. Auf Grund dieser Notariatsakten ist man natürlich begierig, einen Vergleich zwischen den beiden Madonnen anzustellen, von dem man erwartet, daß er selbstverständlich zugunsten des Silvester ausfällt. Indessen werden wir bitter enttäuscht. Entweder wurde die Maria von Ancarano, heute in der dortigen neuen Pfarrkirche, grausam restauriert, oder aber wir haben eine schlechte Kopie nach dem Original vor Augen. Das Jesuskind ist verschollen, und lediglich einige formale Züge der Madonna erinnern an die Silvesterwerkstatt, wie die anbetenden Hände, die M-Form der Schoßfalten und der den Kopf bedeckende Mantel.
Der Einfluß der Werkstatt des Silvester auf den adriatisehen Raum läßt sich weiterverfolgen. Zwar fehlen die dokumentarischen Belege, aber die Madonna aus Holz am Hauptaltar von S. Maria delle Grazie in Teramo gehört zu den schönsten und reifsten Marien, die dem Silvester auf Grund seines gesicherten CEuvres zugeschrieben werden können, worauf mit Recht Enzo Carli hingewiesen hat. Man vergleiche etwa die Madonna in der Lünette des Portals von S. Marciano in L'Aquila oder für die Gewandbildung den Johannes d.T. am Mausoleum des hl. Bernhardin. Aber es gibt noch einen indirekten Beweis für die Bestimmung der Madonna in Teramo als ein Werk des Silvester. Dafür muß weiter ausgeholt werden. Aus Citta S. Angelo im adriatisehen Küstenstreifen stammt der Bildhauer Giovan Francesco Gagliardelli. Er nahm seinen Wohnsitz im nahen Chieti. Bereits dort muß er Kontakte zur Werkstatt des Silvester aufgenommen haben, zu belegen an der hoheitsvollen Madonna mit Kind aus Holz in der Kirche S. Maria Mater Domini in Chieti (Tf. 246), mit den bekannten Merkmalen der aquilanischen Werkstatt, dem Gebetsgestus und der M-Form der Schoßfalten. Zwischen 1524 und 1526 arbeitet Gagliardelli in den südlichen Marken in Ripatransone. Dort verpflichtet er sich 1524 für den Konvent von S. Maria, eine Madonna aus Terrakotta auszuführen. Im Vertrag heißt es, daß er sie nach dem Modell der Madonnen in Teramo und Civitella anzufertigen habe: »Quem vero [imaginem) ... promisit et se obligavit form are ... ad similitudinem illius, que est Therami ... que est Civitelle.« Die Statue in Civitella stammt laut dem früher zitierten Dokument von Silvesters Sozius, Giovanni di Biasuccio. Die Erwähnung der Figuren von Civitella und Teramo im selben Zusammenhang kann nur bedeuten, daß die Madonna von Teramo ebenfalls der Werkstatt des Silvester entstammt. Es ist aufschlußreich und zeigt das erstaunlich konservative Verhalten, daß man 1524 als Modell ein Werk wählte, das 35 Jahre früher entstanden war. Dieses Faktum entspricht durchaus anderen Überlegungen, daß nämlich die Silvesterwerkstatt, wie wir sehen werden, noch lange Zeit im 16. Jh. wirksam war. Die Madonna des Gagliardelli wurde beschädigt und aus ihren Bruchstücken wieder zusammengesetzt; sie ist im Museum von Ripatransone zu sehen.
In S. Domenico in Teramo existiert eine sitzende Madonna mit Kind aus Terrakotta, die der Silvestetwerkstatt zuzuschreiben ist. In Campli befindet sich an der Fassade von S. Maria in Platea am Portal in einer Nische eine Madonna mit Kind aus Stein, die der Werkstatt des Silvester nahe steht. In diesen Kreis einzubeziehen ist auch die Maria mit Kind aus Terrakotta in der Kirche S. Giovanni in Castelnuovo, einem Stadtteil von Campli.
Nach dem Ausflug in das adriatische Küstenland kehren wir nach L'Aquila zurück. Silvester erhielt seit 1494 Zahlungen zur Anfertigung einer Terrakottamadonna mit Kind für die Kirche S. Bernardino. Diese ist die bereits erwähnte »Madonna dei Della Genga«, die man mit der 1,50 m hohen Marienfigur in der dritten Kapelle des rechten Seitenschiffs von S. Bernardino identifiziert hat. Die Gruppe ist schlecht erhalten, der Madonna fehlt der linke Arm und dem Kinde der rechte. Ob sie mit der urkundlich gesicherten Madonna identisch ist, scheint manchen Forschern zweifelhaft. Jedenfalls stammt sie aus der Silvesterwerkstatt und steht der Terrakottamadonna in S. Maria di Collemaggio (Tf. 251) nahe.
Die Forschung hat sich mit dem Studium der Madonnen Silvesters schwer getan. Trotz reicher dokumentarischer Überlieferung gibt es keine Marienstatue, die unserem Meister einstimmig zugeschrieben wird. Die Schwierigkeiten liegen darin begründet, daß Silvester im Grunde genommen nicht sehr eigenständig in seinem Schaffen war und in seinen Werken geschickt toskanische und venezianische Vorbilder verarbeitete, so daß er es kaum zu einem persönlichen Stil brachte. Die andere Erschwernis für das Erkennen seines eigenhändigen CEuvres ist die Tatsache, daß er eine große Werkstatt unterhielt, und zwar die größte, die die Abruzzen bis dazumal kennen gelernt hatten. Wenn der Meister Verträge mit Ancarano oder der Familie della Genga abschließt, besagt das eben nicht, daß er die Werke dann auch selbst ausführte. Entsprechend dem früheren Werkstattbetrieb und entsprechend dem sehr viel weiter gefaßten Begriff der Originalität als wir ihn heute gebrauchen, bürgt der Künstler bei der Unterzeichnung eines Vertrages für die Herstellung eines Werkes nach einem von ihm erarbeiteten Prototyp; es bedeutet aber nicht unbedingt, daß er auch selbst Hand anlegt an die Ausführung des Werkes. Daraus erklärt sich, daß manche urkundlich gesicherten Arbeiten des Silvester in der Qualität zu wünschen übriglassen.
Silvester starb 1504. Seine Schwester hatte den Marco di Stroncone (gest. 1497) geheiratet. Dieser Ehe entstammte der um 1483 geborene Angelo di Marco di Stroncone. Silvester nahm seinen Neffen in seine Werkstatt auf. Unter Angelo wurde die Tradition des Onkels weitergeführt, und er beschäftigte auch dessen ehemaligen Gehilfen Giovanni di Gabriele da Corno sowie den Steinmetz Salvato, der dem Silvester an der Ausführung des Mausoleums in S. Bernardino ein treuer Helfer war. Die Herstellung von Madonnen in Holz und Terrakotta wurde nach den von Silvester entwickelten Modellen weitergeführt. Hauptabnehmer waren die Kirchen in der Provinz L'Aquila.
Von den zahlreichen erhaltenen Holzmadonnen läßt sich am leichtesten die Maria mit Kind im Nationalmuseum in (S. 369) L'Aquila aus der dortigen Kirche S. Margherita (Tf. 247) in den engeren Silvesterkreis einordnen. Wenn auch der Faltenwurf etwas vereinfacht und vergröbert erscheint, steht die ein Meter hohe Maria der Madonna in S. Mafia delle Grazie in Teramo doch sehr nah. Etwa gleichzeitig mit der Maria aus S. Margherita dürfte die ebenfalls ein Meter hohe, prachtvolle Madonnenstatue mit Kind in der Kirche S. Pietro in Onna entstanden sein. Beiden Figurengruppen ist das dickbäuchig gebildete Kind gemeinsam sowie die schweren Augenlider der Maria, ein für die Silvesterwerkstatt charakteristisches Detail. In diesen Umkreis gehört auch die Madonna mit Kind in der Kirche S. Maria in Platea in Campli. Sie befindet sich in der Mitte des 1532 datierten Altaraufsatzes, der laut Inschrift von Sebastiano da Corno ausgeführt wurde. Die Madonnenstatue entstand jedoch früher, etwa im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts.
Der in der Silvesterwerkstatt ausgearbeitete Madonnentyp lebte noch lange Zeit im 16. Jh. weiter. Allerdings fehlt bei diesen Werken die Frische und die Meisterhand der Bildhauer der früheren Generation. Dieser zweiten Gruppe sind z.B. die Holzmadonnen in den Kirchen S. Pietro in Pagliare und in S. Michele in Beffi zuzurechnen. Eine Ausnahme von den üblichen Sitzmadonnen bildet die kaum beachtete stehende, 1,38 m hohe Marienfigur mit dem Kind im Nationalmuseum in L'Aquila, die im Gesichtsausdruck und im Faltenwurf an die Silvesterwerkstatt erinnert.
Ein großer Erfolg war Silvesters Holzfigur des hl. Sebastian von 1478 beschieden. Sie diente oft als Vorbild. In der künstlerischen Nachfolge des Meisters stand der Maler und Bildhauer Saturnino di Giovanni del Gatto. Um 1463 im nahen S. Vittorino geboren, siedelte er nach L'Aquila über und richtete dort seine Werkstatt ein. Ludovico Antinori kannte im 18. Jh. heute verschollene Urkunden, in denen Saturnino verpflichtet wurde, für die Kirche in Navelli eine Madonna nach dem Modell der Marienstatuen in S. Maria di Collemaggio und in S. Bernardino abzuliefern. 1517 erhielt Saturnino den Auftrag, einen Sebastian für die heute zerstörte Kirche S. Benedetto in L'Aquila zu fertigen. Als Vorbild sollte Silvesters Sebastian von 1478 dienen. Die Holzfigur des Heiligen aus S. Benedetto, heute im Besitz des Nationalmuseums in L'Aquila, sah man lange Zeit als ein Werk des Saturnino an, bis Mario Chini Dokumente bekannt gemacht hat, aus denen hervorgeht, daß der Meister nicht Autor dieser Holzstatue gewesen sein kann, denn 1521 mußte der Sohn und Erbe des 1518 verstorbenen Saturnino das Geld zurückerstatten, das der Vater als Anzahlung von der Bruderschaft des hl. Sebastian mit Sitz in der Kirche S. Benedetto erhalten hatte. Die Sebastianstatue aus S. Benedetto wurde im 18. Jh. so weitgehend restauriert, daß berufene Forscher sie für ein Erzeugnis dieser späteren Epoche hielten. 1967 unterzog man die Skulptur einer eingehenden Untersuchung. Man entfernte das Lendentuch des 18. Jh., und darunter erschien der eng anliegende Schurz, der für Silvesters Sebastian so charakteristisch ist. Auch wurde die ursprüngliche weiche Modellierung des Körpers wieder freigelegt. Der dem Silvesterkreis nahestehende Holzschnitzer hat bei seiner Figur die Körperhaltung des Modells spiegelbildlich abgewandelt.
Über das bildhauerische OEuvre des Saturnino lassen sich kaum bestimmte Aussagen machen, zumal nach dem Zweiten Weltkrieg zwei 1512 datierte Terrakottastatuen des Meisters aus der Kirche S. Maria dei Ponte bei Beffi verschwunden sind, ein 1,20 m hoher hl. Antonius Abbas und eine 1,05 m hohe, stilistisch von der Silvesterwerkstatt abhängige Madonna. Alte Photographien zeigen diese Figuren in einer rundbogigen Altarnische der Renaissance; in der Mitte befindet sich Maria, zu ihrer Linken steht Antonius, und zu ihrer Rechten erscheint die 1,30 m hohe Holzstatue des Sebastian, eine linkische Wiederholung des Sebastian des Silvester aus dem 16. Jahrhundert. Aus der Kirche S. Biagio (heute S. Giuseppe) in L'Aquila stammt die Holzstatue eines Sebastian, der am Ende des 15. oder am Anfang des 16. Jh. entstand. Mit Ausnahme der Haltung der Arme, die erhoben und an ein kunstvoll gestaltetes Asrwerk gefesselt sind, geht die Gestalt auf den Prototyp Silvesters zurück.
Am Ende des Quattrocento entwickelte sich in den Abruzzen neben der Holzschnitzerei die Terrakottatechnik. Die Verwendung beider Materialien läuft im folgenden Jahrhundert parallel. Bereits Silvester und seine engere Werkstatt schufen Arbeiten in Terrakotta. Wir hörten, daß der Meister seit 1494 Zahlungen für die in Terrakotta auszuführende »Madonna dei Della Genga« in S. Bernardino erhielt, und kurz nach der Jahrhundertwende entstand in seiner Werkstatt die Madonnenfigur in Ton für S. Maria di Collemaggio. Gagliardelli, dessen enge Bindungen an Silvesters Atelier bekannt sind, führte seine Werke zunächst in Holz aus, während seine 1524 datierte Maria in Ripatransone aus Terrakotta ist.
Trotz der Zerbrechlichkeit des Materials haben viele Erzeugnisse des 16. Jh., die auf Vorbilder von Silvester zurückgehen, die Zeiten überdauert. Im Gegensatz zur Holzskulptur sind die von seiner Werkstatt abhängigen Terrakotten thematisch beschränkt und zeigen allein die Madonna mit Kind, wobei die Maria stets die charakteristische Gebetshaltung der Hände aufweist. Nur selten geht man von diesem Andachtsgestus ab, wie bei der wunderbaren, etwas nervös gearbeiteten Maria aus Civitaquana (Tf. 249), heute im Nationalmuseum in L'Aquila, die, ähnlich wie die Madonna aus S. Maria del Colle in Pescocostanzo, das sitzende Kind auf ihrem linken Knie trägt, oder wie bei der Madonna von S. Maria della Tomba in Sulmona, die den stehenden Knaben mit ihren Armen umfängt.
Sei es, um der Gefahr des Zerspringens beim Brennen des Tons vorzubeugen, sei es aus Gründen der Ersparnis erreichten die Terrakottastatuen keine ansehnlichen Höhenrnasse. Immerhin hatte die meistens als Vorbild dienende Marienstatue in S. Bernardino in L'Aquila, abgesehen von dem 27 cm hohen Sockel, eine Höhe von 1,50 m. Die größte figur, die mir unter den Nachbildungen bekannt ist, dürfte die Maria aus S. Michele in Beffi sein mit einer Höhe von 1,20 m. Zwei Zentimeter kleiner ist die erwähnte Madonna aus Civitaquana, 1,15 m hoch ist die Maria in der Kirche (S. 370) S. Maria di Loreto in Roccapretura bei Acciano, 1,10 m die Madonna aus S. Maria della Tomba in Sulmona, 1,05 m die Madonna aus S. Maria del Ponte bei Fontecchio und die heute im Nationalmuseum in L'Aquila verwahrte Maria aus Civitaretenga. Die Höhe von einem Meter besitzen die Madonnen in der Pfarrkirche von Capestrano, in S. Felice in Poggio Picenze und in S. Giovanni Evangelista in Casentino bei S. Demetrio dei Vestini. Eine Höhe von 0,97 m erreichte die Marienfigur aus der Kirche S. Giovanni Battista in Lucoli Alto, 0,95 m die Madonna in S. Maria del Colle in Pescocostanzo, 0,91 m die Marienstatue aus Spoltore im Nationalmuseum in L'Aquila, 0,80 m die Madonna in S. Francesco in Calascio, und die kleinste Figur von 0,66 m gelangte aus dem Museo d' Arte Sacra in das Nationalmuseum in L'Aquila. Aus der Nachfolge der Silvesterwerkstatt sind noch zwei weitere Terrakottamadonnen nennenswert, die eine in S. Maria delle Grazie in Castel del Monte, die andere in S. Sebastiano in Ovindoli.
Außerhalb der Werkstatt des Silvester entstandene Terrakotten
Im 16. Jh. hatte die Herstellung von Terrakottafiguren ihren Höhepunkt. Neben der aquilanischen Silvesterwerkstatt gab es über das ganze Land verstreut Ateliers, die den Bedarf deckten. Dabei stand die Nachfrage nach Madonnenbildern nicht mehr an erster Stelle, sondern der Andachtskult erstreckte sich weitgehend auf die Verehrung von Heiligen.
Nur in seltenen Fällen gab man sich nicht mit den heimischen Erzeugnissen zufrieden. Man wußte, daß in der Toskana die Terrakottaplastik in höchster Blüte stand, und so bestellte man gelegentlich direkt in florentinischen Werkstätten. In das Dommuseum von Atri gelangte eine 0,49 m hohe Madonna, in weißem Relief auf blauem Grund, die mit Recht dem Luca della Robbia zugeschrieben wird. In der Kirche S. Bernardino in L'Aquila ist in der zweiten rechten Kapelle eine berühmte Altartafel aus der Werkstatt des Andrea della Robbia aufgestellt, die von den Besitzern einer Privatkapelle in S. Bernardino, der Familie Oliva-Vetusti, in Florenz in Auftrag gegeben worden war. Die ursprüngliche Rahmung ist nicht mehr erhalten, und der heutige Standort ist nicht der alte. Die Darstellung vereinigt zwei Szenen, wiederum bestehend aus weißen Figuren vor blauem Grund; unten erscheint die Auferstehung Christi und darüber die Marienkrönung. Beide Szenen werden an den Seiten von Zweiergruppen von Engeln begleitet, die beiden oberen Paare auf langen Tuben jubilierend, während die beiden unteren anbetend der Auferstehung zuschauen. Christus steht mit erhobener Siegesfahne auf dem Deckel des Sarkophags, unten liegen die schlaftrunkenen Wächter. Zu beiden Seiten des Sarges stehen zwei heilige Geschwisterpaare, links Benedikt und Scholastika, rechts Franz von Assisi und Chiara. Auf der Predella des Altares zeigen vier Reliefs in kassettenförmiger Rahmung von links nach rechts die Verkündigung, die Geburt Christi, die Anbetung der Könige und die Beschneidung.
Etwa zu der Zeit, als Silvester seinem 1494 erhaltenen Auftrag für die Madonna in Terrakotta für S. Bernardino in L'Aquila nachkam, entstand unabhängig von seiner Werkstatt die großartige Terrakottafigur des Ovid in Sulmona (Tf. 243, 244). Die aus zwei Teilen zusammengesetzte, überlebensgroße Gestalt steht heute vor dem Eingang zum Museo Civico und zierte einstmals die Front des um 1490 entstandenen, heute zerstörten Magistratsgebäudes. Damit wäre die Entstehung des bereits in anderem Zusammenhang besprochenen Denkmals im letzten Jahrzehnt des 15. Jh. anzusetzen. Ebenso wie Silvester seine Vorbilder aus Florenz bezog, hatte auch der abruzzesische Meister des Ovid seine Augen auf die Toskana gerichtet, wobei ihm aber auch die einheimische Tradition von Oviddarstellungen auf Siegeln nicht fremd war. Die Gestalt ist würdig. Der Blick des edelgeformten Gesichts geht seherisch in die Ferne, während der Dichter mit den kräftig gebildeten Händen ein Buch umschließt und es dem Beschauer ähnlich wie eine Schrifttafel entgegenhält. Die realistische Behandlung der Figur ist unaufdringlich und kunstvoll durchgeführt. Das Haupt des Ovid ist mit einem Lorbeerkranz bekrönt, und sein Haar reicht bis auf die Schultern herab. Das Gewand fällt in langen vertikalen Faltenzügen, die sich nur über den Füßen brechen, zu Boden. Mit äußerster Akribie ist das Schultertuch dargestellt. Der überwurf wird am Hals von einer Schließe zusammengehalten, und die Schulterpartie ziert auf beiden Seiten eine große Brosche. Während die Werke des Silvester nachgeahmt wurden, blieb die Ovidstatue eine außergewöhnliche Einzelleistung ohne Nachfolge.
Die Herstellung von Terrakottastatuen erreichte mit Ausnahme der Werke des Silvesterkreises und des Oviddenkmals keine besondere Qualität, am wenigsten in der Gestaltung von Madonnen. Diese haben sich oft in meist unbedeutenden Dorfkirchen erhalten, und zwar zahlreicher in der Provinz L'Aquila als im adriatischen Küstenstreifen. Aus der Vielzahl seien die Marienfiguren aus der Kirche S. Egidio in Civitaretenga, aus S. Andrea in Stiffe und aus S. Rocco in Ripa Fagnano, einem Ortsteil von Fagnano Alto, genannt. Hier erinnert die nur 43 cm hohe Figurengruppe an Vesperbilder des 15. Jahrhunderts. Weitere Madonnen begegnen in der Kirche S. Maria delle Grazie in Sante Marie bei Tagliacozzo, in der Pfarrkirche Santa Iona, einem Ortsteil von Ovindoli, in S. Antonio in Cerchio und im Museo Civico in Sulmona, wo die aus der Pfarrkirche von Pacentro stammende Maria nur fragmentarisch erhalten ist. Im Küstengebiet an der Adria erlangte die wunderwirkende Madonna aus der Pfarrkirche in Nereto einige Berühmtheit. Aus der Dutzendware hebt sich die Madonna del Soccorso in der Pfarrkirche S. Salvatore in Morro d'Oro hervor. Die Maria ist polychrom, das Kind ist eine spätere Ergänzung in Holz.
Größere Sorgfalt verwandte man auf die Herstellung von Heiligenfiguren. In der Kirche S. Andrea in Stiffe zeigt man den Titelheiligen und die hl. Katharina. In der Konventskirche S. Giovanni da Capestrano in Capestrano sieht man in der zweiten rechten Kapelle die lebensgroße und gut erhaltene Figur des Türkensiegers. Die in der ersten Hälfte des 16. Jh. gearbeitete Statue trägt in ihrer rechten Hand die (S. 371) Siegesfahne und hält in ihrer Linken ein Buch. Um das Brennen der Figur zu erleichtern, setzte man den hl. Jacobus in S. Lucia Nuova in Rocca di Cambio, ebenso wie den Ovid in Sulmona, aus zwei Teilen zusammen. Die Trennungslinie der 1,40 m hohen Plastik verläuft über den Knien. In der Kirche S. Antonio in Cerchio sieht man, außer der erwähnten Madonna, noch zwei aus ein und derselben Werkstatt hervorgegangene Heilige, den Antonius und den Bartholomäus, beide 1,49 m hoch. Einen anderen lebensgroßen Bartholomäus verwahrt die Kirche S. Maria delle Grazie in Villavallelonga. In die erste Hälfte des 16. Jh. dürfte die 1,50 m hohe Statue der hl. Victoria in der Pfarrkirche S. Vittoria in Carsoli zu datieren sein. Zu den bekanntesten Heiligenfiguren aus Terrakotta gehören der 1,90 m hohe Franz von Assisi und der 1,86 m hohe Bernhardin links und rechts neben dem Hauptaltar von S. Bernardino in L'Aquila. Mit Unrecht hat die ältere Forschung die beiden Heiligen dem Silvester von L'Aquila zugeschrieben. Auf Grund ihres Stils können sie nicht vor 1550 entstanden sein.
Erwähnenswerte Werke längs der adriatischen Küste sind weniger häufig. In S. Domenico in Teramo finden wir das seltene Beispiel einer Gruppe in Terrakotta. Unter einer Renaissanceädikula sieht man die Jungfrau Maria mit ihren Eltern Anna und Joachim, ein Werk des 16. Jahrhunderts. Die Kirche S. Nicolo di Bari in Atri verwahrt in der halbrunden Apsis unter der Altarmensa die Tonstatue des Titelheiligen aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts. Gute Beispiele finden sich in Atessa. In der Pfarrkirche S. Leudo steht die schöne Statue des Titelheiligen auf einem gotischen Kapitell, und in der Kirche S. Pasquale sieht man die hll. Pasquale und Franz von Assisi; alle Werke stammen aus dem 16. Jh.
Neben der normalen abruzzesischen Kunstübung, in Terrakotta nur Einzelfiguren vorzuführen, kommen im 16. Jh. szenische Kompositionen auf, die Geschehnisse aus der Bibel zeigen, wie die Beweinung Christi oder die Geburt des Jesusknaben. Werke, die letzteres Thema zeigen, werden nachfolgend in einem eigenen Kapitel der Weihnachtskrippen besprochen. Die Ikonographie dieser beiden Szenen dringt von Neapel in unser Bergland ein. Im Santuario di S. Venanzio bei Raiano und in der Kirche Madonna della Pieta in Pratola Peligna befinden sich zwei Darstellungen der Beweinung. Die qualitätvollere Arbeit ist das früher entstandene Werk in S. Venanzio. Die Komposition ist, ähnlich wie ein Grab in frühchristlichen Katakomben, an erhöhter Stelle. in die Wand eingelassen und in der Art eines Arcosoliums von einem Bogen überwölbt. Auf der Rückwand der Nische ist in Freskotechnik die Kreuzabnahme gemalt. Nicht ganz in Lebensgröße erscheint davor eine Schar von sechzehn Trauernden, die im einzelnen noch genauer zu deuten wären. Alle Personen sitzen, knien oder liegen. Bei der Zerbrechlichkeit des Materials vermied man hohe Standfiguren. Den größten Teil des Vordergrundes nimmt der Leichnam Christi ein, der auf einem Leintuch liegt, wobei das zur Seite geneigte Haupt auf einem Kissen ruht. Zu Kopf und zu Füßen Christi knien zwei Engel. Hinter dem Toten erscheinen Maria und fünf sie umringende Frauen als Hauptfiguren der Szene. Zu beiden Seiten treten Nikodemus und Joseph von Arimathia auf, die dem Heiland in der Todesstunde beistanden. Stilistisch hat diese Figurengruppe keine Beziehungen zu anderen abruzzesischen Terrakotten. Ein eigentümlicher Realismus der sich gleichenden Gebärden und Gewänder der Frauen ist charakteristisch für ihre Gestaltung. Der stereotyp gefaltete, auch den Kopf bedeckende Mantel wird durchweg über der Brust von einer Brosche zusammengehalten, und die Frauen mit den tief ins Gesicht herabgezogenen Kopf tüchern schauen etwas dümmlich und verlegen vor sich hin; Formen und Ausdruck sind recht floskelhaft, was den Beschauer nicht zur Mittrauer anregt. Wegen der Pathetik der Figuren hat man an südspanische Einflüsse gedacht. Diese sind vielleicht nicht ganz auszuschließen. Wichtiger jedoch erscheint der Hinweis, daß das Thema der Beweinung in ähnlicher Weise am Ende des 15. Jh. in Neapel behandelt wurde. Seit 1489 war der aus Modena stammende Bildhauer Guido Mazzoni (gest. 1518) in Neapel tätig. 1492 erhielt er vom späteren König Alfons II. (1494 bis 1495) den Auftrag für eine Beweinung Christi. Diese Terrakottagruppe, die acht lebensgroße Figuren umfaßt, unter denen auch Nikodemus und Joseph von Arimathia agieren, ist in Neapel in der Kirche S. Anna dei Lombardi in nicht originaler Aufstellung erhalten. Der in seiner Zeit viel bewunderte Mazzoni pointierte den Realismus seiner Figuren bis zum äußersten. Es wäre übertrieben, aus der Beweinung in S. Venanzio auf eine direkte Einwirkung Mazzonis zu schließen, aber die Beziehung des abruzzesischen Werkes zur neapolitanischen Figurenwelt erscheint überzeugender, als eine direkte Abhängigkeit von Spanien zu postulieren. Die Beweinung in Pratola wiederholt in schwächerer Ausführung die Komposition und die Formen der Gruppe von S. Venanzio, die Art des Arcosoliumgrabes, den liegenden ausgemergelten Christuskörper, Maria mit den fünf sie umringenden Frauen sowie den Nikodemus und Joseph von Arimathia zu seiten der Gruppe. Neu eingeführt sind in der hintersten Bildebene vier bärtige Gestalten, von denen die beiden mittleren durch eine eigentümliche orientalische Kopfbedeckung hervorgehoben sind.
Weihnachtskrippen
Die Herstellung von Geburtsszenen mit Freifiguren erlebte in den Abruzzen in der ersten Hälfte des 16. Jh. eine kurze Blütezeit. Ähnlich wie bei den vorher besprochenen Darstellungen der Beweinung Christi, die sich sicherlich aus Mysterienspielen ableiten lassen, kam auch die bunte, vielfältige Welt, die die Geburt Christi ausschmückend umgibt, durch den Einfluß Neapels in unser Bergland. In der Metropole kannte man die Weihnachtskrippen bereits seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. 1458 entstand in S. Agostino Maggiore alla Zecca in Neapel eine Geburtsszene mit elf Figuren, von denen noch einige vorhanden sind. 1478 erhielten die beiden deutschen Bildhauer Pietro und Giovanni Alemanno den Auftrag, für S. Giovanni a Carbonara eine Krippe mit Holzfiguren anzufertigen. Andere kunstvoll ausgestattete Darstellungen in Neapel sind in den Jahren 1507 (S. 372) für S. Domenico Maggiore, 1520 für S. Nazario und 1530 für S. Giuseppe dei Falegnami überliefert. Der Einfluß derartiger Werke verbreitete sich von der Hauptstadt aus im ganzen Königreich, in Sizilien und vor allem in Apulien. Bei der Herstellung der frühesten, aus dem Jahr 1494 überlieferten Krippe in Sizilien in S. Maria dell'Annunziata in Termini Imerese verwandte man kostbaren Marmor, während die 1527 in der Pfarrkirche in Pollina (Prov. Palermo) entstandene Geburtsszene aus Stein ist. Auch die meisten apulischen Bildhauer arbeiteten ihre Figuren in Stein. Die abruzzesischen Krippen nehmen in der Technik hingegen eine Sonderstellung ein, indem sie meistens aus dem billigeren Material des gebrannten Tons und gelegentlich aus Holz gefertigt wurden.
Die Figurenausstattung der Geburtsszenen war verschiedenartig. Entweder beschränkte man sich auf die Anbetung des Kindes durch Maria und Joseph, oder aber man brachte ein zahlreiches Aufgebot an Menschen und Tieren, Ochs und Esel sowie anderes Getier; die Hirten, der Zug der Heiligen Drei Könige treten in einer reich ausgeschmückten architektonischen und landschaftlichen Staffage auf. Bei dieser ausschweifend erzählerischen Darstellungsweise entwickelte man den Kunstgriff, das Beiwerk als Hintergrundsmalerei zu geben und davor nur die Hauptakteure als Freifiguren auftreten zu lassen. In den Abruzzen scheinen alle drei Arten der Schilderung bekannt gewesen zu sein. Soweit der zufällig überkommene Bestand ein Urteil zuläßt, beschränkte man sich indessen vornehmlich auf die Hauptfiguren.
Die früheste datierte Weihnachtskrippe in den Abruzzen ist durch eine schriftliche Quelle überliefert. In einem von Maria Chini publizierten Dokument wird berichtet, daß der magister Paulus magistri Iacobi de Monteregali (Montereale, Provo L'Aquila) in L'Aquila im Jahre 1501 für die Anfertigung einer Krippe in S. Francesco in L'Aquila eine Restzahlung erhielt. Die Begleichung bezog sich auf die Erstellung der Krippenfiguren und auf die Malerei »pretii presepii et picturae«. Unter »pictura« kann hier wohl nur der gemalte szenische Hintergrund für die Freifiguren verstanden werden. Diese Plastik und Malerei kombinierende Darstellungsweise läßt sich für die ehemals in S. Maria dei Ponte bei Fontecchio aufgestellte Terrakottagruppe (Tf. 254) rekonstruieren. Sie entstand etwa gleichzeitig oder wenige Jahre vor der Geburtsszene für S. Francesco in L'Aquila. Heute sind nur noch die anbetende Madonna und das Christuskind im Nationalmuseum in L'Aquila erhalten. Der zugehörige Joseph, eine der schönsten Terrakottaarbeiten der abruzzesischen Renaissance, wurde während des Zweiten Weltkrieges derart zerstört, daß an eine Wiederherstellung kaum gedacht werden kann. Die Scherben befinden sich im Depot des Museums. Die heutige Aufstellung der Maria, die dem Beschauer in Frontalansicht präsentiert wird, ist unrichtig. Sie müßte im Profil erscheinen und ihr gegenüber in der gleichen Haltung ]oseph, während der Jesusknabe mit dem Granatapfel in der Hand zwischen Vater und Mutter lag. Auf alten Photographien ist zu erkennen, daß das Kind ursprünglich auf einem flachen Gefäß lag, wie es auch in der um 1520 entstandenen Krippe in S. Nazario in Neapel überliefert ist. In S. Maria del Ponte war die Figurengruppe in einer Nische über dem Altar eingelassen. Die Hintergrundsmalerei mit Ochs und Esel und den in die Herberge von Bethlehem einziehenden Hirten stammt aus der Barockzeit und ersetzt eine ältere Darstellung, von der wir nichts mehr kennen.
Die Tonbrennerei, die den Joseph und die Maria in S. Maria dei Ponte ausführte, scheute sich vor der Schwierigkeit, die Figuren mit den vorgestreckten anbetenden Händen zu brennen und fertigte diese kurzerhand aus Holz. Im übrigen erfuhr die Behandlung des Joseph besondere Sorgfalt, während er im allgemeinen oft im Schatten der anderen Figuren steht. In S. Maria del Ponte ist der bärtige Kopf dieser Gestalt durchgeistigt und gütig, ein Meisterwerk der Modellierkunst, ähnlich wie der Kopf des ]oseph aus Stein in der Krippe von Polignano a Mare in Apulien das künstlerische Glanzstück der 1503 gefertigten Geburtsszene ist. Auch durch das Format erhält Joseph in den Weihnachtskrippen Bedeutung, denn seine Körpergröße übersteigt in vielen Fällen diejenige der Madonna. In S. Maria del Ponte ist die 1,08 m hohe Maria drei Zentimeter kleiner als Joseph. In der Krippe von S. Giovanni in Venere ist das Größenverhältnis noch unterschiedlicher, Maria ist 0,95 mund Joseph 1,14 m hoch. Die von Neapel beeinflußte, um 1480 entstandene Krippe in der Hospitalkirche in Palma auf Mallorca stellt die zarte Maria einem mächtigen überlebensgroßen Joseph gegenüber. Das Größenverhältnis der beiden Figuren beträgt in der Krippe von S. Nazario in Neapel 1,35 m zu 1,45 m und in der von S. Giuseppe dei Falegnami in Neapel 0,86 m zu 0,90 m. Bei der Bestellung der Krippe für Termini Imerese im Jahr 1494 hatte man ausdrücklich festgelegt, daß der Joseph größer zu sein habe als die Maria.
Die Krippe in S. Maria del Ponte bestand aus drei Figuren, eine Anzahl, die auch in Süditalien gängig war; z.B. finden wir sie in der Geburtsszene, die 1494 die Bruderschaft von S. Maria dell'Annunziata in Termini Imerese bestellte, oder in der 1516 von der Bruderschaft in S. Maria del Soccorso in Maddaloni (Prov. Caserta) in Auftrag gegebenen Krippe. Auch die 1527 datierte Geburtsdarstellung in Pollina zeigt eine Dreiergruppe, die wie in S. Maria del Ponte in einer Nische über dem Altar steht.
An der Fertigung früher italienischer Weihnachtskrippen waren namhafte Künstler beteiligt. Erst in späterer Zeit wurden die Darstellungen zu anonymen und volkstümlichen Erzeugnissen. Trotzdem war von Anfang an, insbesondere bei einer vielfigurigen Szene, eine Arbeitsteilung erforderlich. Der Meister entwarf nur die Hauptakteure, alles übrige überließ man den Gehilfen. Einen ähnlichen Tatbestand stellten wir bereits bei den abruzzesischen Holzkruzifixen des 15. und 16. Jh. fest, wo der Kopf des Gekreuzigten die Hand des Meisters verrät, während die Ausführung des Körpers von geringerer Qualität ist.
Die abruzzesischen Krippenfiguren erreichten in der ersten Hälfte des 16. Jh. eine hohe Qualität, mit der sich nur Werke aus dem engeren Kreis um Silvester von L'Aquila (S. 373) messen können. Es ist daher kein Wunder, daß die Krippenkünstler, die in und um L'Aquila ihre Werke hinterließen, in Beziehung zu dieser Bildhauergruppe standen. Es gibt für diese Verbindung zwar keine historischen Belege, aber sie läßt sich stilistisch durch den Vergleich der Madonnen aus beiden Gruppen feststellen. Die Maria der Geburtsszene von S. Maria del Ponte setzt die Kenntnis von Werken des Silvester oder seiner Werkstatt voraus. Wieder erscheint in der Figur in S. Maria del Ponte das hoheitsvolle, ovale Gesicht, dessen Blick teilnahmslos über das Kind hinweggeht. Die Augenlider zeigen die gleiche Schwere wie bei den Madonnen des Silvesterkreises, und die Hände sind im selben Andachtsgestus erhoben. Bei der Maria wie beim Joseph verwandte der Meister höchste Aufmerksamkeit auf die kunstvolle Behandlung der Frisur.
Die Schönheit des Madonnenkopfes von S. Maria del Ponte fand Nachahmungen. Im nahgelegenen Ort S. Stefano di Sessanio befindet sich in der Pfarrkirche S. Stefano eine 1,15 m hohe Marienstatue in Terrakotta aus dem 16. Jahrhundert. Sie verharrt kniend in Anbetung des Kindes und gehörte sehr wahrscheinlich zu einer Krippe. Die Form des Gesichts und der Gestus der Hände verbinden sie mit der Madonna von S. Maria del Ponte. Beiden gemeinsam ist die Nahtstelle in Höhe des Knies, um durch die Zerlegung in zwei Teile das Brennen der Figur zu erleichtern.
Über den Kunsthandel gelangte eine kniende, das Kind anbetende Madonnenstatue aus Holz in das Museum The Cloisters in New York. Die etwa im zweiten Jahrzehnt des 16. Jh. gefertigte Figur gehört sicherlich zu einer Geburtsszene. Stilistisch fügt sie sich in den Umkreis der Marien der Silvesterwerkstatt ein, verwandt mit den Holzmadonnen in S. Maria Mater Domini in Chieti und in Madonna delle Grazie in Teramo sowie mit der Maria im Nationalmuseum in L'Aquila aus der Kirche S. Margherita in L'Aquila.
Außerhalb der Provinz L'Aquila entstandene abruzzesische Krippen lassen keine Beziehungen zur Werkstatt des Silvester erkennen. Aus einer Kirche in der Ortschaft San Buono stammt eine Krippe aus Holz, von der drei Figuren, Maria (Tf. 252), Joseph (Tf. 253) und ein Dudelsackpfeifer (Tf. 250), zur besseren Aufbewahrung zunächst in die Abtei S. Giovanni in Vene re verbracht wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt man eine Sicherstellung im Nationalmuseum in L'Aquila für angezeigt. In den aufwendigen Katalogen des Museums von 1959, 1968 und 1971 wird erklärt, die Figuren kämen aus Atessa, und man datiert sie ein Jahrhundert zu früh in eine Zeit, als die Herstellung von Krippen noch nicht einmal in Neapel begonnen hatte. Weiterhin hielt man wegen der Größe des Joseph, die diejenige der Maria übertrifft, die Zusammengehörigkeit der Figuren für ausgeschlossen und postulierte gleich zwei verschiedene Geburtsszenen für Atessa. Die Figurengruppe entstand etwa zwischen 1530 und 1550 und zeigt noch quattrocenteske toskanische Merkmale in der gotisierenden Madonna und dem sitzenden Joseph, der erschöpft und müde das Gesicht auf seine rechte Hand stützt. Von besonderer Schönheit ist der weich modellierte Sackpfeifer; mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzend, läßt er von seinem Spiel ab und hat seinen Kopf überrascht, aber unerschrocken nach oben gewendet, dem Ereignis zu folgen.
Unbeachtet blieben bisher zwei Hirtenfiguren aus Stein, die sicherlich zu einer Weihnachtskrippe gehörten. Sie sind in Caramanico außen an der Rückwand der Kirche S. Maria Maggiore zu sehen. In einer Reihe von sieben Statuen haben sie ihren Platz in der Nähe des Campanile. Der eine Hirt erscheint motivisch verwandt mit dem Dudelsackpfeifer im Nationalmuseum in L'Aquila. Die Beine der Sitzfigur sind übereinandergeschlagen, auf dem Instrument ist das Fingerspiel der Hände zu sehen, während der Kopf nach oben gerichtet ist, um dem wunderbaren Geschehen zuzuschauen. In der Detailbehandlung unterscheidet sich der Hirt von Caramanico durch seinen derben Realismus jedoch sehr von seinem Gegenstück im Nationalmuseum. Er erscheint tölpelhafter und bäurischer. Die kurzen Hosenbeine bedecken gerade noch die Knie, während die Waden in Wickelgamaschen stecken. Der zweite Hirt von Caramanico mit über der Brust verschränkten Armen kniet und zeigt die gleiche Kopfhaltung wie der andere. Das zurückgeschlagene Manteltuch legt das Untergewand frei, das in der Taille von einem Riemen gehalten wird, an dem ein rechteckiger Gegenstand hängt. Damit gehört der Schäfer zum Typ der Hirten, die Geschenke bringen, zu vergleichen mit denjenigen der um 1520 entstandenen Krippe in S. Nazario in Neapel, wo ein Hirt ein Schaf trägt und ein anderer, an dessen Gürtel ein Brotlaib hängt, ein Milchgefäß in Händen hält.
Letzte Ausläufer der Krippenkunst sind um 1550 in der Kirche in Nocella westlich von Campli zu sehen. Die Tonfiguren bilden den Restbestand einer Geburtsszene, die ursprünglich ihre Aufstellung in der Kirche S. Mariano in Campli gefunden hatte. Die Darstellung ist in volkstümlicher und prosaischer Weise behandelt. Der künstlerisch nicht mehr hervorgehobene Joseph weicht im Aussehen kaum von den Hirten ab, während die Maria mit weit ausgebreiteten Armen eine pathetische Gebärde zeigt.
In künstlerischer Hinsicht waren die Abruzzen in dieser Zeit mehr Import-als Exportgebiet. Jedoch scheint die Fertigkeit in der Herstellung von Krippen über die Grenzen des Landes hinausgedrungen zu sein, da wir Ausstrahlungen nach Latium und in das südliche Umbrien feststellen können. In Leonessa in der Provinz Rieti entstand in der ersten Hälfte des 16. Jh. eine gigantische Geburtsszene aus Ton, die den Vorgang in vier übereinander angeordneten Bildebenen in einer Wandnische über dem Altar in der Kirche S. Francesco zur Schau stellt. Es treten etwa 50 Personen auf. Wieweit das Gesamtwerk eine abruzzische Leistung ist, mag dahingestellt bleiben. Aber unter den Hauptakteuren erscheint die Maria als eine Wiederholung der Madonna aus der Geburtsszene in S. Maria del Ponte und zeigt die gleiche Behandlung des Gewandes und vor allem des Gesichts und eine ebenso kunstvolle Frisur wie dort. Die fehlenden Hände der Maria in Leonessa waren möglicherweise gleichfalls aus Holz gearbeitet wie bei der Madonna in S. Maria del Ponte. Auch zwischen den Josephfiguren beider Krippen bestehen (S. 374) Gemeinsamkeiten. Allerdings erreicht der Künstler von Leonessa nicht die subtile Reife desjenigen von S. Maria del Ponte.
Rudolf Berliner machte Dokumente aus dem Archivio Notarile in Rieti bekannt, worin sich die Künstler Giacomo und Raffaele da Montereale im Jahr 1525 verpflichten, für die Nikolauskapelle in S. Francesco in Rieti Krippenfiguren aus glasiertem Ton zu liefern. Aufschlußreich ist die Herkunft der beiden aus Montereale in der Provinz L'Aquila, dem Ort, aus dem auch der Krippenkünstler Paolo stammt, der 1501 die urkundlich überlieferte Geburtsszene für S. Francesco in L'Aquila zu erstellen hatte. Laut Vertrag mußte die Krippe in Rieti nach dem Modell der Geburtsszene in Leonessa gearbeitet werden. Sollte damit das dort erhaltene Werk gemeint sein, so hätten wir für Leonessa einen terminus ante quem, vor 1525.
Die in der Krippe von Leonessa nachgeahmte Madonna aus S. Maria del Ponte hatte später noch ein Nachleben in der Marienfigur aus Terrakotta, die zur Krippe von S. Antonio in Calvi dell'Umbria gehört. Auch in diesem Werk, das etwa zwischen 1530 und 1540 anzusetzen ist, sind die Gesichter des Heiligen Paares durch besondere Qualität hervorgehoben. Sie erscheinen als getreues Abbild der entsprechenden Figuren in S. Maria del Ponte.
Steinskulpturen
Im Gegensatz zu Holz-und Tonstatuen hat sich die Freiskulptur in Stein nur schwer durchsetzen können. Der Versuch, sich in diesem Material auszudrücken, wurde in vielen Teilen des Landes gar nicht unternommen. Zentren der Bearbeitung bilden sich in L'Aquila und Sulmona und in nächster Nähe dieser Städte. Ein lokaler Stil, worin abruzzesische Eigenheiten zum Ausdruck kommen, ist nicht entstanden. Mittelalterlichen Gewohnheiten folgend, werden Architrave und Portallünetten bis zur Barockzeit mit figürlichen Darstellungen ausgestattet. Zum großen Teil wurde dieser Bereich der bildhauerischen Tätigkeit bereits im Kapitel über den Portalbau behandelt.
Im 15. Jh. intensivierte sich das Bemühen, dem Beschauer, bevor er den Kirchenraum betrat, die Heerschar der Heiligen vor Augen zu führen. Es entwickelte sich die freistehende Figur an der Fassade. Gotische Gebräuche tradierend, stellte man Statuen aus Stein in Nischen oder Ädikulen auf. In diesem Zusammenhang sind die Nischenfiguren am Hauptportal von S. Maria di Collemaggio in L'Aquila zu nennen. Man hat sie stilistisch nie genauer untersucht. Verwitterung und mutwillige Zerstörung machen heute ein gründliches Studium unmöglich. Bei meiner letzten Zählung existierten von den ehemals 28 Freifiguren nur noch vier, 1965 zählte man fünf, und Luigi Serra, ein gründlicher Kunstkenner der Stadt L'Aquila, verzeichnete 1929 noch sechs Statuen, die er z.T. identifizieren konnte; er nennt die hll. Katharina, Maria Ägyptiaca, Petrus und Paulus sowie einen jugendlichen Heiligen und eine Heilige. In die Reihe dieser Figuren gehört noch eine 0,75 m hohe Maria Magdalena, heute im Depot des Nationalmuseums in L'Aquila. Alle Skulpturen dürften im Zusammenhang mit dem Portalbau um 1430 entstanden sein.
Ungefähr siebzig Jahre später, um 1500, war aufs neue eine Gruppe von Bildhauern an der Fassade der Collemaggio tätig. Zu seiten der Archivolten der drei Portale sieht man insgesamt sechs Konsolen, die freistehenden Figuren ohne Ädikula als Standfläche dienten. Wahrscheinlich lassen sich noch drei der Statuen feststellen, die hier ihren Platz hatten. Sie zeigen eine generelle stilistische Verwandtschaft, ohne daß man jedoch eine gemeinsame Künstlerhand postulieren kann. Alle drei Figuren sind aus dem selben graufarbigen Stein gearbeitet, und jede zeigt eine auf der Vorderseite gerundete Basis, die zusammen mit dem Standbild aus ein und demselben Block gehauen ist. Auf einer der Konsolen neben dem linken Seitenportal stand die Statue eines Mönches, den man mit Recht oder Unrecht als den hl. Benedikt bezeichnet hat, und der sich heute im Nationalmuseum in L'Aquila befindet. Sein volles rundes Gesicht ist realistisch gearbeitet, die Kutte zeigt lange vertikale Faltenzüge, die sich über den Füßen brechen. Mehr Aufmerksamkeit verdient die prachtvolle sitzende Maria (Tf. 248), die wahrscheinlich ebenso wie der noch zu nennende Papst Coelestin auf einer Konsole zu seiten des Hauptportals ihren Platz hatte. Die 0,94 m hohe Madonna zeigt gewisse Merkmale, die wir von Figuren der Silvesterwerkstatt kennen, wie die M-Form der Schoßfalten und vor allem das ovale Gesicht. Die hochgezogenen Augenbrauen bilden eine Verlängerung der Nasenkonmr, und die schweren Augenlider erwecken den Eindruck blasierter Müdigkeit. Die Haltung ist vornehm, ja nahezu mondän. Charakteristisch ist der am Oberkörper weitgebauschte Mantel, der das Kind umhüllt. Der Meister versucht in unaufdringlicher Weise eine realistische Gestalmng von Details, wie die Halsbrosche in Form eines Cherub, die kunstvolle Verschlingung des Gürtels oder die Schließen des Buches zeigen, das die Maria auf das linke Knie stützt. Die quadratische Form des Buches sowie die Schließen finden sich auch beim hl. Benedikt.
Verwandte Züge mit der Statue der Maria zeigt die 1,10 m hohe Figur des Papstes Coelestin, der ebenso wie jene seinen Platz an der Fassade der Collemaggio mit dem Nationalmuseum in L'Aquila vertauscht hat. Ähnlich ist der Mantelbausch, aus dem seine linke Hand herausgreift, das Stadtmodell von L'Aquila tragend. Der wirklichkeitsnah gebildete Kopf mit den großen Ohrmuscheln, denen wir auch beim hl. Benedikt begegnen, ist leicht erhoben, und das Gesicht ist durch breite Backenknochen stark betont. Die Vorstellung des 13. Jh. von einem gebrechlichen asketischen Papst hat mit der Gestaltung dieser Figur nichts mehr zu tun; es wird nun ein Kirchenfürst mit einem triumphierenden Herrscheranditz der Renaissance vorgeführt.
Eine ähnlich selbst bewußte Haltung trägt auch die hl. Reparata in Atri zur Schau. Die Standfigur ist in die Barockfassade von S. Reparata eingebaut, der kleinen Kirche an der rechten Rückseite des Domes. Der Mantelbausch der Heiligen ist ebenso ausladend gebildet wie der des Coelestin, die vorgestreckte linke Hand trägt das Stadtmodell von Atri. (S. 375) Am Oberkörper erinnert die Faltenbildung des enganliegenden Untergewandes an die Madonna aus Stein von der Fassade der Collemaggio. S. Reparata steht in einer engen Nische, an deren Seitenwänden oben links und rechts die Inschrift erscheint: »Pietate resurgam Adrie iam Reparate opibus« (Ich, Atri, erstehe wieder durch die Frömmigkeit der Stadt und zugleich durch Hilfe der Reparata). Die Heilige wurde im 14.]h. in die Reihe der Schutzpatrone von Atri aufgenommen.
Die bekanntesten Freistatuen an Fassaden befinden sich am Palazzo dell'Annunziata in Sulmona. Die Stützen, auf denen insgesamt sieben Statuen stehen, bilden hohe vorspringende Pilaster, die zu beiden Seiten von zwei Säulen begleitet werden. Die ersten vier Figuren in der Abfolge von links nach rechts stellen die lateinischen Kirchenväter dar. Sie zeigen neapolitanisch-toskanische Einflüsse sowie Anklänge an Werke des Tino da Camaino. Die Körperschwingung der fünften Statue, der hl. Pamphilus, Schutzpatron von Sulmona, erinnert an gotische Figuren. Seine Rechte spendet den Segen, und in der Linken hält er den Bischofsstab aus vergoldeter Bronze. Diese fünf Figuren gehören zur ersten Bauzeit des Palastes, die um 1415 begann. Die beiden rechten Statuen, Petms und Paulus, gehören in die Zeit des Anbaus, der durch Inschriften in den Jahren 1519 und 1522 gesichert ist.
Einer eingehenderen Untersuchung wert wären die Skulpturen, die in Caramanico an der Rückfront der Kirche S. Maria Maggiore zu sehen sind. In ungleichem Abstand und in verschiedener Höhe stehen vor der Wand auf Säulen sieben Statuen des 15. und 16.]ahrhunderts. Man ist geneigt zu glauben, die Figuren seien aus Ermangelung eines geeigneten Standortes in späterer Zeit an dieser Stelle vereinigt worden. Dafür spricht auch der Umstand, daß das Ensemble keine einheitliche Thematik aufweist. Links an der Wand in der Nähe des Campanile begegnen wir den im vorigen Kapitel erwähnten Hirten, die zu einer Geburtsszene gehörten. Neben ihnen steht ein bärtiger Heiliger mit einem Buch in der linken Hand. Es folgt die Standfigur des Antonius Abbas in Frontalansicht. In seiner Linken hält er den Kreuzstock und den Rosenkranz. Die folgende Figur, eine Verkündigungsmadonna, wird in einer Inschrift als Eva bezeichnet. Ihr zur Seite steht eine schlecht erhaltene Marienfigur, die das bekleidete Kind auf ihrem linken Arm hält. Den Beschluß bildet eine männliche Figur, wohl im Mönchsgewand, die in einer Inschrift als Adam betitelt ist.
In den Abruzzen ist die Freiskulptur aus Stein im Innenraum der Kirchen von keiner besonderen künstlerischen Bedeutung. Die Statuen des 15. ]h. orientieren sich meist an toskanischen und oberitalienischen Vorbildern. Das folgende Jahrhundert geht stilistisch kaum neue Wege und bezieht sich auf frühere Gestaltungsweisen. Die bemerkenswerteste Skulptur in diesem Zusammenhang ist der etwa um die Mitte des 15. ]h. gefertigte Petrus, der nach dem Erdbeben von 1703 aus den Trümmern von S. Pietro in Coppito in L'Aquila gerettet wurde. Die außergewöhnliche Höhe der Steinfigur von 3,70 m wurde in den Abruzzen nicht wieder erreicht. In einer gotischen Ädikula unter einem Dreipaßbogen thront der bärtige Apostelfürst auf einem Sitz mit Löwenfüßen. Die rechte Hand erteilt den Segen, die linke hält die Himmelsschlüssel. Darüber erscheint ein Engel, der ihm die Papstkrone verleiht.
Norditalienische Einflüsse waren im 15. Jh. in Rocca di Cambio wirksam. Das bezeugt die 1,05 m hohe Statue des Petrus, die die Confraternita del Rosario in der Kirche S. Pietro verwahrt. Wahrscheinlich stammen im Depot des Nationalmuseums in L'Aquila zwei 0,77 m hohe, von der selben Künstlerhand gefertigte Halbfiguren des Petrus und Paulus aus der Pfarrkirche SS. Annunziata in Rocca di Cambio. Die in dieser Zeit in den Abruzzen ungewöhnliche Form der Steinbüsten ist in Oberitalien keine Seltenheit.
Auch die Stadt Sulmona zeigt den Einstrom norditalienischer Formen. Zwei Werke, die als Beispiel hierfür dienen können, verwahrt das Museo Civico in Sulmona. Eines ist eine männliche, 0,94 m hohe, qualitätvolle Sitzfigur aus Kalkstein, die wohl noch im 14. Jh. entstand. Der Mann stützt sein müdes oder in Meditation versunkenes Haupt auf die rechte Hand und hält in seiner linken ein Buch. Die Sitzbank öffnet sich an den Seiten in Nischen, die oben von Dreipaßbogen abgeschlossen werden. Das andere Werk, eine Madonna mit Kind, entstand im 15. Jh. und ist arg beschädigt. Den Figuren aus weißem Marmor fehlen die Köpfe.
Nicht sehr bedeutend ist eine 0,62 m hohe Steinbüste der Maria mit Kind in S. Caterina in Sulmona, wohingegen der in einem gläsernen Sarg liegende tote Christus aus Kalkstein in S. Francesco della Scarpa in Sulmona Beachtung verdient. Die im 16.]h. entstandene Figur ist 1,35 m lang. Die Gestaltung ist wirklichkeitsnah und zeigt Anklänge an Formen des Quattrocento. Unweit von Sulmona sieht man in Introdacqua in der Pfarrkirche SS. Annunziata die 1,08 m hohe, sitzende Maria mit Kind in Frontalansicht, eine Gruppe, die von emem einheimischen Künstler des 16.]h. gearbeitet wurde.
Die Skulptur seit dem 17. Jahrhundert
In den Abruzzen fehlen in der Freiskulptur seit dem 17. Jh. erstrangige Werke. Zwei Entwicklungen laufen parallel. Zum einen wird die Kunst zur Volkskunst, zum andern ist eine Zunahme nichtabruzzesischer Bildhauer zu konstatieren, die ihre Arbeiten einem Land anboten, das wenig Anforderungen an die künstlerische Qualität stellte. Während man sich in früheren Zeiten die großen Meister der italienischen Renaissance zum Vorbild nahm, gab man sich im Barock mit den nicht sehr erfindungsreichen Werken zweitrangiger Künstler zufrieden, welche in unserer Landschaft auftraten, nachdem sie in ihrer Heimat erfolglos geblieben waren. Vorzugsweise erscheinen neapolitanische Künstler, während die Zuwanderung aus Mittel-und Oberitalien in den Hintergrund tritt. Das Land selbst verfügte in dieser Zeit über keine Kunstzentren. L'Aquila und Sulmona hatten ihre Führungsrolle verloren.
(S. 376)Im Gegensatz zu den beiden früheren Jahrhunderten kommen im Sei-und im Settecento andere Materialien in Gebrauch. Dominierend bleibt die Herstellung von Holzskulpturen, während die Fertigung von Terrakottafiguren im 17. Jh. aufhört und der harte Stein seit dem Ende des Jahrhunderts weitgehend durch den leichter zu bearbeitenden Stuck ersetzt wird.
Die überlieferung zahlreicher Werke aus Holz ist kein Zufall und beschränkt sich keineswegs auf kleine Landkirchen. Die bedeutendsten Gotteshäuser ließen ihre Heiligenstatuen in diesem Material arbeiten. Als der Architekt Giacorno Spagna 1620 die Marienkapelle in der Kirche SS. Annunziata in Sulmona unter reichlicher Verwendung von Marmor baute, stellte man darin die 1,48 m hohen Holzstatuen der hll. Petrus und Paulus auf. Aus dem ehrwürdigen Dom in L'Aquila stammt der in den ersten Jahren des 17. Jh. entstandene Titel-und Stadtheilige Massimo, eine Holzstatue neapolitanischer Machart, heute im Nationalmuseum in L'Aquila. Nach dem Erdbeben von 1703 erfolgte in dieser Stadt der Aufbau von S. Bernardino. Der neue Hauptaltar wurde aufwendig mit Marmor ausgestattet, an den Seiten stellte man die Terrakottastatuen des Franz von Assisi und des Bernhardin auf, die den Erdstoß überlebt hatten, während in der Mitte des Altars hocherhoben eine vergoldete, 2,30 m hohe Holzmadonna auf der Mondsichel triumphiert.
Datierte und signierte Statuen finden sich häufiger als in früheren Zeiten. Das Depot des Nationalmuseums in L'Aquila verwahrt einen hl. Bischof aus Holz, eine durchschnittliche Arbeit, auf deren Rückseite zu lesen ist »D. Betti m[e] f[ecit] 1653 «. 1675 signierte und datierte Marcantonio Canini sein Denkmal für König Karl 11. von Spanien in L'Aquila. Die Tatsache, daß ein Werk signiert ist, besagt indessen nichts für seine Qualität. Im 18. Jh. gab es Künstler, die sich mit der Massenanfertigung von Statuen abgaben und sie signiert und datiert auf den Markt brachten. So sind in den Abruzzen und im Molise zwischen 1706 und 1741 signierte und datierte Arbeiten eines Giacomo Colombo aus Neapel zu finden. Die Jahreszahl 1704 trägt die von anonymer Hand gearbeitete Maria im Santuario della Madonna Incoronata in Tavenna. In der Kirche S. Micheie in Ripalimosani zeigt die Statue des Erzengels Michael das Datum 1715 und den Namen des neapolitanischen Bildhauers Nicolo Fumo (gest. 1725). Bei Gambatesa liegt das Sanktuarium S. Maria della Vittoria, eine Siegeskirche, die daran erinnert, daß die Madonna den Andachtsort vor der Verwüstung durch Truppen Kaiser Friedrichs II. von Hohenstaufen bewahrt hatte. Die dortige Marienfigur aus Holz, eine anonyme neapolitanische Arbeit, ist 1715 datiert. In der Kirche S. Nicola in Tione befindet sich die 48 cm hohe Holzbüste des hl. Emidius, mit der Rechten segnend und in der Linken den Bischofsstab tragend. Die Inschrift lautet »Francisco Conte feeit 1780«.
Unter den zahlreichen Darstellungen von Heiligen ist die Maria selten geworden. Wir erwähnten die Madonnen von S. Bernardino in L'Aquila, Tavenna und Gambatesa. Am Ende des 18. Jh. entstand die schöne Immacolata in der Chiesa dell'Annunziata in Penne. In Passionsszenen erscheint Maria innerhalb von Figurengruppen. So sieht man in Lanciano in S. Maria Maggiore in der letzten rechten Kapelle vor dem Oktogon den Gekreuzigten aus dem 17. Jahrhundert. Neben ihm stehen die trauernde Maria und Johannes. Die Confraternita del Monte dei Morti unterhält in der Krypta des Domes von Chieti die Cappella del Suffragio. Dort sind der tote Christus und Maria zu sehen, ein Werk des 18. Jahrhunderts.
Im Barock entstand eine unüberschaubare Anzahl von Heiligenstatuen aus Holz. Wir kennen Kirchen, die in einer Werkstatt gleich mehrere Figuren bestellten. So gab die kleine Kirche S. Paolo in Campo di Giove einem mehr im Bereich der Volkskunst arbeitenden Atelier vier Heiligenfiguren in Auftrag, Petrus und Paulus, Leonhard und Blasius. Ähnlich kann man schließen, daß die polychromen Büsten von Jesuitenheiligen aus der Mitte des 17. Jh. im Diözesanmuseum in Chieti aus ein und derselben Werkstatt kamen und in einer Jesuitenkirche aufgestellt waren. Die Holzbüsten stellen Ignatius von Loyola, Francisco de Borja (gest. 1572) und Franz Xaver (gest. 1552) dar. Unter der Landeshoheit der Spanier wird die Vielzahl der lokalen Heiligen durch iberische Schutzpatrone erweitert.
Von Heiligenfiguren des 17. Jh. erwähne ich in Auswahl die gut erhaltene, 1,47 m hohe Statue des Sebastian in der gleichnamigen Pfarrkirche in Navelli und den hl. Placidus aus S. Emidio in Agnone. Das Depot des Nationalmuseums in L'Aquila verwahrt kaum bekannte Sku]pturenbestände des aufgelösten Diözesanmuseums in L'Aquila. Anzumerken sind ein hl. Rochus aus der zerstörten Kirche S. Benedetto in L'Aquila, die volkstümliche Statue des hl. Lorenz und die Figur des jung verstorbenen Jesuitenheiligen Luigi Gonzaga aus der Kirche S. Margherita in L'Aquila. Zu demselben Bestand gehören Heiligenstatuen des 18. Jh., z. B. die 1,45 m hohe Gestalt des Franz von Assisi, die nur 0,72 m hohe Figur der Theresa und die 0,77 m hohe Statuette des spanischen Heiligen Pasquale Baylon (gest. 1592). Aus der Pfarrkirche in Goriano Valli gelangten zwei volkstümliche, von ein und demselben Meister gearbeitete, 30 cm hohe Statuetten in das Depot, die hll. Petrus und Sebastian.
Auf die Fülle der Heiligenfiguren des 18. Jh. in abruzzesischen und molisanisehen Kirchen kann hier nicht näher eingegangen werden. Beachtenswert sind die Statuen des Papstes Clemens I. in S. Clemente al Vomano und die nach 1746 gefertigte Büste des Camillo im Sanktuarium dieses Heiligen in Bucchianico, die polychromen Holzfiguren des Joseph in S. Francesco in Guardiagrele und des Antonius von Padua in der Kirche S. Antonio Abate in Campobasso.
Die spätesten Terrakottafiguren, die im 17. Jh. entstanden, nähern sich der Volkskunst. Zwei Statuen sind in der Pfarrkirche S. Nicola da Bari in Calaseio zu sehen, einmal die 1,50 m hohe Standfigur des Titelheiligen in Frontalansicht und zum andern die Maria aus einer Weihnachtskrippe.
Gleichzeitig mit der Terrakottaplastik verschwindet im Innenraum der Kirchen immer mehr die Skulptur in Stein. (S. 377) Einige der letzten Beispiele in diesem Material sieht man in der Pfarrkirche von Secinaro. Dort befinden sich an den Altären Steinfiguren von Heiligen in verschiedenen Größenabmessungen, der 1,45 m hohe Nikolaus von Bari, die 1,34 m hohe Agatha, der 1,53 m hohe Gregor d.Gr. und der 1,27 m hohe Joseph.
1675 entstand in L'Aquila auf der Piazza Margherita das freistehende Denkmal für den jungen König Karl II. von Spanien und Neapel (1665-1700). Als Bildhauer für diesen letzten Sproß der Habsburger auf spanischem Thron engagierte man den um 1630 geborenen Marcantonio Canini aus Rom, einen Schüler und Gehilfen des Gian Lorenzo Bernini. Am Postament des Monuments sind Wappen, Inschriften und der Name des Bildhauers angebracht.
Die die Steinskulptur ersetzende Stuckplastik ist in den Abruzzen in starkem Maß fremden Einflüssen unterworfen. Der überlebensgroße, 2,30 m hohe Sebastian in der gleichnamigen Pfarrkirche in Ovindoli setzt die Kenntnis der Sklaven des Michelangelo voraus. Das Werk aus vergoldetem Stuck stammt aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts. Die kleine einschiffige, reich ausgestartete Kirche Madonna delle Grazie, südwestlich von Alanno, zeigt Stuckfiguren des 17. Jh., von denen einige der Mailänder Künstler Donato Perada 1675 datierte und signierte. In der 1677 barockisierten Chiesa dei Carmine in Chieti entstanden einige Zeit später gut gearbeitete Sruckstatuen an den Stützen der Vierung, David, Salomon, Jeremias und Jesaias darstellend.
Beim Wiederaufbau der Stadt L'Aquila nach dem Erdbeben von 1703 entstanden an den Vierungspfeilern von S. Filippo Neri die großen Stuckfiguren, die römischen Einfluß zeigen. In S. Agostino fertigte Agostino Cornacchini (gest. 1740) aus Pescia in der Provinz Pistoia die Stuckstatuen der lateinischen Kirchenväter. Der Ort Pescocostanzo nahm neapolitanische Einströmungen auf. Dieses zeigen die 1754 datierten Stuckfiguren des David und der Propheten in der Cappella del Sacramento in der Kirche S. Maria del Colle.
Im 18. Jh. wurden das Molise und die Abruzzen mit Statuen aus dem neapolitanischen Kunstkreis überschwemmt. Em typisches Beispiel dafür bildet die Tätigkeit des bereits genannten Bildschnitzers Giacomo Colombo, der seine Holzstatuen oft signierte und seine Produktion zwischen 1706 und 1741 in unserem Bergland absetzte. Während dieser Zeit sind keine Arbeiten von ihm in der Landeshauptstadt bekannt. Ob Colombo alle seine signierten Figuren selbst ausgeführt hat, können erst Detailforschungen erbringen. Dem Anschein nach unterhielt er eine große Werkstatt, und was hier entstand, wurde mit seiner Signatur sozusagen als Firmenname versehen. Das OEuvre dieses Meisters ist im einzelnen bisher kaum untersucht worden. Er schuf Standbilder, Büsten und Figurengruppen. Sein Ruhm drang bis in die südlichen Abruzzen vor. Sein frühestes in unserer Landschaft bekanntes Werk ist eine Holzbüste des Antonius von Padua, die er 1706 für die Kirche S. Francesco in Chieti lieferte. In Cirta S. Angelo ist in der Kirche S. Michele die Statue des Titelheiligen mit dem Namen des Colombo bezeichnet. In S. Agostino in Lanciano befindet sich die von ihm signierte und 1707 datierte Statue der »Madonna della Cintura«. Zu seinen besten polychromen Holzstatuen gehört die 1,83 m hohe hl. Theresa in der gleichnamigen Kapelle im Dom von Sulmona. Sie ist signiert und mit dem Datum 1607 in die Literatur eingegangen. Dieses dürfte falsch gelesen und in 1707 zu verbessern sein. Die spanische Karmeliterin ist mit ekstatisch erhobenem Kopf dargestellt, und zum Zeichen der himmlischen Verzückung öffnet ein Engel ihr Gewand und bohrt einen Pfeil in ihr Herz. Mit der Theresa von Avila ist stilistisch die 0,75 m hohe Büste der hl. Concordia in der Kirche Assunta in Castel di Sangro verwandt. Sie hält in der rechten Hand die Märtyrerpalme und in ihrer linken ein Buch. Das Werk ist mit dem Namen des Giacomo Colombo bezeichnet und 1741 datiert. Zahlreicher kamen die Aufträge aus dem Molise. In dem Kirchlein Madonna di Loreto außerhalb des Ortes Capracotta sieht man die Gruppe der Heimsuchung. Im nahgelegenen Agnone stammt von unserem Meister eine Immacolata in der Kirche S. Francesco. Besonders tätig war Colombo in dem Landstrich zwischen Campobasso und Larino. In der Pfarrkirche S. Nicola in S. Giuliano dei Sannio begegnen wir wieder einer Figurengruppe, die 1724 datiert ist. Der Schutzpatron der Kinder, Nikolaus von Bari, wird von puttenähnlichen Gestalten, von denen zwei auf dem Rande eines Fasses sitzen, umringt. In feierlicher Prozession trägt man diese Standfigur im Mai eines jeden Jahres durch den Ort, eine schwere Last, denn die aus einem Birnbaumstamm geschnitzte Statue ist an die zwei Meter hoch. Eine andere Nikolausfigur, von der Hand desselben Colombo, wird in der Pfarrkirche S. Nicola in S. Giovanni in Galdo gezeigt. Wohl mit Recht schreibt man dem Colombo zwölf hölzerne Heiligenbüsten in der Pfarrkirche S. Nicola in Macchia Valfortore zu. In kassettenförmiger Rahmung sind sie in die Seiten eines Altares eingelassen, und es erscheinen jeweils drei Reihen mit je zwei Büsten nebeneinander. In S. Giovanni Battista in Colletorto zeigt man zwei Holzstatuen Colombos, und die Immacolata aus Holz in S. Francesco in Larino wird ihm ebenfalls zugeschrieben.
Eine noch größere Produktivität als Colombo erreichte Paolo di Zinno. Er wurde 1718 in Campobasso geboren, wo sein Geburtshaus in der Via S. Antonio Abate zu sehen ist. Er starb 1781 in seiner Geburtsstadt. Seine Lehrzeit verbrachte er in Neapel und kehrte später ins Molise zurück. Dort finden sich vornehmlich seine Bildschnitzereien, doch sind sie auch in angrenzenden Gebieten anzutreffen, wie in den Abruzzen und in der Capitanata. Seine Werke gelangten bis nach Dalmatien. In Campobasso hat man allein 26 Arbeiten des Meisters festgestellt. Sein Stil zeigt neapolitanische Einflüsse, wobei er eine unkomplizierte Frische entwickelt. Als sein Hauptwerk gilt die Büste des Franz Xaver in S. Giorgio in Campobasso. Erwähnenswerte Madonnenfiguren von seiner Hand findet man in Campobasso in der Kirche S. Maria de Fora, in der Kirche S. Salvatore in Cercepiccola und in S. Alfonso dei Liguori in Colletorto. Seine Holzstatue des Dominikaners Vincenz Ferrer verwahrt das Sanktuarium S. Maria della Libera bei Cercemaggiore.
(S. 378)Die volkstümliche Plastik des 18. Jh. unterscheidet sich in ihrer Funktion von früheren Zeiten. Einstmals nahmen die Statuen einen Platz ein, der für die Ewigkeit gedacht war, während ein Teil der Barockskulptur beweglich ist und dem Volk in Prozessionen vorgeführt wird. Mit den Bildwerken wird ein stummes Mysterienspiel geschaffen. In den Sakristeien vieler Kirchen sieht man Scharen von Heiligenfiguren, die ausschließlich zur Schaustellung bei feierlichen Umzügen bestimmt waren und im Kirchenraum selbst keine Aufstellung fanden. Durch das Vorzeigen der Heiligen auf Straßen und Plätzen fielen den Bildschnitzern völlig neue Aufgaben zu. Das ist bei Paolo di Zinno der Fall. Am Fronleichnamstag eines jeden Jahres wird in Campobasso die »Sagra dei Misteri« gezeigt. In festlicher Prachtentfaltung werden zwölf Bildaufbauten (»macchine«), deren Gestelle aus Eisenblech bestehen, durch die Stadt getragen. Um die Darstellungen hoch über den Köpfen der Zuschauermenge zu präsentieren, stellt man die »macchine« auf hölzerne Tragen, die ausgesucht kräftige Männer zu schleppen haben. Paolo di Zinno wurde 1740 beauftragt, für das Mysterienspiel in Campobasso 18 Gestelle herzustellen. Fünf von ihnen wurden beim Erdbeben 1805 zerstört. Zinno hatte die Form seiner Gestelle den verschiedenen Darstellungen anzupassen. Die behandelten Themen sind bekannt. So erscheinen u.a. der hl. Isidor als Bauernknecht und sein Herr am Fuße einer hohen Osterkerze. Der Schuster Crispin aus Soissons sitzt vor seinem Arbeitstisch in Betrachtung dreier Engel. Maria Magdalena steigt in den Himmel auf. Sehr kunstvoll mußte das Gestell sein, auf dem der hl. Antonius Abbas in einer Wolke schwebt, um nicht der Versuchung eines Mädchens zu verfallen. Natürlich durfte auch die Vorführung des strafenden Erzengels Michael nicht fehlen.
Die Skulptur des 19. Jh. zeigt in den Abruzzen und im Molise keine Merkmale, die nicht auch im übrigen Italien bekannt wären. Die traditionelle Holzschnitzerei nimmt ab. Aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts kennen wir von dem Neapolitaner Saverio Citarelli Holzstatuen für die Kirche in Cantalupo nel Sannio. Andere Arbeiten des Künstlers finden sich in Neapel im Palazzo Reale sowie in der Galerie des 19. Jahrhunderts im Museo Capodimonte. Weiterhin lieferte Giuseppe Franchi, ein dem römischen Bildhauerkreis des Antonio Canova nahestehender Künstler, für die Kirche in Villa S. Sebastiano im Marserland die Holzstatue des hl. Bartholomäus. An die Stelle des Holzes trat weitgehend der Stein bei der Fertigung von Skulpturen. Die Pathetik und die überschwengliche Formensprache des Barock verlieren sich. Man orientierte sich an klassisch antiken Beispielen. Das Abbild der himmlischen Welt steht nicht mehr im Vordergrund, nun werden historische Persönlichkeiten die Leitbilder des Menschen. Es entsteht eine Fülle von Marmorköpfen und Büsten, die berühmte Menschen der Vergangenheit, zeitgenössische Politiker, Literaten und alles was Namen hat, verewigen. In diesen Bereich gehört das Denkmal, das sich im 19. Jh. einer außerordentlichen Beliebtheit erfreut. Auch die Abruzzen konnten sich diesem Brauch nicht ganz verschließen. Das Marmormonument, das König Franz I. 1829 dem Verteidiger des Kastells von Civitella del Tronto am selben Ort errichtete, erwähnten wir an anderer Stelle. Typisch für die Erstellung eines Denkmals im 19. Jh. scheint mir eine Episode in L'Aquila zu sein. Die Stadtväter taten sich sehr schwer, ein Sinnbild für ihr Gemeinwesen zu finden. Um bei der Wahl des Themas allen politischen und gesellschaftlichen Kontroversen aus dem Wege zu gehen, hielt man es für angezeigt, eine Persönlichkeit aus der Antike zu verherrlichen. Da die Stadt aber erst im 13. Jh. gegründet worden ist, war man gezwungen, in der antiken Geschichte des Umlandes Ausschau zu halten, und man entschloß sich für die Darstellung des römischen Geschichtsschreibers Sallust, der 87 v.Chr. in Amiterno geboren wurde. Man setzte ihm auf der Piazza Palazzo ein bronzenes Denkmal. Es zeigt die idealisierte hohe Togafigur eines Römers mit edelgeformtem Kopf. Sie steht auf einem antikisierenden Altar, der von allen Seiten über drei breite Treppenstufen zu erreichen ist. Die notwendigen Ornamente kopierte man nach der Antike. Den rötlichen Granit des altarartigen Sockels bezog man aus den Steinbrüchen von Crusinallo, einem Ortsteil von Omegna in der Provinz Novara, den harten Stein für die Treppenstufen holte man aus dem nahgelegenen Roio Piano. Die Statue des Sallust modellierte der Kommendatore Professor Cesare Zocchi (1851-1922) aus Florenz. Gegossen wurde die Figur 1896 in der Kunstgießerei Pietro Lippi in Pistoia. Zocchi profitierte von der Einigung Italiens, die zur Folge hatte, daß man sich mühte, die Einheit des Landes auch optisch zur Schau zu stellen, indem man bel der Erteilung von öffentlichen Aufträgen nunmehr Künstler aus allen Teilen des Landes berücksichtigte. Zocchi fertigte serienweise Denkmäler an, Garibaldimonumente in Florenz, Perugia und Neapel, das Denkmal für König Vittorio Emanuele II. in Pisa, ein Denkmal für den General Fanti in Carpi, ein Dantemonument in Trient, ein Gefallenendenkmal in Ravenna usw. In L'Aquila tagte bereits seit 1880 ein Förderungskomitee zur Errichtung des Sallustdenkmals. Um in der Wahl des Künstlers sicherzugehen, hielt man es für tunlich, auch Ausländer als Gutachter heranzuziehen. Zu diesem erlauchten Kreis gehörten der französische Dichter Victor Hugo (1802-1885), der berühmte Archäologe Heinrich Brunn (1822-1894), der 1853 wegen epigraphischer Studien eine Woche in L'Aquila verbrachte, und Ferdinand Gregorovius (1821-1891), der sich in einem Brief vom 10. August 1881 aus Rom bedankt, dem Komitee angehören zu dürfen. Trotz des Rates dieser alten weisen Männer scheint es in L'Aquila Schwierigkeiten gegeben zu haben. Der Guß von 1896 wurde erst 1903 an Ort und Stelle aufgerichtet.
Grabdenkmäler
In bewundernswerter Hingabe hat man in unserer Region der Toten gedacht und sie durch hervorragend ausgestattete Gräber verehrt. In den hier zu besprechenden Ruhestätten sind Persönlichkeiten des geistlichen und weltlichen Standes beigesetzt, Äbte, Bischöfe, Heilige und ein Papst, Ritter, Kaufleute, Gelehrte, Künstler und eine Königin. In kontinu (S. 379) ierlicher Abfolge ist der Grabbau seit dem 14. Jh. zu verfolgen und erreicht seine Glanzzeit im 15. Jahrhundert. Das Zeitalter des Barock, das im übrigen Italien in der Grabmalkunst so hervorragende Leisrungen zeitigte, hat in diesem Bereich in den Abruzzen und im Molise keine bemerkenswerten Werke hervorgebracht. Zu Zentren der künstlerischen Behandlung der Totenmale entwickeln sich die Städte Sulmona und L'Aquila.
Am Ende des 13. Jh. kommt in den Abruzzen das Hochgrab auf. Die Begräbnisstätte befindet sich nicht mehr in der Erde sondern darüber. Anfänglich liegt der Grabkasten noch tief, nur durch eine Sockelplatte vom Fußboden angehoben. Beispiele dafür liefern der Sarkophag in S. Maria in Valle Porclaneta bei Rosciolo, das Grab eines Abtes in S. Pietro ad Oratorium, das Grab an der Nordwand der Krypta von S. Giovanni in Venere und dasjenige an der rechten Wand kurz vor der Apsis in der Domkrypta von Sulmona. Um die Mitte des 14. Jh. ist in S. Maria della Strada das erste Beispiel festzustellen, wo die Grabkiste durch kleine gedrungene Säulen angehoben und deutlich vom Fußboden abgesetzt wird. Mit Ausnahme der Gräber in S. Giovanni in Venere und in der Domkrypta von Sulmona, die wegen des schlechten Erhaltungszustandes kaum Aussagen zulassen, sind die Schauseiten der Sarkophage durch vertikale Elemente, meist in Form von vorgelegten Pilastern, Halbsäulen oder Polygonalstützen gegliedert. Die dadurch entstehenden Felder füllte man mit Ornamenten und Wappen aus, wie etwa in Rosciolo, S. Pietro ad Oratorium, S. Maria della Strada und Montone. In Rosciolo und S. Pietro ad Oratorium erscheint in den Mittelfeldern der Särge das Kreuzeslamm und in S. Maria della Strada an dieser Stelle der segnende Christus. Im 14. Jh. kannte man vornehmlich den in eine Wandvertiefung eingestellten Sarkophag mit einer Ädikula als Bekrönung.
Vom Grab des Architekten Nikolaus in S. Maria in Valle Porclaneta berichteten wir bereits in anderem Zusammenhang. In S. Pietro ad Oratorium kann man aus den kümmerlichen Relikten des Sarges am Ende des rechten Seitenschiffs auf eine Entstehung am Anfang des 14. Jh. schließen. Das Grab in der Krypta von S. Giovanni in Venere hat durch die Salzluft des nahen Meeres gelitten. Auf den Ecken an der Vorderseite des Sarkophages erheben sich zwei Säulen, die rechte mit Knospenkapitell, die linke, die wahrscheinlich restauriert ist, besitzt kein Kapitell. Sie tragen große Deckplatten, auf denen ein Spitzbogen ansetzt. Manche Gräber verloren ihre ursprüngliche Funktion. Die Sarkophage boten sich als Altäre an. So wurde am Anfang des 19· Jh. das Grab In der Domkrypta von Sulmona in einen Altar umgewandelt. Ähnlich erging es einem Sarkophag des 14. Jh. in S. Francesco in Guardiagrele. Der Kasten aus rotem veroneslschem Marmor zeigt an der Schauseite eine Gliederung durch Säulchen, deren Schaft schraubenförmig gebildet ist. Die spitzbogige Bekrönung des Grabes ist aus weißem Marmor gefertigt. Hier war Napoleone Orsini bestattet, ein Verwandter und Nachfahre des Papstes Nikolaus III. Orsini. Heute dient der Sarg als Hauptaltar der Kirche.
In S. Maria della Strada ruht die Vorderfront des Sarkophags auf vier niedrigen Säulen, von denen den mittleren als Basis quadratische Klötze dienen und den äußeren liegende Löwen. Die Schauseite zieren Wappen und in der Mitte die Darstellung des Erlösers, während die Schmalseiten Rosetten zeigen. Auf dem Kasten liegt langhingestreckt die Figur des Toten, die Hände über der Brust zusammengelegt; er ist mit einer Tunika bekleidet, deren Ärmel eng anliegen. Entsprechend toskanischem Brauch ruht die Gestalt in einern Alkoven hinter einern Vorhang, den zwei Engel auseinanderziehen. Über dieser Nische erheben sich auf Löwenrücken Säulen, die einen mit Fialen und Kriechblumen besetzten Dreieckgiebel tragen, worin ein Dreipaßbogen eingefügt ist. Die Grabanlage zeigt keine Inschrift. An Hand der Wappen hat man vielleicht etwas voreilig geschlossen, daß der Tote den 1345 verstorbenen Bernardus von Aquino darstelle. Immerhin steht das Monument in naher Beziehung zu den Totenmalen der Familie Aquino, die, von der Schule des Tino da Camaino gefertigt, heute in der Kapelle der Pieta in S. Domenico Maggiore in Neapel aufgestellt sind.
Das prachtvollste Grabmonument des 14. Jh. in den Abruzzen verwahrt die Kirche S. Antonio im kleinen Ort Montone, einern Ortsteil von Mosciano Sant'Angelo. An einer Seite der Anlage befindet sich eine Inschrift, die mitteilt, daß der Feudalherr von Montone, Bucciarello di Giacomo di Bartolomeo da Montone, dieses Grab im Jahr 1390 fertigen ließ. Die Schauseite des Kastens wird durch fünf Säulen gegliedert. Den beiden äußeren dienen, wie in S. Maria della Strada, liegende Löwen als Basis. Die vier Schmuckfelder zeigen Ornamente und Wappen, von denen eines die Lilien des Hauses Anjou enthält. Von typisch abruzzesischer Machart sind die verschiedenartig geformten, gedrehten Säulenschäfte, an denen das Fischgrätenmuster nicht fehlen durfte. An der Vorderseite erheben sich an den Ecken des Kastens je zwei Doppelsäulen, die als Bekrönung der Anlage einen gestelzten Dreieckgiebel tragen, in den ein Dreipaß eingefügt ist. Auf der Giebelspitze sitzt ein kleinerer Dreipaßbogen, der das Kreuzeslamm umschließt. Die Schrägen des Dreieckgiebels knicken nach altern apulischem Brauch am unteren Ansatz in die Horizontale um. So entstehen kleine Standflächen, die statt Fialen zwei Engel mit Spruchbändern tragen.
Schwer zu kontrollierende Angaben besitzen wir von den Erinnerungsmalen des berühmten um 1390 gestorbenen Rechtsgelehrten Luca da Penne. Er wurde in der Konventskirche S. Francesco in Penne begraben. Lokale Quellen überliefern, daß ihm die Bürger der Stadt eine Statue errichteten mit Distichen am Sockel, ein Monument, das 1436 zerstört wurde. 1625 ließ der Humanist Pansa die Grabstätte des Juristen in S. Francesco durch ein Monument aus Marmor erneuern. Auch dieses Denkmal verschwand mit der Zerstörung der Kirche. Obriggeblieben ist eine Grabplatte, die unter dem Portikus des Rathauses aufgestellt und fast unbeachtet ist.
Größte Bedeutung erlangte der Grabbau im 15. Jahrhundert. Anfänglich waren die Monumente noch bescheiden.
(S. 380)Im Garten neben der Pfarrkirche S. Bartolomeo in Boiano gewahrt man einen mit Wappen des 15. Jh. verzierten Sarkophag, dessen Maße für diese Zeit ungewöhnlich erscheinen, aber in der Antike geläufig waren. Man ist geneigt zu glauben, daß es sich hier um einen römischen Sarkophag handelt, der im Quattrocento wiederverwendet wurde. In S. Chiara in Venafro erscheint auf der Kalksteinplatte eines Sarkophags die Liegefigur eines Toten. Sein Haupt ruht auf einem Kissen, und die über dem Schoß zusammengelegten Hände halten ein Buch, eine traditionelle Arbeit, die wegen der realistischen Gesichtszüge des Verstorbenen dem Anfang des 15. Jh. zuzurechnen ist. Undatiert, aber dem 15. Jh. zugehörig, ist der Steinsarg im Dom von Ortona. Er steht in der Thomaskapelle unter einem Altar und zeigt in Relief den ungläubigen Thomas sowie die Ankunft des großen Ruderbootes, das 1258 die Gebeine des Apostels von der Insel Chios nach Ortona brachte.
Im Aufgang zum Museo Civico in Sulmona sieht man den Deckel eines Sarkophages aus Kalkstein. Darauf ist eine liegende Figur dargestellt, bekleidet mit einem langen, in vertikale Falten gelegten Gewand, das in der Taille gegürtet ist. Die Hände sind wie üblich über dem Leib zusammengelegt, und das in eine Kapuze gehüllte Haupt ruht auf einem Kissen mit Quasten. Die Inschrift in gotischen Lettern auf der Vorderseite besagt, daß in dem Sarg der vornehme Onyfrius (Onophrius) Amicus bestattet ist, der 1407 starb.
Die bereits in einem eigenen Kapitel behandelten deutschen Bildhauer, die im Quattrocento in unserer Landschaft tätig waren, hatten in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts auch erheblichen Anteil an der Gestaltung von Grabmälern in den Abruzzen. 1412 erhielt Gualterius de Alemania den Auftrag, das Caldoramonument in der Badia di S. Spirito bei Sulmona zu errichten (Tf. 256). In dieser ehrwürdigen durch Papst Coelestin V. bekanntgewordenen Abtei unterhielten die Caldora über der Unterkirche S. Maria eine eigene Kapelle, in der manche Familienmitglieder ihre letzte Ruhestätte fanden. Die Bestellung gab Rita Caldora auf, geborene Cantelmo, die sich an der Vorderseite des Sarkophags in einer lateinischen Inschrift nennt, deren übersetzung lautet: »Im Jahr 1412 ließ dieses Werk die Frau Rita Cantelmo erstehen zum Lob der Jungfrau Maria und zum Andenken ihrer selbst und ihrer Kinder Jakobus, Raimundus und Restainus. Amen«. Die Signatur des Gualterius sieht man am unteren Rand der mit einer Weinranke verzierten Sockelplatte, die den Kasten trägt; dort heißt es »Hoc opus fecit Magister Gualterius de Alemania«. Der im jugendlichen Alter verstorbene Restainus ist als Toter liegend auf dem Deckel der Grabkiste dargestellt, während die übrigen in der Inschrift genannten Mitglieder auf einer Steinplatte erscheinen, die eine etwas sonderbare, asymmetrische Position unter dem Sarkophag einnimmt. Ein wenig aus der Mitte nach rechts verschoben, hängt sie unter der Vorderseite des Sarges und ist aus dem selben Kalkstein gehauen wie die erwähnte Sockelplatte mit der Inschrift des Gualterius. Es knien dort Rita im Witwenschleier und rechts von ihr die beiden Söhne Jakobus und Raimundus. Jakobus wurde 1369 geboren und ist also im Alter von 43 Jahren dargestellt, dementsprechend ist die Mutter etwa sechzigjährig; das Geburtsdatum des jüngeren Bruders Raimundus ist unbekannt, die letzten Nachrichten von ihm stammen aus dem Jahr 1442. Die gewissermaßen als Appendix am Sarkophag erscheinende Steinplatte und ihre eigentümliche Anbringung brachten dem Künstler gleich zweifachen Vorteil; einmal gewann er zusätzlichen Raum für die von ihm verlangte Darstellung, und zum andern ergab sich auf diese Weise ganz selbstverständlich eine demutvoll anbetende Haltung der Rita und ihrer Kinder angesichts der Marienkrönung, die im Mittelfeld des Sarkophages erscheint.
Die Figur des jungen Restainus auf dem Sarkophagdeckel ist mit einer bis ins Detail durchgebildeten Ritterrüstung bekleidet. Das gelockte Haupt mit dem in der Mitte gescheitelten Haar drückt sich sanft in das weiche Kissen. Der Tote ist schlafend dargestellt, und der fein modellierte Kopf gehört zu den schönsten Jünglingsbildern dieser Zeit. Die Vorderseite des Sargkastens wird durch drei gerahmte Felder mit Reliefs gegliedert. Das mittlere zeigt, wie gesagt, die Krönung Mariens. Die Szene spielt sich vor einem Vorhang ab, den zwei Engel in den oberen Ecken des Bildfeldes halten. In den beiden seitlichen Feldern treten je vier durch Beischriften bezeichnete Apostel auf, von links nach rechts Jacobus Maior mit Wanderstab und Pilgerflasche, Andreas, Johannes und Petrus. Auf der rechten Platte erscheinen Paulus, Matthäus, Bartholomäus und Matthias. Die kanonische Zwölfzahl der Apostel wird durch die Darstellung von weiteren vier an den Schmalseiten des Sarges erreicht, allerdings sind diese nicht namentlich bezeichnet. Die Vorderseite des Grabkastens ruht auf zwei Säulen, deren Schäfte mit Pflanzenmustern verziert sind. Als Basis dient links ein Löwe und rechts ein Jagdhund mit einem Halsband. Die Rückfront des Sarges wird durch Konsolen gestützt. Das Monument ist in eine Vertiefung der Wand eingebaut. Die hohe, im Halbrund abschließende Nische über dem Sarkophag enthält ein Fresko, das die Kreuzabnahme Christi darstellt.
Weil ein deutscher Künstler am Werk war, hat man geschlossen, daß seine Formensprache das Idiom seiner Heimat zeige. Indessen befinden wir uns in der Zeit der internationalen Gotik, und von ausgesprochen deutschen Elementen ist in dem Monument wenig zu spüren. Vielmehr zeigt die Gestaltung der Grabanlage des Gualterius, daß er sich in Neapel aufgehalten haben muß. Das erklärt auch -trotz des zeitlichen Unterschiedes -die Beziehungen, die zwischen seinem Werk und dem Grabmal von S. Maria della Strada bestehen, dessen Struktur sich ebenfalls aus der Hauptstadt herleitet.
Gualterius wurde auch von führenden Gesellschaftskreisen der Stadt L'Aquila in Anspruch genommen. Man schreibt ihm das 1432 entstandene Camponeschigrabmal in der Kirche S. Biagio (heute S. Giuseppe) zu (Tf. 255a, 255b), ein Wandgrab mit einer Reiterstatue. Allerdings fehlt für die Attribution an Gualterius jegliche Bestätigung durch Quellen. Vielleicht gaben auf den oberen und unteren Rand der Schauseite gemalte schwarze gotische Lettern Auskunft über (S. 381) den Meister, doch sind sie in ihrem fragmentarischen Zustand kaum noch zu entziffern. Jedenfalls ist Gualterius als Autor nie in Zweifel gezogen worden angesichts der Beziehung des Camponeschigrabes zu seinem gesicherten Werk in der Badia di Santo Spirito. Wiederholt werden die Gliederung, Einzelformen und die Themen der Reliefs an der Schauseite. Einige Gestalten werden wörtlich kopiert, z.B. der Erlöser, der der Maria die Krone aufs Haupt setzt; weiterhin ist die Gruppierung der Apostel übernommen. Das Caldoragrab ist jedoch von höherer Qualität mit der feinen und genauen Gestaltung der Figuren. Im Camponeschimonument erscheinen die Dargestellten weniger ausdrucksvoll, und die Gewandfalten sind unpräziser, was möglicherweise eine Folge des weicheren Steines ist.
Reiter und Pferd auf dem Camponeschisarkophag sind nicht sehr gelungen. Das Tier mit seinem durchhängenden Bauch ist plump, während der Reiter im Sattel mit Vorder- und Hinterzwiesel, den beiden den Pferderücken bogenartig überspannenden Querstücken, im Verhältnis zu den Proportionen des Pferdes etwas zu dürftig ausgefallen ist.
Die Frage, wem das Grabmonument gilt, kann allein die Inschrift auf der Wappentafel beantworten, die isoliert unter dem Sarkophag an der Wand befestigt ist. Ein hochrechteckiger Stein zeigt unten eine sechszeilige Inschrift und darüber in einem nahezu quadratischen Feld ein großartiges Phantasietier, das Wappen der Camponeschi, das von acht kleinen, kreisförmig angeordneten Kielbogen eingeschlossen wird. Darum legt sich ein feingeschnittenes Blattmuster, das am Grabmonument selbst nicht vorkommt. Die ersten vier Zeilen der Inschrift sind in lateinischer Sprache und die beiden letzten im aquilanischen Dialekt abgefaßt. Die Beschriftung nimmt nicht die gesamte Breite der Wappentafel ein. Rechts daneben erscheint in einer eigenen Rahmung das Datum »Anno Domini 1432«. Die Inschrift lautet in der Übersetzung: »Hochoben wird der Ritter, Herr Ludovicus Camponeschi, als Lebender gezeigt. Du siehst auch im Schlafe liegen den von Baptista [Camponeschi] Gezeugten und von der Clara Gaglioffi Geborenen. Zur Unzeit verließ er die Welt, aber er lebt in Ewigkeit«. Soweit die lateinische Inschrift, darauf folgt in aquilanischer Mundart: »Und hier liest man, daß du dich gut erinnern mögest, vom Grafen Lalle sind die Gebeine zweier Söhne und zweier Enkel eingelassen«. Der lateinische Text bezieht sich augenscheinlich auf das Monument selbst. Der Reiter kann nur der 1432 gestorbene Ludovicus Camponeschi sein, Sohn des Lalle II. Camponeschi, der 1383 starb, während die Liegefigur laut Inschrift der Sohn des Baptista Camponeschi ist. Baptista wiederum ist der Bruder des obengenannten Ludovicus. Der letzte Satz im aquilanischen Dialekt nimmt nicht direkt auf das Denkmal Bezug. Hier werden die Toten aufgezählt, die in der Familiengruft der Camponeschi in S. Biagio beigesetzt sind.
Das Grabmonument der Camponeschi gehört zum Typ der Kondottierigrabmäler, dem man in Oberitalien besonders in den Monumenten der Scaliger in Verona begegnet. Dort erscheint auf dem Sarkophag die Verbindung von Reiter und Liegefigur, freilich mit dem bedeutsamen Unterschied zum Camponeschigrab, daß in diesen Darstellungen ein und dieselbe Person vorgeführt wird, im Leben und im Tod. Dagegen hat der Meister des aquilanischen Monuments, wenn wir der Inschrift glauben wollen, diese Anspielung auf die diesseitige und jenseitige Existenz des Menschen kurzerhand dazu benutzt, um zwei verschiedenen Personen ein Totenmal zu setzen.
Die von zwei Engeln begleitete Liegefigur des Camponeschi zeigt eine traditionelle Formbehandlung mit den über dem Leib zusammengelegten Händen und dem Kopf auf einem Doppelkissen. In einem ganz anderen, wirklichkeitsnäheren Raum bewegt sich der Reiter. Unter den Füßen des Pferdes ist eine Erdscholle dargestellt, die die Vorstellung von Landschaft erwecken soll. Die Verbindung von Reiterfigur und Landschaftsformen ist im veronesischen und venezianischen Bereich bekannt.
Das Caldoragrab von 1412 orientierte sich an neapolitanischen Vorbildern, ebenso das Camponeschimonument. Von ihm lassen sich Beziehungen zu dem 1428 in S. Giovanni a Carbonara in Neapel errichteten Grabmal für den 1414 gestorbenen König Ladislaus feststellen. Auch dieses weist oberitalienische Einflüsse auf. Es erscheinen ebenfalls die beiden Engel als Begleitfiguren des Toten, und wir begegnen gleichfalls der Liegefigur und dem Reiter. Die Verwandtschaft zwischen dem Grab des Ladislaus und demjenigen der Camponeschi zeigt sich am deutlichsten in der Gestaltung der Ädikula, die am Caldoragrabmal fehlte. Natürlich wurde der Aufwand an architektonischen Formen, den das Königsgrab in Neapel aufweist, am Camponeschimonument reduziert.
Ein drittes Grabmal des Gualterius ist nur durch die Ortsgeschichte überliefert. Wahrscheinlich entspricht die Tradition dem Tatbestand. Der angesehene Kenner der Geschichte L'Aquilas, Angelo Leosini, übernimmt 1848 in seinen »Monumenti storici artistici della cittä di Aquila« eine Angabe des Claudio Crispomonti aus dessen unpubliziertem Manuskript des 17. Jh. über die Geschichte L'Aquilas. Darin heißt es, daß in S. Domenico in L'Aquila in der Cappella S. Giacomo, die später den Namen Cappella dei Rosario erhielt, ein Grabmonument der Familie Gaglioffi zu sehen ist, das eine Reiterstatue aufweist. Das Werk sei eine Arbeit des Valtero di Alemagna. Das mitgeteilte Epitaph sagt aus, daß das Grabmal die Gebeine des Nikolaus Gaglioffi birgt. Es folgt ein rhetorisches Lob auf den Verstorbenen, und am Schluß wird die Auftraggeberin der Anlage genannt, Marutia (Maruccia) de Camponichis (Camponeschi), die Gemahlin des Nikolaus. Dieser war Gouverneur von Todi und Kondottiere im Dienst des Königs Ladislaus von Neapel. Ähnlich wie im Epitaph des Camponeschigrabmals von 1432 wird die lateinische Grabinschrift in S. Domenico eingeleitet mit den Worten: »Hochoben wird in diesem Grab der Ritter Nikolaus eingeschlossen«.
Um die Werke des Gualterius im Zusammenhang vorzuführen, haben wir der zeitlichen Abfolge der Grabmäler etwas vorgegriffen. Sieben Jahre nach der Errichtung des Cal (S. 382) doragrabmals starb 1419 der seit 1402 amtierende Bischof von Sulmona, Bartolomeo De Petrinis. Sein Kastensarkophag (2,10 m breit, 1,96 m hoch, 0,67 m tief) steht zu ebener Erde am Anfang des linken Seitenschiffs der Kathedrale (Tf. 258). Die Schauseite zeigt die übliche Dreiteilung mit kassettenartig gerahmten Reliefs, in der Mitte die Madonna in einem wallenden Gewand, den Leichnam Christi auf ihrem Schoß haltend. Dieses Bild trennt die Verkündigungsdarstellung in den Seitenfeldern, links der Engel und rechts die Maria. Den oberen Abschluß der Vorderseite bilden zwei konventionelle Ornamentbänder. Zuunterst sieht man das abruzzesische Wellenband mit eingefügten Blüten und darüber das Schachbrettmuster. Der Bischof liegt auf dem flachen Sargdeckel. Sein Kopf ruht auf einem kunstvoll aufgetürmten Kissen, und seine Gestalt zeigt eine leichte Wendung zum Beschauer. Ein nur literarisch überliefertes Epitaph teilt u.a. mit, daß der Bischof aus Tocco da Casauria stammt und ein berühmter Theologe und Humanist gewesen ist. Gegenüber von diesem Grabmal befindet sich im rechten Seitenschiff ein ganz ähnlicher Sarkophag, der die Gebeine der Schwester des Bischofs bewahrt. Auf der dreigeteilten Vorderseite sieht man Reliefs, und zwar in der Mitte den auferstandenen Erlöser, im rechten Feld den Stadtpatron Panfilus und im linken einen anderen Heiligen im Bischofsgewand. Die Liegefigur auf dem Sargdeckel ist eine mittelmäßige Arbeit, die vielleicht unvollendet geblieben ist.
Wenig bekannt ist ein Sarkophag des 15. Jh., der vor nicht langer Zeit von Castiglione a Casauria in die Abteikirche S. C1emente a Casauria gelangte und dort im linken Seitenschiff seine Aufstellung fand (Tf. 257). Auf dem Sargdeckel ruht auf einem Doppelkissen die Figur eines Bischofs mit Mitra und einem Gewand, das unter dem Hals von einer Brosche zusammengehalten wird. Das Gesicht mit den aufgequollenen Wangen ist plastisch und realistisch gestaltet. Die mit großen Bischofsringen besetzten Hände halten ein aufgeschlagenes Buch, auf dessen Seiten in gotischen Lettern zu lesen ist: »Non intres in iudicium cum servo tuo Domine« (Psalm 143, 2: Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht).
In der Zeit zwischen 1432 und 1467 wissen wir wenig von abruzzesischen Grabmonumenten. Im letztgenannten Jahr starb Amico da Buonamicizia, ein Kanoniker aus Citta S. Angelo, der seit dem 23. August 1456 das Bischofsamt in Penne innehatte. Sein Grab ist in S. Michele in Citta S. Angelo am Anfang des Mittelschiffs links unter dem Orgelprospekt erhalten. Auf dem Deckel des zu ebener Erde stehenden Kastens ist die Liegefigur des Verstorbenen dargestellt. Unter ihm knien drei Engel. Buonamicizia (gute Freundschaft) machte seinem Namen keine Ehre. Er versuchte, den Sitz der Diözese in Atri aufzuheben und an einen anderen Ort zu verlegen. Der Zorn der Bürger von Atri war so groß, daß der Bischof 1462 um seine Entlassung einkommen mußte.
Einen neuen künstlerischen Impuls zeigen die abruzzesischen Grabmäler der Renaissance, die der oft genannte Bildhauer Silvester in L'Aquila schuf. Im Herbst 1476 starb im Alter von 78 Jahren in L'Aquila der Kardinal und Bischof Amico Agnifili, der bedeutendste Kleriker der Renaissance in den Abruzzen. Die Begräbnisfeierlichkeiten waren besonders prunkvoll. Mit eigenen Geldern hatte Agnifili allein dreihundert Gewänder anfertigen lassen, die Bedienstete bei seiner Trauerfeier zu tragen hatten. Inmitten des Domes hatte man einen prächtigen Katafalk aufgebaut, zu dessen Füßen die zahlreichen Geschenke des Kirchenmannes an die Kathedrale ausgebreitet lagen; es handelte sich um Werke der Kleinkunst und um Bücher, die z.T. mit Miniaturen ausgestattet waren. Der Auftrag, dem geistlichen Herrn eine würdige Ruhestätte im Dom zu errichten, erging an Silvester, der mit den Arbeiten sofort begann (Tf. 259). Am 15. Dezember 1476 trifft er mit Giovanni di Lancellotto aus Mailand, einem versierten Kenner von Steinbrüchen, ein Abkommen, daß dieser ihm das erforderliche Material für die im Vertrag angegebenen Einzelteile des Monuments aus den nahen Bergen zu besorgen habe. Die Arbeiten am Grabmal dauerten vier Jahre. 1480 konnte der Künstler in der untersten Zeile der Inschrift auf der Vorderseite des Sarges stolz signieren und datieren »Opus Silvestri Aquilani 1480«.
Der Sockel des Sarkophages mit dem Agnifiliwappen und den beiden geflügelten Putten ist eine Zutat barocker Zeit. Sich an florentinische und römische Vorbilder haltend, bricht Silvester mit der abruzzesischen Tradition, die dem Sargkasten eine schlichte, rechteckige Form gab. Stattdessen zeigt sein Werk einen ausgeklügelten und komplizierten Aufbau. Auf einer auf der Vorderseite ornamentierten Platte setzen mächtige Löwenpranken auf, die den wannenförmig gebildeten Sarkophag tragen, dessen oberer Rand ausladend geformt ist. Darauf liegt ein mit Schuppenmuster versehener, elegant gekehlter Deckel. Auf diesem erheben sich am linken und rechten Rand zwei Stützen, auf denen die Liegefigur des Agnifili ruht. Sie scheint etwas zu lang geraten, denn das Haupt mit der Bischofsmütze, die Kopfkissen mit Quasten und die Füße ragen über den Deckel hinaus. Dekorativ ist der Mantelwurf des Toten behandelt, der den Sargdeckel überschneidet und halbkreisförmig herabhängt, wobei der tiefste Punkt des Saumes auf der Mittelachse des Sarkophages liegt. Die Schauseite des Schreines zeigt nicht, wie früher, Reliefdarstellungen christlichen Inhalts, sondern ganz im Sinn der Renaissance erscheint in ihrer Mitte eine Tafel mit einer ausführlichen Inschrift, die den Menschen Agnifili verherrlicht. Zu beiden Seiten der Aufschrift sind in zartem Relief kunstvoll geschlungene Bänder und Blüten dargestellt.
Die Grabanlage des Agnifili hatte ihren Platz ursprünglich neben dem Hauptaltar des alten Domes und wurde dort durch das Erdbeben von 1703 teilweise zerstört. Die Fragmente stellte man auf dem Friedhof neben der Kathedrale ab, und erst anläßlich der Restaurierungen des Domes im Jahr 1887 wurde der Sarkophag, so wie er heute erscheint, im Dom rechts vom Eingang aufgestellt. Aus dem Vertrag mit Giovanni di Lancellotto ergibt sich, daß der Aufbau des Grabmals einst vielteiliger war. Zu seiten des Sarges stiegen Pilaster auf, die weit über die Liegefigur hinausragten und (S. 383) durch einen Architrav verbunden waren. Darüber spannte sich ein Rundbogen; in dessen Lünette befand sich ein Relief mit der Darstellung der sitzenden Madonna in Dreiviertelfigur mit dem stehenden Christuskind, umgeben von zwei Seraphim. Dieses Werk gelangte vom Domfriedhof nach S. Marciano in L'Aquila und dient dort dem rechten Langhausportal als Lünette. Vor den Pilastern des Grabmals standen die Figuren der hll. Georg und Massimo. Silvester verhielt sich in der Gestaltung des Agnifilimonumentes als Eklektiker. Er hatte Kenntnis vom Grabmal des Ludovico d'Albret von Bregno in der Kirche S. Maria Aracoeli in Rom, und als Modell diente ihm das Marsuppinigrabmal des Desiderio da Settignano in S. Croce in Florenz.
Die Aufträge für die Domkirche und für die Holzstatue des hl. Sebastian von 1478 hatten Silvester den Ruhm des ersten Bildhauers der Stadt eingebracht. So war es ganz natürlich, daß er auch von den einflußreichsten Familien L'Aquilas mit Aufgaben betraut wurde. Aus nächster Nähe kannte er das dramatische Schicksal des Pietro Lalle Camponeschi, Graf von Montorio. Dieser war der angesehenste Patrizier der Stadt und letzter männlicher Sproß des aquilanischen Familienzweiges. Er wurde aufgerieben durch das Verhalten der Aragonier, die seine Zuverlässigkeit und Königstreue als unglaubwürdig ansahen. Pietro Lalle heiratete in Neapel Maria Pereira-Naronia, eine Verwandte des spanischen Königshauses. Der Ehe entsproß eine Tochter Victoria, die in die Carafafamilie einheiratete und die Mutter des Papstes Paul IV. ist. 1484 wurde der arglose Pietro durch Intrigen nach Neapel gelockt und dort als Feind des Königs gefangengesetzt. Auch Maria Pereira forderte man auf, in die Landeshauptstadt zu kommen. Sie reiste am 3. Juli 1484 mit ihrem Töchterchen Beatrice von L'Aquila nach Neapel, wo in allen Bedrängnissen auch noch das Kind im Alter von fünfzehn Monaten starb. 1490 wurde Pietro Lalle so plötzlich vom Tode ereilt, daß er die letzte Ölung nicht erhalten, geschweige denn ein Testament aufsetzen konnte. 1488 erhielt Silvester von der nach L'Aquila zurückgekehrten Maria Pereira den Auftrag, in der Familienkapelle der Camponeschi in S. Bernardino ein Monument zu errichten (Tf. 261), das ihr eigenes Grabmal sowie das ihrer früh verstorbenen Tochter Beatrice werden sollte. Die Arbeiten mußten 1490 noch im Gange gewesen sein, denn in diesem Jahre ernannte Maria einen Prokurator, der die Ausführung des Monuments zu überwachen hatte. Das Grabmal wurde später versetzt und steht heute als glanzvollstes Werk des Silvester an der linken Wand des Chores. Gewisse Formen übernahm der Meister vom Agnifiligrab, so das Schuppenmuster auf dem Deckel des Kindersarges und andere Ornamente, vor allem aber die Gestaltung des wannenförmigen Sarges der Mutter. Am späteren Grab beobachtet man einige Vereinfachungen. Die den Sarg der Maria Pereira stützenden Löwenklauen sind klobiger gearbeitet, und es fehlt das ungeschickt gefertigte Gestell, das zur Aufbahrung der Liegefigur des Bischofs diente.
Die großzügige Anlage ist ein Doppelgrab. In dem Sockel ist der Sarg der kleinen Beatrice eingelassen. Unter dem Schrein der Maria Pereira in der oberen Zone liegt, gleichsam unter dem Schutz der Mutter, das Abbild des toten Kindes. Die reifste Arbeit bildet die Liegefigur der Mutter (Tf. 262) im einfachen Witwenkleid, besonders eindrucksvoll ist das klare, gütige Gesicht. Trotz der Geschlossenheit der Konzeption gibt es kaum ein Werk des Künstlers, an dem sich die Vorlagen besser ablesen lassen. Römisch ist der große Bogen mit dem kassettierten Unterzug, der das Monument oben abschließt, florentinisch dagegen ist der Aufbau des Grabes der Mutter, wie beim Agnifiligrabmal vergleichbar mit dem Monument des Carlo Marsuppini in S. Croce in Florenz. Hier wie dort finden sich das Schuppenmuster, die Löwenpranken als Träger des Sarges und der Fruchtkranz an der Archivolte. Die Putten zu seiten der Beatrice, die das Montoriowappen halten, sind Kopien nach Benedetto da Maiano. Die Ornamente am oberen Schrein sind der Bregnoschule entnommen. In den Nischen in den Pilastern zu beiden Seiten des Monuments stehen unten links die Figur des Täufers und rechts die des Franz von Assisi, oben links die hl. Katharina und rechts Maria Magdalena.
Neben den Wandgräbern mehren sich im 15. Jh. die Bodengräber mit den Porträts der Verstorbenen und ihren Wappen. Um-und Aufschriften verkünden ihre Lebensdaten und ihre Taten. Eine Sammlung der Grabmäler dieses Typs würde für die Geschichte und Kunstgeschichte der Abruzzen eine völlig neue Forschungsgrundlage ergeben.
1491 starb der seit 1463 amtierende Bischof von Sulmona, Bartolomeo de Scalis, bekanntgeworden durch seine Bücherstiftungen an den Dom. In der rechten Apsis der Domkrypta von Sulmona ist seine Grabplatte in den Fußboden eingelassen. Sie zeigt sein Bildnis sowie unten und an der rechten Seite Inschriften.
Von manchen Personen kennen wir nicht mehr als ihre Grabplatten. So liegt z.B. in S. Maria in Collemaggio in L'Aquila der Waffenträger (arrniger) Mozzapiede begraben. Der Kopf der Ganzfigur in Hochrelief ruht auf einem Kissen mit Quasten, auf dem links das Wappen des Verstorbenen erscheint. Die Hände sind über dem Leib verschränkt, und das Schwert, das er im Leben in Händen hielt, wird zur linken Seite des Toten gezeigt. Mehr wissen wir von Francesco Luculo (da Lucoli), dessen Gruft in S. Bernardino in L'Aquila in der Nähe des linken Portals im Fußboden erhalten ist. Er war ein berühmter Rechtsgelehrter, u.a. Prätor von Siena und Bürgermeister von Florenz. Als Berater und Parteigänger des Pietro Lalle Camponeschi wurde er auf aragonischen Befehl geblendet und mußte einen Teil seines Lebens in den Gefängnissen von Ortona a Mare und von Pacentro verbüßen. Er starb 1492. Sein eindrucksvolles Porträt auf der Grabplatte ist in strengen, nahezu geometrischen Formen gebildet. Das lange Gewand fällt von der hohen Taille in geraden Faltenzügen glockenförmig nach unten. Die Arme sind angewinkelt und die Hände auf dem Leib zusammengelegt über dem Knauf seines gewaltigen Schwertes, das die Mittelachse der Grabplatte bestirnt. Ein zweites Schwert ist an seiner Seite zu sehen. Luculo erscheint in der Kleidung eines Richters, und um seinen Hals legt sich eine (S. 384) Amtskette. Als Seltenheit begegnen wir an dem Grabstein einer Künstlerinschrift unter den Füßen des Toten zwischen den beiden Wappen: »Hoc opus fecit magister Johannes De Rottorys de Milano«. Dieser Meister ist in L'Aquila durch Kirchenausstattungen bekanntgeworden.
Der Einfluß der toskanischen Renaissance wäre außerhalb von L'Aquila noch eingehender an dem Grabmal des frühverstorbenen Giovanni Battista Acquaviva in Cellino Attanasio zu untersuchen. Im September 1477 hatte Andrea Matteo III. Acquaviva Isabella Piccolomini, eine Enkelin König Ferdinands I. von Neapel (gest. 1494), geheiratet. Aus dieser Ehe ging Giovanni Battista hervor, der vierzehnjährig im Jahr 1496 starb. Sein vom Vater in Auftrag gegebenes Grabmal liegt in der Pfarrkirche S. Maria Nova im Chor hinter dem Altar. Die Figur des Kindes liegt auf dem Deckel des Sarkophages, und zwei Engel tragen das Wappen der Acquaviva.
Zu den Wand-und Bodengräbern gesellt sich in den Abruzzen am Ende des 15. Jh. eine dritte Gattung, das freistehende Denkmal, das von allen Seiten eine künstlerische Behandlung erfährt. Diesen Typ vertritt das Grabmal des hl. Bernhardin in S. Bernardino in L'Aquila. Das Monument hat die Form eines Hauses, geborgen im größeren Gotteshaus. Derartige architektonische Gebilde waren um 1500 in Italien nicht unbekannt. Erinnert sei an die Casa Santa von Loreto. Hier ummantelte man das Haus, das der Legende nach Maria, die Mutter Jesu, in Nazareth bewohnt hat. Von dort sollen es im Jahr 1291 Engel durch die Luft weggetragen haben, und nach manchen Zwischenlandungen gelangte es 1295 an seinen jetzigen Aufstellungsort. Mit seiner architektonischen Umkleidung der Renaissance steht es mitten in der von Papst Paul II. begonnenen und von Sixtus V. 1587 vollendeten Kirche. Auch das von Alberti 1467 fertiggestellte Heilige Grab steht im Mittelpunkt der Rucellai-Kapelle in S. Pancrazio in Florenz.
Bereits vor Beginn der Bauarbeiten am Mausoleum des Bernhardin um 1496 war die Verehrung des Heiligen sehr intensiv. Ludwig XI., König von Frankreich, hatte der Stadt L'Aquila einen prächtigen Silberkasten zur Aufbewahrung der Gebeine geschenkt. Der Prunkschrein wurde 1481 von Frankreich über Rom nach L'Aquila gebracht und zunächst in S. Maria di Collemaggio aufgestellt. Im Juli 1481 erfolgte die feierliche Überführung nach S. Bernardino. 1493 besuchte Giovanna d'Aragona (gest. 1517), die Gemahlin des Königs Ferdinand I. von Neapel, für zehn Tage die Stadt L'Aquila. Sie besichtigte das Grab des Heiligen, das sich zu dieser Zeit in der Krypta von S. Bernardino befand.
Die Kapelle, die das Mausoleum beherbergt, und deren ursprüngliche architektonische Gestaltung durch das Erdbeben von 1703 zerstört wurde, öffnet sich im rechten Seitenschiff in Höhe der fünften Arkade. Sie gehörte der aus Civitaretenga stammenden Familie Nanni, deren bedeutendster Vertreter Jacopo di Notar Nanni war, ein reicher Kaufmann und zugleich der größte Mäzen der Renaissance in L'Aquila. Vor 1500 beauftragte er Silvester mit der Errichtung des Mausoleums (Tf. 260). 1504 starben der Künstler und sein Auftraggeber. Laut Inschrift wurde das Werk 1505 beendet, und aus zeitgenössischen Quellen wissen wir, daß an der Vollendung der Arbeiten Angelo d'Arischia und der Römer Salvato beteiligt waren. In dem Monument ist der Heilige von außen sichtbar aufgebahrt. Auf der Vorder-und Rückseite ermöglichen große vergitterte rechteckige Öffnungen über einem hohen Sockel die Einsicht in das Innere des Grabbaues. Die Fenster werden durch kunstvolle Baluster unterteilt.
Die Gliederung der Vorder-und Rückfassade, die beide zweigeschossig sind, bestimmen doppelte abgetreppte Pilaster und Gesimse mit reichem Rankenwerk, vergleichbar den Ornamenten an römischen Werken des Bregno. Auf der Vorderseite stehen in den vier Nischen zwischen den Pilastern Statuen, und zwar oben links Johannes der Täufer, rechts Johannes der Evangelist, unten links Petrus und rechts Paulus. In dem schönen Relief im Mittelfeld (Tf. 263) der oberen Zone -dem darunter die Fensteröffnung entspricht -sitzt Maria mit dem Kind auf einer Wolkenbank, aus der Cherubköpfe hervorlugen. Links von ihr steht der alte Bernhardin, der den knienden Stifter des Mausoleums, Jacopo di Notar Nanni, der Jungfrau empfiehlt, auf der rechten Seite kniet der jugendliche Johannes von Capestrano mit der Siegesfahne in seiner Rechten. Der Aufbau über den beiden Untergeschossen ist von gröberer Machart als diese und sicher nicht mehr von der Hand des während der Bauzeit verstorbenen Silvester. Das profilierte Gebälk ist zu schwer geraten, und Gottvater in der Lünette zeigt nicht die Klarheit und Bestimmtheit der Formen der übrigen Figuren an der Vorderseite.
Die im Aufbau entsprechende Rückseite läßt vor allem im Figürlichen die Qualität der Vorderfront vermissen. In diesen Partien scheint der Anteil der Gehilfen größer zu sein als der des planenden Meisters. Die Nischenfiguren in der unteren Zone sind rechts Antonius von Padua und links Franz von Assisi, in der oberen Katharina von Alexandrien und der hl. Sebastian, letzterer ein schwaches Abbild der farbigen Holzstatue des Silvester von 1478. Bekrönt wird die Rückfront durch die Figur des Christus als Schmerzensmann. Die Flanken des Mausoleums sind mit ihren glatten, blaßroten Marmorplatten zwischen Doppelpilastern vornehm und einfach gehalten.
An diesem Mausoleum der Renaissance kommt auch der Humanismus zu Wort. Lange Inschriften erscheinen auf der Vorder-und Rückseite links und rechts in der Sockelzone und auf der Rückfront im Mittelfeld des oberen Wandabschnitts. Die vordere linke und hintere rechte Inschrift enthalten einen panegyrischen Text auf den hl. Bernhardin; die Schrifttafel auf der Mitte der Rückseite verzeichnet Daten aus dem Leben des Heiligen und berichtet von seiner ersten Begräbnisstätte in S. Francesco sowie von der Translation seiner Gebeine in das neue Gotteshaus. Die rechte Inschrift auf der Vorderfront würdigt Jacobus di Notar Nanni als den Stifter des Mausoleums und enthält das Datum seiner Fertigstellung 1505. Der hintere linke Schriftblock rühmt den nicht namentlich genannten Künstler. Sein Werk wird (S. 385) mit den großen Meistern des Altertums verglichen, unter denen Phidias, Praxiteles, Skopas, Timotheos und Bryaxis genannt werden. Im Innern des Grabbaus liegt der Leichnam des Bernhardin in einem vergoldeten Holzsarkophag, der 1799 von Giuseppe Mantini aus Mantua gefertigt wurde, und der den von den Franzosen 1799 entwendeten silbernen Sarg ersetzt, der auf Bestellung der Stadt L'Aquila 1550 von den berühmten aquilanischen Goldschmieden Bartolomeo und Gaspare Romanelli ausgeführt wurde. Zuerst ruhte Bernhardin in dem bereits erwähnten und durch Schriftquellen genau beschriebenen Silberschrein, den Ludwig XI. in feierlichem Zug über Rom, wo er dem Papst gezeigt wurde, nach L'Aquila bringen ließ. Aus Geldmangel wurde dieses Kunstwerk 1529 verkauft und eingeschmolzen.
Der Künstler Silvester und der Auftraggeber des Bernhardinmausoleums Jacobus di Notar Nanni starben im selben Jahr 1504, vielleicht an der Pest. Erstaunlich ist das Nachlassen der Qualität in der Grabmalkunst in L'Aquila unmittelbar nach dem Tode des Meisters. Gewisse Anzeichen dieser Art waren bereits an den Skulpturen des Mausoleums zu beobachten, das ein Jahr nach dem Tode Silvesters vollendet wurde.
Jacobus di Notar Nanni ist in der Kirche Madonna dei Soccorso in L'Aquila beigesetzt und härte ein künstlerisch bedeutenderes Grabmal verdient. Laut Inschrift ließ Diana, Witwe und zweite Gemahlin des Verstorbenen, dieses Monument 1504 errichten. Anklänge an die Silvesterwerkstatt sind, abgesehen von dem grob gearbeiteten Fruchtkranz über der Sockelzone, dem vorspringenden profilierten Gebälk und den schwach vortretenden Pilastern, die den Sarkophag in Wappen-und Inschriftenfelder gliedern, kaum zu erkennen. Die dem Beschauer leicht zugewandte, liegende Figur des Jacobus zeigt stilistisch einen Rückfall in das 14. Jahrhundert. Schließlich tauchen noch antikisierende Formen auf, die seit dem 11. Jh. in den Abruzzen allgemein bekannt waren, wie das wellenförmige Rankenmuster, Eierstab und Zahnschnitt.
Aus derselben Werkstatt stammt ein anderes Grabmal in der Kirche Madonna del Soccorso hinter dem linken Querhausarm, das dem Luigi Petrica 1506 von seinen Angehörigen errichtet wurde, gleichsam eine Replik des Grabmonumentes de Jacobus di Notar Nanni. Die Inschrift in der Mitte lautet: »Ex familia de Picis. Petrus Lallus et fratres Aloisio Petricchae genitori benemerenti ob pietatem posuerunt 1506«. Die Rückwand der spitzbogigen Nische über dem Grab zeigt ein umbrisch beeinflußtes Fesko der Beweinung Christi. Auch der Unterzug am Spitzbogen trägt Malereien; dargestellt sind Halbfiguren von Heiligen in einer gemalten architektonischen Rahmung, und zwar die hll. Antonius von Padua und Johannes der Täufer links, Bernhardin und Petrus rechts.
Im Gegensatz zu L'Aquila konnte sich im Grabbau in Sulmona die Renaissance nicht durchsetzen. Man begnügte sich mit Bodengräbern, die für die Stadtgeschichte interessanter sind als für die Kunstgeschichte. Aus der Kirche S. Francesco gelangten verschiedene Grabplatten in das Musec Civico. Auf einer ist als Liegefigur der Ritter Gabriele Manieri aus L'Aquila dargestellt, mit über dem Leib zusammengelegten Händen und dem Wappen unter den Füßen. Er ist der Sohn des Carlo Manieri und der Agnese Camponeschi. Gabriele bewährte sich als Kriegsmann in venezianischen Diensten. Seinen Grabstein mit dem Datum 1505 stiftete die Ehefrau Magdalena de Merulinis. Eine andere Bodenplatte bedeckte die Gruft des in der neapolitanischen Verwaltung tätigen Gregorio Merolino und seiner Ehefrau Ippolita Cantelmo aus dem Familienzweig in Popoli. Der 1,68 x 0,66 m große, 1521 datierte Stein zeigt unten die Wappen der Merolini und Cantelmi und darüber den Ritterhelm mit wehenden Akanthusblättern.
Im zweiten Jahrzehnt des 16. Jh. konnte die Stadt L'Aquila den Bedarf an Grabmonumenten nicht mehr mit einheimischen Kräften decken. Zur Erstellung des Totenhauses für Papst Coelestin V. in S. Maria di Collemaggio engagierte man den Bildhauer Girolamo aus Vicenza. Das aus weißem Marmor errichtete Mausoleum hatte ursprünglich mehr Raum um sich in einer gotischen Kapelle des 14. Jh., die 1706 eine barocke Umgestaltung erfuhr und dabei verengt wurde. Die Inschrift ,»Opus magistri Hieronimi Vicentini sculptoris« ist an der Schauseite des Grabbaus auf der obersten horizontalen Rahmenleiste angebracht und von unten für den Beschauer unsichtbar. Die Jahreszahl 1517 ist auf der Rückseite zu sehen. Vor die vergitterte Öffnung, die den Blick in das Innere des Gehäuses freigibt, hat man einen Altar gestellt, dessen Inschriften an den Seiten an seine Errichtung im Jahr 1617 und seine Weihe im Jahr 1621. erinnern. Als Vorbild für das Papstgrabmal diente vor allem das einige Jahre früher entstandene Bernhardinmausoleum. Jedoch wurde der Formenapparat reduziert, und der figürliche Schmuck entfiel. Die Pilaster vom Grabmal des Bernhardin ersetzte Girolamo in beiden Geschossen durch vorgelegte Doppelsäulen, ein Motiv, das später in monumentaler Form an der Fassade von S. Bernardino wieder erscheint. In den Ornamenten ging der Künstler eigene Wege und ließ sich von lombardisch-venezianischen Formen anregen. Lionello Puppi, Kenner der venezianischen Skulptur, hat unseren in L'Aquila tätigen Girolamo mit Girolamo Pittoni identifiziert, von dem Werke in Vicenza erhalten sind.
Die bisher behandelten Grabmäler waren Einzelmonumente. Wohl hört man von Familienkapellen, in denen die Angehörigen einer Sippe begraben liegen, doch ist stets nur ein Denkmal aufgestellt. Vielleicht durch den Grabbau in Neapel angeregt, entstand in Riccia im Molise in S. Maria delle Grazie eine Begräbnisstätte, wo mehrere Familienmitglieder -jedes in einem eigenen Sarkophag -beigesetzt wurden. Die Anlage ist schlicht, ohne Ornamente und figürlichen Schmuck. Den architektonischen Aufbau erwähnten wir bereits an anderer Stelle. 1506 fand die Belehnung des Bartolomeo III. Capua mit Riccia statt. Er wandelte S. Maria delle Grazie zur Ruhestätte seiner Familie um und wurde selbst in der Mitte der Anlage 1522. in einem Bodengrab beigesetzt. Im Verein mit den Angehörigen des Bartolomeo (S. 386) erhielt hier auch die unglückselige Königin Constanza di Chiaramonte ihr Grab. Sie gab Stoff zu zahlreichen Legenden, und eine erzählt, wie sie in mondlosen Nächten in der Nähe ihrer ehemaligen Behausung in Riccia, der Torre Madama, umherirre, während man im Grab in S. Maria delle Grazie das Rascheln ihrer Gebeine höre, die nie zur Ruhe kommen.
Der üppige Totenkult der Hochrenaissance und des Barock mit grandiosen Denkmalen, der in Rom und im übrigen Italien gepflegt wurde, fand in den Abruzzen keine Resonanz. Man begnügte sich in der zweiten Hälfte des 16. Jh. oft mit Bodenplatten, auf denen der Verstorbene gar nicht zur Darstellung kam. Man gab sich mit der Anbringung einer Inschrift und des Wappens zufrieden. Ein Beispiel für diese Reduktion bietet das Grab des 1569 verstorbenen Francesco Sanita in der Domkrypta von Sulmona. Er war 24 Jahre lang Abt eines Klosters in Caramanico. Eine andere Ruhestätte, in der der vornehme, 1671 verstorbene Bürger Giovanni Antonio Tabassi in S. Francesco in Sulmona beigesetzt wurde, besteht ebenfalls in einer Bodenplatte mit Inschrift und Familienwappen.
Ohne jeglichen künstlerischen Ehrgeiz setzt das 17. Jh. die Tradition des Totenporträts auf Bodengräbern fort. Ein Musterbeispiel hierfür ist das Bildnis des aus Celano stammenden, 1621 gestorbenen Bischofs von Sulmona, Cesare del Pezzo, in der Domkrypta in Sulmona. Die Porträts auf den Grabplatten der fünf Ordensgenerale des Coelestinerordens in S. Maria di Collemaggio in L' Aquila, die im Zeitraum von 34 Jahren starben, sind zum Verwechseln ähnlich, ohne Hauch eines persönlichen Ausdrucks. Dargestellt sind Pietro Mari, gestorben 1646, Ludovico Bellora aus Rom, gestorben 1658, Francesco De Angelis, der im Alter von 72 Jahren verschied, Tederae (Teodoro?) Sipontino, gestorben 1670 und Giulio Mantini, gestorben 1680.
Kirchenausstattung aus Stein
Die Ausstattung abruzzesischer Kirchen mit Arbeiten aus Stein ist unüberschaubar. Die Vorbilder hierfür lieferten die verschiedensten Gegenden Italiens. In den Kirchen errichtete man kleine Familienkapellen, wie im Dom von Atri die der Acquaviva, man fertigte Altäre und Altaraufsätze nach dem Geschmack der Zeit. Gemälde wurden durch Renaissanceund Barockrahmungen in Stein in ein neu es Licht gesetzt, wie z.B. die 1283 datierte Madonna des Gentile da Rocca in S. Maria ad Cryptas in Fossa, die mit ausgesucht schönen Ornamentreliefs der Renaissance eingefaßt ist. Oder aber in der Pfarrkirche in dem Ort S. Jona steht die Figur des Christus, der seine Wundmale zeigt, auf einer Konsole vor einer flachen Nische, die ebenso wie die rahmende rechteckige Ädikula sehr entwickelte Schmuckformen der Renaissance vorführt. Der genormte Zierat der Spätgotik und nachfolgender Zeiten begegnet an Sakramentsschreinen, Tauf-und Weihwasserbecken, an Ziborien und Bischofssitzen.
Beim Abbruch des Konventsgebäudes von S. Francesco in Sulmona, der im 19. Jh. für die Errichtung städtischer Gebäude notwendig wurde, fand man im Bauschutt vier fast quadratische Reliefplatten aus Kalkstein vom Ende des 15. Jh., deren Höhe zwischen 76 und 78 cm und deren Breite zwischen 73 und 76 cm schwankt, und deren ursprüngliche Verwendung man nicht kennt. In den vier Feldern erscheint je ein Heiliger, Paulus mit großem erhobenem Schwert und einem Buch, Antonius Abbas mit Kreuzstab und Glöcklein, Franz von Assisi, der mit seiner rechten Hand auf das Wundmal deutet und ein Heiliger in einem langen Mantel, der ein Kind mit nacktem Oberkörper vorzeigt. Der Kopf des letzteren ist verloren, während im Reliefgrund noch der dazugehörige Kreuznimbus erscheint. Die Rahmungen der heute im Museo Civico in Sulmona verwahrten Figuren weisen eine Fülle abruzzesischer Formen auf. Die Heiligen stehen auf einer dünnen Sockelplatte, zu beiden Seiten steigen Stützen auf, die einen Dreipaß tragen, dessen mittlerer Bogen die Häupter umschließt. Die Schäfte der flankierenden Stützen sind in den verschiedensten Formen gebildet, als Halbsäule, Polygonalpfeiler, Spiralsäule und im Fischgrätenmuster. Kein Kapitell gleicht dem anderen. Die Zwickelfelder enthalten Blütenzierat, der schon an der romanischen Kanzel von S. Clemente a Casauria vorkam, und daneben die beliebten Weinranken.
Eine Mischung von Formen der Spätgotik und der Renaissance erscheint an dem 1502 datierten Sakramentsschrein in S. Maria Assunta in Assergi. Die seitlichen Stützen tragen einen mit Kriechblumen besetzten Kielbogen, in den ein Rundbogen eingehängt ist, an dessen Ansätzen die Zweckbestimmung des Gehäuses eingemeißelt ist »Oleum infirmorum«. Der Aufbau besteht aus polychromen Steinen.
Ein besonderes Gefallen zeigen die Abruzzen und das Molise im 15. und 16. Jh. an der Gestaltung von Weihwasserbecken. Eine ungewöhnliche Form präsentiert das Gefäß im Dom von Penne vom Ende des 15. Jahrhunderts (Tf. 266). Auf einer achteckigen Sockelplatte liegt ein mit Akanthusblättern verziertes Kapitell, das eine rechteckige Deckplatte trägt. Auf dieser steht ein alter bärtiger Mann, der an Stelle einer Säule oder eines Pfeilers mit seinem Kopf und seinen nach oben gekehrten Handflächen einen starken Knauf unter der runden Renaissanceschale stützt. Der Alte, der sichtbar schwer an der Last trägt, erfährt Unterstützung von zwei nackten Kindergestalten, die die gleiche Standfläche wie der Greis einnehmen. Das eine Kind stützt den Ellbogen des Alten, das andere entlastet den Gebrechlichen, indem es seine Hände direkt gegen den Knauf der Schale stemmt.
Räumlich und zeitlich nicht weit vom Weihwasserbecken in Penne entfernt entstand ein ähnliches Gebilde im Dom von Atri (Tf. 265). Diesmal wird das Gefäß von der Gestalt eines jungen kräftigen Mädchens gestützt. Sie ist mit nackten stämmigen Beinen dargestellt und mit einem gerafften bäuerlichen Gewand bekleidet, das am Hals einen weiten rechteckigen Ausschnitt zeigt. Der Hilfe weiterer Personen entbehrend, trägt sie die polygonale Schale, deren Druck ein kunstvoll geschlungenes Kopf tuch abfängt, in allem ein Motiv, das dem Künstler täglich in der Wirklichkeit am Brunnen begegnen konnte. Gemeinsam ist den beiden Stützfigu (S. 387) ren in Atri und in Penne das Balancieren der Last im Gehschritt. In Penne stellt der gebeugte Mann mühselig einen Fuß vor den anderen, gelassener und lieblicher geschieht dasselbe in Atri. Der Dom von Atri bewahrt aus der gleichen Zeit noch ein zweites Weihwasserbecken aus Marmor. Um den Säulenschaft windet sich eine Ranke mit Blättern, Blüten und Vögeln. Die innere Wandung der Schale ist ebenfalls verziert. In der Kirche SS. Annunziata in Rocca di Cambio ist der Fuß des Weihwasserbeckens aus dem 16. Jh. mit Delphinen und Cherubim ausgestaltet. Das Becken in SS. Lorenzo e Biagio in Popo li trägt das Datum 1554, und die seltsam geformte Schale in der Kirche Madonna del Ponte über dem Flüßchen Tirino in Bussi ist vom 7. März 1578 datiert. In S. Maria in Colle in Pescocostanzo stehen im Innern zu beiden Seiten des Nebenportals zwei 1610 datierte Weihwasserbecken. Die Marmorgefäße werden von bronzenen Adlern mit geöffneten Schwingen gestützt.
Einfacher und schlichter erscheinen die Weihwasserbecken im Molise. Die runden Stützen der beiden Schalen in S. Salvatore in Castropignano sind mit pflanzlichen Ornamenten verziert. Im 16. Jh. sind im Molise balusterartig gebildete Stützen für die Schalen charakteristisch. Ein schönes Beispiel liefert das Becken in der Kirche S. Maria della Strada, dessen Struktur in ganz ähnlicher Weise in S. Salvatore in Cercepiccola und in S. Maria Assunta in Montorio nei Frentani wiederholt wird. Dort erscheinen innen auf der Schalenwandung vier Fische in Reliefform. Abgewandelt erscheint das Balustermotiv am Weihwasserbecken in der Kirche S. Germano in S. Giovanni in Galdo.
In L'Aquila erreichte die Kirchenausstattung der Renaissance einen künstlerischen Höhepunkt zur Zeit der Tätigkeit des Bildhauers Silvester und seiner Schule. Ein Meisterwerk ist der große Marmoraltar in der Kirche Madonna dei Soccorso im rechten Querhausarm (Tf. 264). Der Altaraufsatz besitzt eine beträchtliche räumliche Tiefe. Die vorgezogenen Teile der Ädikula ruhen auf freistehenden Pfeilern. Über deren Kapitellen und einem sich verkröpfenden Gesims verläuft ein Fries mit singenden und tanzenden Putten. Darüber liegt nochmals ein sich verkröpfendes Gebälk, das den die Anlage abschließenden großen Rundbogen trägt, vor dessen Ansätzen links und rechts die Verkündigungsgruppe mit dem knienden Gabriel und der stehenden Maria erscheint. In der Lünette ist die Madonna dargestellt, umgeben von Engeln und Cherubim. Der Altaraufsatz wird durch die Standfigur Gottvaters auf dem Scheitel des Rundbogens bekrönt. Das Zentrum des Retabels bildet das wundertätige Madonnenbild, das den Anlaß zum Bau der Kirche gab, und das in einem kleinen Renaissancetabernakel eingeschlossen ist. Dieses wiederum ist in eine reliefierte Steinplatte eingelassen, deren Darstellung sich auf das wundertätige Marienbild bezieht. Die Platte zeigt einen Baldachin, den oben zwei fliegende Engel halten, während an den Seiten zwei stehende Engel den Vorhang lüften, so daß der Beschauer gleichsam Einblick in die geheimnisvolle göttliche Welt erhält, die in dem Madonnenbild wirksam wurde. Über der Spitze des Baldachins in der Mitte des Architravs erscheint das Wappen des Jacopo di Notar Nanni. Die ganze Anlage ist sehr farbig gehalten, der weiße Stein kontrastiert mit dem blaufarbenen Hintergrund und goldenen Dekorationselementen. Auf Grund seines Stils ist das Altarwerk dem Silvester oder wahrscheinlicher seiner Werkstatt zuzuschreiben. Die von Silvester und seiner Schule verwendeten florentinischen Vorbilder wurden bereits bei der Besprechung des Pereiragrabes in S. Bernardino genannt. Aus den gleichen Quellen schöpfte auch der Meister des Altarwerkes in der Soccorsokirche. Die Madonna mit Kind in der Lünette geht stilistisch auf Darstellungen aus dem Umkreis des Antonio Rossellino und des Desiderio da Settignano zurück. Die engsten Beziehungen bestehen indessen zur Verrocchiowerktatt. Diese hat Laurine Mack Bongiorno nachgewiesen, indem sie unsere quadratische Reliefplatte mit dem Tabernakel des Francesco di Simone in Santa Maria di Monteluce in Perugia in Beziehung setzte. Die Arbeit des Simone wurde 1483 in S. Maria di Monteluce aufgestellt, aber schon einige Jahre vorher in der Werkstatt des Verrocchio gearbeitet.
Gewisse Anklänge an die aquilanische Renaissance läßt der Altar in S. Maria del Ponte bei Fontecchio spüren. Das vorkragende Gesims über den ornamentierten Pilastern war bereits am Pereiragrab in S. Bernardino vorgegeben. Von dort übernommen ist auch der Rundbogen mit dem kassettierten Unterzug und vor allem die wannenförmige Gestalt des Altars.
Die Beteiligung nichtabruzzesischer Künstler an der Kirchenausstattung in Stein ist beträchtlich. Zwischen 1411 und 1432 durchstreifte unsere Region eine Reihe deutscher Bildhauer, die vornehmlich in der Grabmalkunst unter Gualterius de Alemagna bedeutende Spuren hinterlassen hat. Die Deutschen erhielten auch Aufträge für Inneneinrichtungen, die jedoch nur fragmentarisch erhalten sind. In diesen Arbeiten übernehmen sie teilweise die eigenwilligen Ornamente des von Gualterius signierten und 1412 datierten Caldoragrabes in S. Spirito bei Sulmona, zu beobachten in Guardiagrele am Ziborium in S. Maria Maggiore und an den Bogen über zwei Altären in der Unterkirche Madonna de! Riparo. Die Werkstatt betätigte sich ebenfalls in der Kirche S. Martino in Valle bei Fara S. Martino. In den dortigen Ruinen fand man Bruchstücke einer Archivolte mit einer Inschrift in gotischen Lettern, die die Jahreszahl 1411 trägt.
Wohl unabhängig von der Werkstatt des Silvester arbeitete in L'Aquila ein mailändischer Bildhauer Giovanni de'Rettori (de Rottorys), dessen 1492 gefertigter Grabstein für Francesco Luculo bereits erwähnt wurde. 1474 verpflichtet er sich dem Bischof Agnifili, ein Taufbecken für den Dom in L'Aquila herzustellen. Davon sind noch vier Reliefplatten mit den Darstellungen der Verkündigung, der Heimsuchung, der Anbetung und der Taufe Christi im Innern der Kirche über den Seitenportalen der Fassade vorhanden. Für den Dom hatte Giovanni ferner noch ein Ziborium zu liefern. Ein Fragment hiervon ist erhalten und mit seinem Namen versehen. Es ist heute über einer Tür auf der rechten Außenwand der Kirche S. Margherita angebracht. In der Mitte erscheint die Halbfigur Gottvaters, der von vier (S. 388) Engeln umgeben ist. Unter gotischen Baldachinen sieht man an den Seiten die Figuren der Verkündigung, den Erzengel Gabriel und Maria. Dem Giovanni zugeschrieben wird das achteckige Taufbecken in S. Marciano in L'Aquila mit kassettenförmig gerahmten Reliefs an der Außenwandung, ein Werk, das aus der Kirche in die Obhut des Denkmalamtes in L'Aquila gelangte.
1493 vollendete der Architekt Antonio da Lodi den Campanile des Domes in Teramo. Zusätzlich kam ihm noch die Aufgabe zu, für den Dom das Marmorgehäuse zur Aufbewahrung des Salböles herzustellen, ein Meisterwerk der lombardischen Renaissance. Vielleicht zog Antonio, der auch mit Arbeiten am Turm des Domes in Atri betraut wurde, weitere Oberitaliener in die Stadt nach.
Andrea Matteo III. Acquaviva, den die Aragonier aus politischen Gründen drei Jahre gefangenhielten, gelobte in der Haft, im Dom zu Atri der Maria und ihrer Mutter Anna eine Kapelle zu errichten. Zur Ausführung wurde Paolo de Garviis aus Bissone am Luganer See bestimmt, ein Ort, der viele Künstler hervorbrachte, die Gagini, Stefano Maderna und Borromini. Die Kapelle entstand in reinen Formen der oberitalienischen Renaissance. An den Seiten des hochliegenden Rundbogens über dem Altar sind Familienwappen angebracht, links das Abzeichen der Acquaviva, rechts dasjenige des Hauses Piccolomini. Die Inschrift am Sockel der linken vorderen Säule besagt, daß der Herzog die der Maria und Anna geweihte Kapelle 1505 errichten ließ. Sofort nach der Fertigstellung erhielt Paolo von der Gemahlin des Herzogs, Isabella Piccolomini, den Auftrag für das Taufbecken und das große Tabernakel im Dom von Atri. In einer Inschrift nennt sich der Künstler »Paulus de Garwis« mit dem Datum 1503.
In Campli steht in S. Maria in Platea am Ende des linken Seitenschiffs der 1532 datierte Sakramentsaltar, als dessen Meister sich in einer langen Inschrift Sebastiano da Corno nennt »Huius operis magister Sebastian de Corno Longobardorum civitate sculptor fuit«. Im rechteckigen Mittelfeld, das von typisch lombardischen, kandelaberähnlichen Säulen und einem Architrav begrenzt wird, ist eine 1495 datierte Holzskulptur einer Madonna mit Kind zu sehen. Sogar eine Stadt wie Pescocostanzo, in der das heimische Kunsthandwerk durch Jahrhunderte in voller Blüte stand, beschäftigte in der zweiten Hälfte des 16. Jh. lombardische Meister für die Herstellung steinerner Altaraufsätze in S. Maria in Colle. Im 18. Jh. zeigt die Ausstattung dieser Kirche den Einfluß Neapels. Zeugnis dafür ist das eigenwillig gebildete, 1753 datierte Taufbecken aus polychromem Marmor, das als Bekrönung die Taufe Christi zeigt, eine vollplastisch gebildete Gruppe, und darunter zwei jubilierende Puttofiguren.
Im Barock zeigt die Kirchenausstattung im Molise einen starken neapolitanischen Einfluß. Viele Einrichtungen in der Diözese Larino fertigte der Bildhauer Lorenzo Troccoli im neapolitanischen Stil, z.B. den reichlich mit Marmor ausgestatteten Hauptaltar für die Kathedrale in Larino. Als Vorlage benutzte Troccoli eine Zeichnung des Malers und Bildhauers Domenico Vaccaro, die dieser für die Herstellung der Altäre in der Chiesa della Concezione di Monte Calvario in Neapel vorbereitet hatte. Der 1740 datierte Hochaltar in S. Maria Assunta in Guardialfiera zeigt die gleiche Form und im Material den gleichen Aufwand wie der Hauptaltar im Dom von Larino. Auch für die Anfertigung des Bischofsthrones in Larino bediente man sich des Marmorsachverständigen Troccoli, der hier kostbaren Stein aus Sizilien verwendete. Der Thron ruht auf zwei marmornen Löwen und hatte ursprünglich einen abnehmbaren Sitz aus Nußbaumholz, der für die verschiedenen Kirchenfeste mit den entsprechenden Farben bezogen werden konnte. Diese Vorrichtung rühmt Bischof Giovanni Andrea Tria (gest. 1747) ganz besonders an dieser seiner Anschaffung in seiner grundlegenden Geschichte von Larino aus dem Jahre 1744.
Malerei
Vorbemerkung
Die abruzzesische Malerei ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges besser zu überblicken als früher. 1951 erfolgte die Gründung des Abruzzesischen Nationalmuseums in L'Aquila. Der Bilderbestand setzt sich zusammen aus der Stiftung der qualitätvolleren Gemälde des Museo Civico in L'Aquila an den Staat, aus Neuerwerbungen und Schenkungen. Hinzu kamen Kunstwerke aus abruzzesischen Kirchen und Klöstern, die nicht die notwendige Garantie für eine sichere Konservierung boten.
Wichtige Funde führten zu neuen Erkenntnissen der Geschichte der Malerei in L'Aquila. Man entdeckte die Fresken in S. Silvestro, die das Wissen über die wenig bekannte abruzzesische Malerei um 1400 bereicherten. Man legte Fresken in S. Domenico, S. Maria di Collemaggio und in S.Bernardino frei, bedeutsame Werke des 14., 15. und 16. Jahrhunderts.
Ungenügend studiert sind bisher die Kunstsammlungen der berühmten Patrizierhäuser in L'Aquila. Beachtlich waren die Kollektionen der Familien Cappelli und Persichetti, die sich vor allem im Barock um den Erwerb zeitgenössischer neapolitanischer Kunstwerke mühten. Ferner gab es noch Gemäldesammlungen in den Palästen der Rivera und der Dragonetti.
Daß Fresken die Zeiten nur schwer überdauern, ist eine (S. 389) allgemeine Tatsache. Hinzu kommt, daß die Abruzzen und das Molise durch Erdbeben und Erdrutsche besonders heimgesucht wurden, so daß der dortige Bestand an Wandmalereien zusätzliche Einbußen erlitt. Fast alle Kirchen waren ausgemalt, und was heute erhalten ist, ist mehr oder minder das Ergebnis des Zufalls. Unversehrte malerische Ausstattungen sind kaum noch erhalten, eine ungefähre Ahnung vom Gewesenen gewinnt man in S. Maria in Piano in Loreto Aprutino. Im Dom von Atri sind trotz Zerstörungen noch etwa neunzig qualitätvolle Fresken zu zählen.
Die Geschichte der abruzzesischen Malerei ist noch zu schreiben. Die meisten Bilder sind künstlerisch bislang kaum kritisch gewürdigt worden, und vortreffliche Einzeluntersuchungen stellen nur erste tastende Versuche dar. Die Entwicklung der Malerei vollzieht sich ähnlich wie diejenige der Bildhauerei. Es verlieren sich allmählich die lokalen Eigenheiten, die noch in der Ikonenmalerei in der zweiten Hälfte des 13. Jh. festzustellen sind. Seit dem Trecento zeichnen sich die fremden Einflüsse immer deutlicher ab. Trotzdem kommt es besonders im 15. Jh. zu Leistungen, die zu den Meisterwerken der mittelitalienischen Malerei gehören. Die Maler des 19. Jh. beschäftigen sich zum erstenmal in ihren Themen mit der Wesensart der Bevölkerung und schaffen ein Bild der Abruzzen, auf das wir noch zurückkommen werden.
Kurz ist hier noch auf die Weihgeschenke in Form von Bildern, die Exvotos, einzugehen. Sie haben eine lange Tradition seit der Antike und sind Votivgaben, die man aus Dank für Genesung oder für Errettung aus Gefahr Heiligen an bestimmten Stätten darbrachte. Heutzutage beschäftigt sich die Volkskunde eingehend mit derartigen Erzeugnissen. Sie rücken stärker ins Blickfeld der Kunstgeschichte, weil auch gewisse Strömungen der modernen naiven Malerei darin eine verwandte Gesinnung erkannt haben.
Exvotos trifft man in ganz Italien an. In den Abruzzen allein hat man etwa zehntausend Beispiele gezählt. Sie finden sich hauptsächlich in Pilgerorten, in Sanktuarien und in Gotteshäusern, in denen der Votivkult besonders gepflegt wird, z. B. in der Kirche S. Cristina in Sepino oder in S. Francesco in Guardiagrele, wo der Sarg, der die Gebeine des aus Kalabrien eingewanderten Mönches Nikolaus enthält, von Exvotos umgeben ist. überreiches Material sieht man im Pilgerzentrum S. Gabriele bei Isola del Gran Sasso. Bedeutendere Bestände zeigt man im Santuario della Madonna dei Miracoli bei Casalbordino. Dort gibt es ein Votivbild, das die wunderbare Begebenheit verblüffend genau vorführt. Man stellte das Ereignis als lebendes Bild vor dem Auge der Kamera dar, die es festhielt. Sachlicher ist man dem Wunder wohl noch nie zu Leibe gerückt.
Die auf unsere Zeit überkommenen Exvotos haben kein hohes Alter. Das früheste erhaltene Beispiel verwahrt die Einsiedelei S. Venanzio bei Raiano mit der Jahreszahl 1637. Dort wurden die schönsten Votivbilder gestohlen. Die Exvotos von S. Venanzio werden bereits in der älteren Lokalliteratur erwähnt; 1693 würdigte sie Matteo Pascucci in seiner Lebensbeschreibung des hJ. Venanzio, ein Büchlein, das in jenem Jahr in Pesaro erschien. Im Santuario della Madonna d'Oriente bei Tagliacozzo stammt das älteste Votivbild von 1742.
Die Malerei in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und im 14. Jahrhundert
Aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. sind ausschließlich ikonenartige Sitzmadonnen des archaisierenden byzantinischen Typs überliefert, nicht unähnlich jenen Marienbildern, die in dieser Zeit im nahen Latium und in Umbrien gemalt wurden. Auszugehen ist von der einzigen datierten Madonna in S. Maria ad Cryptas in Fossa aus dem Jahre 1283, die der bereits genannte Gentile da Rocca signierte. Leider wurde das Werk öfter überarbeitet und läßt keine detaillierten Angaben zu. Die übrigen Marienbilder lassen sich chronologisch kaum einordnen. Sie zeigen vor allem in der Bildung der Gesichter gewisse Gemeinsamkeiten. Die lineare Zeichnung der Nase geht ohne Unterbrechung in die Brauenbogen über, und die Trennung von Kinn und Hals markiert eine einfache Halbkreislinie. Die Pupillen setzen sich deutlich vom Weiß des Augapfels ab, und alle Madonnen schauen über das Kind hinweg in einen imaginären Raum.
Altmodisch erscheint die gekrönte Madonna aus der Pfarrkirche in Collelongo (Tf. 269), heute im Nationalmuseum in L' Aquila. Maria sitzt auf einem drapierten Thronsessel mit Rückenlehne, dessen Besatz mit einem Rautenmuster verziert ist. Sie hält in der Mitte auf dem Schoß den mit griechischem Gestus segnenden Knaben. Rechts neben ihrem Fuß erscheint eine kleine anbetende männliche Stifterfigur. In einer eigenen Rahmung sieht man unter der Madonna in verderbtem Zustand einen hl. Bischof, den Erzengel Michael und eine dritte Figur.
Aus der Kirche S. Maria in Graiano in S. Pio bei Fontecchio gelangte das Bild einer sitzenden Maria (1,73 xo,66 m) in das Nationalmuseum in L'Aquila. Auf dem unteren Rand der Tafel liest man die Inschrift »Madonna de Ambro« (Tf. 270), eine Bezeichnung, die wir nicht deuten können. Das Gewand der 1918 restaurierten Figur wurde fast vollständig nach gemalt. Im Gegensatz zur schlichten Behandlung der Madonna von Collelongo bevorzugt der Meister der Wirklichkeit abgesehenes dekoratives Beiwerk. Der Thron, an dem oben zwei Engel erscheinen, zeigt kunstreiche Verzierungen. Das Haar der Maria unter der mit Edelsteinen und Perlschnüren verzierten Krone ist kunstvoll gelegt und in einem Netz zusammengehalten, aus dem an den Seiten je zwei sorgfältig gemalte Quasten auf die Schultern fallen. Um den Hals der Mutter legt sich ein kostbares Band, das vorne von einer großen Brosche zusammengehalten wird. Der abruzzesische Künstler kannte, nach der Behandlung des dichtgefältelten, zarte Lichtreflexe zeigenden unteren Gewandteiles zu urteilen, sicherlich umbrische, speziell spoletanische Vorbilder.
In der graphischen Durchführung ist mit der Madonna de Ambro eine andere Himmelskönigin verwandt, die einstmals an der Innenseite der großartigen Burgmauer von Ocre (S. 390) angebracht war. Aus Konservierungsgründen hat man das Fresko der von zwei Heiligen flankierten Madonna von ihrem ursprünglichen Standort entfernt und es im Nationalmuseum in L' Aquila untergebracht.
Das dekorative Zubehör der Madonna de Ambro fehlt bei der prachtvollen Ikone (1,28 x 0,53 m) aus der Pfarrkirche in Sivignano bei Capitignano (Tf. 268), heute im Nationalmuseum von L'Aquila. Die würdige Maria, deren Heiligenschein am äußeren Rand von einem Perlschnurmuster eingefaßt ist, sitzt auf einem byzantinisierenden Thronsessel ohne Rückenlehne auf einem Tuch, das ein Quadratmuster zeigt. Ihre Füße ruhen auf einem Holzpodest. Vor der Brust hält sie mit der rechten Hand einen zierlichen Spiegel und ihre Linke umfaßt das segnende Kind. An der linken Seite des Fußschemels erblickt man in eigener Rahmung eine weibliche Stifterfigur und darunter die Inschrift, die das Motiv des Spiegels erläutert »in gremio matirs [!] fulget sapientia patirs [!] «.
Unweit von Sivignano wird in der Kirche S. Maria in Pantanis in Montereale (Tf. 271) ein stark übermaltes Madonnenbild verehrt. Die Rahmung erinnert an diejenige der Madonna in Collelongo und die der Madonna de Ambro. Bei allen ist der Heiligenschein im Umriß völlig oder teilweise aus der rechteckigen Tafel herausgesägt. Dadurch wird das Haupt auf eindringliche Weise vor der übrigen Gestalt betont. Wie bei der Madonna de Ambro erscheint auch in S. Maria in Pantanis die große kreisrunde Brosche, die ein Halsband zusammenhält. Die nährende Maria trägt das Kind auf ihrer rechten Hand. Es segnet im lateinischen Gestus und hält in seiner Linken die Schriftrolle. In Lucoli Alto bei L' Aquila zeigt man in der Kirche S. Michele eine thronende, nährende Madonna des 13. Jahrhunderts. Zu ihren Seiten stehen der Täufer und ein Heiliger, vielleicht der hl. Benedikt.
Das von Pilgern aufgesuchte Sanktuarium S. Maria dell'Oriente, drei Kilometer östlich von Tagliacozzo, ist kunstgeschichtlich nur wegen des verehrten Madonnenbildes (1,21 x 0,59 m) interessant. Nach der Legende sollte sich unter diesem Gemälde ein älteres befinden, das während des Bilderstreites unter Leo dem Isaurier 726 von Konstantinopel nach Tagliacozzo gekommen sein soll. Diese überlieferung wurde bei der in Rom etwa 1950 ausgeführten gründlichen Restaurierung nicht bestätigt. Das Bild entstand am Ende des 13. Jh. und ist sicherlich eine abruzzesische Arbeit mit latialen Einflüssen. Die sitzende gekrönte Maria in Frontalansicht hält mit der Rechten den bekleideten Jesusknaben, der die Schriftrolle trägt. Wie in S. Maria in Pantanis und bei der Madonna de Ambra erscheint auch hier die Brosche. Am linken unteren Bildrand ist das Fragment eines Stifters mit Tonsur erkennbar.
Die Ikonenmalerei zeigt in der zweiten Hälfte des 13. Jh. eine stilistische Einheit. Die Werke stammen von begabten abruzzesischen Künstlern, die sich an der heimischen Vergangenheit orientierten. Die Malerei des J4. Jh. wandelt sich entscheidend angesichts der gotischen Bildmittel, die in Venetien, der Toskana und im franziskanischen Umbrien entwickelt wurden. Diese neuen Ausdrucksformen verbreiten sich sehr rasch und dringen in südlichere Landschaften ein, die in der Malerei ein Eigenleben verloren hatten, wie die Marken und vor allem die Abruzzen. In der Rezeption der einströmenden gotischen Formen verhält sich unser Bergland unterschiedlich. Das Gebiet an der Adria bleibt, auch in späteren Zeiten, eher den Marken und direkt oder indirekt Venedig zugeneigt, während L'Aquila und die Provinz stärker mit toskanischen und umbrischen Formen vertraut wurden. Neapel behielt eine gewisse Bedeutung, jedoch nicht mehr als Umschlagplatz süditalienischer Kunstgewohnheiten sondern als Auffangsort eines internationalen Stils.
Das ahruzzesische J4. Jh. zeichnet sich durch eine gewisse Unsicherheit aus und reagiert fast zufällig auf die große gotische Welt, die in das Land eindringt. Die eigene Tradition bleibt noch erkennbar, aber die Werke, die sie repräsentieren, sind die schwächsten unter allen entstehenden. Nur ein Künstler von sekundärer Bedeutung wird in dieser Zeit namentlich bekannt, ein Antonio da Atri, der 1373 eine Votivfigur in S. Maria in Arabona gemalt hat. Große Freskenzyklen, die in der zweiten Hälfte des 13. Jh. noch häufig anzutreffen sind, scheinen in der ersten Hälfte des TrecentQ nicht verbreitet gewesen zu sein. Seit der Mitte des 14. Jh. sind die erhaltenen Werke zahlreicher und lassen gewisse Zusammenhänge erkennen. Kunstgeschichtlich macht das Molise von sich reden. Die malerische Ausstattung der dortigen Krypten steht unter dem künstlerischen Einfluß Neapels.
Zu den wenigen abruzzesischen Gemälden, die aus der ersten Hälfte des 14. Jh. überliefert sind, gehört das Christophorusfresko in der kleinen verlassenen Kirche S. Pietro della Genca, die außerhalb von Assergi im Norden an den ersten Hängen des Gran Sasso liegt. Der Heilige nimmt die gesamte Höhe der Innenwand rechts vom Eingang ein und steht stilistisch in der Nachfolge der Fresken von SS. Crisanto e Daria im nahen Filetto. Eine andere Großfigur des Christophorus erscheint in S. Francesco in Monteodorisio links vom Eingang.
Traditionsgebunden sind auch Fresken aus dem Anfang des 14. Jh. in der Domkrypta von Penne. Dazu gehört der an einem Pfeiler dargestellte Christophorus. Fortschrittlicher erscheint die große Kreuzigung hinter dem Hauptaltar von S. Francesco in Campli. Ähnlich wie bei der früher behandelten Kreuzigung aus S. C1emente a Casauria im Nationalmuseum in L' Aquila ist der Kreuzesstamm unter dem Querbalken auf beiden Seiten verbreitert, um die Darstellung Mariens und des Täufers zu ermöglichen. Weich modelliert ist der schöne Christuskörper. Das Haar des leicht nach links geneigten Hauptes fällt auf die Schultern herab. Das spitze Gesicht mit mandelförmigen Augen zeigt Merkmale der von Mittelitalien eindringenden Gotik. Noch näher zu untersuchen wären die Fresken aus der ersten Hälfte des Trecento in der Apsis der Chiesa dei Cappuccini in Catignano sowie eine angeblich 1355 datierte Tafel mit dem Bilde Mariens in der Kirche S. Madonna delle Grazie in Altino.
(S. 391)Die ersten durchdachten Versuche, sich mit den künstlerischen Einströmungen aus Mittelitalien auseinanderzusetzen, erfolgten behutsam in kleineren Bildformaten. Dafür boten sich die bemalten Seitenflügel der Tabernakel an. Ein Beispiel dieser Art liefert das Retabel in der Pfarrkirche S. Maria Assunta in Fossa. Die Mitte nimmt die polychrome Holzstatue einer sitzenden Madonna mit Kind ein. Die auf der Innenseite bemalten Flügel zeigen drei Bildfelder übereinander, von denen eines etwa 38 x 25 cm mißt. Dargestellt sind Szenen aus dem Leben Christi. Die Malereien orientieren sich zum Teil an umbrischen Werken, indessen ist der Einfluß der sienesischen Schule vorherrschend. Die Figuren sind in klaren Umrissen gegeben, und das Geschehen ist erzählfreudig vorgetragen. Wenn es das Thema gestattet, stellt der Meister von Fossa die Personen in gotische Architekturen mit zarten, überschlanken Säulen. Über der Szene der Anbetung ist phantasievoll die auf einem Hügel liegende Stadt Bethlehem dargestellt. Eine ikonographische Eigentümlichkeit zeigt das Verkündigungsbild. Gabriel bringt die Botschaft der vor einem Gebetpult knienden Maria. Das Ganze spielt in einer architektonischen Szenerie, deren oberer Abschluß links und rechts kleine turmartige Aufsätze zieren. Auf dem linken Pavillon erscheint die Madonna noch einmal. Inzwischen ist ihr das Kind geboren, und sie neigt sich mit ihm über die Brüstung, um die Taube zu verfolgen, die aus den Händen des Kindes auf einem langen goldenen Lichtstrahl zu der Maria der Verkündigung herunterfliegt.
Die gleiche Auf teilung in drei Felder wie die Flügel in Fossa zeigen die ehemals wohl zu einem Tabernakel gehö-. renden Tafeln aus S. Margherita in L'Aquila, heute im dortigen Nationalmuseum. Allerdings sind sie etwas größer, ein Feld mißt 57,5 x 33,5 cm. An Stelle der christologischen Szenen von Fossa finden wir hier sechs Episoden aus dem Leben der Katharina von Alexandrien. Die beiden oberen Darstellungen auf den Tafeln zeigen zum einen die Bekehrung der Kaiserin durch Katharina im Gefängnis und zum andern die Weigerung der Heiligen, vor dem Thron des Kaisers Maxentius das Idol anzubeten. Darunter folgen zwei Bilder, worin die vom Kaiser befohlene Marter der Katharina durch Rädern zu sehen ist. Von oben stürzt der Engel mit dem Schwert herab, die Heilige zu beschützen. Die Folterknechte liegen verwundet oder tot am Boden. Im anderen Bild ordnet der Kaiser in Gegenwart der Katharina die Marter der Christen an, die gesenkten Hauptes dastehen, und deren Hände an Pflöcke gebunden sind. Darüber tragen Engel ihre mit Aureolen gekrönten Seelen empor. Die untere Reihe zeigt das Martyrium und die Enthauptung der Heiligen. Wie in Fossa werden die Figuren mit kunstvoll gestalteten Architekturen gekoppelt, aber sie agieren nicht wie dort in den Räumen sondern davor. Auch hier lieferte die Toskana die Vorbilder. Ein Holzkruzifix (48 x 38 cm) im Nationalmuseum in L'Aquila stammt aus der Kathedrale in Penne. Die Kreuzenden haben die Form von Dreipaßbogen, deren Bemalungen schlecht erhalten sind. An oberster Stelle erscheint der segnende Gottvater. Stilistisch gehören die Malereien in den Umkreis der besprochenen Tabernakelflügel.
Der Dom von Atri enthält eine Anzahl qualitätvoller Votivbilder des 14. Jahrhunderts. Sie befinden sich an der Eingangswand im Westen und gehen an den Langhauswänden nicht über den eingestellten Campanile hinaus. Auf der rechten Langhausseite tragen mit Ausnahme des sechsten Pfeilers alle Stützen Fresken. Einige Künstler tradieren heimische Gewohnheiten, andere sind abhängig von toskanischen und bolognesischen Vorlagen.
Die Votivfresken an der Westwand in Atri müssen vor 1371 entstanden sein, denn damals errichtete man an dieser Stelle eine Allerheiligenkapelle, die, von einem Arzt Rainaldo di Panfilo gestiftet, im Lauf der Jahrhunderte durch andere Kapellen ersetzt wurde. Diese Fresken sind seit dem Jahre 1905 bekannt und haben keinen inhaltlichen Zusammenhang. Sie sind in Feldern verschiedener Breite in zwei Reihen übereinander angebracht. Neben der traditionellen Ölbergszene links im oberen Bildstreifen erscheint ein breitrechteckiges Fresko mit dem Erlöser als Weltenrichter auf einem Bogen sitzend in einer Mandorla, eine Reminiszenz an byzantinische und romanische Darstellungen. Hier aber tritt Christus in zweifacher Bedeutung auf. Er erscheint gleichzeitig als der Heiland der Passion. Seine Hände, seine Füße und die Brust zeigen die Wundmale, und die Passionswerkzeuge sind in und außerhalb der Mandorla dargestellt. Neben dieser knien Maria und der Täufer. Ihnen zur Seite stehen rechts der Erzengel Michael und links der Evangelist Johannes, der seine Hand auf das Haupt einer Stifterfigur legt. Die Bildreihe darunter mit vier Votivfresken ist im unteren Teil sehr zerstört. Man sieht u.a. eine Verkündigung, die in der Rahmung und im Aufbau des Thrones die Anwendung perspektivischer Mittel zeigt, und eine Kreuzigung, die die Kenntnis von Werken Giottos voraussetzt. Von den Votivbildern an der rechten Langhauswand sind zwei hervorzuheben. Die Figuren sind größer und plastischer gebildet als an der Westwand und erinnern mit ihren eckigen Konturen an sienesische Vorbilder. Auf einem Gemälde ist die Hauptfigur, die thronende Maria, aus der Mittelachse nach links verschoben. Das stehende, bekleidete Christuskind auf dem Knie Mariens nimmt vom Täufer als Geschenk einen Stieglitz in seine Hände. Rechts vom Thron erscheinen der namentlich bezeichnete Johannes Evangelista und daneben ein Heiliger, dessen Kopf und Beischrift zerstört sind. Das schönste Votivbild zeigt zwei schwer zu deutende Heilige, einen Mann und eine Frau, vor der anbetend eine Stifterin kniet.
Von den Fresken der rechten Stützenreihe sei hier nur die sitzende, nährende Maria am letzten siebenten Pfeiler genannt. Sie weist eine so starke Übereinstimmung mit dem Votivbild gleichen Themas in S. Maria in Arabona auf, daß für beide derselbe Künstler anzunehmen ist. Das Gemälde in Arabona ist 1373 datiert und von Antonio de Atri signiert. Im Totenbuch von Atri ist das Sterbedatum des Meisters verzeichnet »Anno 1433 ... obiit Magister Antonius de Atri pictor de Adria, cuius anima benedicatur«. Der Name des Antonio kommt auch in einem Notariatsakt von 1426 vor.
Größere Freskenzyklen entstanden in den Abruzzen in der (S. 392) zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Aus einer Kapelle im Dom von Chieti gelangten 1936 Freskenfragmente mit Darstellungen der Katharinenlegende in das Diözesanmuseum und danach in einen Raum bei der Kathedrale. In einem 2,62 x 1,83 m großen Fresko werden verschiedene Episoden der Heiligen gezeigt, ohne daß die Bildfläche in Felder unterteilt ist. Katharina erscheint in einer Nische sitzend, sodann am Fuße einer Treppe einen Korb tragend, weiterhin als große Standfigur mit der Lilie in ihrer Rechten und einem Buch in der Linken und darüber ein Engel, der Blumen ausstreut. Ein dazugehöriges zweites Fresko ist noch stärker zerstört. Dort erscheinen die Maria und das Kind sowie Katharina mit dem Wagenrad. Cesare Gnudi hat die Fresken zwischen 1363 und 1373 datiert und darin emilianische und romagnolische Einflüsse festgestellt.
In der zweiten Hälfte des Trecento ließen die Grafen von Celano die Kirche S. Francesco in Castelvecchio Subequo ausmalen. Kümmerliche Reste davon sind noch im Chorquadrat zu sehen. Von größerem Interesse sind die restaurierungsbedürftigen Fresken mit der Franzlegende im rechten Querarm, der als Kapelle des Franz von Assisi hergerichtet wurde. Vielleicht hat die Lokalliteratur nicht mit Unrecht die Entstehung der Malereien um das Jahr 1379 angenommen. Zu dieser Zeit lebte Graf Roger II. von Celano, der am Ende seines Lebens Franziskanermönch wurde und 1393 starb. Er fand sein Grab in der mit der Franzlegende ausgemalten Kapelle. Der Künstler dieser Wandmalereien bezog sich thematisch auf Fresken in Assisi und zeigt auch stilistisch Bindungen an Giotto und seine Schule. Durch den Einbau von Fenstern im 17. Jh. wurden die Malereien sehr in Mitleidenschaft gezogen. Ein stark zerstörtes Bild zeigt den auf dem Boden hingestreckten toten Franz, umgeben von Engeln und trauernden Franziskanern. Im folgenden Bild unterhält sich der Heilige mit drei Tugenden, dem Gehorsam, der Keuschheit und der Armut. Letztere ist durch ein zerfetztes und geflicktes Kleid und durch eine bittend ausgestreckte Hand gekennzeichnet, während die beiden anderen lächelnd zuschauen. Ein anderes Fresko zeigt die Aussendung der Franziskaner, die den Sarazenen das Evangelium predigen sollen. Ein weiteres Bild läßt den knienden Heiligen vor einem Engel erkennen, der ihm die Ordensregel eingibt, die von den umstehenden Mitbrüdern aufgeschrieben wird. Es folgt der Traum des Papstes Innozenz III., der die Lateransbasilika in Rom einstürzen und durch die Macht des Heiligen wiederaufgerichtet sieht. Im Feld darunter erblickt man die Predigt des Franz vor dem Sultan Melek-el-Kemel mit der Feuerprobe, durch die die islamischen Priester für die Wahrheit des Evangeliums gewonnen werden sollten. Auf dem letzten Bild der Wand steigt Franz zum Himmel empor und erscheint dem sel. Augustinus, dem Provinzialen der Terra di Lavoro, auf dem Totenbett. Ober dem Bogen, der sich zum Hauptschiff öffnet, sieht man eine allegorische Darstellung. In einem Turm wird hinter einem vergitterten Fenster eine weibliche Figur mit Glorienschein sichtbar, die die Keuschheit vorstellen soll. Zu ihrer Rechten schließen drei weibliche Gestalten die Tür zu ihrem Schutz. Auf der anderen Seite diskutieren drei Personen, die vielleicht die Eitelkeiten der irdischen Welt zu repräsentieren haben. Die Sockelzone des Raumes zeigt in verderbtem Zustand die hll. Chiara, Dominikus, Franziskus und Katharina, während in den Gewölbefeldern die Symbole der vier Evangelisten in gutem Erhaltungszustand erscheinen. Pilger und Besucher haben in die Malschicht Namen und Jahreszahlen eingeritzt, u.a. lesen wir die Daten 1423, 1441, 1447,1491.
Die rechte Langhauswand von S. Maria in Piano in Loreto Aprutino zeigt qualitätvolle Freskenreste, die ikonographisch und künstlerisch noch nicht genügend ausgewertet wurden. Sie stammen aus verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Künstlern. Der älteste Zyklus aus dem letzten Viertel des 14. Jh. stellt Begebenheiten aus dem Leben des Thomas von Aquin dar. Auf einem Bild sitzt der großfigurige Heilige vor einem Tisch, in seiner Rechten ein Schreibgerät, mit der Linken auf ein Buch weisend. Eine Gruppe von Schülern -sie 'können kaum über die Tischkante schauen -lauscht seiner Lehre. Auf Beziehungen dieses Bildes zur kampanischen Malerei, speziell zu Fresken in der Annunziata in Minturno, hat Enzo Carli hingewiesen. Letztere gehören zur süditalienischen Giottoschule, die sich von Neapel aus verbreitete.
Zu den bedeutendsten Fresken dieser Zeit zählen Malereien in S. Maria ad Cryptas in Fossa, die an der linken Langhauswand eine Bilderfolge des I 3. Jh., wahrscheinlich gleichen Themas, ersetzen. Der Zyklus ist nur fragmentarisch erhalten, teils im Lauf der Zeit verdorben, teils übermalt und überbaut. Die Langhauswand zeigt in den drei Jochen jeweils drei Bildstreifen übereinander, von denen der oberste im Gewölbeansatz liegt. In jeder Reihe befinden sich zwei Darstellungen, in jedem Joch erscheinen also sechs Bilder. Vollständig erhalten ist die Bilderfolge allein in der Gewölbezone. Im untersten Streifen sind von diesem Zyklus keine Gemälde erhalten. Die beiden Madonnen im ersten Joch an dieser Stelle stammen aus späterer Zeit. Im mittleren Bildstreifen blieb im ersten Joch die Szene mit der Maria auf dem Totenbett unbeschädigt. Die übrigen Felder wurden durch Vorbauten ganz oder teilweise zerstört. Die Fresken behandeln ausführlich das Marienleben, und im letzten Joch erscheinen Szenen von Joachim und Anna. Der Ablauf der Erzählung beginnt im ersten Joch oben links mit der Verkündigung. Das anschließende Bild erzählt von der Geburt des Jesusknaben im Stall von Bethlehem, von der Waschung des Kindes und von der Verkündigung an die Hirten. Die Figuren des Bildfeldes unter der Verkündigung sind arg zerstört. Man rammte dort im vorigen Jahrhundert Holzblöcke ein, die die Orgel zu tragen hatten. Immerhin ist zu erkennen, daß sich die Szene in einem Innenraum abspielt und offensichtlich nur zwei Personen auftreten. Da sich die folgenden Darstellungen ausführlich mit dem Marientod beschäftigen, ist es durchaus möglich, daß sich an der verdorbenen Stelle einst die Verkündigung des Todes an Maria befand. Im rechts anschließenden Bild wird ein Innenraum gezeigt, wo Maria auf dem Sterbebett liegt. Aus byzantini (S. 393) sehen Vorlagen stammt das Motiv des Engels, der die in der Welt verstreuten Apostel auf Wolken herbeiholt, damit sie in der Todesstunde Mariens anwesend sind. Im linken oberen Feld des zweiten Joches wird die Erzählung vom Marientod fortgesetzt. Die Schar der Herbeigekommenen ist um den Leichnam Mariens versammelt. Darauf folgt der Gang zum Grabe der hl. Jungfrau (Tf. 273). Die Apostel, voran Johannes mit dem Palmzweig, tragen den Sarg auf ihren Schultern. Durch den Vorbau eines Altars wurden im zweiten Joch die Fresken des mittleren Bildstreifens, der zudem von einem Fenster unterteilt wird, sehr in Mitleidenschaft gezogen. Links neben der Öffnung sind noch Reste von der Grablegung Mariens erhalten, rechts Fragmente der Krönung Mariens durch Jesus. Das letzte Joch der linken Langhauswand zeigt in der Gewölbezone links die Begegnung von Joachim und Anna vor der Goldenen Pforte (Tf. 272) und rechts den Joachim, der bei seiner Herde die Botschaft des Engels empfängt, daß ihm eine Tochter geboren werde, die den Messias zur Welt bringe.
In der Nähe von Fossa schuf ein anderer Künstler am Ende des Trecento die Fresken in S. Spirito d'Ocre. Die Malereien befinden sich in der Annexkapelle, die links vom Chorraum der einschiffigen Kirche zu betreten ist. In volkstümlicher Weise stellen die Malereien das Leben des Klostergründers, des sel. Placidus, dar. Der einheimische Maler zeigt eine gewisse Geschicklichkeit in seiner naiven Gestaltungsweise. Jede Szene wird in eigener Rahmung vorgeführt.
Keine künstlerischen Ambitionen verraten die am Ende des 14. Jh. entstandenen Freskenzyklen in der Kirche S. Lucia in Rocca di Cambio. An das 14,43 m lange dreischiffige Langhaus schließt das Querschiff mit einer Tiefe von 8,14 m und einer Breite von 14,92 m an. Dieser Raumteil war ursprünglich vollständig ausgemalt und bot sich als vorzügliche Malfläche an, zumal keine Apsiden vorhanden waren. Durch den Einbau eines 1523 datierten Altars wurden die Malereien auf der Rückwand in Mitleidenschaft gezogen. Dargestellt sind das Leben der hl. Lucia sowie links und rechts vom Altar eine Doppelreihe von Heiligen. Die Fresken an einer der Stirnwände sind darum zu erwähnen, weil sie bis in Einzelheiten thematisch und formal die Kenntnis der Malereien in Bominaco und vor allem im nahen Fossa voraussetzen, die mehr als hundert Jahre früher entstanden. Die Darstellungen sind in drei Bildzonen übereinander angeordnet. Zuoberst thront der Weltenrichter in der von Engeln umgebenen Mandorla. Der durch ein Fenster geteilte mittlere Abschnitt enthält zehn Begebenheiten aus der Passion und der Auferstehung. Am stärksten wirkt die Tradition im unteren Bildfeld in der Wiedergabe des Abendmahls. Wie in Fossa nimmt Christus, hier segnend und nicht das Brot austeilend, die linke Seite des langen Tisches ein. Die Gesichter aller Jünger sind auf Jesus gerichtet.
Bei einem derartig zähen Verharren der heimischen Künstler in der eigenen Tradition ist es nicht verwunderlich, daß man diesem Zustand durch Importwaren aufzuhelfen versuchte. Hiervon zeugt ein kleines, sehr fein durchgeführtes Diptychon in frischen Farben auf Goldgrund, ein Werk des sienesischen Malers Niccolo Bonaccorso (1343-1388), und wahrscheinlich das einzige authentische sienesische Bild des Trecento in den Abruzzen, von Enzo Carii in der Pfarrkirche S. Maria La Nova in Cellino Attanasio entdeckt und heute im Nationalmuseum in L'Aquila. Auf dem linken Flügel ist die mystische Vermählung der hl. Katharina dargestellt, rechts erscheint die Kreuzigung mit Maria und Johannes und der knienden Magdalena, die den Kreuzesstamm umarmt. Das reiche Linienspiel erinnert an Simone Martini, die perspektivischen Bemühungen hingegen an die beiden Lorenzetti.
Die im Trecento im Molise entstandenen Fresken sind von kunsthistorischer Seite, abgesehen von der verwirrenden Lokalliteratur, kaum gewürdigt worden. überall ist der schlechte Erhaltungszustand zu spüren. An die Rettung der Werke ist kaum zu denken, aber eine wissenschaftliche Photokampagne würde wenigstens ein schwaches Bild der Erinnerung vermitteln können.
Einige Votivfresken des Trecento in der Domkrypta von Trivento zeigen sich noch unberührt von fortschrittlichen Einflüssen. Neben einer sehr zerstörten Kreuzigung mit der trauernden Maria und dem Johannes sieht man eine Heiligengestalt mit einem langen, in byzantinischer Manier zugespitzten Bart und einem Buch vor einem Hintergrund, der sorglos und rasch gearbeitet ein Rautenmuster zeigt. Ein anderes nur im oberen Teil erhaltenes Fresko läßt in einer Rahmung das Gesicht eines jugendlichen Heiligen mit Tonsur erkennen.
Zu den wichtigsten Monumenten dieser Zeit gehören Fresken in der Kirche SS. Annunziata (ehemals S. Andrea) in Jelsi. Durch ein 1363 datiertes Portal tritt man in die unscheinbare, 1864 völlig umgebaute Oberkirche ein. Belangvoll ist nur die breite tonnengewölbte Krypta mit Einbauten und Verstärkungen, die für die Fundamentierung der Trecentokirche nötig wurden. So stellte man z. B. in den Raum einen Spitzbogen ein. Die Krypta wurde 1821 zugeschüttet und 1947 wieder freigelegt. Dabei kamen Reste eines Freskenzyklus aus dem 14. Jh. zutage, der die Lebensgeschichte Christi zum Inhalt hat. Sollte das Datum 131 I am Lesepult Mariens auf dem Verkündigungsbild richtig gelesen sein, besäßen wir ein sehr frühes Beispiel von Malereien aus den Anfängen der Herrschaft der Anjou. In Höhe des alten Kryptafensters sind noch Spuren einer älteren Malschicht erkennbar. Die Arbeit am Christuszyklus haben sich vermutlich zwei Künstler geteilt, die beide zur neapolitanischen Schule gehören. Die Heiligenscheine einzelner Gestalten erinnern an den auch in Neapel geübten Brauch, den äußeren Rand mit Einritzungen zu verzieren, die an gotische Lettern oder an kufische Zeichen erinnern. Neben Einzelfiguren sind an den Längswänden und im Gewölbe folgende Szenen festgestellt worden: Verkündigung, Heimsuchung, Flucht nach Ägypten, Jesus unter den Schriftgelehrten, Taufe, Jesus im Richthaus, Gebet am Ölberg, Abendmahl, Gefangennahme, Geißelung und Grablegung. In der Krypta befindet sich das Grabmal der Bertranda De Beaumont (Belmonte), (S. 394) die 1322 starb. Die in den Fresken erkennbaren neapolitanischen Einflüsse lassen sich unschwer damit erklären, daß die französische Familie Beaumont, deren Mitgliedern die Krypta als Grabraum diente, als Auftraggeber für die Ausgestaltung anzunehmen ist. Diese Familie stand in naher Beziehung zum Hause Anjou. Die Herren Beaumont erhielten Jelsi von König Karl I. Anjou als Geschenk.
Die gotische Annexkapelle in der Kirche Madonna delle Grotte bei Rocchetta al Volturno wurde im Trecento ausgemalt. An den Wänden erscheinen in gemalten Rahmungen Szenen aus dem Leben Christi. Unter den fragmentierten Darstellungen ist die Anbetung der Könige am besten erhalten. Nach Brauch französischer Miniaturen ist der Hintergrund mit kleinen Blüten ausgefüllt, ebenso sind französische Einflüsse im Figurenstil festzustellen.
Die kleine Ortschaft S. Angelo in Grotte, ein Ortsteil von S. Maria di Molise, besitzt in der Krypta der Kirche S. Pietro in Vincoli Fresken aus dem Trecento. Ähnlich wie in Jelsi hatte man von dem Unterraum lange Zeit keine Kenntnis. Er kam bei neueren Restaurierungen des Fußbodens der Oberkirche zum Vorschein, und man fand an der Wand der Krypta das von Besuchern eingeritzte Datum 1829. Der Raum ist 4 m lang, 2.,80 m breit und 2,38 m hoch. Er ist fensterlos und weist an der linken Wand zwei in verschiedener Höhe eingebaute Nischen auf, deren Form auf eine ehemalige Grabkammer schließen läßt. Die Linienführung der Ornamente berücksichtigt die Grabnischen und geht um sie herum. Im Gewölbe und an der dem Eingang gegenüberliegenden Schmalseite befinden sich geometrische Muster. Die Sockel sind mit Blumen freskiert. An den Wänden sieht man neun Darstellungen, jede in einer eigenen Rahmung, dazu gehören jeweils in einem eigenen Feld das Abbild der Stadt Bethlehem und die Sonne in einem Strahlenkranz mit einem Menschenantlitz. Den eigentlichen Inhalt der Malereien bilden die sieben Werke der Barmherzigkeit, ein äußerst seltenes Thema in unserer Region. Die Bilder sind mit Erläuterungen versehen, die jedoch, wie die Gemälde selbst, schlecht erhalten sind. Ohne traditionelle Bindungen stellt man die Gegebenheiten frisch, anschaulich und volkstümlich dar, das Spenden von Speise für die Hungernden und von Trank für die Dürstenden, das Bekleiden der Nackten, die Beherbergung der Fremden, das Besuchen der Kranken, das Aufsuchen der Gefangenen und das Begraben der Toten. Die Einbeziehung der handelnden Figuren in die dargestellte Architektur verrät toskanisch-neapolitanische Einflüsse. So steht z.B. der Fremdling in der Szene der Beherbergung unter einem Vordach, das von dünnen Säulen getragen wird. Die parallelen, noch nicht perspektivisch gesehenen Dachsparren werden genau wiedergegeben. Eine sich anmutig dem Fremden zuneigende Frau führt ihn in die offene Tür eines Wohnturmes. Ein reines Architekturbild ist die schöne Stadtansicht von Bethlehem, das mit der Stadtmauer, Türmen und vielen Kirchen aus Hügeln emporwächst.
In Analogie zu den bisher besprochenen Fresken in Krypten des Molise lassen sich die durch Feuchtigkeit fast zerstörten Malereien in S. Margherita in Pietracatella wahrscheinlieh dem 14. Jh. zuordnen. Der unterirdische Raum diente seit dem 18. Jh. als öffentliche Grabkammer. Man erkennt noch achtzehn schlichte, gemalte Trecentorahmungen, die Darstellungen aus dem Leben Christi enthielten. Zu identifizieren sind noch die Geburt und die Darstellung im Tempel. Unter dem Verputz sind im Dom von Larino im fünften Joch an der rechten Langhausseite Fragmente von Votivfresken freigelegt worden, die bald nach der Fertigstellung der Kathedrale im Jahr 1319 gemalt wurden. Auf einem Gemälde begegnet eine große, die ganze Bildhöhe einnehmende Heilige, die dem Beschauer zugewendet ist. Im unteren Teil des Freskos erscheinen zu beiden Seiten ihres Gewandes je zwei Reihen von Jungfrauen in Isokephalie.
Bei der schweren Bombardierung Isernias im September 1943 wurde auch die Kirche S. Maria Assunta erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Durch die Erschütterung der Verputzschicht kamen am Ende der rechten Langhauswand in der Höhe des Chores Reste eines Jüngsten Gerichts zum Vorschein, das zu den Meisterwerken seiner Zeit gehört haben muß. Es ist ganz unter dem Einfluß der Giottoschule gemalt. Wir sehen den Engel mit ausgebreiteten Armen die Schar der Verdammten zurückdrängen. Unter ihnen erscheint wie häufig ein Bischof. Der Ausdruck der Ausgestoßenen zeigt Schmerz, Verzweiflung und Verwirrung im Gegensatz zum milden, gütigen und schönen Gesicht des Engels.
Die Malerei im 15. Jahrhundert
Die Abruzzen, die in der Malerei des Mittelalters hervorragende Leistungen vorwiesen, erlangen, allerdings unter völlig anderen Bedingungen, nochmals eine Blütezeit im 15. Jh., gipfelnd in den Werken des Andrea Delitio. Nach dem heutigen Stand der Forschung ist es kaum möglich, sich im Dickicht der in unserer Landschaft überlieferten Arbeiten zurechtzufinden und sie in eine Ordnung zu bringen. Bis etwa zum Ende des Zweiten Weltkrieges war die Beurteilung der abruzzesischen Malerei an überkommene Vorstellungen gebunden, die vom 18. bis in das 20. Jh. Gültigkeit besaßen. Erst eine jüngere Generation von Kunsthistorikern hat, von formalkritischen Beobachtungen ausgehend, eine völlig neue Sichtung des Materials vorgenommen, ein Unternehmen, das noch längst nicht zum Abschluß gekommen ist. Zu diesen Wegbereitern gehören Forscher, die als Denkmalpfleger in L' Aquila direkten Zugang zu den Kunstwerken hatten, wie Umberto Chierici, Enzo Carli, Ferdinando Bologna und Guglielmo Matthiae. Künstler, die in der früheren Kunstliteratur als treibende Kräfte in der malerischen Entwicklung des 15. Jh. galten, wurden aus dem Geschichtsbild ausgeschaltet, wie z.B. Cola von Amatrice. Der Meister wurde erst 1489 geboren und hielt sich 1511 bis 1515 in Ascoli Piceno auf. Vor diesem Zeitraum können wir ihm keine Malereien in den Abruzzen zuschreiben. Das von der älteren Kunstgeschichte konstruierte (Euvre des sooft zitierten Malers Giacomo da Campli hält einer strengen Prüfung nicht stand. Der Künstler wird in Urkunden in Ripatransone (S. 395) in den Marken 1461 und 1479 genannt, aber die darin erwähnten Malereien sind uns unbekannt. Auf der anderen Seite zeichnen sich neue Persönlichkeiten ab, die man mit Notnamen versah. Man spricht heute z.B. vom »Maestro dei polittici crivelleschi« oder vom »Maestro di S. Giovanni da Capestrano«.
Natürlich waren im 15. Jh. fremde Einströmungen vorherrschend. Gleich wie in den Marken wirkten sich auch in den Abruzzen verschiedene künstlerische Einflüsse aus, die u.a. aus Florenz, Siena, aus Umbrien, Padua oder Neapel kamen. Aber eben diese von anderen Kunstzentren abgeleitete Formenwelt gehött zu den Charakteristika der abruzzesisehen Kultur dieser Zeit. Man fühlt sich nicht mehr als Einzelgänger sondern eingebunden in eine größere geistige Gemeinschaft und angestachelt, auch im künstlerischen Bereich an den Leistungen des gebildeten Italiens teilzunehmen. Im Gegensatz zum vorigen Jahrhundert sind die Versuche, an einem allgemeingültigen künstlerischen Zeitstil mitzuwirken, gar nicht mehr so zaghaft und tastend. Man erkennt die neuen künstlerischen Ideale bewußter und in Freiheit an, man wird fähig zu Neugestaltungen mit ausgeborgten Mitteln. Es ist der gleiche Vorgang, den wir in der Bildhauerei bei Silvester von L'Aquila beobachteten, eine Kraft der Gestaltung in Anlehnung an nichtabruzzesisches Gedankengut. Dieses Phänomen ist in der Malerei z. B. in den Fresken in S. Silvestro in L'Aquila oder im Werk des Andrea Delitio festzustellen. Im einen wie im anderen Fall kann man die Abhängigkeit von anderen Kunstschulen konstatieren, jedoch steht man einzigartigen persönlichen Leistungen gegenüber, die in der malerischen Entwicklung unserer Region stilbildend wirkten.
Um die kaum übersehbare Menge des Materials in gewisser Übersichtlichkeit vorzuführen, scheint es angemessen, die großen Freskenzyklen gesondert zu behandeln, sodann die Einzelfresken, die zum größten Teil als Votivbilder entstanden sind, und zum Schluß die Werke der Tafelmalerei, die im 15. Jh. immer größere Bedeutung erlangte.
Der 1946/1947 in der Kirche S. Silvestro in L'Aquila unter einer Verputzschicht aus der Barockzeit zum Vorschein gekommene Freskenzyklus bietet einen wichtigen Ansatz für die Untersuchung der bislang wenig bekannten abruzzesisehen Malerei nach 1400. Die Fresken bedecken die Kalotte der Mittelapsis und größere Teile des Gewölbes im Vorjoch, die vordere Seite des Triumphbogens, die Unterzüge der beiden Gewölbegurte und die Sockelzone der Apsis. Hier kamen die Malereien zum Vorschein, nachdem man das Chorgestühl des 18. Jh. entfernt hatte. Ferner finden sich Fresken in den Bogenöffnungen, die vom Hauptchor zu den Nebenapsiden führen. Einzelne, teilweise schlecht erhaltene Votivfresken wurden an den Langhauswänden freigelegt. Bei der barocken Restaurierung hat man Rücksicht auf die älteren Malschichten genommen und diese nicht angetastet sondern unter dem alten Gewölbe ein völlig neues und von ihm unabhängiges eingezogen. Die Malereien im Gewölbe des Vorjochs sind in den unteren Partien zerstört, wahrscheinlich zeigten sie Szenen aus dem Marienleben. Im Scheitel erscheint die Madonna in der Glorie vor einem blauen Grund, der von goldenen Sternen durchsetzt ist (Tf. 274). Die stehende Maria mit Kind, bekleidet mit einem blauen Mantel und einem roten Gewand, ist völlig übermalt. Die Mandorla wird von schwebenden, musizierenden und anbetenden Engeln umgeben, die zu den schönsten Figuren des ganzen Zyklus gehören. Die Apsis beherrscht das Bild Christi (Tf. 275) in einer von vier Engeln getragenen Mandorla, umgeben von Evangelistensymbolen (Tf. 277) sowie von Maria und Johannes. Darunter erscheint am Ansatz der Apsiswölbung die Reihe der Apostel als Halbfiguren (Tf. 278). An der Vorderseite des Triumphbogens ist die Anbetung der Könige dargestellt. Künstlerisch spiegeln diese Wandmalereien toskanisehe Vorbilder wieder, die wahrscheinlich über die Marken vermittelt wurden. Den Meister von S. Silvestro treffen wir in der Kirche S. Micheie in Vittorito wieder an, wo er Fresken an einem Ziborium ausführte; ferner steht ihm stilistisch das Triptychon aus Beffi nahe, das sich heute im Nationalmuseum in L'Aquila befindet.
Für die Abruzzesen muß dieser Zyklus in S. Silvestro ein künstlerisches Ereignis ersten Ranges gewesen sein, denn diese Form der Schönheit, die eigenwillige Ikonographie und eine derart vollendete Technik waren bisher im eigenen Land noch nicht zu sehen gewesen. Der Künstler arbeitet mit leuchtenden Farben und ist exakt in der Linienführung. In der Anbetung der Könige ist der Realismus in der Darstellung der Tierwelt für unsere Landschaft völlig neu. Ochs und Esel liegen Naturstudien zugrunde, ebenso den Kamelen, auf deren Rücken possierlich spielende Affen herumklettern. Der anonyme Meister legt Wert auf kunstreiche Bewegungen seiner Figuren. Die Freudigkeit, welche die um Maria agierenden Engel (Tf. 276) zum Ausdruck bringen, ist nicht aus der Mimik der Gesichter zu lesen, sondern prägt sich in den anmutigen und kühnen Körperbewegungen aus. Das Euphorische ihrer Stimmung zeigt sich in einer außerordentlich kunstvollen Choreographie. Weiterhin besitzt der Künstler die Fähigkeit, die Gesichter zu individualisieren.
Die Malereien in der Sockelzone der Apsis von S. Silvestro, vierzehn Heilige in Dreiviertelfigur in architektonischer Rahmung, sind offensichtlich von anderer Hand, und vor allem der schöne Schmerzensmann in ihrer Mitte zeigt Verwandtschaft mit der Malerei der Marken, z. B. mit Allegretto NuzL Der Meister entwickelt ein besonderes Interesse am Studium männlicher und weiblicher Physiognomien (Tf. 279). Es erscheint das Menschenantlitz in immer neuen Variationen, die nicht unbedingt zur Charakterisierung der dargestellten christlichen Gestalten erforderlich sind. Die Figuren werden mit geneigtem Haupt gegeben, en face oder im Profil, mit dem Ausdruck des Ernstes, des Zweifelns, des Fragens, oder sie zeigen ein Lächeln.
Den Ruhm von S. Maria in Piano in Loreto Aprutino begründen die großen Wandgemälde, mit denen früher die gesamte Kirche ausgestattet war. Das Jüngste Gericht (Tf. 280) an der Westseite, das eine Fläche von 11 x 6 m einnimmt, ist der sehenswerteste Teil der Ausmalung, erst seit 1903 bekannt, nachdem an dieser Stelle die Orgel und eine (S. 396) Verputzschicht entfernt worden sind. Die rechte Seite des Freskos ist in den oberen Partien teilweise und in der untersten Zone völlig zerstört. Der fehlende Teil stellte die Hölle dar. Die Komposition zeigt eine dreiteilige horizontale Gliederung. Oben thront in der Mitte Christus in einer aus weißen, roten und grünen Farbbändern gebildeten Mandorla, die von vier Engeln getragen wird. Rechts und links der Mandorla verharren Maria und Johannes in Anbetung, neben ihnen erscheinen anbetende Engel und an den Seiten vier Erzengel, die mit langen Trompeten in die vier Weltgegenden rufen. Sie halten Spruchbänder mit den Worten »Surgite mortui venite ad iudicium. Surgite mortui percipite regnum«. Die übrigen Inschriften sind unleserlich. Darunter erscheinen Gruppen von Heiligen und Seligen, Patriarchen und Apostel. In ihrer Mitte steht ein mit einem weißen Tuch bedeckter Tisch, auf dem Passionswerkzeuge niedergelegt sind. Davor ragt das Kreuz empor, um das weitere Bildsymbole der Passion gruppiert sind, wie z. B. Hellebarde, Leiter und Lanze, die ohrfeigende Hand, das spuckende Antlitz, der Leibrock und der Essigschwamm. Franz von Assisi umarmt den Kreuzesfuß, neben ihm erscheinen rechts der hl. Augustin mit der Bischofsmütze und links der hl. Dominikus. Unter dieser Dreiergruppe verläuft ein doppelzeiliges Spruchband »Beati pauperes spiritu quoniam ipsorum est regnum coelorum«. Die unterste Bildzone ist, wie gesagt, auf der rechten Seite zerstört. Man erkennt mit Müh und Not noch zwei unheimliche Höllentiere. Die Anschaulichkeit der Erzählung kommt am besten in den Purgatoriumsszenen auf der linken Bildhälfte zur Geltung. Nackte, aus dem Grabe aufsteigende Gestalten bewegen sich auf eine Brücke zu, die sich in einem hohen runden Bogen über einen Fluß spannt (Tf. 282). Das Drängen der Menge auf der rechten Seite verliert sich auf der linken, da der übergang nur wenigen gelingt. Manche stürzen bereits beim Betreten des schmalen steinernen Steges herab, und mancher Unglückliche treibt in den Fluten des Flusses davon. Die Glücklichen, die die Mitte der Brücke überschritten haben, nimmt ein Engel in Empfang und leitet sie hilfreich die Stufen herunter (Tf. 283). Die nächste Prüfung erfolgt vor dem freundlich blickenden, mit einer kostbaren Dalmatika bekleideten Michael, der die Seelen in einer kunstvoll gebildeten Waage wägt. Die für gut Befundenen werden in einen höher gelegenen Palmenhain gewiesen, wo sie Zweige brechen, und wo einige hoch in die Bäume geklettert sind, um die schönsten Äste zu erlangen. Links vom Palmenhain liegt ein zweigeschossiger viereckiger Bau mit Terrassen (Tf. 284), ein interessantes Beispiel für frühe Architekturdarstellungen aus dem übergang von der Gotik zur Renaissance. Im rund bogigen Hauseingang wacht Petrus. Auf dem Umgang im ersten Geschoß sieht man einen Engel, der den nackten Gestalten Kleider aushändigt. In modischen Gewändern erscheinen sie auf der oberen Terrasse. Dort tanzen sie auf dem mit Blüten bestreuten Boden. ganz der Freude hingegeben. Einige wenden sich zum Palmenhain und unterhalten sich mit den Glücklichen im Gezweig, die ihnen die Palmen als Wahrzeichen des Paradieses überreichen. Über dem Altar funkeln Sterne zum Greifen nahe, und man geht nicht fehl, wenn man sich die Turmterrasse in den höchsten Höhen befindlich vorstellt. Unten links vom Turm erscheint die sehr schön gemalte Dreiergruppe der Erzväter, die bereits in Bominaco und in Fossa zur Darstellung des Jüngsten Gerichts gehören. Abraham, Isaak und Jakob sind im Gespräch vertieft (Tf. 285). Das weise, affen ähnliche Gesicht der Mittelfigur ist höchst eindrucksvoll. Die leuchtende bunte Pracht der Darstellung des Jüngsten Gerichts ist einzigartig in der abruzzesischen Malerei. Die Farben entwickeln sich aus einem bläulichgrünen Grundton. Die besondere Frische hängt sicherlich mit der Maltechnik zusammen, die noch gen au er zu untersuchen wäre. Wie es scheint, handelt es sich gar nicht um ein Fresko im eigentlichen Sinn sondern um ein Verfahren, das der antiken Enkaustik nahesteht, etwas sehr Seltenes in der Malerei des frühen 15. Jahrunderts. Kunstgeschichtlich spiegelt sich in dem großangelegten Bild die Situation der abruzzesischen Malerei um 1420 bis 1430. Das traditionelle Verharren zeigt sich vor allem in der obersten Zone, dagegen herrscht in der unteren eine neue Lust am Fabulieren. Modern erscheinen die Darstellungen der weiblichen Figuren, die vielfältig bewegten Gestalten, die phantasievolle Brücken-und Turmarchitektur. Diese neuen Impulse leitet die jüngere Forschung, vor allem Enzo Carli, von Ottaviano Nelli ab, insbesondere von seinen um 1423 entstandenen Fresken in der Oberkirche von S. Maria della Rocca in Offida in den Marken.
Die umfangreichsten Wandgemälde sind in Loreto Aprutino an der rechten Langhauswand zu sehen mit Szenen aus dem Leben Christi und Mariae, von denen die Anbetung der Könige, die Auferstehung, die Marienkrönung und Christus in der Mandorla am besten erhalten sind. Auch in diesen Fresken, vor allem in den musizierenden Engeln neben der Krönung und in den Gesichtern der Heiligen Drei Könige, ist die Beziehung zu den erwähnten Wandmalereien in Offida offensichtlich.
Auf der linken Langhauswand in S. Maria di Collemaggio in L'Aquila hat man zu seiten der Porta Santa Fragmente von gemalten Rahmungen ausfindig gemacht, die einen heute nicht mehr erkennbaren Freskenzyklus des 15. Jh. enthielten.
Wie in der Bildhauerei begegnen wir auch in der Malerei Werken, die thematisch und formal an längst vergangene Zeiten anschließen. Beispielsweise entstanden 1488 in S. Maria dei Bisognosi bei Pereto Fresken, die im oberen Teil das Paradies und darunter die Hölle darstellen. Die Gemälde sind ikonographisch interessant. Die Sünder werden in Gruppen geteilt, und ihre Missetaten sind wie üblich durch Beischriften benannt. Die Unterwelt bewacht der Satan, eine zerberusähnliche Gestalt. Mit beiden Händen ergreift er die Bösen und verschlingt sie. Nach der Digestion scheidet er sie aus, und sie erscheinen als wiedererstandene Menschen. Nur die Stolzen kann er nicht verdauen und wirft sie in den tiefsten Abgrund. Als Künstler dieser Malereien gilt ein Jacopo da Arsoli. Die Inschrift »Magister Jacopo da Arsoli pinxit« befindet sich tatsächlich in S. Maria dei Bisognosi. (S. 397) Aber bei näherer Betrachtung erweist sich, daß dieser Name auf einer älteren Malschicht erscheint.
Neben stilistisch retaraierenden Zyklen entstehen Freskenabfolgen, die für die AlJruzzen höchst modern anmuten. Am 1. Mai 1491 erging ein Auftrag an Satumino Gatti, die Apsis der dreischiffigen Kirche S. Panfilo in Tornimparte auszumalen. Vier Jahre später waren die Arbeiten abgeschlossen. In der Kalotte schwebt der bärtige segnende Gottvater in Wolken, in seiner Linken die Weltkugel tragend. Um ihn tummeln sich Engel, die Blumen ausstreuen und Schriftbänder halten, auf denen Musiknoten geschrieben stehen. Andere singen oder spielen auf Instrumenten. Im Unterzug des Apsisbogens erscheinen Propheten. Von diesen zeigt vor allem Daniel die Anlehnung Satuminos an Vorbilder, die Perugino und Ghirlandaio lieferten. Die Seitenwände der Apsis füllen Szenen aus dem Leben Christi. Im verdorbenen Zustand sieht man die Gefangennahme und den Verrat des Judas, die Geißelung, Grablegung und Auferstehung. Das Mittelbild der Kreuzigung in der Apsisrundung ist zerstört.
Den Fresken in Tomimparte steht das Tafelbild mit der Darstellung des sel. Vincenzo deli' Aquila im Konvent von S. Giuliano bei L'Aquila nahe. Es entstand als zeitgenössisches Porträt etwa 1491-1494. Vom CEuvre des Satumino berichten Urkunden. Es seien hier nur wenige Dokumente erwähnt, die den Zeitraum vor 1500 betreffen. 1488 verpflichtete sich der Meister, den Johannes Evangelista für eine Kapelle in S. Domenico in L'Aquila zu malen. 1492 wurde er mit der Ausmalung der Cappella S. Giovanni in S. Maria di Collemaggio betraut. Andere Arbeiten führten ihn nach S. Spirito bei Sulmona und nach Kalabrien.
Einer der größten Zyklen aus dem letzten Viertel des 15. Jh. in der Provinz Teramo ist bislang kaum bekanntgeworden. Er befindet sich in Campli im ehemaligen Konvent S. Onofrio im Refektorium, das nach dem Zweiten Weltkrieg als Abstellkammer für Getreide diente. Der Künstler, der sich stilistisch an die Malerei der nahgelegenen Marken anschloß, stattete die Wände und Gewölbeansätze des rechteckigen, etwa 11 m langen und 7 m breiten Raumes mit Fresken aus. An der rückwärtigen Schmalseite sieht man die Darstellung der Trinität, der Verkündigung und des Abendmahles. Die gegenüberliegende Eingangsseite zeigt die Lebensgeschichten des hl. Benedikt, der hl. Scholastica und des sel. Roberto da Sala (gest. 1341). An der linken Wand sieht man Heiligenfiguren. In einer Fensterlaibung ist noch einmal der namentlich bezeichnete Roberto da Sala in Büstenform gemalt.
Fragmente eines Freskenzyklus von 1499 enthält die Abteikirche S. Maria di Propezzano. Im Mittelschiff blieb über der linken dritten Arkade das Fresko einer Verkündigung erhalten, das mit fünf weiteren schwer erkennbaren Bildern zu einer christologischen Folge oder aber zur Erzählung der Gründungsgeschichte gehörte.
Der früheste Zyklus weltlichen Inhalts entstand in den Abruzzen in der zweiten Hälfte des 15. Jh., und zwar vor 1496, im Palazzo Ducale in Tagliacozzo. Die aus Rom stammende Feudalfamilie Orsini beauftragte einen latialen Künstler mit der Ausschmückung ihrer Loggia. Vermutlich war Lorenzo da Viterbo (gest. 1476) am Werk oder einer seiner engsten Mitarbeiter.
Die Gliederung der Malereien ist höchst kunstvoll durchdacht und korrespondiert mit der Architektur der Loggia mit ihren sechs Säulen, die den Blick in die Landschaft freigeben. Diesen Stützen entsprechen auf der Rückwand sechs gemalte Pilaster, so daß dort sieben Felder entstehen, die jeweils zwei Standfiguren in einer offenen Architektur zeigen, wodurch auch hier der Anschein erweckt wird, als ginge der Blick ins Freie. Die Gestalten erheben sich auf einem rotweißgekachelten, in perspektivischer Verkürzung gegebenen Fußboden, und eine jede bekrönt eine muschelförmige Kalotte, die links und rechts von drei gekoppelten Säulen getragen wird. Die Schmalseiten der Loggia waren auf die gleiche Weise durch Pilaster in zwei Felder geteilt mit jeweils zwei Figuren in der loggien artigen Scheinarchitektur. Die breite Rückwand wurde durch den Einbau vier hoher Renaissanceportale stark in Mitleidenschaft gezogen, wobei sieben Standfiguren völlig verschwanden und zwei weitere nur noch zur Hälfte zu sehen sind. Es fehlen die beiden Figuren im ersten, dritten und siebenten Feld. Zwischen dem fünften und sechsten Feld wurde die Tür so eingesetzt, daß die linke Gestalt des fünften Feldes halbiert wurde, die darauffolgende gänzlich verschwand und die linke Figur im sechsten Feld wieder nur halb erscheint. über der niedrigen Tür der rechten Schmalseite sieht man nur zwei weibliche Büsten, die Kronen tragen. Ursprünglich waren insgesamt 22 Figuren dargestellt und alle durch Beischriften namentlich bezeichnet. Bei den elf unbeschädigt erhaltenen und den vier halbierten Figuren ist die Inschrift kaum noch zu entziffern. Nur fünf Gestalten sind namentlich gesichert.
An der linken Schmalwand sieht man im ersten Feld zwei gekrönte Personen, Könige oder Kaiser, von denen die linke mit Schild und Schwert als Kaiser Konstantin und die rechte mit Szepter und der Erdkugel in ihrer linken Hand als Kar! der Große zu deuten wären. Beschriftet ist das folgende Figurenpaar an dieser Schmalseite. Links erscheint der Dichterfürst Ovid aus Sulmona in einem langen Gewand, das unter dem Hals zusammengehalten wird. Er trägt eine einfache Tuchmütze, hält in seiner Rechten ein großes Buch mit Schließe, und die andere Hand faßt den Gürtel in der Taille. Zu dem etwa gleichzeitig entstandenen Oviddenkmal in Sulmona bestehen formal keine Beziehungen. Zu seiten Ovids steht der aus Rieti gebürtige Marcus Varro, einer der größten Gelehrten des antiken Rom. Das zweite Feld der Rückwand vereint zwei römische Feldherren, Scipio Africanus und Camillus, in kurzen Waffenröcken und mit großen langen Schwertem in ihren Händen. Trotz der stereotypen Haltung der Figuren bemüht sich der Maler um Differenzierungen. Das Gewand des Scipio ist gelblich weiß, während in der Kleidung des Camillus das Rot überwiegt. Die muschelförmige Kalotte über Scipio zeigt ein helles Blau, die über Camillus einen tiefen goldgelben Farbton.
Die letzte benannte Figur tritt im vierten Feld der Rück (S. 398) wand links auf, und die Beischrift weist sie als »Pantasila« aus. Sicherlich handelt es sich um die Amazonenkönigin Penthesilea, die im Trojanischen Krieg den Trojanern zu Hilfe kam und von Achill getötet wurde. Sie ist schreitend dargestellt, mit weit zur Seite flatternden Haaren und bekleidet mit einem dunklen Wams mit hellen Ärmeln. In ihrer Rechten trägt sie ein Bündel von Speeren, und die Linke hält einen großen gespannten Bogen. Die übrigen Gestalten sind nicht zu deuten, es sind meistens jugendliche Männer.
Der Maler der Loggia erhielt auch den Auftrag zur Ausschmückung der anschließenden herzoglichen Kapelle. An der Eingangsseite sieht man den Erlöser zwischen den Figuren der Verkündigung. Diese vollzieht sich vor einer kunstvollen Architektur, und wie in den Fresken der Loggia sind die Fußbodenfliesen in perspektivischer Verkürzung gemalt. An der rechten Wand der Kapelle ist die Geburtsszene dargestellt. Vor einer Höhle knien Maria und Joseph und beten das Kind an; darüber erscheint in einer Landschaft die Verkündigung an die Hirten. Auf der gegenüberliegenden Wand sieht man die Anbetung der Weisen aus dem Morgenland, die in prunkvollen Gewändern auftreten, und rechts daneben, in eigener Rahmung, erscheint die prachtvolle Gestalt Johannes des Täufers. Die Rückwand zeigt den Gekreuzigten und zu seinen Seiten Maria und Johannes.
Neben den Zyklen gibt es eine Anzahl von Einzelfresken, die in der Kunstgeschichte kaum einen Widerhall gefunden haben. Ein Wandgemälde, das die Überführung des Hauses Mariens nach Loreto darstellt, trägt das Datum 1403 und wird heute im Dommuseum in Atri gezeigt. 1419 sind Fresken datiert, die den Altarbaldachin im linken Seitenschiff von S.Clemente al Vomano schmücken. Dort sieht man die Evangelisten, Papst Clemens I. und die Madonna. Beim Erdbeben von 1915 stürzten in S.Giovanni Battista in Celano die wenig soliden Barockkonstruktionen ein und legten im rechten Seitenschiff die ersten fünf spitzbogigen Kreuzrippengewölbe frei, von denen vier qualitätvolle, toskanisch beeinflußte Malereien aus dem Anfang des IS.Jh. zeigen. Auf dunkelblauem Grund sieht man die vier Evangelisten, die Halbfigur der Madonna mit Kind, die hll. Lorenz, Katharina von Alexandrien und andere. Die Unterzüge der Spitzbogen enthalten in Einzelrahmungen Figuren des Alten Testaments, unter denen Moses durch Beischrift benannt ist, Märtyrer, Bischöfe und einen Papst. Ähnlich wurden die Unterzüge der Langhausarkaden in S.Salvatore in Canzano behandelt. Von den Dargestellten sind Jesaias und Baruch namentlich bezeichnet. Alten Gewohnheiten folgend, malte man im Quattrocento die Kalotte der Apsis von S. Giovanni ad Insulam aus. Das arg zerstörte Bild des Erlösers erscheint in einer Mandorla, die von Maria und einem Engel auf der einen sowie von Johannes d. T. und dem Jesusknaben auf der anderen Seite umgeben ist.
Einflüsse aus Umbrien und den Marken gelangten über S. Maria in Piano in Loreto Aprutino nach Pianella. Den Beleg findet man in den Fresken der rechten Apsis von S.Angelo. Zuoberst im Bildfeld erscheint die Halbfigur des segnenden Gottvaters, dessen Bart in etwas vergröberter Form an Bartbildungen in S. Maria in Piano erinnert. Darunter ist in der Mitte das Schweißtuch der Veronika dargestellt. Rechts daneben stehen Johannes d. T. und Jacobus Maior, links zwei weibliche Heilige. Der Meister dieser Heiligenfiguren begegnet noch einmal im Dom von Atri mit einem Fresko des hl. Georg am letzten Pfeiler der rechten Stützenreihe. ]n der Cappella della Vestizione, die man vom linken Seitenschiff des Domes in Chieti betritt, hat man Fresken untergebracht, die sich früher in der Krypta befanden. Sie wurden wahrscheinlich in den letzten Jahren des IS.Jh. gemalt und zeigen eine Pied, Antonius von Padua, Maria Magdalena und einen Engel.
Laut Inschrift von 1486 malte ein Meister Sebastian in S.Maria ad Cryptas in Fossa das Fresko einer Verkündigung an die Rückwand einer Altarnische. Vor einem Lesepult vernimmt Maria die Botschaft des knienden Engels. Darüber schwebt Gottvater in einer Wolke und läßt als Zeichen der göttlichen Abstammung den Jesusknaben auf einem Lichtstrahl zu Maria hinuntergleiten. ]m Unterzug des Spitzbogens der Altarnische sind vier qualitätvolle Halbfiguren zu sehen. Das Werk, das zu Unrecht oft dem 1506 gestorbenen Sebastiano di Cola Casentino zugeschrieben wurde, stammt von einem abruzzesischen Künstler, der sich an toskanischen Vorbildern orientierte. Die Verkündigung in Fossa hat Ferdinando Bologna stilistisch mit anderen Gemälden in der Umgebung L'Aquilas in Verbindung gebracht. Dazu gehören eine noch unpublizierte Madonna mit Kind in der Kirche S. Egidio in Civitaretenga, das Lünettenfresko am Seitenportal von S.Maria d'Appari bei Paganica und ein Freskofragment an der Fassade von S.Maria Assunta in Assergi.
Aus der zerstörten Kirche S. Maria di Cascina in L' Aquila gelangten um 1500 entstandene Fresken aus dem Umkreis des Saturnino Gatti in das Nationalmuseum in L' Aquila. Zu seiten der hl. Katharina von Alexandrien erscheinen in einer eigenen Rahmung die Standfiguren der hll. Gervasius und Protasius.
Die Menge an Votivfresken, meistens mit Darstellungen von Heiligen, an Wänden, Säulen und Pfeilern in Kirchen ist unüberschaubar. So waren z. B. alle Pfeiler in S. Maria di Collemaggio in L'Aquila mit Fresken überzogen. Anderen Malereien begegnen wir in der Kirche S. Pietro in Caporciano, darunter befindet sich eine von den Marken beeinflußte Madonna, die 1430 datiert ist. Qualitätvolle Votivbil-• der zeigen die Wände von S. Francesco in Campli. Die Kirche S.Maria in Piano in Loreto Aprutino enthält eine Reihe vortrefflicher Arbeiten. Von diesen sind zu erwähnen eine ganzfigurige Maria unter dem Jüngsten Gericht und in der Nähe des Seiteneingangs eine Märtyrerin (Tf. 281) mit turbanähnlichem Kopfputz, die den Heiligen in der Apsis von S. Maria della Rocca in Offida ähnelt.
Die wichtigsten Votivbilder des Quattrocento hat der Dom in Atri überliefert mit ausgezeichneten Werken aus der ersten Hälfte des 15. Jh., hier nur in Auswahl mitgeteilt. Der fünfte rechte Langhauspfeiler zeigt das prachtvolle Fresko der Trinität (Tf. 289). Sie erscheint als stehende segnende (S. 399) drei köpfige Gestalt. Die beiden Gesichter im Profil mit Heiligenschein sind in helleren Farben gegeben als das Antlitz en face. Die drei Häupter werden von einem gemalten Kielbogen mit eingehängtem Dreipaß eingerahmt. Darüber entwickelt sich ein phantasievolles Rankenwerk, worin zwei Köpfe eingearbeitet sind; dieses Rankenwerk erscheint in ganz ähnlicher Form auch am gegenüberliegenden Pfeiler im Bild der Elisabeth von Ungarn und in weiteren Votivfresken. Einen Anhaltspunkt für die Datierung des Trinitätsbildes gibt die Einritzung eines Besuchers mit der Jahreszahl 1412.
Am siebenten Pfeiler der linken Stützenreihe sieht man die selten dargestellte abruzzesische Märtyrerin Anatolia, ein Fresko aus den ersten Jahrzehnten des Quattrocento. Sie erscheint mit dem Palmzweig und einer langen Schlange. Die Heilige sollte durch einen Schlangenbiß getötet werden, der aber ohne Wirkung blieb. Daraufhin wurde sie enthauptet.
Aus dem Anfang des 15. Jh. läßt sich im Dom von Atri eine Gruppe von Votivbildern feststellen, die vermutlich aus derselben Werkstatt hervorgingen. Dazu gehören z. B. drei Fresken am vierten rechten Pfeiler, die Standfiguren des hl. Biagio und der Katharina von Alexandrien unter einer ähnlichen Rahmung wie im Trinitätsbild, eine hl. Königin, die eine Lampe hält, und von besonderer Schönheit der langhaarige Johannes der Täufer mit einer Schriftrolle in seiner Rechten und einem Becher in der anderen Hand. Er sitzt auf einem Fels über einem munter rinnenden Bach in einer poetisch empfundenen Landschaft mit dicht stehenden Bäumen, in denen sich eine Eule ausruht. Darunter hat es sich ein Vierbeiner bequem gemacht. Zur gleichen Gruppe gehören am fünften Pfeiler rechts eine Heilige und neben ihr der Christophorus, am siebenten Pfeiler links das Doppelbildnis der Brüder Cosmas und Damian und am fünften Pfeiler links die Darstellung der thronenden Madonna mit Kind unter einem Baldachin. 1437 ist das Fresko mit dem Papst Clemens I. am dritten Pfeiler rechts datiert. Derselbe Künstler schuf sicherlich auch den Antonius Abbas am siebenten Pfeiler auf der linken Seite.
Von historischer Bedeutung ist das Porträt des hl. Bernhardin an der rechten Langhauswand. Er erscheint als Ganzfigur mit Heiligenschein und jugendlichem aber abgemagertem Gesicht. An der oberen Randleiste liest man seinen Namen mit dem Datum 1451. Das Fresko entstand also ein Jahr nach seiner Heiligsprechung und ist in den Abruzzen die erste Darstellung, die ihn als Heiligen zeigt. Vermutlich entstand das Bild auf Betreiben des Bischofs Giovanni von Atri. Dieser aus Palena gebürtige geistliche Würdenträger bekleidete das Bischofsamt in Atri seit 1433 und wurde 1454 zum Bischof von Orvieto ernannt. Er machte sich einen Namen durch seine Mitwirkung am Kanonisationsprozeß des Bernhardin.
Im Gegensatz zu den Abruzzen sind Freskomalereien des 15. Jh. im Molise äußerst selten. Etwähnenswert sind allein Gemälde in der Kathedrale von Venafro, die nach Beseitigung des Barockputzes zum Vorschein kamen. Man fand an Pilastern die Votivfiguren eines hl. Diakons und des hl. Michael. Wichtiger ist in der Kirche das gemalte Grab der Cobella de Alario. Eine Inschrift sagt aus, daß sie aus Castelpetroso stammt und 14 5 8 als Ehefrau des Edlen Cristoforo de Maninis aus Venafro gestorben ist. Die Tote liegt mit übereinandergelegten Händen auf dem Sterbebett. Ober ihr erscheint die breite dreizeilige erwähnte Inschrift. Das Bild zeigt am oberen Abschluß eine sitzende, ungekrönte Madonna mit dem segnenden Christuskind vor einem bräunlichen Damasttuch im Hintergrund.
In den Temperabildern auf Holz ist die Verbundenheit der abruzzesischen Malerei mit anderen Kunstschulen sehr viel deutlicher abzulesen als in den Fresken. Häufig entstand ein Mischstil, in dem die aus verschiedenen Kunstlandschaften entnommenen Vorlagen verschmolzen. Nur eine kleine Gruppe von Malern bleibt übrig, die noch eine relative Eigenständigkeit erkennen läßt und einen qualitätvollen lokalen Stil enrwickelt. Dazu gehört ein Künstler, der durch neue re Forschungen immer greifbarer geworden ist, Giovanni da Sulmona, der neben Andrea Delitio in den Abruzzen zu den großen Meistern des Quattrocento zählt. Giovanni arbeitete in der Freskotechnik, praktizierte aber hauptsächlich die Temperamalerei. Ausgangspunkt für die Erkenntnis seines Schaffens sind die Malereien auf dem Flügelaltar im Museo Civico in Sulmona, die bei der letzten Restaurierung ihre leuchtende Farbigkeit wiedererlangt haben. Das Bildwerk stammt aus der 1915 durch Erdbeben zerstörten Kirche S. Orante in Ortucchio. Bei geschlossenem Zustand der Flügel (Tf. 286) sieht man die prachtvolle Verkündigung. In Profilansicht kniet der Engel, bekleidet mit einem roten Untergewand und einem hellfarbigen Mantel. Die Lilie in seiner Linken nimmt mehr als die Hälfte der Bildhöhe ein. Ebenso groß sind als Zeichen der göttlichen Sendung die flammendroten tiefgezackten Flügel gebildet. Auf einer schlichten Holzbank gegenüber vernimmt Maria die Botschaft, den Blick intensiv auf den Engel gerichtet und zugleich einen kisen Argwohn in den Augen, warum gerade ihr das angekündigte Schicksal zugedacht sei. Unter dem Engel steht in eigener Rahmung in klaren schwarzen Lettern die Inschrift »Hoc opus pins[i]t Joh[an]es pictor de Sul[mo]na a. D. 1435«. Auf den Innenseiten der Flügel sieht man links die Geburtsszene und rechts die Anbetung der Könige. Die Geburt vollzieht sich in einer Höhle. Maria, auf der 'mit einem leuchtend roten Laken bedeckten Lagerstatt ruhend, streckt ihre Hand dem Neugeborenen entgegen, das strampelnd in einem von Ochs und Esel umstandenen Korb liegt. Im Vordergrund grübelt Joseph, und zwei Frauen sind damit beschäftigt, dem Kind das Bad herzurichten. Ober der Höhle verkündet ein Engel das Ereignis an die Hirten, von denen der eine auf einem Dudelsack bläst, in der gleichen Pose, die auch die musizierenden Hirten in den Weihnachtskrippen einnehmen. Die Anbetung der Könige, die mit ihrem noch halb hinter den Hügeln verborgenen Gefolge anreisen, findet vor der Geburtshöhle statt.
Unschwer erkennt man die Hand des Giovanni da Sulmona in den Fresken (Tf. 288, 287), die über dem 1412 datierten Caldoragrab in S. Spirito bei Sulmona zu sehen sind. Dargestellt ist die Beweinung Christi unter dem Kreuz (S. 400) mit den üblichen fünf Frauen und mit Johannes, Nikodemus und Joseph von Arimathia. Die Trauernden zeigen pathetische Klagegesten. Die Schächer am Kreuz sind differenziert. Der böse nackte reckt sich verzweifelt mit gedunsenem Bauch, während derjenige, der sich dem Heiland empfiehlt, weiß bekleidet ist und ein gütiges Gesicht hat. Rechts neben dem Kreuz Christi sieht man eine antike Säule.
Giovanni da Sulmona sind fernerhin zuzuschreiben das Fresko der Pied in der Lünette des Hauptportales des Domes von Sulmona sowie die Halbfiguren des segnenden Gottvaters, des Johannes und der Maria in den als Dreipaß gebildeten Enden eines Kreuzes, das, wie der Flügelaltar, aus Ortucchio in das Museo Civico in Sulmona gelangte. Ein Kreuz mit ähnlich gebildeten und bemalten Armen kam aus der Kirche S. Cesidio in Trasacco in das Nationalmuseum in L'Aquila. Vermutlich ist ein Aufenthalt des Giovanni oder eines seiner engsten Mitarbeiter in L' Aquila anzunehmen. Unbekannt ist die Herkunft einer auf Holz gemalten, 0,90 x 0,60 m großen Kreuzigung im Nationalmuseum in L'Aquila. Die bereits früher beobachteten pathetischen Gebärden finden sich auch hier in den Figuren der Maria und des Johannes. Die fast vollständig zerstörten Fresken im Innern an der Eingangswand von S. Maria di Collemaggio hat man ebenfalls mit Giovanni da Sulmona in Verbindung gebracht, und eine Beweinung Christi in der Nähe von L'Aquila in dem Kirchlein S.Maria a Capo di Serra in Barisciano, ein bisher unveröffentlichtes Werk, hat Enzo Carli dem Umkreis des Giovanni zugeschrieben. Die Werke dieses Meisters gehören in den Kreis von Arbeiten, die im Quattrocento einen lokalen abruzzesischen Stil repräsentieren. Gewisse toskanisch-sienesische Elemente scheint Giovanni aus den Benediktfresken in der Oberkirche von S.Speco in Subiaco übernommen zu haben.
Das Museo Civico in Sulmona verwahrt zwei zusammengehörige Tafelbilder, jedes 0,64 x0,54 m messend, von ausgezeichneter Qualität, die von einem einheimischen Künstler für die Kirche S. Onofrio am Morrone bei Sulmona gefertigt wurden. Das eine Gemälde zeigt Onophrius in einer Felslandschaft. Vor ihm kniet eine weibliche Stifterfigur im schwarzen Kleid und mit hellem Kopf tuch. Auf dem anderen Bild erscheint die namentlich bezeichnete Maria Magdalena im roten Obergewand. Ihr goldenes Haar fällt in Strähnen lang über die Schultern herab, in den Händen hält die noch gotisch ausschwingende Figur das Salbgefäß. Wie Giovanni da Sulmona arbeitet der Meister mit großen kontrastierenden Farbflächen.
Die venezianische Malerei dringt vor allem in den adriatisehen Küstenstreifen ein. Das rechte Seitenschiff des Domes von Teramo behütet die große Altartafel des Venezianers Jacobello del Fiore (gest. 1439), die früher in S.Agostino in Teramo aufgestellt war. Das Polyptychon mit der Marienkrönung im Zentrum ist wohl im zweiten Jahrzehnt des 15. Jh. entstanden. Das Werk ist signiert und für Teramo gearbeitet. Unter der Marienkrönung sieht man die Vedute von Teramo, eingeschlossen von den beiden Flüssen Tordino und Vezzola. Daneben erbitten Vertreter des geistlichen und weltlichen Standes den himmlischen Schutz für die Stadt. Die vordere Figur der linken Gruppe, durch Beischrift als Magister Nicolaus bezeichnet, wird als Porträt des Goldschmieds Nikolaus von Guardiagrele angesehen. Ferner erscheinen die Ganzfiguren von Heiligen, von denen Augustinus, Hieronymus und Nikolaus von Tolentino zu identifizieren sind. Der eine der beiden Bischöfe dürfte der hl. Berardus sein. In den engeren Umkreis des Jacobello gehören zwölf gemalte Halbfiguren auf Goldgrund auf der Predella des holzgeschnitzten Altares mit dem Jacobus Maior im Dommuseum von Atri. Wichtiger als dieser ist das Retabel aus Cellino Attanasio im Nationalmuseum in L'Aquila. Die Malerei und vornehmlich die Rahmung stehen dem Bildwerk in Teramo nah.
In den Marken tätige venezianische Künstler setzten ihre Werke auch in den Abruzzen ab, z.B. Carlo Crivelli und sein in Göttweig in Österreich geborener Schüler Pietro Alamanno, der von 1453 bis 1498 in den Marken tätig war. Ein aus ihrer Werkstatt stammendes Triptychon gelangte aus der Pfarrkirche in Collegrato, ein Ortsteil von Valle Castellana, in das Nationalmuseum in L'Aquila. Es zeigt links die lebhafte und keck anmutende Gestalt des Täufers, in der Mitte die Sitzfigur der Maria und rechts den hl. Biagio.
Ferdinando Bologna stellte eine Reihe von Bildern zusammen, deren Autor er wegen des sich in ihnen spiegelnden Einflusses Ca rlo Crivellis, den Notnamen »Maestro dei polittici crivelleschi« gab. Der Meister war sicher Abruzzese. Wie bei Fabrikware erfolgt der Aufbau seiner Polyptychen stets nach demselben Rezept. Sie zeigen über einer Predella mit Halbfiguren fünf gerahmte Felder mit Heiligen in Ganzfigur, deren Mitte stets Maria auf einer schlichten Holzbank einnimmt. Jedes dieser Felder trägt einen dreieckigen Aufsatz, worin eine Halbfigur erscheint, von denen die mittlere immer der Schmerzensmann mit den Passionswerkzeugen ist. Die neben Maria und dem Schmerzensmann dargestellten Heiligen konnten je nach Auftrag und Bedarf ausgewechselt werden. Die etwas eckig und manieriert gezeichneten Figuren sind auf den verschiedenen Altartafeln zum Verwechseln ähnlich, und alle minuziös, aber ohne künstlerischen Schwung ausgeführt. Zu dieser Gruppe gehören vier Retabel. Zunächst die Tafel im Nationalmuseum in L'Aquila aus dem Konvent in S.Angeio d'Ocre. Die Predella zeigt den segnenden Christus und die zwölf Apostel. In den Hauptfeldern erscheinen von links nach rechts Franz von Assisi, Michael, die Maria, zu deren Füßen eine Stifterin kniet, Hieronymus mit dem Kirchenmodell und Antonius von Padua mit Lilie und Buch. Die Brustbilder in den Giebelfeldern führen entsprechend den Bernhardin vor, Ludwig von Toulouse, den Schmerzensmann, Bonaventura und Johannes von Capestrano. Aus dem Konvent S. Giovanni da Capestrano bei Capestrano stammt eine ähnliche Altartafel, die heute gleichfalls im Nationalmuseum von L'Aquila ist. Auf der Predella mit Christus und den zwölf Aposteln treten an den Seiten noch zwei weibliche Heilige auf, Klara von Assisi und Scholastica, die Schwester des hl. Benedikt. Darüber erscheinen neben der Maria als Mittelbild links Bern (S. 401) hardin von Siena mit der Christusdevise und Franz von Assisi, rechts Antonius von Padua und Johannes Capestranus mit der Siegesfahne von Belgrad. In den Ziergiebeln mit dem üblichen Schmerzensmann sieht man links Bonaventura und Johannes d. T., rechts Hieronymus mit einem Kirchenmodell und Ludwig von Toulouse. übereinstimmend in Anordnung und Stil ist ein anderes Retabel, das eine weite Reise aus einem Konvent in Chieti in die Sammlung Harewood in Knaresborough in England zurückgelegt hat. Die Predella weist die zwölf Apostel auf, und die Heiligen, die darüber Maria begleiten, sind von links nach rechts Hieronymus mit dem Kirchenmodell, der Drachentöter Michael, Antonius von Padua und Bernhardin von Siena.
Ausgehend von diesem Schema und auf Grund übereinstimmender stilistischer Merkmale konnte Ferdinando Bologna ein Polyptychon rekonstruieren, dessen einzelne Teile in verschiedenen Museen aufbewahrt werden. Das Retabel, von dem die Predella noch nicht ausfindig gemacht werden konnte, befand sich einstmals im Observantenkonvent S.Maria dei Paradiso bei Tocco da Casauria. Die Maria als Mittelfigur und Antonius von Padua, der rechts neben ihr steht, gelangten mit ihren zugehörigen Dreieckgiebeln mit Halbfiguren, dem Schmerzensmann und dem hl. Bonaventura, in das Nationalmuseum in L'Aquila. Die Tafeln mit den äußeren Figuren, links Johannes d. T. und darüber im Dreieckfeld der hl. Bernhardin sowie rechts der hl. Hieronymus mit dem Kirchenmodell und der hl. Johannes Capestranus im Aufsatz, sind in die Pinakothek von Chieti gelangt. Der hl. Franz von Assisi mit Ludwig von Toulouse im Giebelfeld, der links von Maria stand, wird heute im Museo Francescano in Assisi gezeigt. Neben dem linken Fuß des Franz liest man das Datum 1489. Von den vier Altarwerken ist das Retabel von Tocco da Casauria das späteste.
Die Landschaft der Marken stellte besonders im Quattrocento einen Umschlagplatz künstlerischer Strömungen dar, die aus Venetien, der Emilia und Romagna, aus der Toskana und Umbrien kamen. Von der Provinz Ascoli Piceno gingen Ausstrahlungen längs der Adria weiter nach Süden und erreichten Apulien und Kalabrien. Am stärksten beeinflußt wurden natürlich die Landstriche, die den Marken am nächsten lagen, besonders die Provinz Teramo.
In S.Maria in Platea in Campli verwahrt die Sakristei das Tafelbild der thronenden, nährenden Maria, das stilistisch mit einem 1461 datierten Fresko gleichen Themas in der Loggia des ehemaligen Palazzo Comunale (heute Postamt) in Ripatransone in den südlichen Marken übereinstimmt. Dem Umkreis dieser beiden Madonnen ist auch ein Retabel aus der Kirche S.Bernardino in Campli zuzurechnen, das in das Museo Civico von Teramo gelangte. Zu seiten der thronenden Madonna stehen Ganzfiguren von Heiligen, links der Täufer und Franz von Assisi, rechts Bernhardin und Hieronymus mit dem Kirchenmodell. Zu der von den Marken beeinflußten Bildergruppe gehört ferner die das Kind anbetende Maria auf Goldgrund, eine Tafel, die aus dem Konvent S. Giuliano bei L'Aquila in das dortige Nationalmuseum gebracht wurde. Wahrscheinlich war die Maria, wie so häufig, das Mittelbild in einer Reihe von Heiligen. Zwei Tafeln, die die hll. Antonius von Padua und Ludwig von Toulouse darstellen, sind möglicherweise Seitenteile dieses Retabels, denn sie sind stilistisch verwandt und ebenfalls aus S. Giuliano in das Nationalmuseum in L' Aquila gekommen.
Der Maler Matteo da Campli zeigt starke Bindungen an die Kunst der Marken. Sein einziges gesichertes Bild stammt aus der Pfarrkirche in Pizzoli und ist heute im Nationalmuseum von L'Aquila zu sehen. Diese signierte Holztafel mit Goldgrund dürfte am Ende des 15. Jh. entstanden sein. über der mystischen Vermählung der Katharina von Alexandrien mit dem Jesuskind ist Maria in einem blauen, mit Sternen besetzten Mantel in Anbetung versunken. Zwei heranfliegende Engel setzen ihr die kunstreich gemalte Krone auf. Matteo verarbeitete Formen des Carlo Crivelli und des Pietro Alamanno.
Toskanische, speziell sienesische Einflüsse, die sich bereits in den Fresken von S. Silvestro in L'Aquila geltend machten, sind am Anfang des 15. Jh. auch in der abruzzesischen Tafelmalerei zu erkennen. Die Kirche S. Maria del Ponte bei Fontecchio war lange Zeit im Besitz eines Triptychons, das dem Meister von Beffi zugeschrieben wird (Tf. 291), der nach einem Ort bei Fontecchio genannt ist; der Altar zählt heute zu den Hauptwerken des Nationalmuseums in L'Aquila. Die Beziehungen der Altartafel zu den Fresken in S. Silvestro sind so eng, daß man für beide Werke denselben Künstler postuliert hat, der sich an Vorbildern der sienesischen Schule, vor allem an Taddeo di Bartolo, orientierte. Das Mittelfeld der Tafel aus S.Maria dei Ponte zeigt die thronende, ungekrönte Madonna mit dem nackten Jesuskind. Die Rücklehne des Thrones bedeckt ein kostbares Tuch, das zwei Engel halten. Auf den Seitenflügeln ist unten links die Geburtsszene mit dem Bad des Kindes und einer knienden Stifterfigur dargestellt, darüber erscheint die Verkündigung an die Hirten. Auf der rechten Seite sieht man unten den Marientod mit der Legende des ketzerischen Juden, darüber die Aufnahme Mariens in den Himmel und ganz oben die Marienkrönung.
Um dieses Bild des Meisters von Beffi gruppiert sich eine Reihe anderer Tafelbilder. Am nächsten steht ihm ein Gemälde auf Goldgrund mit einem seltenen Thema aus der Kirche S.Maria Paganica in L'Aquila (Tf. 290), heute im dortigen Nationalmuseum. Am unteren Bildrand hält die Halbfigur der Maria ein polygonal geformtes Gefäß, aus dem ein Baum emporwächst, in dessen Krone die wohlgeformte Gestalt des Gekreuzigten zu sehen ist. An den Ästen des Stammes sind acht Schriftbänder angebracht, die die Worte Christi wiedergeben, die dieser am Kreuz gesprochen hat. Eine männliche Stifterfigur kniet anbetend in der unteren rechten Bildecke. Nach dem Erdbeben von 1915 konnte man in der Pfarrkirche S. Maria delle Grazie in Cese, ein Ortsteil von Avezzano, Fragmente eines Tafelbildes retten, das den sienesisch beeinflußten Kopf einer Maria zeigt, ein Werk, das in den Umkreis des Meisters von Beffi gehört.
Diese Gruppe vervollständigen zwei weitere Gemälde im (S. 402) Nationalmuseum in L'Aquila. Das eine ist ein Triptychon, ehemals in der Sammlung Dragonetti-Torres. Das Mittelbild nimmt die sitzende Madonna mit dem segnenden Kind ein, und die Seitenteile zeigen die Standfiguren eines männlichen und einer weiblichen Heiligen. Das andere Bild stammt aus dem Konvent S. Giuliano bei L' Aquila und stellt auf Goldgrund einen Heiligen dar, der in seiner Linken ein gewaltiges Schwert vor sich hält.
Das nach 1450 entstandene, 0,92 x O,43 m messende Tafelbild des hl. Bernhardin im Nationalmuseum in L' Aquila stammt aus der Kirche S. Giovanni da Capestrano bei Capestrano. Es lehnt sich an sienesische Vorbilder an, insbesondere an Sano di Pietro.
Die künstlerischen Beziehungen zwischen Umbrien und den Abruzzen waren auf Grund ihrer geographischen Nachbarschaft durch Jahrhunderte eine Gegebenheit. Gegen Ende des Quattrocento werden in unserem Bergland die großen Künstlerpersönlichkeiten der umbrischen Renaissancemalerei bekannt, Perugino, Signorelli, Fiorenzo di Lorenzo; dazu kommen andere Meister, die sich in Umbrien geschult haben.
Das Triptychon in S.Maria dei Raccomandati in Gessopalena wurde von Corrado Ricd dem Giovanni Francesco da Rimini zugeschrieben, einern Maler, der künstlerisch stärker von Umbrien, und speziell von Perugia, als von den Marken geformt wurde. Das um 1470 entstandene Bild zeigt in der Mitte die Schutzmantelmadonna, die in Schulterhöhe von zwei Engeln umgeben wird. Auf den Seitenflügeln, deren untere Teile verschwunden sind, erscheinen die hl. Klara und der hl. Antonius von Padua. Die beiden dreieckigen Giebelfelder über den Flügeln enthalten die Verkündigung.
Das Nationalmuseum in L'Aquila zeigt ein Bild der hl. Elisabeth von Ungarn, das ebenso wie die Tafel mit einern hl. franziskanischen Märtyrer, die sich heute im Museo Civico in Chieti befindet, aus dem Konvent S. Angelo in Ocre stammt. Beide Figuren schließen sich eng an Fiorenzo di Lorenzo aus Perugia an. Elisabeth hält in ihren zusammengelegten Händen ein langes zierliches Kreuz und einen Rosenkranz, während sie mit dem linken Arm ein Buch an ihren Körper drückt.
Das Tabernakel in S.Maria in Scurcola, das die besprochene, schöne Holzfigur Mariens aus dem 14. Jh. im Mittelteil aufnahm, zeigt verderbte Malereien mit Szenen aus dem Leben Christi. Zu identifizieren sind noch die Verkündigung, die Anbetung der Könige, die Beschneidung, die Geißelung und die Kreuzigung. Es fehlen einige Bilder, die 1894 gestohlen wurden. Die Zuschreibung dieser Szenen an Saturnino Gatti ist nicht überzeugend. Sie weisen vielmehr umbrische Einflüsse auf. Bei der Geißelung Christi ist.die Nachwirkung Signorellis unverkennbar.
Das Polyptychon aus der Kirche S. Leonardo in Pianella, heute im Nationalmuseum in L' Aquila, zeigt eine venezianische Rahmung, während die Figuren deutlich den Einfluß Peruginos erkennen lassen, dessen Malweise vielleicht über die Marken in Pianella bekannt wurde. Es erscheint Maria in der Mitte, links von ihr stehen ein hl. Bischof und der Erzengel Michael, rechts der Erzengel Raphael und der hl. Sebastian. Die Predella schmücken die Halbfiguren von Christus und den Aposteln sowie links und rechts außen je zwei Engel. Die Felder der spitzen Giebel zieren musizierende Engel.
Eines der hervorragendsten Werke der Renaissance in den Abruzzen, eine dreiteilige Altartafel mit der Darstellung des Johannes von Capestrano in Ganzfigur im Mittelfeld und je zwei Szenen auf den Seitenteilen (Tf. 293), heute im Nationalmuseum in L'Aquila, hat durch die Forschungen Ferdinando Bolognas endlich eine überzeugende kunsthistorische Bestimmung erhalten. Früher wurde die zwischen 1480 und 1485 gemalte Bildtafel mit namhaften und unnamhaften Autoren in Verbindung gebracht, mit Sebastiano di Cola da Casentino, der 1486 ein Fresko in S.Maria ad Cryptas in Fossa signierte und datierte, mit Andrea Delitio, mit dem sienesischen Maler Matteo di Giovanni und schließlich mit Pollaiuolo und Botticelli. Zu all diesen Künstlern hat unser Meister keine Beziehung. Bologna hat dem Maler den Notnamen »Maestro di S. Giovanni da Capestrano« gegeben; er ist eine hervorragende Persönlichkeit, die aus der internationalen Kunstwelt Neapels hervorging. Hier trafen sich die verschiedensten Kunstrichtungen. Die große, plastisch geformte Mittelfigur des Capestrano ist das Ergebnis katalanischer Einflüsse, die ihrerseits die Kenntnis flämischer Malerei und burgundischer Kunstübung zeigen. Andere in der Figur und den Szenen feststellbare Einflüsse kommen aus Urbino, einer Stadt, die ebenfalls künstlerisch auf Neapel einwirkte. Die vier Seitenbilder der Altartafel zeigen oben links die Messe des Heiligen für die Türkenkrieger, darunter die Schlacht bei Belgrad, oben rechts die Predigt Capestranos in L'Aquila und darunter seine Beisetzung. Das Altarwerk war ursprünglich in S. Bernardino in L'Aquila aufgestellt, wo sich auch das Bild der Stigmatisierung des hl. Franz (Tf. 292) von der Hand des »Maestro di S. Giovanni da Capestrano« befand.
Wie sehr und in welch fruchtbarer Weise sich die abruzzesische Tafelmalerei des 15. Jh. mit den Geschehnissen in anderen Kunstlandschaften auseinandersetzte, erhellt aus einern Vergleich mit entsprechenden Leistungen dieser Zeit im Molise. Dort hat die Renaissance in der Tafelmalerei überhaupt keinen Eingang gefunden. Ein Tafelbild des hl. Bischofs Casto aus dem 15 .Jh. in der Domkrypta von Trivento zeigt den ersten Bischof dieser Stadt segnend, dem Beschauer in Frontalansicht gegenüberstehend. Ein angeheftetes Schildchen besagt, daß das Bild im 9. Jh. entstanden ist. Im Museo Emidiano neben der Kirche S. Emidio in Agnone werden zwei aus derselben Werkstatt hervorgegangene herkömmliche Bilder auf Holz ausgestellt, ein Petrus und ein Augustinus. Am Hauptaltar von S.Maria di Canneto sieht man neben der verehrten Holzstatue der Maria zwei gemalte Tafeln mit der Darstellung der hl. Katharina und der hl. Anastasia.
(S. 403)Andrea Delitio
Der bedeutendste Künstler der abruzzesischen Malerei des 15. Jh. ist Andrea Delitio. Seine Bilderwelt baut er souverän und eigenwillig auf. In der mittel-und oberitalienischen Malerei gibt es kaum einen großen Künstler oder eine Kunstrichtung, die ihm fremd geblieben wären. Aber es besteht keine sklavische Abhängigkeit. Mit außerordentlicher Intelligenz wird alles, was er außerhalb der Abruzzen studiert und gesehen hat, in ein persönliches Erleben eingebettet, das höchste Poesie und Empfindsamkeit ausstrahlt. Die Lust des Delitio, in Bildern zu fabulieren, ist leicht nachzuvollziehen. Er zeigt keinen grübelnden seelischen Tiefgang und liebt desto mehr eine volkstümliche Erscheinungswelt. Er bringt eine Fülle der Wirklichkeit abgesehener Details, wobei der eigentliche christologische Inhalt seiner Darstellungen oft zweitrangig ist und zugunsten seiner persönlichen Einfälle buchstäblich zur Seite geschoben wird. Delitio kannte die in der Toskana enrwickelte Perspektive, die jede Figur und jeden Gegenstand einer bestimmten Stelle in einem einheitlich vorgestellten Raum zuweist. Der Künstler verunklärte aber den Einheitsraum, indem er in einem Bilde verschiedene Perspektiven vereinigte, die er zur Hervorhebung einer Person und vor allem zur Verdeutlichung einzelner Gegenstände benutzte. So entstand neben dem Realismus zugleich ein Irrealismus, ein Kaleidoskop von Perspektiven, die in einem Bild zusammenkamen. Seine aufgeweckte Intelligenz erscheint fröhlich, kapriziös und scheut nicht das Bizarre.
Die Dokumente, die über das Leben des Delitio Auskunft geben, sind zahlreicher als es noch vor einigen Jahren schien. Neues wertvolles Material brachte Bruno Trubiani, Kanoniker am Dom von Atri, zutage. Ausgangspunkt der Delitioforschung ist das große Christophorusfresko außen an der Kirche S. Maria Maggiore in Guardiagrele, das der Meister in der rechten oberen Ecke datiert und signiert hat »Andreas Delitio 1473 fecit hoc opus«. Diese Inschrift kannte bereits Gabriele D'Annunzio. Er teilte sie in einem Brief von 1885 anläßlich eines Besuches in Guardiagrele mit. Der Aufenthalt Delitios in Sulmona konnte durch Funde Trubianis gesichert werden. Seine dortige Anwesenheit war zwar durch eine im 18. Jh. angefertigte Kopie eines Vertrages überliefert, doch schenkte die Forschung dieser Tradition keinen Glauben. Trubiani hat im Archivio Capitolare in Atri das vom 2. Oktober 1450 datierte Original wiederentdeckt, von dem sich die Kopie nur ganz unwesentlich unterscheidet. Es handelt sich um eine Abmachung, die zwischen den Prokuratoren des Konvents von S. Francesco della Scarpa in Sulmona mit Andrea De Litio hinsichtlich der Ausmalung ihres Hauptchors getroffen wurde. Demnach hatte der Meister die Gewölbefelder mit den vier Evangelisten, den Vertretern der theologischen Wissenschaften und den Tugenden auszufüllen. An den Wänden der Kapelle sollten Szenen aus dem Leben der Maria Magdalena zur Darstellung kommen, eine Anspielung auf König Karll!. Anjou, der zufolge der Tradition die Kirche der Maria Magdalena weihen ließ aus Dankbarkeit für die Hilfe der Heiligen bei seiner Errettung aus dem Gefängnis in Barcelona. Für seine Arbeit erhielt Delitio eine Entlohnung von 300 venezianischen Dukaten, zahlbar in drei Jahresraten von je hundert Dukaten. Die Fresken in S. Francesco in Sulmona sind nicht mehr erhalten. Jedoch erfolgen später im Dom von Atri gewisse Wiederholungen des Programms; es handelt sich dort ebenfalls um die Ausschmückung des Hauptchors, in dessen Gewölben die gleichen Themen dargestellt sind wie in der Ovidstadt.
Ein Aufenthalt des Delitio in L'Aquila scheint um das Jahr 1465 stattgefunden zu haben. Man hat ihm mehrere Malereien in dieser Stadt zugeschrieben, u. a. einstimmig die Madonna mit Kind aus der Kirche S.Antonia, heute im Nationalmuseum in L'Aquila. Das Bild ist 1465 datiert, trägt aber keine Signatur.
Die Werke des Delitio in und um Atri sind seinen späteren Lebensjahren zuzuweisen. In einem Katasterbuch aus Atri, das das Datum 1447 trägt, fand Trubiani Notizen, nach denen der Maler Andrea De Lictio in Atri über Grundbesitz verfügte, und zwar über ein Haus mit Garten. Da sich in diesem Grundbuch jedoch auch spätere Eintragungen finden, kann man den genauen Zeitpunkt für den Besitz des Delitio nicht festlegen. Man muß sich mit einer allgemeineren Zeitangabe zufriedengeben, die zwischen 1450 und 1480 schwankt.
Die Fresken im Chor des Domes von Atri hat die moderne Forschung einstimmig, indessen nur auf Grund stilistischer Merkmale, dem Delitio zugeschrieben. Noch nicht ausgewertet ist eine um 1976 gemachte Entdeckung, die eine Inschrift unter dem im späten Quattrocento entstandenen Bildnis des Papstes Silvester am letzten rechten Langhauspfeiler des Domes von Atri ans Tageslicht gefördert hat. Die zeitgenössische Inschrift lautet ,. M[ aestro 1 And[ real da Leccja fo questa« (Meister Andrea da Leccja malte dieses Bild). Damit hätten wir möglicherweise den dokumentarischen Beweis für eine Tätigkeit des Meisters im Dom von Atri. Denn auf Grund stilistischer überlegungen galt das Silvesterbild schon immer als ein Werk des Delitio. Die Schreibweise seines Namens variiert, wie es in dieser Zeit üblich ist, beträchtlich, manchmal sogar in ein und derselben Urkunde. Man liest: Andrea Delitio, de Lictio, de Liteis, de Litis, de Leccia, de Leccja, da Lesse Marsicana. Der Meister stammt nicht, wie es in der älteren Literatur oft heißt, aus Lecce in Apulien. Delitio wurde um das Jahr 1420 in Lecce nei Marsi geboren.
Aus der Zeit seiner Tätigkeit in Sulmona ist dem Delitio mit Sicherheit ein kleines, schlecht erhaltenes Fresko, eine Madonna mit Kind, in einem Bogen des Treppenaufgangs im Palazzo Sanita zuzuschreiben. In L'Aquila hat sich eine Reihe von Bildern erhalten, die unserem Meister zugeschrieben werden. Auszugehen ist von dem erwähnten, 1465 datierten Fresko aus der Kirche B. Antonia. Das Bild weist viele Fehlstellen auf. Maria trägt auf ihrem weit vorgestreckten rechten Arm das bekleidete segnende Christuskind, das in seiner Linken die Weltkugel hält. Delitio schloß sich hier an Vorbilder von Carlo Crivelli und Pietro Alamanno an, die durch die Marken vermittelt wurden. Ein anderes (S. 404) Fresko, das ebenfalls aus der Kirche B. Antonia in das Nationalmuseum kam, stellt die Anbetung des Kindes durch Maria und Joseph dar (Tf. 294, 295). Diesmal erweist sich der Meister von toskanischen Vorbildern abhängig, von Fra Angelico und von Domenico Veneziano. Jedoch kommt in der poetischen Auffassung des Vorgangs bereits die Persönlichkeit des Delitio zum Ausdruck. Von besonderer Schönheit ist das Haupt der in Andacht versunkenen Maria, über deren goldgelbes Haar sich ein feiner dünner Schleier legt. Ob das Temperabild auf Holz mit der Darstellung des hl. Antonius von Padua, das ebenfalls aus der Kirche B. Antonia in das Nationalmuseum gelangte, dem Meister zuzuschreiben ist, bedürfte noch genauerer Untersuchungen. Sicher anzunehmen hingegen ist seine Autorschaft für die Madonna mit Kind und zwei Engeln in der Klosterkirche S.Amico in L'Aquila. Der Eklektizismus, der die Kunst des Delitio in den 60er Jahren kennzeichnet, läßt es durchaus möglich erscheinen, daß der großartige Madonnenkopf aus dem Santuario della Madonna d'Appari bei Paganica, heute im Nationalmuseum in L'Aquila, gleichfalls sein Werk ist. Es setzt die Kenntnis des Domenico Veneziano oder des Piero della Francesca voraus. Die Holztafel wurde durch Brand auf der rechten Seite zerstört.
1473 datiert und signiert ist das bewundernswerte Fresko des hl. Christophorus in Guardiagrele. Es befindet sich an der südlichen Außenwand von S. Maria Maggiore. Am Ufer des Flusses, den die Kolossalfigur durchschreitet, beobachtet man drei Gestalten in zeitgenössischen Gewändern. Der mehr als vier Meter hohe Heilige trägt den Jesusknaben auf den Schultern. Auf dem Globus, den das Kind hält, liest man die Initialen A. A. E. als die bekannten Abkürzungen für Asia, Africa und Europa.
Seine Spätwerke zeigen den Delitio als reife Künstlerpersönlichkeit. Seine Fresken im Domchor von Atri stellen den größten erhaltenen Zyklus des I 5. Jh. in den Abruzzen dar. Ohne gesicherte Unterlagen hat man die Entstehung auf die Jahre 1480-1481 festgesetzt. Emile Bertaux, der 1898 am linken Seitendurchgang der Chorkapelle das Porträt des Matteo III. Acquaviva zu erkennen glaubte, hält den Herzog, der 1481 wieder in seine alten Güter in Atri eingesetzt wurde, für den Auftraggeber. Eine andere Möglichkeit schlägt Trubiani vor. Er hält es für plausibler, daß die Bestellung der Chorfresken von den Stadtvätern und der Dombehörde ausging, die in den Jahren 1479 und 1481 bedeutende Geldzuwendungen von Papst Sixtus IV. erhielt. Die Beobachtungen Trubianis, daß der von Delitio gemalte Papst Silvester in Mutignano die Gesichtszüge des Bischofs Antonio Probi von Atri zeige, die er im Silvesterbild im Chorgewölbe von Atri wiederzuerkennen glaubt, erscheinen nicht stichhaltig. Sollte auch der Sachverhalt stimmen, läßt sich daraus noch nicht ableiten, daß Probi der Auftraggeber gewesen ist. Der berühmte Kirchenmann war seit 1462. Bischof von Atri und Botschafter der Aragonier in Venedig und in Ungarn. Auf dem Wege zu seiner neuen Bestallung als Erzbischof von Tarent starb er 1482 in Neapel. Gleichgültig, ob man der Meinung von Bertaux oder Trubiani zuneigt, steht einer Datierung der Fresken in den Jahren 1480-1481 nichts im Wege.
In den Chorfresken verarbeitet Delitio außerabruzzesisehe Einflüsse in einer Weise, daß die Einheit des Kunstwerks nicht gestört wird. In seinen Darstellungen wird alles Göttliche seiner Transzendenz enthoben und in menschlich irdischer Umgebung gesehen. Die Fähigkeit, anschaulich zu schildern, ist seine größte Gabe, und seinen Bilderzählungen nachzugehen, ein ausgesprochenes Vergnügen. Delitio mußte sein Programm für die drei Wände der quadratischen, sich zum Mittelschiff öffnenden Chorkapelle entwickeln, die ein Kreuzrippengewölbe deckt. Dabei hatte er zu berücksichtigen, daß die Chorrückwand in der Mitte der oberen Zone von einem Rundfenster unterbrochen wird, während in den vorderen Abschnitten der beiden Seitenwände zwei rundbogige Durchgänge liegen, die die Höhe des Gewölbeansatzes erreichen und die Verbindung zu den Nebenräumen des Chors herstellen. Die drei Wände gliederte Delitio einheitlich in der Horizontalen in vier Zonen von gleicher Höhe. Im obersten Abschnitt kann er in den Lünetten nur eine Darstellung zeigen. Während die Chorrückwand in den drei übrigen Reihen je drei Bildfelder aufweist, kann er auf den Seitenwänden wegen der hohen Durchgänge nur oben drei Szenen und in den beiden unteren Zonen nicht mehr als ein Bild bringen. Da der Dom der Maria geweiht war, gebührte ihr an dieser heiligsten Stelle des Kirchenraumes eine bevorzugte Behandlung. In den drei Lünettenfeldern an höchster Stelle wird die Geschichte ihrer Eltern, des alten Joachim und der Anna, erzählt. Die neun Bildfelder darunter berichten, mit Ausnahme des mittleren an der Rückwand, das durch das einschneidende Rundfenster keine szenische Darstellung aufnehmen konnte, vom Leben der Maria, während die nächstfolgende Reihe in fünf Abschnitten vom Leben ihres Sohnes erzählt. Das unterste Bildband teilt in fünf Szenen den Tod Mariens bis zu ihrer himmlischen Krönung mit. Die Szenenabfolgen in den einzelnen Zonen beginnen immer an der linken Seitenwand.
Bei der Gliederung der Gewölbemalereien (Tf. 297) war durch die Kreuzrippen die seitliche Rahmung der einzelnen Felder in plastischer Form vorgegeben. Der Zwickel ist zweimal unterteilt. In der Spitze ist nur Platz für die Darstellung von Köpfen in Medaillonrahmung. In dem kleinen trapezförmigen Feld darüber sieht man die Halbfiguren der Tugenden. In den Gewölbekappen, wo sich der meiste Raum bot, erscheinen die vier Evangelisten mit ihren Symbolen und die Kirchenväter. Die Evangelisten werden bei ihrer Arbeit vorgestellt in Raumausschnitten mit Fußbodenfliesen, die jeweils eine andere perspektivische Behandlung zeigen. Jedem Evangelisten sind ein oder zwei Theologen zugesellt. Alle Personen werden sitzend vorgeführt. Bemerkenswert ist die wirklichkeitsnahe Wiedergabe des gotisieren den Mobiliars.
Im östlichen Gewölbefeld an der Rückwand der Chorkapelle erscheint links der Adler, der mit seinen Krallen das Evangelienbuch öffnet und dem Evangelisten Johannes an einem Schreibtisch bei der Lektüre zuschaut. An einem ge (S. 405) sonderten Pult vor Büchern sitzt Augustinus dem Johannes gegenüber im Dialog mit ihm. Hinter dem Kirchenvater ist Thomas von Aquin über einem geschlossenen Buch eingeschlafen. In den Gewölbezwickeln sind die Personifikationen der Hoffnung und des Glaubens dargestellt. Im nördlichen Gewölbefeld hält links ein Engel ein geöffnetes Buch in seiner hocherhobenen linken Hand. Die schöne Matthäusgestalt wendet sich vom Schreibtisch zurück dem Engel zu. Gegenüber sitzt der magere, gealterte Hieronymus im Kardinalsornat über einen Schreibtisch gebeugt. Alle Utensilien sind minuziös geschildert, Bücher, Tintenfässer und anderes. In den Zwickeln sieht man die Gerechtigkeit mit Waage und Schwert und die zwei Purten nährende Barmherzigkeit. Im Gewölbefeld zum Mittelschiff hin hält der Markuslöwe das Evangelienbuch. Dem schreibenden Markus sitzt der Kirchenvater Gregor d. Gr. im Papstgewand gegenüber. In den Zwickeln erkennt man die Mäßigkeit, die Wasser in eine Weinschale gießt, und die robuste weibliche Gestalt der Stärke, die eine Marmorsäule entzweibricht. Im südlichen Gewölbefeld schaut der geflügelte Stier, das Symbol des Lukas, dem Evangelisten bei der Arbeit zu, der an einer Staffelei die Madonna mit Kind konterfeit. Bücher, Farbtöpfe und Pinsel sind anschaulich wiedergegeben. Auf der anderen Bildhälfte ist Ambrosius im Bischofsgewand über Büchern im Studium versunken. In einem der Zwickel erscheint die Klugheit mit dem Zeigefinger auf dem Mund, mit der anderen Hand einen gespreizten Zirkel auf einer Scheibe balancierend. Gegenüber befindet sich die Personifikation der Geduld. Sie gehört weder zu den vier Kardinaltugenden noch zu den drei christlichen Tugenden. Der Symmetrie wegen war Delitio gezwungen, acht Tugenden in den Gewölbezwickeln darzustellen. So kreierte er die achte Figur in der Gestalt der Geduld, eine prachtvolle junge Person mit niedergeschlagenen Augen, die auf ihrem Rücken unter Mühsal das Joch eines Zugochsen trägt.
Die Darstellung der Joachimslegende fußt auf dem Text des Jacobus de Voragine aus der Legenda Aurea. Die Erzählung beginnt an der linken, nördlichen Seitenwand in der Lünette mit der Vertreibung Joachims aus dem Tempel. Die Ausweisung erfolgte, weil seine Ehe mit Anna unfruchtbar geblieben war. Ort der Handlung ist eine dreischiffige Kirche. Da Delitio sich nur schwer mit leeren Flächen zufrieden gab, brachte er in dieser Räumlichkeit mindestens 35 Personen unter, die mit dem Hauptereignis nur locker in Beziehung stehen. Die Perspektive des Mittelschiffs und die Verkürzung der Seitenräume stimmen nicht überein. Der Hohepriester vollzieht die Vertreibung mit Gewalt und packt den alten Joachim kräftig an den Schultern. Bezeichnend für Delitio ist sein Erfinden von Nebenrollen. Links vom Kirchenraum befindet sich ein ausgedehnter Spielplatz, auf dem ein Kind einen Gefährten schwungvoll auf einem zweirädrigen Karren zieht.
Voller Poesie ist die folgende Begebenheit in der Lünette auf der Rückwand des Chores. Im Mittel-und Hintergrund öffnet sich eine weite Hügellandschaft, durch deren kegelförmige Erhebungen sich ein Wasserlauf zieht. Miniaturhaft klein ist geschildert, was dort lebt und sich regt; auf den Wiesen weiden Schafe, man sieht beladene Esel, Hirten. Der ergraute Joachim wird dreimal in verschiedenen Situationen vorgeführt. Auf der linken Seite läßt er, gestützt auf einen Krückstock, das Stadttor von Jerusalem hinter sich. Vier Personen begleiten ihn, von denen ein auf einem Esel voranreitender Jüngling wehmutsvoll auf Joachim zurückschaut. Der Greis hat den Weg durch die weite Landschaft angetreten, und auf der rechten Bildseite sieht man ihn im Mittelgrund vor einer ärmlichen Hütte liegen, wo er verdutzt aufschauend von einem Engel die Nachricht vernimmt, daß der Herr seine Gebete und Bitten um Nachkommenschaft erhört habe. Am rechten vorderen Bildrand sehen wir einen veränderten Joachim. Mit grünendem Zweig in der einen und einem Wanderstab in der anderen Hand zieht er hurtig ausschreitend zu seiner Frau zurück. Zwei Eselstreiber begleiten ihn. Einer von ihnen trägt als Wiedersehensgeschenk einen Korb voller Eier.
In der Lünette an der südlichen Chorwand findet die Umarmung Joachims und Annas vor der Goldenen Pforte statt. Im Gefolge von Frauen zeigt sich Anna bei der Begrüßung ihres Mannes etwas spröde und schaut an seinem Gesicht vorbei auf die Geschenke. Ein Esel ist mit zwei Körben bepackt, und ein dienstbarer Bursche hat einen Stock mit einem Zicklein geschultert, in der anderen Hand trägt er zwei Hühner. Das Hauptereignis des Bildes, die Begegnung von Joachim und Anna vor dem turmreichen Jerusalem, erscheint nur als eine Begebenheit unter anderen. Geschildert wird das Leben vor dem Stadttor. Rechts spielt ein Kind mit einem Hund, und eine Frau, mit einem Eimer auf dem Kopf und einer Spindel in der Hand, begibt sich zum Brunnen. Zwei stutzerhafte Jünglinge sprechen zwei Mädchen an, die mit Gefäßen auf dem Kopf soeben von der Zisterne zurückkehren; es scheint, als habe der eine Erfolg, während der andere abgewiesen wird.
Die Bilderreihe unter den Lünetten erzählt vom Leben Mariae, wie stets im Norden beginnend. In dieser Zone steht mehr Raum zur Verfügung, und jede Wand wird in drei Abschnitte von nahezu gleicher Breite, etwa zwei Meter, zerlegt. Im Bild der Mariengeburt agieren im engen Interieur allein neun Frauengestalten. Dazu kommen Tiere, Möbel, Feuerstellen. Alles wird genrehaft und derb geschildert, so daß man sich an flämische Bilder erinnert fühlt. Im Hintergrund sitzt Anna unter einer Art Baldachin aufrecht im Bett und nimmt eine Stärkung zu sich, die ihr von zwei grinsenden Mägden dargeboten wird. Rechts vom Bett kauert eine Alte mit einer Katze auf dem Schoß. Weiter im Vordergrund waschen zwei Dienerinnen das Marienkind, und eine andere stellt eine Platte in den Ofen, vor dem sich ein Schwalbennest befindet.
Im Mittelbild der Nordwand führen Joachim und Anna die junge Tochter im Tempel an die Stufen des Altars. Die Disposition des Raumes korrespondiert mit derjenigen des darüberliegenden Bildes, das die Vertreibung des Joachim zeigt. In dem Priester, der in der mit vielen Menschen angefüllten Kirche an der vorletzten Stufe zum Altar die Maria (S. 406) mit ausgestreckten Armen erwartet, hat man die Gesichtszüge des Bischofs Antonio Probi von Atri erkennen wollen. Das nächste Bild, das eine Szene vorführt, die die Legenda Aurea aus byzantinischen apokryphen Vorlagen übernahm, zeigt Maria in einem kompliziert aufgebauten Innenraum. Sie ist zweimal dargestellt (Tf. 298). Im Hintergrund betet sie vor einem Altar, über dem sich ein Bogen öffnet, aus dem ein Engel dem Gebet zuschaut. Im Vordergrund sitzt Maria vor einem Rahmen, auf dem sie einen Vorhang für den Tempel knüpft. Daneben stellen zwei Engel Speisen auf einem weißgedeckten Tisch bereit. Das Trinkgefäß erscheint in Form eines Kelches, und zwei Karaffen auf einem kleineren Serviertisch dienen als Reserve.
In der linken Szene auf der Rückwand des Chors vollzieht sich im Innenraum einer Kirche die Verlobung der Maria mit joseph. Wegen ihrer Schönheit wurde die jungfrau schon früh von Heiratskandidaten umworben. Die Legende vom blühenden Stab wird ausführlich geschildert. Durch einen Traum aufgefordert, läßt der Hohepriester die Bewerber mit Stäben in der Kirche zusammenkommen. Derjenige, dessen Stab zu blühen beginnt, soll der Erwählte sein. Es blüht der Stab des greisen joseph, der an der Werbung nur teilnahm, weil es ihm ein Traumgesicht befahl. Delitio schildert recht anschaulich, wie die entsetzten und verdrossenen Jünglinge ihre trockenen Reise zerbrechen. Einer zertritt den Stecken mit dem Fuß, ein anderer bricht den Stab über dem Knie entzwei, und wieder ein anderer im Vordergrund reißt ihn mit den Zähnen auseinander. Die Schilderung der jünglingsfiguren in verschiedenen Bewegungen war dem Künstler wichtiger als die Darstellung der nach rechts verschobenen Dreiergruppe mit Maria, ]oseph und dem Hohenpriester.
In dieser zweiten Bildreihe beanspruchte das Rundfenster an der Rückseite des Chores den oberen Teil des Mittelfeldes, so daß hier auf die Darstellung einer Figurenszene verzichtet werden mußte. Als Seltenheit in dieser Zeit begnügte sich Delitio mit einem großartigen, reinen Landschaftsbild in pastellenen Farbtönen. Links thront eine Burg auf einem Felsen, dem rechts ein mächtiger Felsblock entspricht. Dazwischen öffnet sich eine weite Landschaft mit graugrünlichen Vorhügeln und zwei blau erscheinenden Bergmassiven im Hintergrund. Im rechten Feld der Chorwand sieht man die Verkündigung in einem Innenraum, der links den Ausblick in eine Flußlandschaft freigibt.
Auf der Südwand schließt sich die Heimsuchung an. Wie sooft zeigt Delitio in einem Bild dieselben Figuren in verschiedenen Handlungen. Im Hintergrund verlassen Maria und ]oseph die Stadt Nazareth, im Mittelgrund begegnen wir ihnen im Verein mit einem Engel, vorn treffen sie an einem Portikus mit Marmorsäulen mit Elisabeth zusammen. Als Begleitfiguren der beiden gesegneten Frauen fungieren hinter Elisabeth eine vornehm gekleidete Dame und links von Maria der bärtige ]oseph, der verschämt sein Gesicht abwendet und auf den Esel schaut, den er am Halfter führt.
Die nächste Begebenheit zeigt die Geburt Christi mit der das Kind anbetenden Mutter links und dem schlafenden joseph rechts. Der Vorgang spielt sich in einer Höhle ab, der ein offenes Sparrendach vorgebaut ist. Belebt wird das Bild durch Details. Eine Eule sitzt auf dem Dachbalken, im Hintergrund verkündet ein Engel den Hirten das Ereignis, daneben sieht man den Kreis singender Engel, und auf der rechten Seite tanzen Bauern nach der Musik eines Dudelsackpfeifers. Die Geburtshöhle erscheint nochmals im nachfolgenden Bild mit der Anbetung der Könige und ihrem Gefolge.
Die beiden unteren Bildstreifen enthalten wegen der Durchgänge an den Seitenwänden, wie gesagt, jeweils nur fünf Szenen. Die zweitunterste Bildfolge hat die Lebensgeschichte jesu zum Inhalt und beginnt wieder an der nördlichen Seitenwand mit der Flucht nach Ägypten (Tf. 299). Wie sooft weist sich Delitio hier als hervorragender Landschaftsmaler aus. Ein Engel führt die Familie durch eine hügelige Gegend mit vielen Städten. Im Mittelgrund knien zwei Löwen vor der Reisegesellschaft und erweisen ihr ihre Reverenz. Eine ikonographische Besonderheit zeigt die im Vordergrund dargestellte Szene, in der ein Engel den Weg weist, gefolgt von Joseph, der den mit Maria und dem Kind bepackten Esel am Halfter zieht. Eine Dienstmagd mit einem Korb auf dem Kopf und einem Wassergefäß in der Hand bildet den Beschluß. Hinter dem Kopf des Engels sieht man eine sich im Winde wiegende Dattelpalme, die sich der Gruppe der Reisenden zuneigt. Einer der unteren Zweige ist blutrot gefärbt, und von ihm tropft Blut in die begierig ausgestreckten Hände des nackten Jesusknaben, eine Anspielung auf das zukünftige Martyrium.
Im Bethlehemitischen Kindermord schildert Delitio die Vorgänge in aller Grausamkeit. Das darauffolgende Bild zeigt den zwölf jährigen ]esus im Tempel. Die Hauptfigur Christi ist zerstört. In Anwesenheit von Maria und ]oseph sitzen zwölf Rabbiner auf einfachen Bänken. Eifrig die Gesetzesbücher wälzend, finden sie keine Entgegnung auf die Worte des Messias. In der Durchführung der Figuren bemerkt man ein Nachlassen der Qualität. Natürlich konnte Delitio den großen Auftrag nicht allein bewältigen und mußte sich der Hilfe von Mitarbeitern bedienen. Diese sind sicherlich auch in der nächsten Szene der Hochzeit zu Kana beteiligt gewesen. Das Fest findet mit wenigen Geladenen an einem L-förmigen Tisch statt, wobei ]esus und Maria am Kopfende im Hintergrund sitzen. Zu den Requisiten der Szene gehören sechs große abruzzesische Amphoren, ein Hund im Vordergrund, die Küche mit Herd und großem Rauchfang und ein gaffendes Mädchen im Fenster des oberen Stockwerks.
Auf der Südwand ist die Taufe Christi dargestellt. Das Bild entbehrt der Frische und des Einfallsreichtums der früheren Werke. Die Gestalt Christi im Fluß verrät nicht die Handschrift Delitios, und in der Landschaftsdarstellung sind alte Rezepte wiederholt. Mit ausladender Gebärde gießt der am rechten Ufer stehende Täufer das Wasser auf das Haupt des im Gebet versunkenen nackten ]esus, dessen Kleider Engel am gegenüberliegenden Ufer halten. Auf der linken Bildseite sieht man unter einem Baldachin Christus (S. 407) mit einem Buch unter dem Arm im Gespräch mit seiner Mutter.
Höchst uneinheitlich in der Durchführung ist die Abfolge der Gemälde im untersten Bildstreifen. Delitios persönliche Handschrift zeigen die meisterhaften Bilder an den Seitenwänden, während in den drei Bildern an der Rückwand des Chores die Beteiligung von Schülern offensichtlich ist. Die Feuchtigkeit der Wand verursachte hier große Zerstörungen. Thematisch wird die Lebensgeschichte Mariens wieder aufgegriffen, und es kommen die Ereignisse, die ihren Tod begleiten, zur Darstellung. Als Hinweis auf ihren baldigen Tod überreicht im Bild der nördlichen Seitenwand ein Engel der Maria den Palmzweig aus dem Paradies. Die übergabe vollzieht sich auf der linken Seite der Komposition in einem Innenraum mit einer Säulenloggia darüber. Neben genrehaft agierenden weiblichen Personen erscheint Maria in der anderen Bildhälfte noch dreimal im schwarzen Gewand. Im Vordergrund bewegt sie sich tiefversunken mit einem Buch in der Hand auf einer Straße, in der Mitte des Bildes betet sie in einer Kapelle, und ganz oben sehen wir sie auf dem Weg zu einem Konventsgebäude, an das ein Friedhof grenzt. Im folgenden Bild auf der Rückwand des Chores verabschiedet sich Maria vom knienden Evangelisten Johannes, dem sie den Palmzweig übergibt. Die Gottesmutter steht in der Mitte eines Kirchenraumes. Die übrigen Jünger bilden zwei Reihen zu ihren Seiten. Der Künstler benutzt die Aufreihung der Figuren zur Verdeutlichung der Perspektive, indem er den Zwischenraum zwischen den einandergegenüberstehenden Jüngern nach hinten stark verringert. Andrerseits werden ihre Größenverhältnisse entgegen den perspektivischen Gesetzen behandelt. Die Vorderen sind die kleinsten, während die rückwärts Stehenden immer mehr an Größe zunehmen. Bei der eigenartigen Konstruktion des Kirchenraumes fehlen die Seitenrnauern. Durch eine offene Architektur hat man Ausblick auf eine Hügellandschaft. Das Mittelbild der Rückwand ist bis auf die Seitenpartien durch den Einbau eines häßlichen hölzernen Bischofsthrones vernichtet worden. Wahrscheinlich war in der Mitte Maria aufgebahrt, zu deren Seiten sich dann die Jünger befunden hätten, von denen Fragmente erhalten sind.
Schwierigkeiten bietet die Beurteilung des nächsten Bildes. Das Mittelstück ist durch Feuchtigkeit völlig zerstört. In den übriggebliebenen Teilen ist die Malweise des Delitio nicht spürbar. Entsprechend der Ikonographie hätte an der Fehlstelle das Marienbegräbnis gezeigt werden müssen. Einen Hinweis darauf geben die Fragmente zweier Engel, die an den Schmalseiten des Grabes gestanden haben könnten. Man weiß aus den Apokryphen, daß sie noch drei Tage nach dem Tod der Maria an deren Grabe ihre Lieder erschallen ließen. Anstatt der für diese Szene üblichen Jüngerschar sieht man in der unteren linken Bildecke einen knienden Bischof mit zwei Begleitfiguren. In der oberen Hälfte des Gemäldes erscheint ein an der Vorderseite zerstörter, perspektivisch verkürzter, offener Sarkophag, aus dem Christus mit ausgebreiteten Armen, in seiner Rechten die Hostie, in der Linken den Kelch zeigend, in Frontalansicht als Dreiviertelfigur aufragt. Die beiden Halbfiguren links vom Sarge Christi wurden von dem römischen Restaurator Giuseppe Missaghi zwischen 1881 und 1885 von einem Pfeiler im Dom abgenommen, und, um die Sachlage noch mehr zu verwirren, an dieser Stelle eingesetzt. Dem Delitio widerspricht völlig der Aufbau der Landschaft mit großflächigen grünen Wiesen, mit dem spannungslosen geraden Horizont und der plumpen rechteckigen Wolkenbank darüber. Die kegelförmigen Hügel auf der linken Bildseite sind mißverstandene Wiederholungen nach Delitio. Die Mariengeschichte endet auf der rechten Seitenwand mit der poetisch empfundenen Krönung. Auf einem Marmorthron krönt Christus seine Mutter. Sie werden umringt von jubilierenden Engeln, die paarweise angeordnet sind. Sechs von ihnen haben die elliptisch geformte Marmorplatte, worauf der Thron steht, von einer blumenübersäten Wiese erhoben. Auf den Thronwangen stehen je zwei musizierende Engel mit detailliert gemalten Instrumenten, mit Laute und Harfe, mit Geige und Doppelflöte.
Delitio begnügte sich nicht mit der Ausmalung des Gewölbes und der Wandflächen. Gedrängt, sich in Bildern auszudrücken, freskierte er auch die konstruktiven Bauglieder des Chores sowie die Bogen der Chordurchgänge in die Seitenräume und den sich zum Mittelschiff hin öffnenden Triumphbogen. Soweit sie nicht bereits Bilder trugen, brachte er auch Malereien auf den achteckigen Pfeilern vor dem Chor an. An diesen versteckten Stellen ist seine Malweise oft persönlicher als in den repräsentativen Szenen an den Wänden. Am Bogen eines Chordurchgangs erscheinen in fensterförmiger Rahmung Büsten, die vermutlich Angehörige der Gesellschaftsschicht in Atri vorführen. An den Wandbogen treten Köpfe in Medaillonrahmen auf, einige von diesen sind Studien, in denen sich Delitio vielleicht, an Hand eigener Skizzenbücher, an toskanische Vorlagen erinnert. Bei der Gestaltung anderer Köpfe wiederum ließ er seiner Phantasie freien Lauf. Ähnlich wie der Meister in S. Silvestro in L'Aquila, hatte Delitio höchstes Interesse an der Gestaltung der Gesichtsmimik. Er besitzt eine eindrucksvolle Fähigkeit zu variieren. So zeigt er einen Frauenkopf mit dem Ausdruck der Verachtung, dann interessieren ihn die Anzeichen der Anmaßung, das Mienenspiel der Freude, die bei Mantegna beliebte Perspektive aufschauender Gesichter, er studiert schreiende und verzerrte Antlitze.
Die Unterzüge der Bogen freskierte er mit Heiligenfiguren, am Triumphbogen sind es ausschließlich weibliche Beschützerinnen, Ursula, Margarethe, Katharina von Alexandrien, eine nicht zu deutende Heilige, Agnes und Maria Magdalena. Die Unterzüge der Chordurchgänge zeigen am linken, nördlichen Bogen S. Biagio, einen hl. Mönch, David mit dem Haupt des Goliath und Sebastian, am rechten, südlichen Bogen Nikolaus von Tolentino, Antonius Abbas, mit dem Zwicker auf der Nase ein Buch lesend, den bärtigen Eremit der Thebais Paulus mit dem Rosenkranz und den hl. Stephanus.
Besonders prächtige Heiligenbilder schuf Delitio an den Halbsäulen, die unmittelbar neben den Seitendurchgängen (S. 408) im Innern des Chorquadrats aufsteigen. Wieder stellt er nur weibliche Heilige vor, jeweils zwei übereinander. Die reifste Arbeit ist die hl. Reparata (Tf. 300) an der nördlichen Seite in weißer Kleidung und mit markantem, breitem Gesicht. Ihre Augen schauen etwas melancholisch aber bestimmt den Betrachter an. In ihrer rechten Hand trägt sie das Stadtrnodell von Atri. Genau abgebildet wird der Dom, und wir sehen die Turmspitze in der Gestalt, die ihr um 1480 der lombardische Architekt Antonio da Lodi gab, ein wichtiges Indiz für die Datierung der Fresken. über der Reparata befindet sich das Fresko der hl. Apollonia (Tf. 296). Als Marter hatte man ihr die Zähne herausgebrochen. Delitio benutzt diese Tatsache für seine gesichtsanatomischen Studien. Bei geschlossenem Mund sieht man breite rote Lippen, die die Jungfrau mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenpreßt. Auch ohne die Legende des Martyriums zu kennen, hat der Beschauer den Eindruck, die Heilige sei arg von Zahnschmerzen geplagt. Entsprechend der Disposition auf der Nordseite erscheint an der gegenüberliegenden Halbsäule der südlichen Chorwand eine meisterhaft gemalte, nicht zu deutende Heilige mit zum Gebet erhobenen Händen. über ihr ist das Bild der Barbara angebracht mit ihrem Attribut, einem großen Turm.
Mit Recht werden dem Delitio Heiligenbilder an den achteckigen Pfeilern vor dem Chor zugeschrieben, am rechten erscheint vermutlich Vitus, daneben Papst Clemens I. und anschließend nochmals ein Papst, vielleicht Gregor der Große, und am entsprechenden linken Pfeiler der hl. Lorenz mit dem Rost, dann Leonhard, Sebastian und wahrscheinlich wiederum Gregor der Große.
Von höchstem Interesse ist die Madonna mit Kind an der vierten Stütze der rechten Langhausseite. Das Bild ist 1465 datiert und signiert »••• ius fecit item Johannes Devaresis a[d) [hon)orem [be]ate Virginis Marie 1465«. Vielleicht ist der Name Devaresis eine Kontraktion für De Varesis, und wir hätten es dann mit einem lombardischen Meister aus Varese zu tun. Offensichtlich ist der Maler von Delitio beeinflußt. Schwierigkeiten hat die Jahreszahl 1465 bereitet, denn sie wirft die Frage auf, wie eine Abhängigkeit von Delitio nahezu zwanzig Jahre vor der Entstehung seiner Chorfresken zustandekommen kann. Devaresis lehnt sich indessen nicht an diese Werke an, sondern seine Madonna ist eine genaue, spiegelbildliche übernahme der Maria aus einer Geburtsszene, die aus der Kirche B. Antonia in L'Aquila in das dortige Nationalmuseum gelangte. Dieses Bild wird einstimmig dem Delitio zugeschrieben. Ob Devaresis, der das Votivbild im Dom von Atri als selbständiger Meister ausführte, später zur Werkstatt des Delitio gehörte und an den Fresken im Chor mitarbeitete, wäre noch genauer zu untersuchen.
Delitio muß zu dem Bischof von Atri ein gutes Verhältnis gehabt haben, denn von dem Maler und seiner Schule sind, wenn auch ohne dokumentarische Unterlagen, weitere Arbeiten in der Diözese Atri zu belegen. In der Stadt Atri selbst ist ihm in der Kirche S. Agostino das Votivfresko der Madonna mit Kind zuzuschreiben, und ein Schüler malte in der Kirche S. Nicolö di Bari in Atri an der Eingangswand das Fresko einer Madonna mit Kind zwischen den hll. Rochus und Sebastian.
In den engsten Umkreis des Delitio gehört die Altartafel in Mutignano östlich von Atri in der Pfarrkirche S. Silvestro (Tf. 301). Das Bild, das 2,06 x 1,92.m mißt, wurde 1913 schlecht restauriert und bedarf dringender Ausbesserung. Die Beziehungen zu den Fresken in der Chorkapelle des Domes von Atri sind so eng, daß man im Interesse der Kunstgeschichte wünschen möchte, das Werk von Mutignano im neu eingerichteten Dommuseum von Atri aufgestellt zu sehen. Das Altarbild besteht aus drei Tafeln, von denen die mittlere den thronenden Papst Silvester in natürlicher Größe zeigt, während die beiden Seitenflügel in der Mitte unterteilt sind und die Legenden von Papst Silvester und Konstantin d.Gr. wiedergeben. Der großzügige Bildaufbau und die Behandlung des prächtigen Papstornats verbinden sich mit der liebevollen Darstellung kleinster Details, wie die Tiara mit den drei Reifen, das feingearbeitete Kreuz auf dem Stab, den der Papst in der Linken hält, die vier Ringe an der linken Hand und die zwei Ringe an der rechten. Auf dem Besatz der Stola sind vier Gestalten dargestellt, der Erlöser, zwei weibliche Figuren und ein Franziskanerheiliger mit Buch und Kreuz, den man für den Bernhardin von Siena halten könnte. Die szenische Abfolge der Bilder auf den seitlichen Tafeln beginnt rechts unten mit der Taufe des Kaisers Konstantin. Im Bilde darüber disputiert Silvester mit den Rabbinern, wobei ihm seine Argumente buchstäblich an den Fingern abgelesen werden können. Das Bild links unten zeigt das Wunder der Wiedererweckung des Stieres durch Silvester in Gegenwart des Konstantin. Das letzte Bild schildert, wie Silvester auf Geheiß des Kaisers in der Höhle das Maul des Drachen zubindet, der mit seinem Pestilenz bringenden Atem die Bewohner Roms vergiftete. über der Grotte ist in eleganter Form eine mittelalterliche Stadt dargestellt. Die auf den Seitenflügeln erscheinenden Themen waren bereits früher in der Malerei bekannt, erinnert sei z. B. an die Fresken in der Silvesterkapelle in SS. Quattro Coronati in Rom oder an diejenigen in der Kirche S. Silvestro in Tivoli.
Westlich von Atri liegt der Ort Cellino Attanasio. Enzo Carli entdeckte dort in der Kirche S. Maria La Nova ein kleines Diptychon in Tempera auf Holz, das 30 x 50 cm mißt und sich heute im Nationalmuseum in L' Aquila befindet. Die Beziehungen zu den Chorfresken des Delitio im Dom von Atri sind offenkundig. Das Bildchen ist auf Goldgrund gemalt und zeigt auf dem linken Flügel die mystische Vermählung der Katharina von Alexandrien mit dem Jesuskind, während rechts die Kreuzigung mit Maria und Johannes dargestellt ist.
Von Wichtigkeit für die Delitioforschung ist in Isola del Gran Sasso in der Diözese Atri die kleine, alleinstehende Wegkapelle S. Sebastiano, die sich in einem hohen Rundbogen öffnet. Charakteristisch ist das weit vorgezogene stumpfwinklige Giebeldach, das den Besucher, der dem Altar und dem Heiligenbild hinter einem kunstvoll geschmiedeten Gitter seine Verehrung zollte, vor Sonne und Regen (S. 409) schützte. Die sehr verwitterten Malereien auf der Rückwand werden einstimmig dem Delitio zugeschrieben. Die Stirnseite des Bogens zeigt in den Zwickeln die Verkündigung, während man im Scheitel über Bäumen und einer von Cherubim gehaltenen rosa Wolke Gotrvater mit ausgebreiteten Armen sieht. Von ihm geht ein Lichtstrahl auf die Maria herunter.
Die Einflüsse Delitios in den wenig beachteten Fresken in der Kirche Madonna delle Grazie bei Alanno wären noch genauer zu studieren. Der Raum ist einschiffig und hat zwei Joche mit Kreuzgratgewölben. Die Malereien befinden sich in der Polygonalapsis, und zwar in der Kalotte und in den Lünetten der Seitenwände. Offensichtlich sind Thematik und Bildanordnung der Gemälde nicht sehr verschieden von den Chorfresken in Atri. Im Gewölbe werden den vier Evangelisten Johannes d. T. und drei Kirchenväter zugesellt, Hieronymus, Ambrosius und Gregor der Große. Wie in Atri bildet an den Wänden das Hauptthema die Lebensgeschichte der Maria, ihre Geburt, der Tempelgang, ihre Verlobung mit Joseph durch den Hohenpriester, die Ankündigung ihres Todes, ihre Krönung und das leere Grab.
Die Malerei vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
Die abruzzesische Malerei zwischen 1500 und 1800 ist durch Mangel an Originalität gekennzeichnet. Frühere Kunstzentren wie Teramo, Atri, Chieti und Sulmona verlieren völlig an Bedeutung. Nur L' Aquila zeigt noch eine gewisse Lebendigkeit, aber auch hier begegnen wir keinen überragenden Leistungen. Setzte sich das 15. Jh. noch eindringlich mit anderen Kunstlandschaften Italiens auseinander und weist eigenständige Ergebnisse auf, so charakterisiert die kommenden Zeiten, daß in den Abruzzen wahllos auswärtige Künstler beschäftigt werden, oder aber einheimische Maler am Werk sind, die sich in der Fremde bildeten, wie es der Zufall fügte. Im Cinque-und Seicento fehlen die Aufträge für größere Freskenzyklen. Sie begegnen erst im nachfolgenden Jahrhundert wieder, dann aber zeigen sich die Werke gänzlich von Neapel abhängig. Das Molise bleibt im 16. Jh. ohne Bedeutung, tut sich aber danach in der Ausschmückung seiner Kirchen hervor, was freilich ebenfalls völlig unter dem Einfluß Neapels geschieht. Kein Wunder, daß die Forschung sich mit der Spätzeit der abruzzesischen Malerei nicht abgegeben hat. Trotz des unbestreitbaren Niedergangs wäre es eine Aufgabe, diese Epoche zu studieren, da noch ungeheuer viel Material ans Tageslicht zu fördern ist.
Das 16. Jahrhundert
Im 16. Jh. entstehen die meisten malerischen Werke in den Abruzzen in L' Aquila. Eine Menge von Bildern aus dieser Zeit speichert das dortige Nationalmuseum. Der Einfluß der Toskana ist anfänglich so überwältigend, daß sich kaum ein eigener Stil ausbildete. Es ist deshalb äußerst schwierig, das (Euvre eines Künstlers scharf zu umreißen. In Dokumenten ist eine große Zahl von Malern überliefert, deren Werke kaum noch nachzuweisen sind. Aber gerade diesen nahezu anonymen Meistern hat man willkürlich Gemälde zugeschrieben, so daß sie zu Unrecht ein stattliches aber durcheinandergewürfeltes (Euvre aufweisen. Eine neue kritische Sichtung des Materials, die man teilweise für das 15. Jh. vorgenommen hat, wäre ein Hauptanliegen für die Erforschung der Malerei der nachfolgenden Zeit. Mario Moretti hat noch 1968 in seinem aufwendigen Katalog des Museumsbestandes des Nationalmuseums in L'Aquila versucht, alle nicht signierten Bilder Malern zuzuschreiben, von denen wir im Grunde genommen kaum etwas wissen. So wäre z. B. das CEuvre des Giovanni Percossa, den wir nur urkundlich als Mitarbeiter des Saturnino Gatti kennen, völlig zu streichen. Worauf sich die vielen Zuschreibungen an einen Maler Cola di Merlo di Civita di Penne gründen, wäre noch auszumachen. Ebensowenig wissen wir von gesicherten erhaltenen Werken des Sebastiano di Cola da Casentino, der urkundlich zusammen mit Percossa als Zeuge genannt wird.
Der in seiner Aktivität am besten greifbare Künstler aus dem Anfang des 16. Jh. ist der 1521 verstorbene Saturnino Gatti, den wir bereits als Autor des 1494 datierten Freskenzyklus in Tornimparte kennenlernten. Am 6. November 1509 verpflichtet er sich vertraglich, für die Confraternita del Rosario in S. Domenico in L' Aquila ein Altarbild mit einer Rosenmadonna und einer dazugehörigen Predella zu liefern. Am 18. Juli 1511 garantiert er, das Werk mit Hilfe seines Mitarbeiters Percossa zu vollenden. Das in Tempera auf Holz gemalte Bild in den Maßen 2,45 x 1,70 m gelangte später in die Kirche S. Pietro di Coppito in L'Aquila und von dort in das Nationalmuseum. In der oberen Bildhälfte steht die von Lichtstrahlen umgebene Maria mit dem segnenden nackten Kind in einer Mandorla, die von Rosen eingefaßt und von Engeln umgeben ist. Unter der Mandorla teilt ein Engel die dort versammelte Menschenmenge in zwei Gruppen. Links erscheinen ein Papst, Kardinäle und Bischöfe, rechts eine gekrönte weibliche Gestalt mit Edelfrauen in kostbaren Gewändern. Die im Vertrag erwähnte Predella ist nicht erhalten. Dieses Werk Saturninos setzt die Kenntnis Verrocchios voraus und zeigt weiterhin umbrische Einflüsse.
Ein nicht sehr einfallsreicher Schüler des Saturnino Gatti ist Giovanni Antonio da Lucoli. Aus Urkunden erfahren wir, daß er sich am 22. Juli 1534 zur Ablieferung einer Madonna aus Ton verpflichtete. Aus einem anderen Dokument ist er als Autor für das 1537 entstandene Ölgemälde auf Holz zu erschließen, das eine Anbetungsgruppe darstellt, die für den Dom von L'Aquila bestimmt war und sich heute im dortigen Nationalmuseum befindet. Für die Landschaft im Hintergrund bediente er sich umbrischer Vorbilder. Die Maria mit dem Kind und die Hirten auf der rechten Seite sind von Ghirlandaio und die beiden knienden Engel links von Lorenzo di Credi übernommen.
Francesco da Montereale wird zwischen 1509 und 1541 in Urkunden genannt. 1534 ist er unter den Mitgliedern der Accademia di S. Luca in Rom aufgeführt. Aus einem Notariatsakt vom 28. April 1509 geht hervor, daß er die Fresken (S. 410) malte, die links vom Eingang in S. Silvestro in L' Aquila zu sehen sind. Die mittelmäßige, von Umbrien beeinflußte Arbeit zeigt die thronende Madonna in der Mitte, rechts davon steht der hl. Rochus und links der hl. Sebastian, für dessen Gestaltung die von Silvester von L' Aquila 1478 angefertigte Holzskulptur dieses Heiligen das Vorbild abgab. Die Komposition des Freskos wiederholt ein Temperabild auf Holz, das heute im Nationalmuseum aufgestellt ist. Die in S. Silvestro befindliche gesicherte Arbeit des Francesco da Montereale hat eine Kette von Zuschreibungen ausgelöst. Auf Grund einer alten Überlieferung hat man dem Meister wohl zu Recht die schlecht erhaltenen Fresken rechts vom Eingang in S. Silvestro zugewiesen, die u.a. die Taufe des Kaisers Konstantin zeigen.
Datierte Bilder anonymer Meister sind in L' Aquila in der ersten Hälfte des Cinquecento selten. Luigi Serra publizierte 1929 in seinem Buch über L'Aquila ein Fresko von 1516, das sich ehemals im Museo Civico befand, und in der Mitte den hl. Eusanius zeigt sowie zu beiden Seiten je zwei Szenen aus seiner Lebensgeschichte, die durch Beischriften erläutert sind. Das Lünettenfresko eines Portals am Langhaus der Kirche S. Maria della Misericordia ist 1545 datiert.
Von undatierten und nicht signierten Bildern in L'Aquila aus der ersten Jahrhunderthälfte ist das Kreuzigungsfresko an der Rückwand der einschiffigen Kirche B. Antonia erwähnenswert. In einer hügeligen Landschaft mit einer großen Ansammlung von Kriegern und Trauernden erblickt man in der Mitte den Gekreuzigten neben den Schächern. Entsprechend der Gewohnheit des 15. Jh. erscheint unter dem Kalvarienberg eine Reihe von Standfiguren, in deren Mitte der Erlöser mit einem Kelch in seiner erhobenen linken Hand dargestellt ist. Es umgeben ihn in rundbogigen Rahmungen rechts Antonius von Padua, Bernhardin von Siena und Johannes Capestranus, links Franz von Assisi, die hl. Klara und die später hinzugefügte sel. Antonia von Florenz. Weitere Bilder aus der ersten Jahrhunderthälfte bewahrt das Nationalmuseum. Aus der Kirche S. Maria della Misericordia stammt das große Ölgemälde auf Leinwand mit der Verkündigung. Die Landschaft ist umbrischen Vorbildern entlehnt. Links im Bilde erscheint der hl. Ludwig von Toulouse mit Bischofsstab und Mitra in einem Mantel, den das Lilienmuster ziert. Am unteren Bildrand kniet die Familie, die das Bildwerk in Auftrag gegeben hat. Nicht überzeugend ist die Zuschreibung eines Bildes an Francesco da Montereale, auf welchem Maria mit dem Jesusknaben und der kleine Johannes der Täufer als dessen Spielgefährte sowie sechs Heilige dargestellt sind, und das sich im Nationalmuseum in L'Aquila befindet. Die anbetende Madonna zeigt Formen des Carlo Crivelli, und die Köpfe der sechs Heiligen lassen sich stilistisch von Pinturicchio und Perugino ableiten. Zuschreibungen Morettis von Bildern im Nationalmuseum an Francesco da Montereale entbehren jeglicher Grundlage, z. B. gilt dies für eine Kreuzigung aus der Kirche S. Margherita in L'Aquila, für ein Lünettenfresko der Pietii mit Heiligen aus der Kirche S. Basilio in L'Aquila, für eine Kreuzabnahme, die früher im Rathaus von L'Aquila aufbewahrt wurde, und für eine Mariengeburt in Tempera auf Holz aus der Kirche S. Maria della Misericordia in derselben Stadt. Der künstlerische Wert des letztgenannten Bildes ist nicht bedeutend, interessant jedoch sind die Kostüme der acht assistierenden Frauen, von denen zwei das Kind dem Vater Joachim in die Arme legen.
Der Einfluß der römischen Malerei ist im gesamten Cinquecento zu verfolgen, steigert sich jedoch nach der Mitte des Jahrhunderts. Erinnert sei an die dem Raffael zugeschriebene Heimsuchung, die sich in S. Silvestro in L' Aquila befand und heute im Prado in Madrid ausgestellt ist. Dieses Gemälde war bis 1655 in L' Aquila zu sehen; seine Stelle nimmt jetzt eine Replik ein. Laut Dekret der Stadtväter von L'Aquila vom Jahre 1520 durfte das Bild nicht kopiert werden. Dennoch konnte diese Verordnung seiner vorbildhaften Wirkung keinen Abbruch tun. Eine gute Nachbildung ist in S. Maria in Platea in Campli am dritten Altar rechts zu sehen. Nachklänge an die Kunst Raffaels und Miche!angelos zeigt das riesengroße, 5,OO x 2,50 m messende Ölgemälde auf Leinwand im Chor von S. Maria di Paganica in L'Aquila. Dargestellt ist die Himmelfahrt Mariae. Die Jungfrau sitzt im hellerstrahlenden Himmel, von Engeln und Seraphim umringt, unten versammeln sich die Apostel an ihrem leeren Grab. Im vorigen Jahrhundert las man noch die Künstlerinschrift »Johannes Paulus Donti fecit 1576«.
Der wichtigste Vermittler römischer Kunst war Pompeo Cesura aus L'Aquila, der in hohem Alter 1571 in Rom starb. Er hatte dort als Schüler Raffaels seine Ausbildung erhalten und orientierte sich auch an der Kunst des Giulio Romano und des Perin del Vaga. Obwohl er seine Werke in L'Aquila weder datierte noch signierte, schreibt man ihm mit Recht Gemälde in S. Bernardino zu, die den Einfluß Raffaels erkennen lassen, eine Anbetung der Hirten und vor allem die Wundertaten des Antonius von Padua. Von Raffael übernommene Motive sind im Gemälde der Kreuztragung Christi mit dem Schweißtuch der Veronika deutlich erkennbar, ein Bild, das aus dem Konvent S. Giuliano bei L'Aquila in das Nationalmuseum gelangte. Die Zu schrei bungen an Cesura von Malereien im Oratorio di S. Luigi Gonzaga in L' Aquila und von einer Kreuzabnahme in S. Amico ebendort sind zu überprüfen. Der Stil des Künstlers Cesura ist aus Nachstichen seiner Bilder zu erschließen, die Orazio de Santis aus L'Aquila, vielleicht ein Verwandter des Malers, ausführte.
Die Einwirkungen Raffaels und seiner Schule begegnen in anonymen Werken, die das Nationalmuseum in L' Aquila bewahrt. Erwähnenswert ist dort ein Rundbild aus der Chiesa de! Carmine in L'Aquila, das die Hl. Familie, Franz von Assisi und den Täufer als Kind darstellt, ferner zwei zusammengehörige Gemälde aus S. Bernardino, die eine Verkündigung sowie den Erzengel Raphael und Tobias zeigen, weiterhin ist anzuführen die Darstellung der über einer Kirche in Wolken schwebenden Maria di Loreto zwischen dem Täufer und dem Stadtheiligen Massimo, ein Temperabild auf Leinwand aus dem Dom von L'Aquila.
Cesura hat in L'Aquila eine große Nachfolge gehabt, aus (S. 411) der einige Künstler namentlich bekannt sind. Der wichtigste unter ihnen ist Giovan Paolo Cardone aus L' Aquila. 1569 war er an den Festdekorationen beteiligt, die anläßlich des Einzugs der Margarethe von Österreich hergestellt wurden, und 1586 hatte er Malereien an ihrem Katafalk im Dom von L' Aquila auszuführen. Nicht mehr erhalten sind seine 1572 entstandenen Fresken an der Porta Barete in L' Aquila. Seine Signatur trägt das berühmte Stadtbanner von L'Aquila, datiert und mit seinem Namen versehen sind zwei Madonnenbilder, das eine in S. Maria in Colle in Pescocostanzo von 1580, das andere in Fossa von 1583.
Das Stadtbanner von L'Aquila (Tf. 302) im Nationalmuseum stammt aus S. Bernardino und trägt links unten die Inschrift .. Cardonius Aquilanus«. Es besteht aus rötlicher Seide, den Hintergrund durchsetzen goldene Tupfen. Dargestellt sind die vier Stadtheiligen, Massimo, Eutimio, Papst Coelestin und Bernhardin von Siena. Kniend heben sie das Stadtmodell von L'Aquila (Tf. 303) empor, das in der Genauigkeit der Wiedergabe eine wichtige Quelle für die Topographie der Stadt abgibt. über die Stadtvedute schiebt sich eine Wolken bank, in deren MitteChristus steht, der das Kreuz umfaßt. Als Vorbild für diese Figur diente die Christusstatue Michelangelos in S. Maria sopra Minerva in Rom. Links vom Heiland sieht man Maria und rechts einen Engel. Die Ränder der Fahne sind reich dekoriert. An der linken und rechten Seite erscheinen in der Mitte die Stadtwappen, während oben und unten die Christusdevisen des hl. Bernhardin dargestellt sind. Der Standarte ist unten eine Art Predella angesetzt mit fünf Halbfiguren, jede in einer eigenen Rahmungo Vorgeführt werden zwei hll. Bischöfe, Franz von Assisi, Johannes Capestranus und Antonius von Padua.
In Pescocostanzo ist das Rosenkranzbild in der Cappella del Sacramento in S. Maria dei Colle 1580 datiert und von Cardone unterzeichnet. Die Madonna mit Heiligen wird von den fünfzehn Mysterien des Rosenkranzes eingeschlossen, von den fünf freudenreichen, den fünf schmerzreichen und den fünf glorreichen Geheimnissen der Erlösung. Ein thematisch ähnliches Bild, in Öl auf Leinwand, das Cardone 1583 mit seinem Namen signierte, befindet sich in S. Maria ad Cryptas in Fossa an der rechten Langhauswand. über dem Haupt Mariens halten Putten einen Rosenkranz. Rechts kniet die anbetende Katharina von Siena, links steht der hl. Dominikus. Diese Darstellung umranden fünfzehn Szenen in Medaillonform mit den Mysterien des Rosenkranzes. Ein Ölgemälde auf Leinwand in der Kirche S. Francesco di Paola in L'Aquila zeigt links unten eine nur teilweise erhaltene Inschrift, die schlecht leserlich den Namen Cardonius erkennen läßt. Vor einem landschaftlichen Hintergrund tötet der Erzengel Michael den Drachen. Dem Cardone wird auch die Ausmalung des Refektoriums von S. Bernardino in L' Aquila zugeschrieben. Die Fresken in den Lünetten behandeln Szenen aus dem Alten und Neuen Testament. In sehr engem stilistischem Zusammenhang mit Cardone stehen noch zwei Ölbilder auf Leinwand in aquilanischen Kirchen, zum einen die Geburt Christi in S. Giusta und zum andern die Schlüsselübergabe an Petrus in S. Pietro di Coppito.
Zu den Schülern des Cesura zählt ein vermutlich aus L' Aquila stammender Maler namens Marianus Troylus, von dem sich eine Kreuztragung im Nationalmuseum in L'Aquila befindet. Der Einfluß Cesuras zieht sich bis in das 17. Jh. hin. Seiner Malweise folgen noch zwei Künstler aus L'Aquila, wahrscheinlich Brüder, Giovanni Paolo Mausonius und Pompeo Mausonius, deren Werke in der Umgebung von L'Aquila anzutreffen sind. Ersterer gilt als Autor eines Ölgemäldes auf Leinwand in der Pfarrkirche S. Maria e S. Pietro in Fagnano Alto. Es zeigt eine Rosenkranzmadonna und trägt die Bezeichnung »Mausonius Aquilanus fecit 1599«. Die Pfarrkirche von Casentino, ein Ortsteil von S. Eusanio Forconese, verwahrt ein Bild dieses Künstlers, das den 1584 gestorbenen und 1610 heiliggesprochenen Carlo Borromeo darstellt. Die Signatur des Giovanni Paolo Mausonius und das Datum 1616 trägt das Bild der Hl. Familie in der Kirche von Civitatomassa. Für Pompeo Mausonius sind zu sichern das Rosenkranzbild von 1596 im Santuario della Madonna d'Appari bei Paganica, eine Himmelfahrt Christi von 1611 in der Pfarrkirche von Alanno sowie ein signiertes und 1616 datiertes Gemälde, das Carlo Borrorneo wiedergibt, und weiterhin ein Fresko in der Kirche von Civitatomassa.
Ein letzter nennenswerter Schüler des Cesura ist Ottavio del Rosso. Von ihm stammt das Ölgemälde auf Leinwand in der Kirche S. Pietro di Coppito in L'Aquila in der ersten Kapelle links. Dargestellt ist in Frontalansicht die Figur des hl. Eusanius, die von neun kleinen Bildern gerahmt ist, worin Begebenheiten aus dem Leben des Heiligen erscheinen. Die Inschrift lautet: .. Octavius Rubeus pinxit 1600«.
Die einheimischen Maler aus L'Aquila orientierten sich, vor allem in der zweiten Hälfte des 16. Jh., immer mehr an den künstlerischen Leistungen, die in Rom entstanden. Gleichzeitig wird in L'Aquila eine niederländische Künstlergruppe wirksam, die dort ihre Malweise verbreitet. Die Vertreter dieser Richtung gehören zu der Schar von Malern, die sich in Italien, vor allem in Rom, mit den Bildwerken der Hochrenaissance auseinandersetzten. Ein frühes Beispiel für eine derartige Mischung von niederländischer und römischer Malerei ist im Nationalmuseum in L'Aquila ein Ölgemälde der Hl. Familie auf Holz, das bereits zwischen 1530 und 1540 entstanden sein mag. Ein Engel schiebt einen Vorhang beiseite, hinter dem ein komplizierter zentraler Innenraum freigelegt wird. Der Joseph zeigt ein realistisches, niederländisch geformtes Gesicht.
Daß gerade L'Aquila in der zweiten Jahrhunderthälfte von Künstlern aus dem Norden aufgesucht wurde, erklärt sich durch den dortigen Aufenthalt der Statthalterin der Niederlande, Margarethe von Österreich, die ihr Staatsamt im Dezember 1567 niedergelegt hatte und dann bis zu ihrem Tod 1586 ihre farnesischen Güter in den Abruzzen verwaltete. Aus Quellen hören wir von niederländischen Künstlern im Gefolge der Margarethe in den Abruzzen. Zu diesem Kreis mag ein Maler gehört haben, der gegen Ende des Jahrhunderts eine im Nationalmuseum in L'Aquila befindliche Anbetung der Könige schuf. Das Ölgemälde auf Holz zeigt (S. 412) die Hl. Familie und den Zug der Könige in einer Ruinenlandschaft.
Der namhafteste Vertreter der niederländischen Richtung in L'Aquila ist Aert Mytens, der in Italien unter dem Namen Rinaldo Fiammingo bekannt wurde, geboren um IS41 in Brüssel und 1602 in Rom gestorben. Von IS81 bis IS87 ist er als Maler in Neapel nachweisbar. Seine Werke in L' Aquila sind weder datiert noch signiert, doch wird ihm einstimmig die 6,00xS,som große Kreuzigung in Öl auf Leinwand rechts im Chor von S. Bernardino zugeschrieben. In dem vielfigurigen Gemälde erscheinen Maria Magdalena mit leidenschaftlicher Geste der Verzweiflung unter dem Kreuz Christi, die Gruppe der Marien, die Kreuze mit den Schächern, Krieger zu Fuß und zu Pferde. Am Himmel treiben Sturmwolken, und im Hintergrund wird in der Landschaft die Stadt Jerusalem mit dem Wahrzeichen eines Rundtempels sichtbar. Die Vorstudie zu dieser Kreuzigung ist in Gestalt eines 1,50 m hohen und 2,50 m breiten Ölbildes auf Leinwand erhalten, das aus der Kirche S. Maria di Paganica in L'Aquila in das Nationalmuseum kam. In derselben Sammlung sicht man noch zwei weitere Kreuzigungsdarstellungen in Öl auf Leinwand, die derjenigen von S. Bernardino nahestehen. Beide stammen aus L'Aquila, die eine aus der Kirche S. Maria Maddalena, die andere aus S.Apollonia. Eine Zuschreibung an Rinaldo, ein Bild mit der Taufe Christi, das in S.Maria di Paganica in der vierten Kapelle rechts hängt, wäre zu überprüfen.
Niederländischen Einfluß zeigen weiterhin zwei zusammengehörige Ölbilder auf Leinwand aus der Kirche S. Bernardino in L'Aquila, die sich heute in der Obhut des Nationalmuseums befinden, eine Anbetung der Könige und die Darbringung Christi im Tempel. Die Gesichter der beiden Madonnen strahlen eine passive Lieblichkeit aus, für die die niedergeschlagenen Augen charakteristisch sind. Der Marienfigur in der Darbringung Christi entspricht recht genau die Haltung der Katharina von Alexandrien auf einem Ölbild auf Leinwand, das aus der Kirche S. Caterina in L' Aquila in das Nationalmuseum gelangte. Dargestellt sind die Madonna mit Kind, Franz von Assisi und Katharina von Alexandrien.
In L'Aquila war die Entstehung der Bildwerke im 16. Jh. von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu verfolgen. Auch in den übrigen Abruzzen malte man fleißig, aber es bildeten sich dort keine Stilrichtungen aus, und die Erzeugnisse stehen beziehungslos nebeneinander. Die nächste Umgebung von L' Aquila orientierte sich an den Usancen in dieser Stadt. Ein Beispiel dafür liefert der Konvent S.Angelo d'Ocre bei Fossa. Am Anfang des 16. Jh. entstanden dort für die lokale Ikonographie interessante Bilder, die das Nationalmuseum in L'Aquila bewahrt. IS03 starb in S.Angelo der sel. Bernhardin von Fossa. Bald nach seinem Tod stellte man neben seinem Grabaltar zwei große Temperamalereien auf Holz auf. Die Kompositionen werden oben durch gemalte Kielbogen abgeschlossen, und in den oberen Ecken sind kleine Rundbilder angebracht. Auf einer Tafel erblickt man vor einer umbrisch beeinflußten Hintergrundslandschaft den auferstehenden Erlöser mit der Siegesfahne, den auf der rechten Bildhälfte eine franziskanische Heilige anbetet. Auf dem anderen Gemälde stehen sich auf einem Wiesengrund Christus in Pilgertracht und der sel. Bernhardin von Fossa gegenüber, der von einem Franziskaner mit Bettelsack begleitet wird. Der obere linke Tondo berichtet von einer Wundertat des Seligen, indem dieser einem Stummen aus Teramo die Sprache wiedergibt, und der obere rechte Tondo erzählt von der Aufnahme Bernhardins in den Himmel. Etwa gleichzeitig und im Umkreis des vorgenannten Malers entstand eine dreiteilige Temperamalerei auf Holz, von der das Mittelbild mit Christus am Kreuz verloren ist. Auf der linken Seite sind Maria und die durch Beischriften benannten seligen Massimo da Vigliano und Filippo da Cascina (gest.1456) in Anbetung versunken, desgleichen auf der rechten Seite der Evangelist Johannes und die seligen Timoteo da Monticchio und Vincenzo dell'Aquila.
Konservativer verhielt man sich im weiter von L'Aquila entfernt gelegenen Sulmona. Das dortige Museo Civico verwahrt ein Lünettenfresko des 16. Jh. aus der nicht mehr existierenden Augustinerkirche in Sulmona. Die in einer Mandorla thronende Madonna mit Kind ist oben von drei schwebenden Engeln umgeben. Im Vordergrund links steht der hl. Laurentius mit einem Kirchenmodell und seinem Attribut, dem Rost, während rechts der Kirchenvater Augustin erscheint. Unten am Thron der Madonna sieht man eine anbetende Stifterfamilie. In diesem Werk ist kein Hauch der Renaissance zu spüren. Neben derartiger Rückständigkeit wird man gleichzeitig von Bildwerken überrascht, die für die Abruzzen neu waren. Im Kastell von Gagliano Aterno gewahrt man in einem Raum des oberen Stockwerks die Schlacht bei Tagliacozzo, das früheste Fresko historischen Inhalts in den Abruzzen.
Ebenso wie in L' Aquila sind auch in der übrigen Region datierte, aber nicht signierte Werke abruzzesischer Provenienz im 16. Jh. selten. Mit der Jahreszahl 1510 ist in der Sakristei in S.Maria in Platea in Campli ein Triptychon versehen, das in konservativer Reihung in der Mitte die Madonna mit Kind vorführt und auf den Seitentafeln Katharina von Alexandrien, Klara, Franz von Assisi und Antonius von Padua zeigt. In der ehemaligen, heute als Autoremise benutzten einschiffigen Kirche S. Maria della Misericordia in Tortoreto gibt es Fresken mit Gestalten und Szenen aus dem Neuen Testament, die z. T. IS36 datiert sind. Das Fresko mit Antonius von Padua am fünften linken Altar der Kirche S. Maria di Colleromano bei Penne stammt aus dem Jahre 1544.
Noch kümmerlicher ist der Bestand an Werken von einheimischen Künstlern, die außerhalb von L'Aquila in den Abruzzen zu finden sind. In der Kirche S. Maria di Costantinopoli in Ortona a Mare datierte 1583 ein Giovanni Battista Rusconi das große Leinwandbild einer Verkündigung. Der Maler Luca Fornaci aus Chieti ist seit 1585 nachweisbar und wird 1592 als verstorben erwähnt. 1590 datiert und signiert ist sein Leinwandbild im Diözesanmuseum in Chieti mit der Darstellung des Stammbaums des Franziskaneror (S. 413) dens. Von seiner Hand rührt auch ein Madonnenfresko in der Kirche S. Domenico in Chieti her.
Die künstlerischen Einwirkungen anderer italienischer Landschaften auf die abruzzesische Malerei des 16. Jh. sind so vielfältig, daß sie hier nur an Hand einiger Beispiele angedeutet werden können. Großen Einfluß gewann die venezianische Malerei, sei es direkt oder indirekt. Während des Zweiten Weltkrieges verschwand in Pescocostanzo aus der Kirche S. Maria del Colle ein Gemälde, das man dem Palma Vecchio zugeschrieben hat. Die meisten venezianischen Spuren finden sich entsprechend der Tradition im adriatischen Küstengebiet. Ein Maler, der direkt mit Venedig in Berührung kam, ist Polidoro da Lanciano. Er wurde um 1515 als Sohn des Paolo de'Renzi geboren und stammt aus einer in Lanciano ansässigen Familie von Vasenmalern. Bereits in jungen Jahren, 1536, ist er als Maler in Venedig überliefert und nennt sich dort Polidoro Veneziano. Als Schüler Tizians machte er sich einen Namen. Er ist nur in Venedig nachweisbar, wohingegen in den Abruzzen kein gesichertes Werk von ihm überliefert ist. 1957 gelangte aus der Kirche S. Nicola di Bari in Lanciano eine thronende Madonna mit dem Evangelisten Johannes links und Nikolaus von Bari rechts in das Nationalmuseum in L'Aquila. Der Bildaufbau und die Figuren erinnern so stark an die Schule Tizians, daß man geneigt ist zu glauben, Polidoro habe dieses Ölbild auf Holz für seine Vaterstadt gemalt. Der Künstler starb am 21. Juli 1565 in Venedig.
Einen Nachhall der Kunst des Paolo Veronese zeigt ein Werk in Chieti in der Kirche S. Giovanni dei Cappuccini, die 1586 errichtet und 1605 geweiht wurde. Das große Gemälde, das das Ehepaar Valerio und Silvia Valignani für den Hauptaltar ausführen ließ, ist das schönste Bild des 16. Jh. in Chieti. Dargestellt ist die Madonna in der Glorie, umgeben von Johannes d.T., Antonius von Padua und Franz von Assisi. Ebenfalls aus der Schule des Veronese stammen in derselben Kirche an einer der Langhausstützen das kleine Bild des von Engeln umgebenen Gottvaters mit dem toten Christus im Schoß sowie an einem Altar eine Kreuzigung mit Maria, Maria Magdalena, den beiden Johannes, Franz von Assisi und Rochus.
Venezianische Einflüsse zeigen ein Triptychon mit Maria und Kind und Heiligen in der Sakristei von S. Maria Maggiore in Lanciano und ein 1541 datiertes Tafelbild im Konvent der Madonna di Vallaspra bei Atessa. Kunstgeschichtlich kaum beachtet sind gute venezianische Bilder des 16. Jh. in S.Maria Maggiore in Vasto. Dazu gehören das fälschlich dem Tizian zugeschriebene Gemälde über dem Hauptaltar, und im hinteren linken Seitenschiff die schöne Madonna del Gonfalone. Die mystische Vermählung der Katharina im linken Seitenschiff an der Wand in Höhe der zweiten Arkade dürfte der Werkstatt des Veronese entstammen.
Die traditionellen Beziehungen und die geographische Nähe der Abruzzen zum balkanischen Küstengebiet schlugen sich auch in der Malerei nieder. Von dort wirkte eine venezianisch-byzantinisierende Richtung ein, die nicht immer zutreffend als kretische Malerei bezeichnet wird. Diesen Einfluß zeigen mehrere Bilder im Depot des Nationalmuseums in L' Aquila, u.a. ein 1582 datiertes Ölbild der Verkündigung aus dem Observantenkloster bei Tocco da Casauria. Aus der Kirche S. Chiara in L' Aquila stammt eine venezianisch-byzantinische Kreuzigung. Andere Ölgemälde aus dieser Gruppe waren früher im erzbischöflichen Palast in L' Aquila untergebracht, eine Anbetung der Könige, eine Geburtsszene und eine Kreuzabnahme. Im Dom von Isernia befindet sich am Ende des linken Seitenschiffs eine Ikone, die Halbfigur einer Maria mit dem bekleideten Kind auf dem linken Arm. Die Tafel wurde im 16. Jh. von Monsignore Lomellino von Rhodos nach Isernia gebracht.
Die Malerei der Toskana, die einen so großen Anklang in L'Aquila fand, hatte natürlich auch in den übrigen Abruzzen einen Widerhall. Aus den zahlreichen Werken, die in diesen Zusammenhang gehören, greife ich ein Triptychon in der Kirche S. Marcello in Anversa degli Abruzzi aus der ersten Jahrhunderthälfte heraus, das in der Mitte die Madonna mit Kind und an den Seiten die hll. Michael und Franz von Assisi zeigt, sowie in Ripa Teatina eine von Engeln umgebene HI. Familie am Hauptaltar der Pfarrkirche S. Pietro.
Einflüsse der Marken erstrecken sich vor allem auf die Provinz Teramo. Ein Beispiel unter vielen sind Malereien an den Seiten des 1532 datierten Sakramentsaltars in S. Maria in Platea in Campli. Links stehen die hll. Ursula, Maria Magdalena, Katharina von Alexandrien und der Täufer, rechts Gregor d. Gr., Sebastian, Paulus und Dominikus (oder Thomas von Aquin).
Unvermindert hält sich der Einfluß Umbriens. Auch hier nur ein Beispiel aus der ersten Hälfte des Cinquecento in Castelvecchio Subequo. Am ersten rechten Altar von S. Francesco befindet sich die Himmelfahrt Mariens, ein Ölgemälde auf Leinwand. Im unteren Teil stehen die zwölf Apostel, die seitlich von den sie an Größe überragenden Franz von Assisi und Antonius von Padua eingerahmt werden.
Vielleicht um 1543 schuf ein römischer Maler das verehrte Bild der Himmelfahrt Mariens mit dem Erlöser auf der Rückseite in der Sakristei von S. Francesco in Tagliacozzo, ein Gemälde, das im Monat August eines jeden Jahres in feierlicher Prozession in den bedeutenderen Kirchen des Ortes gezeigt wird.
Weniger als in späteren Zeiten manifestiert sich die künstlerische Ausstrahlung Neapels in den Abruzzen. Inwieweit ein Temperabild auf Holz mit der Maria und dem Kind sowie zwei Heiligen, ehemals in einer Kirche in S. Eufemia a Maiella und heute im Nationalmuseum in L'Aquila, neapolitanisch beeinflußt ist, wäre noch zu untersuchen. Interessanter ist der Hinweis von Ferdinando Bologna, daß zwei Bilder im Dommuseum in Atri, eine Geburtsszene und eine Geißelung Christi, von einem Spanier gemalt wurden, der, sich im welrweiten Neapel formend, seine Werke in den Abruzzen absetzte. Die früher dem Signorelli, Perugino oder Cola deli' Amatrice zugeschriebenen Gemälde weist Bologna überzeugend einem Spanier zu, der die Kunst Bramantes und Signorellis kannte. Als Autor dieser Arbeiten nimmt er (S. 414) den zwischen 1500 und 1507 in Neapel tätigen Pedro de Aponte an, ein Schüler des Juan de Borgona. In den Ecken des zeitgenössischen Rahmens des Geburtsbildes sieht man das Wappen der Acquaviva. Somit käme Andrea Matteo III. Acquaviva, Herzog von Atri, Kenner der internationalen Welt in Neapel, als Auftraggeber in Betracht.
Die Zahl namentlich genannter auswärtiger Maler in den Abruzzen ist im 16. Jh. beträchtlich. Auch außerhalb von L' Aquila sind sie überall in unserer Landschaft anzutreffen, wie z. B. Antonio da Fossombrone, genannt Plonio Antonio di Francesco, der 1506 ein Triptychon für die Kirche S. Reparata in Casoli malte. Eine dem Sodoma zugeschriebene Kreuzigung Christi in der Unterkirche von S. Maria Valleverde in Celano ist vermutlich keine eigenhändige Arbeit, doch in seinem engsten Umkreis entstanden. Wohl einstimmig weist man dem Taddeo Zuccari (1529-1566), der in den Marken in S. Angelo in Vado geboren wurde, Bilder in S. Domenico in Penne zu, die Christus als Gärtner und das Martyrium des Stephanus darstellen. In derselben Kirche werden dem aus Ravenna stammenden, 1577 gestorbenen Giovanni Battista Ragazzini drei Bilder zugeschrieben, eine Himmelfahrt Mariae, eine Rosenkranzmadonna mit weiblichen und eine andere mit männlichen Heiligen. Der Aufenthalt Ragazzinis in der Provinz Teramo ist durch ein signiertes und in seinem Todesjahr datiertes Bild einer Madonna mit Kind und Heiligen in S. Maria in Platea in Campli gesichert.
Werke des aus Bergamo stammenden Malers Giovanni Paolo Olmo sind in Sulmona zu sehen. In der Kirche S. Francesco della Scarpa befindet sich am Elisabethaltar ein Ölgemälde auf Leinwand mit der Heimsuchung. Die Inschrift lautet: »Jo[hannes) Paulus Ulmus civis Bergom[ensis) p[inxit)«. Am unteren Bildrand ist das Stadtwappen von Mailand abgebildet. Der Altar gehörte der Mailänder Kolonie in Sulmona. Laut Beischrift wurde er 1508 errichtet, 1706 durch Erdbeben beschädigt und 1708 restauriert. In S. Maria della Tomba in Sulmona wird dem Olmo ein Ölbild auf Leinwand zugeschrieben, das den Apostel Jacobus Maior mit Pilgerstab und Buch darstellt. Ein Aufenthalt in L' Aquila des Malers Bernardino Monaldi aus Florenz ist bezeugt. In der Kirche der Annunziata in Sulmona führte er an der rechten Langhauswand ein Pfingstbild aus, das er 1598 datierte und signierte »Berna Monaldius Florentinus faciebat«.
Die Mitwirkung venezianischer Künstler an Malereien in S. Maria Maggiore in Vasto bestätigt sich durch die Signatur des Luigi Benfatto, auch Alvise dal Friso genannt, auf einem Bild der Taufe des Kaisers Konstantin. In der Inschrift bezeichnet sich der Meister als Neffe des Paolo Veronese. Benfatto war ein Schwestersohn Veroneses. Er wurde etwa 1554 geboren und starb am 7. Oktober 1609 in Venedig.
Fast zur Bedeutungslosigkeit sinkt im 16. Jh. die Malerei im Molise herab. Allerdings lassen die neuen, noch nicht ausgewerteten Funde in den Wohnräumen des Kastells von Gambatesa Überraschungen erwarten, denn es tauchen hier weltliche Themen auf, die in dieser Region sehr selten sind. Dargestellt sind Ruinenlandschaften und Stadtveduten, die personifizierten Tugenden und antike Kaiserköpfe in Medaillonrahmen. Stilistisch zeigen sich die Malereien von Rom und Neapel abhängig. Reste von Gewölbefresken, u. a. die Darstellung des Turmbaus von Babel, sieht man in der Kirche S. Maria Maggiore in Guglionesi. Von ebendort gelangte ein Triptychon in Tempera auf Holz in das Nationalmuseum in L'Aquila. Als Maler des 1505 datierten Bildes nennt sich ein sonst unbekannter Michele Greco di Lavelona. Indessen deutet der Name an, daß der unter venezianischem Einfluß stehende Künstler von der balkanischen Küste der Adria stammt. In der von einem Giebel bekrönten Tafel sieht man in der Mitte die thronende Maria mit Kind, links den Täufer und rechts den hl. Benediktinerabt Adam, der in Guglionesi besonders verehrt wurde. Im dreieckigen Giebelfeld erscheint der Erlöser mit den Passionswerkzeugen, gestützt von Maria und dem Evangelisten Johannes.
Ein anderes Triptychon, 1542 datiert und umbrischen Einfluß verratend, verwahrt die Kirche S. Antonio Abate in Gildone. Die Mitte nimmt Maria mit dem Kind ein. Auf den Seitentafeln erscheinen Antonius Abbas und Antonius von Padua, während in der Lünette die Kreuzigung mit der Gruppe der Marien und das Abendmahl dargestellt sind.
Das 17. Jahrhundert
Der Niedergang der bodenständigen Malerei in den Abruzzen hält im Seicento an. Tonangebend bleibt auch in dieser Zeit die Stadt L'Aquila. Waren dort im vorangehenden Jahrhundert noch einheimische Kräfte tätig, die ihre Ausbildung außerhalb des Landes suchten, so sind die Hauptakteure nun nach L'Aquila eingewanderte Künstler. Den größten Einfluß in der Stadt erreichte die Familie Bedeschini. Der in der Ortsgeschichte bewanderte Claudio Crispomonti, der 1629 eine noch unpublizierte Geschichte der Stadt L'Aquila verfaßte, nennt glaubhaft als den Stammvater des aquilanischen Zweiges Giulio Cesare Bedeschini, einen Piemontesen, der im Gefolge der Statthalterin der Niederlande, Margarethe von Parma, 1583 nach L'Aquila kam. Aus Mangel an Dokumenten sind wir in der Beurteilung des Giulio Cesare auf wenige gesicherte Werke angewiesen. Sein frühestes bekanntes Bild ist der 1607 datierte und signierte Bethlehemitische Kindermord im Nationalmuseum in L'Aquila. Trotz schlechter Erhaltung ist der Einfluß des Toskaners Cigoli erkennbar. Um 1625 freskierte Giulio Cesare in S. Silvestro die Branconikapelle, wo die Heimsuchung Raffaels aufgestellt war. Undatiert, aber mit seinem Namen versehen ist ein Ölgemälde auf Leinwand in der Kirche S. Francesco di Paola. Dargestellt ist das Wunder des Kreuzes. Ein Bischof berührt mit dem Kreuz eine auf einer Bahre liegende Kranke, die von Assistenzfiguren umstanden ist. Vom Himmel steigen Engel herab, was auf die Gesundung der Leidenden schließen läßt. Mitarbeiter des Giulio Cesare war wahrscheinlich sein Bruder Giovanni Battista, von dem aber kein gesichertes Werk bekannt ist. Es wird überliefert, daß er sich auch als Musiker betätigte.
Ein Sohn des Giulio Cesare ist Francesco Bedeschini. Er (S. 415) malte 1643 den hl. Antonius von Padua für die gleichnamige Kirche in L'Aquila und das Mittelbild des großen Triptychons hinter dem Hauptaltar in der Chiesa del Suffragio in L'Aquila. Dargestellt ist die Trinität mit Maria, Heiligen und den reinen Seelen, die dem Fegefeuer entgingen. Francesco wird auch als Architekt erwähnt. Größeren Ruhm erlangte er als Kupferstecher. Aus Dankbarkeit für das Ende einer Pestseuche entwarf und stach er 1675 eine Folge von Blättern religiösen Inhalts, die ein großer Erfolg war. Die Stiche wurden in Venedig, Rom und Neapel abgesetzt. 1699 schuf er das Titelblatt zu dem Werk »Melpomene sacra«, das ein Kanoniker namens Teodoro Vangelista vom Dom in L' Aquila verfaßt hatte. Für die Aufführungen von Melodramen desselben musischen Kanonikers lieferte Francesco die Bühnenausstattungen. Die Biblioteca Salvatore Tommasi in L' Aquila verwahrt einen Sammelband mit Druckgraphik des Francesco. Ein Blatt mit dem Datum vom 20. Mai 1685 widmete er dem Maffeo Barberini, Fürst von Palestrina. Die »Poesie« des Giovanni Canale, die 1694 in Neapel erschienen, stattete Francesco mit Illustrationen aus. Seine Stiche sind bezeichnet F.B.A.I., d. h. Franciscus Bedeschinus Aquilanus Inventor. Ein Sohn des Francesco war der Geistliche und Maler Carlantonio Bedeschini, Kanoniker an der Kirche S. Pietro di Coppito in L'Aquila.
Mit der Behandlung der Familie Bedeschini haben wir dem zeitlichen Ablauf vorgegriffen. Am Beginn des 17. Jh. war der Einfluß der Niederländer immer noch wirksam. Eine 1612 datiette Verkündigung im Nationalmuseum aus S. Domenico in L'Aquila trägt die Inschrift: »Aloysius Finsonius Belga Brugensis fecit 1612«. Eine ähnliche Darstellung desselben Meisters aus Brügge befindet sich in Neapel im Museo di Capodimonte.
Im 17. Jh. können wir nachweisen, daß nicht alle auswärtigen Maler, die ihre Werke in L' Aquila oder anderswo in den Abruzzen absetzten, auch an den betreffenden Orten persönlich auftraten. Dieses könnte durchaus für den Maler Finson zutreffen. Eine Bekräftigung dieser Annahme liefert ein Bild des Malers Baccius Ciarpius mit der Taufe des Kaisers Konstantin am dritten linken Altar in S. Silvestro in L'Aquila. Es trägt eine Signatur, worin der Meister mitteilt, er habe das Werk in Rom ausgeführt: »Baccius Ciarpius Bargaensis faciebat Romae 1612«. Baccio Ciarpi wurde 1578 in Barga in der Provinz Lucca geboren und wird, in Rom lebend, zuletzt 1644 erwähnt. 1613 war er in der Malerakademie von S. Luca in Rom eingeschrieben. Dieser nicht sehr fortschrittliche Künstler war später noch einmal für L'Aquila tätig. Zwei Gemälde von ihm aus dem Jahre 16JI sind in S. Giusta überliefert. Beide Bilder in Öl auf Leinwand messen 2.,50 x 1,80 m und stellen das Martyrium der Giusta und das Martyrium des Stephanus dar. Ein anderer für L'Aquila tätiger Künstler ist in Vicenza ansässig. In S. Maria di Paganica befindet sich in der ersten Kapelle links das Bild des Salvators mit der Inschrift: »Alexander Magantia pingebat Vicenzae«. Der Meister gehört zu der im 16. und 17. Jh. bekannten Malerfamilie Maganza in Vicenza. Er wurde dort 1556 geboren und starb nach 1630.
Einheimische Künstler aus L'Aquila zogen es vor, ihre Bilder in unbedeutenden Kirchen der Umgebung unterzubringen. So befindet sich z. B. in der Pfarrkirche von Pagliare eine Anbetung der Könige von der Hand eines sonst unbekannten Künstlers, der das Werk signierte: »Fabritius Micarella Aquilano faciebat 1644«.
Die Darstellung eines Schmerzensmannes, die aus der Kirche B. Antonia in L'Aquila in das dortige Nationalmuseum gekommen ist, schreibt Ferdinando Bologna dem Bolognesen Francesco Albani zu. Von einem Maler, dessen Herkunft unbekannt ist, und der anderswo nicht belegt werden kann, stammt am ersten rechten Altar in S. Pietro di Coppito das Ölbild auf Leinwand mit der Darstellung des hl. Bischofs Liborius. Das Gemälde trägt die Bezeichnung: ,,]oseph Liperius faciebat A.D. 1672«. In der zweiten Hälfte des 17. Jh. tritt der bereits an anderer Stelle erwähnte Deutsche Carl Ruthart in L'Aquila auf. Sein Weg führte ihn von Danzig über Antwerpen und Rom nach L' Aquila, wo er für S. Maria di Collemaggio einen umfangreichen Bilderzyklus schuf. Ein großer Teil seines OEuvre wird im Nationalmuseum in L'Aquila gezeigt. Die mangelnde Eigenständigkeit der aquilanischen Malerei verdeutlicht ein nach römischen Vorbildern im 17. Jh. gefertigtes Porträt des Papstes Paul IV., das laut Unterschrift ein Aquilaner malte: .. Caesar Fantitto Aquilanus pinxit«.
Außerhalb von L'Aquila sind anonyme Malereien von geringem Interesse. In Gagliano Aterno freskierte man im 17. Jh. in der Kirche S. Martino die Polygonalapsis des 14. Jh. mit acht Geschichten aus dem Leben des hl. Martin. Nur der Datierung wegen sind zwei Rosenkranzmadonnen zu nennen. Die eine entstand 1600 für die Kirche S; Vittoria in Carsoli, die andere 1604 für S. Maria della Valle in Scanno. Eine 1698 datierte Geburtsszene verwahrt die Kirche der Annunziata in Sulmona.
Von Künstlern unterzeichnete Bilder sind im 17. Jh. in den Abruzzen nicht selten. In S. Martino in Tussio befindet sich am Altar des Rosenkranzes eine Rosenkranzmadonna mit den 15 Mysterien, die Bernardino Michetti signierte und 1613 datierte.
Unter den nichtabruzzesischen Malern tut sich Antonio D'Enrico hervor, genannt Tanzio da Varallo, ein Piemontese und Nachfolger des Caravaggio. Erst in neuerer Zeit ist man auf seine Reisen in Süditalien aufmerksam geworden. Er hielt sich in Rom auf, und in den Abruzzen hinterließ er großartige Bilder. Sein Weg führte ihn nach Fara S. Martino, wo er zwischen 1612 und 1614 in der Kirche S. Remigio das Gemälde mit der Beschneidung Christi schuf. Später sehen wir ihn in Pescocostanzo wieder. Dort malte er etwa 1616 ein großes Votivbild, dessen inhaltliche Deutung erst nach seiner neuerlichen Restaurierung möglich wurde. In der Mitte des Bildes liegt in bergiger Landschaft miniaturhaft klein eine Stadt, vor deren Mauern ein Palast lichterloh in Flammen steht. Ein zierlicher Engel fliegt von oben herab und gießt aus einem Kübel Wasser in die Feuersbrunst. Am unteren Bildrand erscheint die Halbfigur einer anbetenden älteren Frau mit Halskrause, die Stifterin des Gemäldes, die (S. 416) das Werk aus Dankbarkeit für die himmlische Rettung ihres Besitztums der Kirche Madonna del Colle dedizierte. Das Ereignis mag sich in Pescocostanzo abgespielt haben, so daß das großartige Frauenporträt als das Bildnis einer Abruzzesin anzusehen ist. In einer etwas höheren Bildzone sind Heilige dargestellt. Links hält der stehende Bernhardin von Siena dem Beschauer die Christusdevise entgegen. Neben ihm kniet Franz von Assisi. Auf der rechten Bildseite steht über der Stifterin die hl. Klara mit der Monstranz in ihrer rechten Hand, und ihr folgt rechts außen eine Märtyrerin mit dem Palmzweig. über den Wolken erscheint die himmlische Welt. In einer Lichtflut sitzt die Madonna mit ihrem Kind auf einer von Cherubköpfen eingerahmten Wolke. Von besonderer Schönheit sind die musizierenden Engel zu seiten der Maria. Der linke spielt auf einer großen Laute, während der andere ein mit sechs Saiten bespanntes Violoncello zwischen muskulösen Beinen hält.
Ein Maler aus Polen, Sebastiano Majeski, erreichte die Provinz Teramo. Auf einem Gemälde im Konventualenkloster in Camp li nennt er sich 1637 »Sebastianus Majeschi Polonus et civis Teramensis«. Als Bürger von Teramo schuf er 1622 für die Sakristei des dortigen Domes sechs große Leinwandbilder. Neben seinem Selbstbildnis, der Stifterfigur, den Darstellungen des Franz von Assisi und des hl. Leonhard führt er vor allem Wundertaten des Stadtheiligen Berardus vor. Auf einem der Gemälde trägt der das Volk von Teramo segnende Bischof unter dem Bischofsgewand eine Ritterrüstung, eingedenk einer überlieferung, nach der Papst Paschalis 11. den Bischöfen von Teramo das Anlegen des Kriegergewandes gestattet hatte. Dem Majeski zugeschrieben werden Fresken im Kreuzgang von S. Maria in Propezzano mit den Evangelisten und Szenen aus der Genesis, von denen noch Spuren festzustellen sind. Reisen führten den polnischen Bürger Teramos vermutlich in das südlichere Adriagebiet nach Ortona a Mare, wo er im Kreuzgang von S. Maria delle Grazie Gemälde geschaffen haben soll.
In der Kirche SS. Trinira in Ortona a Mare erstellte der ortsansässige Tommaso Alessandrino das große Leinwandbild mit dem Jüngsten Gericht. Ein anderes Gemälde von ihm verwahrt die Biblioteca Comunale von Ortona. Außerhalb seiner Heimatstadt war er für die Chiesa dei Cappuccini in Lanciano beschäftigt.
Größere Bedeutung erlangte der in Rom tätige Maler Giovanni Battista Boncori, 1643 in Campli geboren und am 24. Mai 1699 in Rom gestorben. 1678 wurde er als Mitglied in die Accademia di S. Luca in Rom aufgenommen und noch in seinem Todesjahr zum Princeps dieser Institution gewählt. In Campli besitzt die Chiesa della Misericordia eine Darstellung Christi im Tempel von seiner Hand.
In den Abruzzen finden sich Spuren von der Tätigkeit des Malers Mattia Preti, der 1613 in Taverna in der Provinz Catanzaro geboren wurde und 1699 auf der Insel Malta starb. Eine Reihe seiner Bilder befand sich in der Sammlung Dragonetti in L'Aquila. Eine aus Tortoreto stammende Taufe des Augustinus im Nationalmuseum in L'Aquila wird wohl mit Recht dem Preti zugewiesen.
In der Apsis der Kirche SS. Annunziata in Sulmona ist in einer reichen Stuckrahmung die schöne Verkündigung zu sehen, die Lazzaro Baldi in der zweiten Hälfte des Seicento ausführte. Baldi ist als Schüler und tatkräftiger Mitarbeiter des Pietro da Cortona berühmt geworden, 1624 in Pistoia geboren und 1703 in Rom gestorben.
Von dem Neapolitaner Luca Giordano existiert in der Kirche S. Maria dei Raccomandati in S. Demetrio ne' Vestini ein 1663 datiertes und signiertes Ölbild auf Leinwand mit der Darstellung der Heimsuchung. Ein Schüler des Giordano, Giuseppe Simonelli aus Neapel, von dem sich in der Regierungsstadt zahlreiche Gemälde erhalten haben, malte für die Kirche der Annunziata in Sulmona einen Christus im Tempel. Am Ende des Seicento tritt Francesco Antonio Borsillo (Borzillo) aus Larino in Pescocostanzo auf. Er führte die Evangelistenbilder in den Gewölbezwickeln der Cappella del Sacramento in S. Maria del Colle aus.
Die Malerei des Molise zeigt im 17. Jh. im Gegensatz zu früheren Zeiten eine gewisse Lebendigkeit. Die dort seßhaften Slawen, die aus Dalmatien und Kroatien eingewandert waren, hielten nicht nur durch ihre Sprache die Verbindung mit ihrer Heimat aufrecht, sondern sie stärkten das Band auch durch Import von Kunstwerken. Ein Beispiel für die Malerei liefert der von Slawen bewohnte Ort Acquaviva Collecroce. Die dortige Kirche S. Maria Ester behütet zwei aus Kroatien eingeführte Bilder des 17. Jahrhunderts. Das eine zeigt den Erzengel Michael, den Drachen tötend. Seitlich hinter ihm erscheint die Madonna in der Glorie. Sie hält den Jesusknaben, der die Kreuzspitze eines langen dünnen Stabes auf das verendende Untier drückt. Das andere großformatige Bild mit dem Martyrium des Blasius kam aus Zagreb. Die lebhaft agierenden Figuren sind völlig im Stil venezianischer Malerei gebildet. Ein venezianisch beeinflußtes Verkündigungsbild, das in jüngster Zeit durch Restaurierung seine Farbfrische zurückerhielt, bewahrt die Pfarrkirche von Montorio nei Frentani.
Mit wenigen Ausnahmen wird in dieser Zeit die Malerei durch Neapel bestimmt. Von den im Molise geborenen Künstlern, die sich mit der dortigen Kunst auseinandersetzten, nenne ich zwei Beispiele. Der aus Oratino gebürtige Benedetto Brunetti datierte 1658 eine Grablegung Christi in Öl auf Holz in S. Maria Maggiore in Casacalenda. Die Pfarrkirche S. Maria della Croce in Cercemaggiore besitzt vom selben Meister drei Bilder. Das eine zeigt die Madonna von Loreto mit den hll. Antonius Abbas und Dominikus, das andere zeigt die Madonna di Costantinopoli mit dem Apostel Philipp und dem hl. Francesco di Paola, und das dritte stellt eine Kreuzigung dar. Niccolo Fenico aus Campobasso arbeitete für den Wallfahrtsort S. Maria Libera bei Cercemaggiore. In der Kirche sieht man seine Madonna mit vier Heiligen und im Refektorium eine 1686 datierte Abendmahlsszene.
Daneben arbeiteten aber auch Künstler aus dem neapolitanischen Bereich für das Molise. Ein Sebastiano Pasquale aus Capua malte 1612. für die Cappella de! Carmine in S. Maria Libera bei Cercemaggiore eine Maria mit Heiligen. (S. 417) Bekannter ist der Neapolitaner Fabrizio Santafede. 1576 ist seine Eheschließung überliefert, und letztmalig wird er 1628 erwähnt. In Neapel sind zahlreiche Werke von ihm erhalten. Ein von Santafede signiertes Ölbild auf Holz kam aus der Pfarrkirche in Lucito in das Nationalmuseum in L'Aquila. Das um 1600 zu datierende Gemälde besitzt einen komplizierten Aufbau. Das 2,26 x 1,42 m große Mittelbild zeigt die Rosenmadonna mit Heiligen und Engeln. Zwei von ihnen krönen die Gottesmutter. Diese Darstellung wird von 15 rechteckigen Bildern, die durchschnittlich 30 cm hoch und 33 cm breit sind, umgeben. Darauf erscheinen Szenen aus dem Leben Christi. über diesem Kompositwerk ist ein ovales Gemälde angebracht, dessen größte Abmessungen 70 x 100 cm betragen, und das den bärtigen Gottvater darstellt, der mit seiner Rechten segnet und mit der Linken eine von einem Engel gestützte große Weltkugel umfaßt. Von der Hand des Santafede ist am ersten linken Altar in der Kirche
S. Antonio Abate in Campobasso das Gemälde des hl. Benedikt, der aus einem Besessenen den Teufel austreibt. Die große Geburtsszene hinter dem Hauptaltar in S. Maria Maggiore in Casacalenda wird ebenfalls diesem Meister zugeschrieben. Ein Bild aus der neapolitanischen Schule des 17. Jh. mit Maria in der Glorie und Heiligen hütet die Kirche S. Maria delle Grazie in Montefalcone del Sannio. Ein letztes Beispiel für die Präsenz neapolitanischer Maler im Molise mag Bartolomeo De Core abgeben, der in der Kirche S. Antonio da Padova in Fossalto das Altarbild signierte und 1692 datierte.
Das 18. Jahrhundert
Die Aufträge, die im Settecento an Maler vergeben wurden, sind zahlreicher als im vorangehenden Jahrhundert. Der Barockstil bemächtigt sich des ganzen Landes. Den vielen Neubauten von Kirchen entspricht eine verstärkte Betätigung in der Malerei, vor allem in der Freskotechnik. Der Stil wird vornehmlich von Neapel bestimmt.
Der regste Ort bleibt vorerst L'Aquila. Diese Stadt, die in ihrer Geschichte so häufig eine ausgeprägte politische Eigenständigkeit entwickeln konnte, erlebte in diesem Jahrhundert eine bis dahin nie gesehene kulturelle überlagerung, die von der Landeshauptstadt des Königreichs ausging und besonders eindringlich in den ersten vier Jahrzehnten des Jahrhunderts zutage tritt. Danach entstand durch den kurzen Auftritt des Vincenzo Damini in der Malerei der Stadt eine völlig neue Situation. Durch ihn verbreitete sich eine Malweise mit starkem venezianischem Einschlag, und nach diesem Intermezzo verliert L'Aquila die Vormachtstellung, die es durch Jahrhunderte innehatte.
Einer der ersten Vertreter der neapolitanischen Schule in L'Aquila ist Giacomo Farelli. Von sizilianischer Abkunft, wurde er 1624 in Rom geboren, aber die Stätte seiner Wirksamkeit war Neapel, wo er als Schüler des Andrea Vaccaro (1598-1670) viele Werke schuf und 1706 starb. Vielleicht noch am Ende des 17. Jh. weilte er in den nördlichen Gegenden der Abruzzen und war für die Barockkirche S. Filippo Neri in L' Aquila tätig. Reisen führten ihn nach Atri, wo die Herzöge Acquaviva residierten, die stets fruchtbare Verbindungen zu Neapel unterhielten. Im herzoglichen Palast stattete Farelli die Wohnräume mit Fresken aus, von denen nur noch wenige Spuren zu sehen sind. Natürlich handelte es sich um weltliche Themen, wir hören vom Kampf der Titanen, von den Taten des Herkules und von Porträts von Mitgliedern der Familie Acquaviva.
Größere Wirkung als Farelli erzielte in L'Aquila der Neapolitaner Girolamo Cenatiempo (Cenatempo), dessen in Neapel erhaltenen Werke zwischen 1705 und 1730 datiert sind. Er gehörte zur Schule des Luca Giordano und starb 1744 in der Landeshauptstadt. Sein erster Auftritt in L' Aquila fand 1709 statt. In diesem Jahr verpflichtete er sich, die Decke und die Kalotte der 1703 durch Erdbeben beschädigten Cappella del Sacramento in S. Bernardino mit Fresken auszumalen, die heute noch erhalten sind. Zu diesem Zeitpunkt war er auch mit Malereien in der Kirche S. Margherita beschäftigt. In der Kirche S. Amico befindet sich ein Bild von ihm, das die hl. Monica im Gespräch mit ihrem Sohn Augustinus darstellt. Es ist signiert und datiert »Hieronimus Cenatempo pinxit 1715«. Eine reiche Tätigkeit entfaltete er in den Jahren 1732-1733. Im Domchor entstand sein 6,00 x 3,45 m großes Leinwandbild mit der Madonna de! Carmine und den hll. Massimo und Georg. Das Werk ist signiert und datiert »Gerolamo Cenatempo 173 2«. Gleichzeitig malte er im Dom rechts vom Chor die Maria Magdalena mit Engeln. Andere Werke entstanden in S. Bernardino, u. a. die berühmten Bilder in der Kassettendecke des Mittelschiffs. Ein undatiertes, aber mit seinen Initialen versehenes Ölbild auf Leinwand im Depot des Nationalmuseums in L'Aquila zeigt den Dominikaner Vincenzo Ferrer.
Beträchtlich ist der Aufmarsch der Neapolitaner in L'Aquila im Jahr 1733. Einer aus ihrem Kreis, Francesco de Mura, Schüler des Solimena, schuf für die Kirche S. Basilio ein Gemälde, das eines der schönsten Bilder des 18. Jh. in L'Aquila ist. In der Mitte schwebt Christus mit nacktem Oberkörper. Seine segnende Gebärde gilt einer Gruppe von Heiligen und assistierenden Benediktinermönchen. Im Vordergrund links kniet der Kirchenvater Basilius, und Gottvater, die Weltkugel haltend, sendet dem Sohn die Taube zu. Das Gemälde ist signiert und 1733 datiert. Der dazugehörige Entwurf befand sich ebenfalls in S. Basilio und gelangte in das Nationalmuseum. Mit Sicherheit ist dem Meister ein aus dem Dom stammendes Bild in derselben Sammlung zuzuschreiben, auf dem der hl. Gaetano Thiene mit pathetischer Gebärde vor der Madonna mit dem nackten Jesusknaben kniet.
Der in Neapel nachzuweisende Künstler Michelangelo Bonocore signierte und datierte 1733 ein Ölbild auf Leinwand mit der Darstellung des hl. Dominikus, dem die Jungfrau Maria erscheint. Das Gemälde gelangte aus der Kirche S. Domenico in das Nationalmuseum. Kurze Zeit später, etwa um 173 5, malte der in Neapel tätige Solimenaschüler Nicola Maria Rossi (1699-1755) ein heute gleichfalls im Nationalmuseum befindliches Bild, das die Madonna di Lo (S. 418) reto mit Engeln und zwei Heiligen in der vorderen Bildebene darstellt. Das Werk kommt aus der Kirche S. Maria di Roio und ist signiert.
Die Vorherrschaft der neapolitanischen Malerei in L' Aquila fand ein jähes Ende durch die unerwartete Gastrolle des Vincenzo Damini, der auf einige Jahre die Malweise der Stadt bestimmte. Fast alle seine in L'Aquila ausgeführten Malereien tragen seine Signatur, worin er sich als Venezianer bezeichnet. Obwohl seine Tätigkeit in Venedig nicht zu belegen ist, spürt man doch den Einfluß, den venezianische Meister auf ihn ausübten, vor allem Giovan Battista Piazzetta und Giambattista Pittoni. Wir erfahren, daß sich Damini zwischen 1720 und 1730 in London aufhielt, wo es um diese Zeit vielen venezianischen Künstlern gelang, ihre Werke abzusetzen. Auf Grund seiner datierten Arbeiten in L'Aquila erhellt, daß Damini von 1737-1741 dort arbeitete. In dieser Zeit ist seine Schaffenskraft erheblich. Seine Malweise ist nicht erfinderisch, aber dem Zeitgeschmack geschickt angepaßt. In der Farbigkeit seiner Bilder offenbart sich immer der Venezianer. Jedoch zeigen einige Kompositionen Anklänge an Solimena. Indessen ist kein Aufenthalt in Neapel für ihn zu belegen.
Die Hauptaufträge, die ihn über Jahre beschäftigten, erhielt Damini von dem Observantenkloster S. Giuliano bei L'Aquila. Das Datum 1737 trägt am zweiten rechten Altar der einschiffigen Kirche die Darstellung des Johannes Capestranus in der Schlacht bei Belgrad, im selben Jahr entstand die Anbetung der Könige, ein großes Gemälde an der Rückwand des Chores. 1738 malte er das Bildnis des hl. Diego und den das Kreuz anbetenden Antonius von Padua am ersten Altar rechts. 1739 datiert ist der hl. Pasquale Baylon am Hauptaltar. Der gut erhaltene Entwurf für dieses Bild kam aus S. Giuliano in das Nationalmuseum. Das Gemälde des hl. Gennaro, des Schutzpatrons von Neapel, im Chor von S. Giuliano ist 174-datiert. Leider ist die letzte Zahl unleserlich. Der Heilige erhebt pathetisch die Hände, um den feuerspeienden Vesuv im Hintergrund zu versöhnen. Für die kleine Kuppel der Kirche malte Damini die vier Evangelisten.
Daminis Malereien in aquilanischen Kirchen lassen sich seit 1739 verfolgen. Das Ölbild auf Leinwand im Nationalmuseum mit der Darstellung des Thomas von Aquin stammt aus der Kirche S. Domenico und ist 1739 datiert. Der von Engeln umgebene stehende Heilige hält in seiner erhobenen Rechten eine große Monstranz und in der anderen Hand eine Kette, mit der er die Ungeheuer bändigt. Am ersten rechten Altar in S. Silvestro befindet sich die 1740 datierte Taufe Christi, die Damini mit viel Lichteffekten darstellt. Im selben Jahr schuf er auch ein Ölbild auf Leinwand für die Kirche S. Domenico. Es zeigt König Karl 11. Anjou, der Krone und Szepter abgelegt hat und auf einem roten Kissen kniet. Mit ausgebreiteten Armen verehrt er die Madonna in der Glorie, die von Thomas von Aquin assistiert wird. Das Bild bewahrt heute das Nationalmuseum. Zwei 1741 datierte Gemälde des Malers sieht man in S. Agostino, zum einen eine Madonna mit Augustin und dessen Mutter Monica und zum andern eine Darstellung des Augustinerheiligen Nikolaus von Tolentino. Aus dem Jahr 1741 ist weiterhin eine Hl. Familie in der zweiten linken Kapelle von S. Margherita zu erwähnen. Zu den besten Werken des Meisters in L'Aquila gehört das Bild, das die Mitte der Holzdecke der kleinen Kirche S. Antonio da Padova (auch Chiesetta dei Cavalieri de Nardis genannt) einnimmt. Es ist eine großartige Farbkomposition und zeigt Maria, die ihr Kind dem Antonius von Padua darreicht, der es freudig umarmt. Damini betätigte sich auch in der weiteren Umgebung L' Aquilas. Am letzten Altar des linken Seitenschiffs in der Pfarrkirche S. Giovanni Evangelista in Casentino, ein Ortsteil von S. Eusanio Forconese, sieht man sein Bild der das Kreuz anbetenden Brigitte von Schweden.
Damini war der letzte namhafte Maler in L'Aquila. Noch während seiner Tätigkeit in dieser Stadt ist ein unbedeutender Künstler aquilanischer Herkunft, Bernardino Ciferri, dort wirksam. Sein farbenreiches Bild der hl. Caecilie am zweiten rechten Altar des Domes ist 1741 datiert und mit seinem Namen versehen. In der Chiesa del Suffragio malte er ein Pfingstbild und das Martyrium der Lucia. Im nahgelegenen Fossa schuf er in der Pfarrkirche der Assunta in den Kassetten der Holzdecke die Himmelfahrt Mariae und Bilder mit Heiligen; diese Arbeiten sind signiert und 1739 datiert. Ein sonst unbekannter Maler Pietro Bugni uJ1terzeichnete mit seinem Namen und dem Datum 1753 ein Ölbild auf Leinwand mit Maria, den toten Christus auf ihrem Schoß haltend, das in der Sakristei von S. Marciano in L'Aquila aufbewahrt wird. Ebenso unwichtig ist das Bild eines Edelmanns, das aus dem Rathaus von L'Aquila in das Nationalmuseum kam. Diese bescheidene Leistung signierte und datierte 1775 ein Diego Pesco.
Eine gewisse Bedeutung in der Malerei des 18. Jh. erlangte die Stadt Chieti. Dort wirkte der einheimische Maler Donato Teodoro, mit dessen CEuvre man sich bisher kaum beschäftigt hat. Er starb am 21.Januar 1799 und wurde in S. Domenico in Chieti begraben. In der einschiffigen Chiesa del Carmine führte er an der Holzdecke ein Gemälde mit dem Sturz des Luzifer aus. Im Konvent von Francavilla malte er eine Flucht nach Ägypten. Weiterhin ist ein Aufenthalt von ihm in L' Aquila zu belegen. Dort sieht man im Chor des Domes von seiner Hand Szenen aus dem Leben des hl. Massimo. Das Gemälde mit dem Martyrium des Heiligen ist signiert und datiert: »Theodorus Theatinus pinxit 1730«. Bekannt ist die Tätigkeit des Meisters in Campli. In der Kirche S. Maria in Platea brachte er an der 1713 entstandenen Holzdecke Bilder aus dem Leben des Stadtheiligen Pancratius an, seine Taufe und sein Martyrium.
Natürlich war auch in Chieti der Einfluß Neapels nicht abzuwehren. Deutlich zeigt sich dieses in dem Bild des Todes des hl. Joseph in der zweiten rechten Kapelle von S. Agostino. Ein neapolitanischer Künstler betätigte sich im Dom von Chieti. Dort signierte ein Saul Persico eine Himmelfahrt Mariae, ein Gemälde mit Gennaro und anderen Heiligen. Ein Saul Persico ist in Neapel nicht nachweisbar, dagegen aber ein Saverio Persico. Die Schreibweise des Vornamens (S. 419) Saul wäre zu überprüfen. Am dritten linken Altar des Domes trägt eine Himmelfahrt Mariae das Datum 1776. Als Autor nennt sich Andrea Scapuzzi aus Gaeta. Er studierte in Rom und erhielt dort 1768 den ersten Preis der Accademia di S. Luca. Nur wegen der Datierung 1725 ist ein Altarbild in der Kirche S. Giovanni dei Cappuccini in Chieti nennenswert. Es ist am dritten linken Altar angebracht und zeigt Franz von Assisi, der der Madonna und Christus Blumen darreicht.
Nichtabruzzesische Künstler bestimmten wesentlich die Malerei Sulmonas. Für die Badia Morronese in der Nähe der Stadt arbeiteten Giovanni Conca aus Gaeta und Rafael Mcngs. Conca malte 1750 das an anderer Stelle erötterte Gemälde des Papstes Coelestin und Mengs den hl. Benedikt. Beide Bilder hütet heute das Museo Civico in Sulmona. Wahrscheinlich entstand das 5,OO x 2,24 m große Ölbild auf Leinwand des Mengs in seinem römischen Atelier. Die Beziehungen des Meisters zu den Abruzzen reichen aber noch über diesen Auftrag hinaus. Sein drittes Kind, Katherina Mengs, heiratete den Baron Antonio De Angelis aus der abruzzesischen Stadt Ancarano. Im Hause des Mengs in Rom verkehrte der 1752. in Campli geborene Giovanni Antonio Paris, der sein bevorzugter Schüler wurde. Nach dem Tode des Lehrers im Jahr 1779 begab sich Paris in die Schule des Anton von Maron (1733-1808) aus Wien. Von Paris kennen wir in den Abruzzen keine Arbeiten. In Teramo bekleidete er die Stelle eines Direktors an der »Scuola teoretica di disegno« und starb 1840.
Das Gemälde des Antonius von Padua in S. Francesco della Scarpa in Sulmona zeigt eine Abhängigkeit vom erwähnten Coelestinbild des Giovanni Conca. Das Werk ist I 1766 datiert und von dem in Arpino geborenen Maler Eugenio Porretta unterzeichnet. Aus Mangel an einheimischen Kräften gelang es einem Maler aus dem Molise, in Sulmona tätig zu werden. Paolo Gamba (1712.-1782.) aus Ripabottoni signierte die Gewölbefresken in der Chiesa dell'Annunziata und malte die Oval kuppel und die Laterne der Kirche S. Caterina aus.
Ausschließlich neapolitanische Künstler waren an der malerischen Ausstattung der Barockkirche S. Maria Assunta in Castel di Sangro beteiligt. Das Datum 1719 und die Signatur des Paolo De Matteis trägt das Madonnenbild mit den hll. Jacobus, Philippus, Sebastian und Rochus. Von seiner Hand stammt auch das Abendmahl. Francesco De Mura malte einen Schmerzensmann und Jesus auf dem Weg nach Golgatha. Im linken Seiten arm der Kirche befindet sich von Santolo Cirillo das Ölbild der Ehernen Schlange und ein anderes Gemälde mit der Mannalese. Das farbenprächtige Ölbild der Anbetung der Hirten und die Darstellung Christi unter den Schriftgelehrten werden dem Domenico Antonio Vaccaro zugeschrieben. Die Kirche Madonna delle Grazie in Castel di Sangro bewahrt an der Holzdecke eine 1715 datierte Anbetung der Könige, die die Signatur des sonst unbekannten Malers Felice Bucchino trägt.
Ein in den Abruzzen tätiger Maler und Schüler des Francesco De Mura ist Giacinto Diana, 1730 in Pozzuoli geboren und 1803 in Neapel gestorben. In der Kathedrale von Lanciano freskierte er die elliptischen Gewölbe des Hauptschiffes und die Kuppel. Die Malereien sind signiert und 1789 datiert. Im ersten Gewölbefcld überreicht David seinem Sohn Salomon das Modell des Tempels von Jerusalem. In der Mitte erhebt Ahasver die junge Esther auf den persischen Thron, und im dritten Feld weiht Salomon Gott den Tempel von Jerusalem. Die Kuppel hatte Diana mit einer heute zerstötten Marienkrönung ausgestattet.
Noch im 18. Jh. vergab man in der Provinz Teramo Aufträge an Künstler, die aus den Marken stammten. Zu ihnen gehört z. B. der Historien-und Bildnismaler Nicola Monti aus Ascoli Piceno, der 1795 in seiner Heimatstadt starb. Er hatte sich in Rom in der Schule des Pompeo Batoni gebildet. Die Chorwände der Pfarrkirche S. Maria in Bellante versah Monti 1793 mit biblischen Szenen, u. a. mit den alttestamentlichen Gestalten des Jakob und der Rahel. Das Werk ist mit seinem Namen bezeichnet.
Einige Künstler kennen wir nur auf Grund ihrer Signaturen. Dazu gehört z.B. Giuseppe Prepositi, der 1789 drei Bilder im Chor von S. Domenico in Atri schuf, eine Verkündigung, eine Madonna mit Heiligen und eine biblische Szene. Vor der Zerstörung der Stadt Roccaraso im Zweiten Weltkrieg sah man in der Pfarrkirche S. Vito das Gemälde des Titelheiligen, das in der zweiten Hälfte des 18. Jh. der Maler Carlo Ponticelli signierte.
Außerhalb von L'Aquila und Chieti sind einheimische namentlich bekannte Maler nur selten anzutreffen. Eine 1732. datierte Pieta in der Kirche S. Felice Manire in Poggio Picenze ist vermutlich das Werk eines Abruzzesen. Aus Penne stammte der Maler Domiziano Vallarola (1731-1811). Er schuf in der Kirche S. Francesco in Bucchianico 1774 datierte Fresken und malte 1782. in seiner Vaterstadt in der Kirche S. Chiara an der Holzdecke die große Darstellung des Paradieses.
Daß die Abruzzesen ihre künstlerische Ausbildung in Neapel erhielten, erweist immer wieder der stilistische Befund. Eine Bestätigung wird durch einen Maler aus S. Demetrio ne' Vestini geliefert, der 1788 für die Kirche S. Giovanni Evangelista in S. Giovanni, ein Ortsteil von S. Demetrio ne'Vestini, das Bild eines Rosenkranzfestes schuf. In der Signatur nennt sich der Meister Johannes Baptista Arista Demestriensis und sagt aus, er habe sein Bild in Neapel gemalt.
Eigenleistungen der abruzzesischen Malerei sind im 18. Jh. kaum zu finden, und die auswärtigen Maler, die das Land durchstreiften, hinterließen keine Meisterwerke. Sie gehörten nicht zur ersten Garnitur und standen im Schatten der großen Barockmaler. Ähnlich zeigt sich die Situation in der Malerei des Molise, wo ebenfalls der neapolitanische Einfluß vorherrschend ist.
An der vielbesuchten Malerschule des Francesco Solimena in Neapel studierte Carlo Gamba. Er wurde am 30. Oktober 1712. in Ripabottoni im Molise geboren und starb daselbst am 26. Dezember 1782.. Sein noch weitgehend ungesichertes CEuvre wäre auf Grund seiner verbürgten Werke zusammen (S. 420) zustellen. 1747 datiert und von ihm signiert sind in der einschiffigen Kirche S. Francesco in Larino, ein Bau des 18. Jh., die Kuppelfresken mit der Madonna, die von Engeln umgeben in der Himmelsglorie von ihrem Sohn gekrönt wird. Die meisten Bilder des Künstlers befinden sich in seinem Geburtsort Ripabottoni. In der dortigen dreischiffigen Kirche der Assunta trägt das Alrarbild des hl. Rochus mit Engeln seine Signatur und das Datum 1754. Die Rosenkranzmadonna am Ende des rechten Seitenschiffes und ferner zwölf allegorische Figuren zwischen den Arkadenbogen des Langhauses stammen von seiner Hand. Andere Darstellungen von ihm mit der Verherrlichung Mariens sieht man im seiben Ort in der Chiesa dell'Immacolata. In der Kirche S. Maria Assunta in Fossalto malte der Meister 1774 das mit seiner Signatur versehene Opfer des Melchisedek. Die Barockapsis derselben Kirche zeigt von seiner Hand Fresken mit Szenen aus dem Alten Testament, das Opfer Isaaks, die Arche Noah sowie Kain und Abel. Im selben Jahr 1774 entstand Gambas Bild mit der Unbefleckten Empfängnis, das sich in Campodipietra in der Kirche S. Martino befindet. Wohl mit Recht werden ihm im Refektorium des Klosters S. Elia in Sant'Elia a Pianisi zwei Lünettenfresken zugeschrieben, eine Verkündigung und die Darstellung des Abendmahls. Wir berichteten bereits von seiner Tätigkeit in Sulmona. In Pescocostanzo schuf er das Fresko des Paradieses in der Ovalkuppel der Cappella del Sacramento in der Kirche S. Maria del Colle. Das Werk ist signiert, jedoch undatiert.
Am Ende des 18. Jh. begegnet in Agnone der Maler Francesco Palumbo. In der einschiffigen Kirche S. Antonio Abate malte er das große Gewölbefresko des Jüngsten Gerichts, das signiert und 1793 datiert ist. In derselben Kirche findet man von ihm noch weitere Gemälde, u.a. ein Opfer Isaaks.
Unsignierte neapolitanische Gemälde, die man mit Vorliebe namhaften Künstlern zuschrieb, sind im Molise zahlreich. Ich nenne nur ein Gemälde mit dem Tod des hl. Joseph in S. Maria Maggiore in Casacalenda aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts und eine Kreuzabnahme in der Pfarrkirche der Addolorata in Castelpretoso, die ein Meister aus dem Umkreis des Solimena schuf. Der Maler Giacinto Diana aus Neapel, den wir bereits als Freskomaler in der Kathedrale von Lanciano antrafen, war im Molise in Frosolone tätig. In der dortigen Pfarrkirche trägt das Bild einer Madonna in der Glorie mit Engeln seine Signatur und das Datum 1785.
Die Malerei im 19. Jahrhundert
Das 17. und 18. Jh. verdeutlichten, wie stark die Malerei des Berglandes von fremden Einflüssen beherrscht wurde, und wie die wenigen einheimischen Maler Funktionäre nichtabruzzesischer Kunstrichtungen wurden. Das Austrocknen und Absterben dieses Kunstzweiges war evident, und es hatte den Anschein, als würde die Eigenständigkeit abruzzesischer Malerei nie wieder lebendig werden. Unter völlig neuen Voraussetzungen erfuhren aber die Abruzzen im 19. Jh. einen Aufschwung, der Kräfte freisetzte, die für die italienische Malerei des Ottocento von Bedeutung wurden. Am augenfälligsten innerhalb dieser Entwicklung ist die Verlagerung der künstlerischen Zentren.
Historische Städte wie L'Aquila, Atri und Sulmona, die die Kultur des Landes über Jahrhunderte bestimmt hatten, verloren an geschichtsbildender Wirksamkeit, ebenso kulturell gesättigte Landschaften, wie das Marserland und der nördlich der Pescara gelegene Teil der Provinz L'Aquila. Dafür entwickelte sich ein fruchtbares fortschrittliches Leben im adriatischen Küstenland, und das betraf nicht allein die Malerei. Auch eine neue gelehrte und literarische Gesellschaftsschicht bildete sich in dieser Gegend. Beispielsweise ist Teramo Geburtsort des Philosophen, Historikers und Politikers Melchiorre Delfico (1744-1835), der Dichterin Giannina Milli (1825-1888), des Astronomen Vincenzo Cerulli (1859-1927). Aus Giulianova stammt Vincenzo Bindi (1852-1928), dessen kunsthistorische Forschungen bis auf unsere Tage ungewöhnliche Wirkung besitzen. In Vasto kam 1783 der Dichter Gabriele Rossetti zur Welt. Die Stadt Pescara kann mit Stolz den Dichter Gabriele D'Annunzio (1863-I 938) zu ihren Söhnen zählen.
Unter den in den Abruzzen so selten anzutreffenden Musikern werden am Ende des 18. Jh. und im 19. Jh. im adriatischen Küstengebiet namhafte Talente bekannt. Die meisten erhielten ihre Ausbildung auf der berühmten Musikschule S. Pietro a Maiella in Neapel. Der angesehenste unter ihnen ist Fedele Fenaroli (1730-1818) aus Lanciano, zu dessen Schülern Mercadante, Cimarosa und Zingarelli zählen. Aus Teramo kommt der Komponist Luigi Badia (geb. 1819). Im nahgelegenen Ort Giulianova kam 1829 der Musiker Gaetano Braga zur Welt. Er war einer der berühmtesten Violoncellisten seiner Zeit in Italien. Mit seinem Instrument bereiste er die ganze Welt, war z.B. in Lissabon, Paris, Chicago; zu seinen Freunden gehörten der Komponist Rossini und der Maler Domenico Morelli. Der Kammermusiker Paolo Tosti (1846-1916) wurde in Ortona a Mare geboren. Seine ersten Erfolge hatte er in London und wurde Bürger dieser Stadt. 1911 kehrte er nach Italien zurück. Der 1833 in Campobasso geborene Erennio Gammieri ließ sich in Petersburg nieder, wo er Orchesterdirektor am kaiserlichen Theater war.
In diesen Umkreis, der die geistige Neuerweckung der Abruzzen mitbedingte, gehören auch die Maler. Es lösen sich mehrere Generationen ab. Die älteren Künstler sind noch im 18. Jh. geboren, Costanzo Angelini (1760-1853) aus S. Giusta bei Amatrice, Nicola De Laurentiis (1783 bis 1832) aus Chieti und Gabriele Smargiassi (1798-1882) aus Vasto. Die nachfolgende Gruppe von Malern kam zwischen 1800 und 1825 zur Welt, Giuseppe Bonolis (I. Januar 1800-1851) aus Teramo und die vier Malerbrüder Palizzi. Giuseppe (1812-1888) wurde noch in Lanciano geboren, die jüngeren Brüder kamen nach der übersiedlung der Eltern in Vasto zur Welt, Filippo (1818-1899), Nicola (1820-1866) und Francesco Paolo (1825-1871). Zur dritten Generation gehören nach 1830 geborene Künstler, wie Valerico Laccetti (S. 421) (1836-1909) aus Vasto, Gennaro Della Monica (1836 bis 1917) aus Teramo, Teofilo Patini (1840-1906) aus Castel di Sangro und Francesco Paolo Michetti (1851-1929) aus Tocco da Casauria.
Die Maler erhielten ihre Ausbildung teilweise in Rom, hauptsächlich aber, wie die Musiker, in Neapel. Angelini studierte zunächst in Rom und seit 1790 in Neapel. Smargiassi begann 1817 sein Studium in Neapel und Bonolis 1822. De Laurentiis bildete sich seit 1826 in Neapel und ging später nach Rom. Giuseppe Palizzi ließ sich 1835 in Neapel nieder, zwei Jahre später folgte ihm sein Bruder Filippo, und auch die beiden anderen Brüder hielten sich zeitweilig in der Landeshauptstadt auf. Laccetti erreichte Neapel um das Jahr 1852 ungefähr gleichzeitig mit Della Monica. Patini kam in jungen Jahren nach Neapel und ebenso Michetti, der 1868 dort eintraf.
Zur Zeit der Bourbonen war Neapel eine der bekanntesten und schillerndsten Städte Europas, wo sich mit einer unüberschaubaren Menge heimischer Maler eine Fülle von ausländischen Künstlern mischte, Engländer, Franzosen, Holländer, Deutsche, Dänen, Russen und andere. Feste und Musikaufführungen gehörten zur Tagesordnung. Vertreter der Botschaften und der Stadtadel bildeten den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. Man sollte annehmen, daß die an Berge und Einsamkeit gewöhnten Abruzzesen sich im Wirbel dieser Weltstadt nur schwer zurechtfanden. Aber es gehört zu ihrem Wesen, sich verschiedensten Situationen rasch anzupassen und sie zu bewältigen. Im Gegensatz zum 17. und 18. Jh. vermittelten sie in aller Bescheidenheit dem künstlerischen Leben der Großstadt neue Impulse.
Vor allem die Generation der nach 1800 geborenen Künstler fand sich in Neapel in einer Art von Diaspora zusammen, eine für Italien ganz natürliche Erscheinung, wenn man bedenkt, daß z. B. noch im heutigen Rom die aus den Marken, aus Umbrien oder den Abruzzen Eingewanderten sich kennen und Interessengemeinschaften bilden. Costanzo Angelini z.B., der 1790 aus einer der abgeschiedensten Gegenden des Berglandes nach Neapel kam, fand im Haus des berühmten Steinschneiders Filippo Rega aus Chieti, der im Mittelpunkt der neapolitanischen Gesellschaft stand, wohlwollende Aufnahme. Er heiratete die Schwester des Rega. Die vier nach Neapel eingewanderten Brüder Palizzi standen dort unter der Obhut älterer Abruzzesen. Giuseppe studierte bei Smargiassi aus Vasto, Filippo war Schüler von Angelini, Bonolis und Smargiassi. Nicola wurde von seinem Bruder Filippo in Neapel eingeführt, und den jüngsten Francesco Paolo unterrichtete Bonolis. Zu den Schülern und Freunden des Filippo Palizzi gehörten Laccetti, Della Monica und Patini. Als Altvater der Abruzzesen fungierte Smargiassi. Della Monica gehörte zu seinen Schülern, und sogar Michetti wurde dem 70jährigen noch vorgestellt.
Den jugendlichen Michetti, der sich im Alter von 17 Jahren von Chieti nach Neapel begab, hatte man zunächst an den dort tätigen Kupferstecher Bocchini aus Chieti verwiesen. Dieser nahm ihn auf und ging am Tage nach der Ankunft Michettis mit seinem Zögling in die Akademie zu dem greisen Smargiassi. Dieser meinte allerdings, Michetti solle lieber Schuster als Maler werden, ein Fehlurteil, das der Altmeister bald zu korrigieren hatte. Der Zusammenhalt unter den Abruzzesen erleichterte nicht allein ihr tägliches Leben. Aus dem Umgang miteinander enrwickelte sich eine verwandte Malweise, die durch gemeinsame Studien vor der Natur gefördert wurde.
Den obligaten Weg nach Neapel schlug auch eine Schar von abruzzesischen Malern der zweiten Garnitur ein, deren Namen heute fast vergessen sind. Die meisten kamen aus der Stadt Vasto. 1830 und 1837 wurden auf den Kunstausstellungen in Neapel Bilder des Filippo Molino präsentiert. Er kam am 7. 0ktober 1804 in Vasto zur Welt und starb am 21. September 1856 in Neapel. Er malte u.a. eine Vedute von Vasto, und die dortige Kirche S. Pietro verwahrt sein Bild mit der Rosenkranzmadonna. An der Akademie in Neapel studierte der 1809 in Vasto geborene Floriano Pietrocola. 1837 erwarb die bourbonische Regierung Bilder von ihm. 1830 stellte der Maler Naglieri aus Vasto in Neapel aus und wurde mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Zwei Künstler aus dem nah bei Vasto gelegenen Atessa lebten in Neapel, der Kalligraph Rodini und der Historienmaler Nicola Cardone (geb. in Atessa 1807, gest. daselbst 1892), ein Schüler des Filippo Palizzi. Der am 7. März 1814 in Chieti geborene Raffaele Ferrara, der 1883 in Rom starb, lebte in Neapel als preisgekrönter Historienmaler und Pensionär der Regierung. Den Unterricht bei Bonolis und Smargiassi besuchte Flaviano Bucci (geb. 26. Dezember 1817 in Giulianova, gest. daselbst am 28. Juli 1906). Sein Bild eines Almosen heischenden Bettlers erwarb König Ferdinand II. für das Museum im Palazzo di Capodimonte. Der Maler Achille De Sesaris (geb. in Penne 1818, gest. daselbst 1857) stellte seine Bilder 1839 in Neapel aus. Ein Gemälde der Madonna mit Kind sieht man in seinem Heimatort in der Kirche S. Panfilo.
Die Künstler der älteren Generation, Angelini und De Laurentiis, standen völlig unter dem Einfluß des Neoklassizismus. Costanzo Angelini gehörte zu der akademischen Richtung, der das Lehren ebenso wichtig war wie die Malerei selbst. Er stand im Briefwechsel mit Canova. Seine Vorbilder in Rom waren Mengs, Batoni und Domenico Corvi (1721-1803); ein anderes Leitbild war der Meister des französischen Klassizismus Louis David (1748-1825). Neben seiner Tätigkeit als Maler kennen wir Angelini als Autor zahlreicher Sonette. Nach seiner übersiedlung von Rom nach Neapel im Jahr 1790 führte er zunächst Umrißzeichnungen nach griechischen Skulpturen aus, die dann von anderen Künstlern gestochen wurden. Im Auftrag des Altertumsforschers Sir William Hamilton (1730-1803), der seit 1764 englischer Gesandter in Neapel war, fertigte er Nachzeichnungen von antiken Vasen an. 1809 wurde Angelini zum Zeichenlehrer an der Kunstakademie in Neapel ernannt. Nebenher unterhielt er eine private Kunstschule, an der er seine eigenen Ideen propagieren konnte. Zu seinen Schülern gehörte sein Sohn Tito (1806-1878), der als Bildhauer bei der Errichtung des Monuments für Matteo Wade (S. 422) in Civitella del Tronto bekannt wurde. Durch seine Publikationen gewann Costanzo Angelini Einfluß auf die Organisation der Kunstakademie in Neapel. 1821 veröffentlichte er Betrachtungen über die Ausbildungsstätten für Maler (Osservazioni sulle Accadernie pittoriehe), und im selben Jahr verfaßte er einen Bericht (Relazione storica, ove dimostra il vantaggio ehe reca 10 studiar la pittura in Roma), worin er seine in Rom erworbenen Lehrerfahrungen darlegt und deren Anwendung in Neapel empfiehlt. Er bemängelte dort das Fehlen des Aktzeichnens nach lebenden Modellen, ein Unterrichtsfach, das in Rom Förderung erfuhr.
Angelini zeichnete sich als Bildnismaler der neapolitanischen Gesellschaft aus. Er porträtierte z. B. den Komponisten Nicolo Antonio Zingarelli, den aus Teramo gebürtigen Melchiorre Delfico, den sich in Neapel politisch betätigenden Admiral Nelson. 1808 bestellte die Königin Caroline Murat, jüngste Schwester Napoleon Bonapartes, bei Angehni ein Bildnis des Königs von Neapel, Giuseppe Bonaparte. Sicherlich gibt es bessere und persönlichere Porträts von der Hand des Angelini als dieses. In diesem Werk steht er völlig unter dem Einfluß der offiziellen französischen Malerei des David und dessen Schule. Bei der Anfertigung des Bildes hatte der Meister Schwierigkeiten zu überwinden, da der König ihm nicht Modell sitzen konnte. Er mußte sich allein mit dessen Uniform zufrieden geben, die ihm auf zwanzig Tage ausgeliehen wurde. Seine Verbindungen zum französischen Herrscherhaus zeitigten noch einen anderen Auftrag. König Joachim Murat hatte 1814 die Abschaffung des Feudalsystems im Königreich Neapel angeordnet. Angelini lieferte den Entwurf für die Medaille, die zur Erinnerung an diesen Erlaß geprägt wurde.
Ein zweiter dem Neoklassizismus zugewandter Abruzzese ist Nicola De Laurentiis. Seine künstlerische Ausbildung erhielt er in Neapel und Rom. Er malte Porträts sowie Szenen aus der biblischen und der klassisch-römischen Geschichte. Seine Werke sind stärker als die Arbeiten des Angelini in den Abruzzen verbreitet gewesen, in Loreto Aprutino, Chieti und Vasto. Wie Angelini war De Laurentiis ein gebildeter Mann. Er studierte Philosophie und Mathematik. 1804 ging er von Neapel nach Rom und war dort Schüler und später Mitglied der Accademia di S. Luca. Seit 1 826 lebte er wieder in Neapel, wo er zum Mitglied und zum Professor an der Accademia di Belle Arti ernannt wurde. Die humanistischen Interessen des De Laurentiis kommen in seinen Dante-Illustrationen zum Ausdruck. An diesen arbeitete er während seines Aufenthalts in Rom, und sie trugen ihm die höchste Bewunderung des römischen Malers Vincenzo Camuccini ein. Die Zeichnungen für die Göttliche Komödie wurden von Giuseppe Tomba und Filippo Tosetti gestochen, eine Umsetzung, die den Meister indessen nicht zufriedenstellte. Mit seiner Beschäftigung mit Dante stand De Laurentiis in den Abruzzen im 19. Jh. nicht allein. Der Steinschneider Antonio Santarelli aus Manoppello fertigte zwei Kameen mit dem Bildnis des Dichters an. Die eine bestellte Herzog Blacas D'Aulpe, Botschafter König Ludwigs XVIII. in Rom, sie gehört mit fünf weiteren von Santarelli geschnittenen Steinen zum Fond Blacas im Louvre. Die andere Kamee arbeitete er in einen Ring des Dichters Alfieri ein, den dieser an seiner rechten Hand zu tragen pflegte; das Stück ist heute im Besitz des Musee Fabre in Montpellier. Für die Sechshundertjahrfeier von Dantes Geburt, die in Chieti 1865 festlich begangen wurde, verfertigte Raffaele dei Ponte aus Chieti ein Aquarell mit dem Porträt Dantes. Es entstand nach der Einigung Italiens, was der Maler zum Ausdruck bringt, indem er das Bild mit den Wappen der Hauptstädte der Provinzen des Landes umrahmt.
Von den Werken des De Laurentiis in den Abruzzen sind einige Ölgemälde auf Leinwand in der Pfarrkirche S. Pietro in Loreto Aprutino nennenswert. Das dortige Bild der Madonna Addolorata trägt am unteren rechten Rand seine Initialen N.D.L. sowie das Datum 1825. In derselben Kirche sind dem Meister zwei kleine Rundbilder mit den Darstellungen der hll. Luigi Gonzaga und Franz Xaver zuzuschreiben. Das städtische Gabinetto Archeologico in Vasto bewahrt von De Laurentiis eine Zeichnung, die Lucio Valerio Pudente aus Vasto darstellt, der in der Antike in jugendlichem Alter in Rom zum Dichter gekrönt wurde. In der Cappella della Nativita im Dom von Chieti, in der der 1832 gestorbene Künstler begraben wurde, malte er das große Ölbild der Geburt Christi.
Noch dem Klassizismus zuzurechnen ist der aus Teramo gebürtige Giuseppe Bonolis. Er malte vornehmlich biblische und mythologische Szenen und war ein guter Porträtist. 1822 ging er nach Neapel. Zunächst wollte er sich als Architekt ausbilden, doch widmete er sich seit 1827 völlig der Malerei. Er lehrte an verschiedenen Schulen in Neapel und gab daneben privaten Malunterricht. Zu seinen Schülern gehörten Filippo Palizzi und Adelaide Mazza, die er 1832 heiratete, und die ihm fünf Kinder gebar. Er starb 18 sr in Neapel an Typhus. Wie sein Kollege Angelini war Bonolis an der Lehrgestaltung der Kunstakademie in Neapel interessiert. 1849 veröffentlichte er eine Schrift über die Neuordnung der Kunstakademie in Neapel (D'un nuovo ordinamento intorno alle scuole di Belle Arti. Discorso di Giuseppe Bonolis), und postum erschien 1851 seine Arbeit über die Malkunst (Dell'arte pittorica).
Das Hauptwerk des Bonolis befindet sich in der Sakristei des Domes von Teramo, die Befreiung der Stadt Teramo durch Hilfe des Stadtheiligen Berardus. 1839 war Bonolis auf der Ausstellung in Neapel mit dem Gemälde des jugendlichen Bacchus vertreten. Von seinen Bildnissen ist das in französischer Manier gemalte Porträt des Giovanni Andrea di Sangro, Fürst von Fondi, vom Jahre 1833 datiert. Im Ausdruck freier sind seine Selbstbildnisse, eines im Vestibül der Pinakothek von Teramo, ein anderes im Besitz der Pinacoteca Comunale in Macerata.
Wie überall in Italien und Europa waren auch in den Abruzzen im Ottocento Künstler am Werk, die ein neues Studium nach der Natur in den Vordergrund rückten. Was dann im innersten Sinn unter »Natur« verstanden wurde blieb der Auslegung der Maler und ihrer Schulen vorbehalten. über Generationen konzentrierte sich die Thematik auf (S. 423) die reine Landschaft, auf die Darstellung von Tieren und Menschen und auf häusliche Genreszenen. Für das Landschaftsstudium bot Neapel die günstigsten Voraussetzungen. Im Anfang des 19. Jh. bildete sich dort eine Gemeinschaft von Künstlern, die unter dem Namen der Schule vom Posilip bekannt wurde. Der Posilip, ein Hügelzug am Golf von Neapel, war ein beliebtes Ausflugsziel der Neapolitaner, Treffpunkt der Künstler und Umschlagplatz für den Verkauf von Veduten, der dem späteren Postkartenhandel vorausging. Die bereits seit dem 17. Jh. in Neapel gepflegte Landschaftsmalerei erlebte durch diesen Künstlerkreis noch eine späte und bedeutende Blüte. Aufgewertet wurde der Kunstbetrieb am Posilip durch das Erscheinen der besten Landschaftsmaler jener Zeit. Der älteste unter ihnen ist der 1791 in Arnheim in Holland geborene Anton Sminck Pitloo, der von 1808 bis 1811 in Paris studierte. 1812 begegnen wir ihm als Stipendiaten in Rom, und nach dem Sturz Napoleons zog er nach Neapel, wo er bis zu seinem Tode wohnte. Er starb 1837 an der Cholera. Um 1818 eröffnete Pitloo am Posilip eine private Schule, in der sich geschickte junge Maler zusammenfanden. Schon bald danach schloß sich Gabriele Smargiassi dem Pitloo an und perfektionierte sich in dessen Schule. Der Niederländer stand in Neapel in hohem Ansehen, 1822 wurde er Mitglied des dortigen Reale Istituto di Belle Arti und 1824 Direktor dieser Anstalt.
Weiteren Auftrieb erhielt die Schule vom Posilip durch den 1806 in Neapel geborenen Giacinto Gigante, der sich Schüler eines deutschen Landschaftsmalers Huber nennt, der vielleicht mit dem Landschaftsmaler Wilhelm Huber (1787-1871) zu identifizieren ist, der 18u von Neapel in die Schweiz ging. Nach dem Weggang Hubers wurde Gigante Schüler und Freund des Pitloo. Nach dessen Tod bezog Gigante das Atelier des Meisters, 1869 besuchte er Paris und starb 1876.
Der erste namhafte Abruzzese, der zur Schule des Posilip gehört, ist Smargiassi. Die weltbezogene Großstadt öffnete ihm die Wege ins Ausland. Nach fünf jähriger Ausbildung in Neapel erhielt er ein Stipendium für einen Aufenthalt in Rom. 1828 begab er sich über die Schweiz nach Frankreich, wo er für neun Jahre sein Domizil aufschlug. Von dort bringen ihn drei kurze Reisen nach Neapel zurück. Abstecher erfolgten nach Brüssel und England, wo er mit einer Vedute von Castellammare Aufsehen erregte. Ein anderes in London gezeigtes Bild brachte ihm eine Goldmedaille ein. In Paris wurde sein Name durch Ausstellungen bekannt, und während seines dortigen Aufenthaltes versäumte er es nicht, seine Bilder auch in Neapel zu zeigen. Reich an Erfahrungen kehrte er im Alter von 39 Jahren in die bourbonische Hauptstadt zurück und übernahm die Leitung des Istituto di Belle Arti, die durch den plötzlichen Tod Pitloos frei geworden war. Versiert im Umgang mit höchsten Gesellschaftskreisen, erwarb Smargiassi auf seinen Reisen das Vertrauen und die Gunst der holländischen Exkönigin Hortense Beauharn ais (1783-1837), die den Bruder Napoleons I, Ludwig Bonaparte (1778-1846) heiratete, der 1806 König von Holland wurde und 1810 abdankte. Dieser Ehe entstammte der spätere Kaiser der Franzosen Napoleon III.; und Smargiassi hatte die Ehre, diesen als Knaben mehrere Jahre in der Malerei zu unterrichten. Der russische Zar Nikolaus I. kaufte 1845 von Smargiassi zwei große Bilder, eine Vedute vom Golf von Neapel und die Ansicht einer Straße, die vom Posilip auf die Phlegreischen Felder führt. Smargiassi starb hochbetagt am 12. Mai 1882 in Neapel.
Bei seinen Schülern fand die Kunst des Smargiassi wenig Echo. In seiner langen Lebenszeit lösten sich verschiedene Stile ab, und es fiel ihm schwer, in seiner eigenen Malerei eine folgerichtige Entwicklung durchzuhalten. In seinen Bildern war er fortschrittlicher als in seinen didaktischen Schriften und im Lehrberuf. Er wandte sich gegen einen rigorosen Verismus und geriet damit in Gegensatz zu einer jüngeren Generation, z.B. zu Filippo Palizzi. Als Realität galt Smargiassi der Ausdruck eines inneren Erlebnisses (Tf. 306), und die bloße unterwürfige Nachahmung des äußeren Gegenstandes war ihm zuwider. Damit blieb der Meister einem gewissen Idealismus verhaftet und geriet in den Bannkreis von Malern, die nach seiner Ansicht die Dualität von Ich und Natur vorgelebt hatten. Zu seinen Vorbildern gehörte Poussin. In dem Rechenschaftsbericht, »Rendiconto della Accademia di Archeologia, Lettere e Belle Arti«, der 1863 in Neapel erschien, huldigte er Poussin. In den von derselben Akademie herausgegebenen »Atti« ließ er sich 1875 über das Licht in der Malerei aus und bewunderte die Kunst des genialen Jakob van Ruisdael.
Neben seiner akademischen Lehrmeinung zeigte Smargiassi ein treffsicheres Gespür für die neue Malerei. Auf seinen Reisen suchte er gerade die Länder auf, die in Landschaftsdarstellungen führend waren, England und Frankreich. Gewiß studierte er in Paris im Louvre und in den Tuilerien die alten Meister. Gleichzeitig aber muß er mit zeitgenössischen Malern Verbindung aufgenommen haben. Sein kleines, 36 x 25 cm messendes Bild mit dem hl. Franz von Assisi in einer Landschaft, das heute die Sammlung D'Angela in Neapel bewahrt, zeigt engste Beziehungen zur Schule von Barbizon, besonders zur Malerei des Theodore Rousseau (1812-1867). Die Steine, das Erdreich und die sich biegenden Bäume sind kein Abklatsch der Natur sondern aus einem sensiblen Innenleben empfundene Realitäten. Smargiassi machte die zu seiner Zeit noch weitgehend provinziell gebundene Malerei Neapels jenseits der Landesgrenzen bekannt und brachte umgekehrt Bildwerke ausländischer Künstler in die Vesuvstadt. Wie weit Smargiassi mit ausländischen Künstlern, die Neapel aufsuchten, persönlich in Beziehung trat, bedürfte noch eingehender Nachforschung. Hierbei könnte Teodoro Duclere, getreuer Anhänger des Pitloo, eine Vermittlerrolle gespielt haben. Duclere wurde 1816 als Sohn französischer Eltern in Neapel geboren. Zwischen 1817 und 18u sowie 1828, 1834 und 1843 kam der französische Landschaftsmaler Corot nach Neapel. Wir wissen von dem Einfluß, den Corot auf den Neapolitaner Giacinto Gigante ausübte und umgekehrt. Der Engländer Turner besuchte Neapel 1823, und im Jahr 1828, als Smargiassi von Rom nach Paris übersiedelte, wurde Turner (S. 424) durch eine Ausstellung in der Ewigen Stadt bekannt. 1824 trafen in Neapel der russische Landschaftsmaler Scedrin ein sowie der junge, begabte, früh verstorbene englische Maler Richard Parkes Bonington (1801-1828), dessen Naturdarstellungen mit der sensiblen Behandlung des Lichts von Künstlern in Paris hoch geschätzt wurden. Dann erschien 1854 im Alter von zwanzig Jahren der Maler Degas in Neapel.
Dem Antonio Palizzi, der 1815 von Lanciano nach Vasto übersiedelte, war ein reicher Kindersegen beschieden. Von neun Kindern ergriffen vier das Malerhandwerk, und die beiden ältesten, Giuseppe (geb. 19. März 1812) und Filippo (geb. 16. Juni 1818) gehören zu den denkwürdigsten Malern des italienischen Ottocento. Von Natur waren beide Brüder verschieden. Giuseppe, der sich in Literatur und Philosophie ausgebildet hatte, galt als jovial und mitteilsam (Tf. 308), Filippo hingegen erschien verschlossen. Er war schweigsam, ernst und schüchtern und nur schwer für Freundschaften zugänglich. Giuseppe kam 1835 nach Neapel und lernte bei seinen Landsleuten Angelini, Bonolis und Smargiassi. Als eifriger Bewunderer Pitloos gehötte er bald zum Kreis der Schule des Posilip. Zwei Jahre später ließ Giuseppe seinen Bruder nachkommen, der sich in der gleichen Umwelt künstlerisch fortbildete. Unter den neapolitanischen Landschaftsmalern war Filippo in jugendlichen Jahren der radikalste. Die Natur in ihrer bloßen optischen Erscheinung in Bildern festzuhalten, war sein größtes Anliegen, die gegebenen Formen genau zu analysieren, die erstrebenswerte Wahrheit für ihn. Ohne Sentimentalität, ohne theoretische Ambitionen und unabhängig von Stilrichtungen glaubte er an eine nur durch das Auge erfahrbare Realität. Neben den obligaten Landschaftsveduten interessierten Filippo vor allem einzelne Phänomene, der Baum, die Blüte, ein Bündel von Kräutern, Ausschnitte aus der Landschaft (Tf. 307). Das Sehen des einzelnen führte zu kleinen Bildformaten. Seine Beobachtungen richteten sich besonders auf die Tierwelt, die nun aber nicht mehr im Kontext mit der Landschaft vorgeführt wird sondern als Erscheinung für sich. Dieser rigorose Naturalismus war den Neapolitanern ungewöhnlich, und es kam zu kunstkritischen Diskussionen mit Smargiassi und vor allem mit Domenico Morelli, der etwas akademisch, aber mit einem phantasievollen romantischen Empfinden andere Wege suchte.
Eine erste Reise, die auf seine Malweise jedoch kaum Einfluß hatte, führte Filippo zwischen 1841 und 1845 in den Vorderen Orient und nach Konstantinopel. Dabei besuchte er die Stadt La Valletta auf Malta, vielleicht eingedenk der Geschicke des Dichters Gabriele Rossetti, der 1822 vor den Bourbonen von Vasto nach Malta flüchtete. Die auf dieser Expedition entstandenen Bilder stellen eine Art Reiseskizzenbuch dar.
Von größerer Bedeutung für Filippo wurde die Übersiedlung des Bruders Giuseppe von Neapel nach Frankreich 1844-1845. Mit Ausnahme kurzfristiger Besuche in der Vesuvstadt hielt Giuseppe sich nun bis zu seinem Tod in Paris auf. Seine Bilder aus der französischen Zeit gehören zu den glanzvollsten Leistungen des italienischen Ottocento. Das bereits bald nach seiner Ankunft 1845 gemalte Bild einer Zigeunerversammlung in einem Wald, das sich heute in der Galleria d'Arte Moderna von Florenz befindet, bezeugt den Einfluß der Malerschule von Barbizon, insbesondere von Theodore Rousseau. Dieser besaß eine gen aue Kenntnis der Landschaftsmalerei und kopierte die Landschaften des Claude Lorrain und der Holländer des 17. Jahrhundert. Seine eigenen Arbeiten sind von romantischen und gefühlstiefen Empfindungen getragen, die vornehmlich durch gesteigerte Lichteffekte im Bilde zum Ausdruck kommen, eine Gestaltungsweise, die in der neapolitanischen Landschaftsmalerei weniger gepflegt wurde. Von Paris aus muß Giuseppe seinen Bruder Filippo über die französische Malerei orientiert haben. Er vermittelte ihm künstlerische Anregungen, die für Neapel etwas Neues bedeuteten. 1848 datierte und signierte Filippo ein seltsames Bild, das heute in neapolitanischem Privatbesitz ist. Die Darstellung fällt völlig aus seinem sonstigen Themenkreis heraus und behandelt ein historisches Ereignis. Unter politischem Druck hatte König Ferdinandll. am lo.Februar 1848 eine Verfassung zugesichert, die der Bevölkerung gewisse Erleichterungen verschaffen sollte. Am Abend darauf fand in Neapel ein großes Freudenfest statt, das Palizzi auf dem besagten, 47 x 3 7 cm großen Bild in Öl auf Leinwand festhielt. Es zeigt im Vordergrund einen Platz, in den eine gekurvte Straße mündet, und der von jubelnden Fackelträgern angefüllt ist. Auf den Balkons der umliegenden hohen Häuser stehen Menschen, die ebenfalls Fackeln halten und dem Volk auf der Straße zuwinken. Der Schein der Pechfackeln geistert über die ganze Szene, ohne die Konturen der Figuren erkennen zu lassen. Die Anordnung der Menschenmenge im Vordergrund gleicht einer Choreographie; das Bild erscheint wie eine Revolutionsszene in Paris.
Wie bereits Smargiassi unterhielten auch die Brüder Palizzi in Neapel Kontakte zu französischen Malern. Giuseppe erschien 1854 für kurze Zeit in Neapel, im seiben Jahr, in dem auch Degas in dieser Stadt weilte. Da künstlerische Beziehungen zwischen Degas und Filippo unbestritten sind, ist anzunehmen, daß die erste Begegnung bei der bereits 1854 in Neapel stattfand. Giuseppe fuhr bald nach Paris zurück, und schon ein Jahr später, 1855, unternimmt Filippo seine erste Reise in die Seinestadt. Gastliche Aufnahme fand er im Haus der Familie Cimino di Casolla Valenzano, die aus politischer Notlage 1850 von Neapel nach Paris auswanderte. Sie war den modernen französischen Kunstbestrebungen zugetan, ihre Mitglieder übten sich selbst in der Malerei, und so wurde das Haus Cimino Treffpunkt französischer Künstler. Auf dieser ersten Frankreichreise machte Filippo Abstecher nach Holland und Brüssel und kehrte über Florenz und Rom nach Neapel zurück. Er besuchte Paris noch zweimal, und zwar in den Jahren 1865 und 1875.
Die Beharrlichkeit Filippos, die Natur in einem extremen Realismus zu begreifen, hält sein ganzes Leben an. Dennoch ist, ähnlich wie bei Giuseppe, seine Malerei gelegentlich (S. 425) nicht frei von einem sentimentalischen Empfinden, das der Zeit zu eigen ist. Es entstanden Bilder, in denen ein idealisierender Unterton mitschwingt. Filippo entdeckte für sich die Poesie des Landlebens, sah Bauern und Hirten im Licht der Idylle. Derartige Bilder besitzen häufig einen peinlich süßen Beigeschmack.
Durch seine Auslandserfahrungen konnte Filippo später über den Rahmen seiner Werkstatt hinaus wirksam werden. Nach 1860 eröffnete er in Neapel eine eigene Malschule. 1861 fuhr er zu der großen Kunstausstellung nach Florenz, die anläßlich der Einigung Italiens stattfand. Dort traf er sich mit toskanischen Landschaftsmalern. Bereits seit jungen Jahren war Filippo in Neapel mit Francesco De Sanctis (1817-1883) bekannt. Diesem Literaturhistoriker und Staatsmann wurde nach der Einigung Italiens dreimal das Amt des Ministers für öffentlichen Unterricht in Italien übertragen. Auf sein Drängen übernahm Filippo 1878 die Leitung der Accademia di Belle Arti in Neapel, eine Aufgabe, die ihn nie befriedigte. 1881 trat er von diesem Amt zurück.
Wie später Michetti, ist Filippo Palizzi im Alter resigniert und fühlt sich als Überlebender einer vergangenen Zeit. Mit den modernen Kunstströmungen, die sich in jener Zeit außerhalb Italiens entwickelten, ist er nie in Berührung gekommen. 1884 schreibt er seinem Bruder Giuseppe nach Paris: »Mit 70 Jahren ist in dieser Welt nichts mehr zu hoffen, aber auch gar nichts. Die gegenwärtigen Zeiten sind wie ein Gewicht und drücken erbarmungslos nieder. Auf uns sind noch zwei Generationen gefolgt; auch sie sind alt und vom Leben gequält und ohne Ideale für die Zukunft, wie es doch in unserer Jugend der Fall war.« Filippo überlebte seine Malerbrüder. Nicola starb 1870 in Neapel. Er stand unter dem Einfluß Filippos, ohne dessen Bedeutung zu erreichen. Francesco Paolo, vornehmlich Stillebenmaler, der von 1859 bis 1870 ohne Unterbrechung in Paris lebte, starb 1871 in Neapel. Den größten Verlust bedeutete für Filippo der Tod seines älteren Bruders und einzigen Vertrauten, Giuseppe, der am I.Januar 1888 in Passy bei Paris starb. Filippo vermachte sein CEuvre und die Werke seiner Brüder an drei Museen. Die erste Schenkung mit 300 Bildern erfolgte 1892 an die Galleria Nazionale d' Arte Moderna in Rom. Das Begleitschreiben der Sendung ist kurz und klingt wehmütig: ..Aus meinem Atelier in Neapel habe ich diese meine Studien nach Rom übergeben und sie in chronologischer Folge geordnet als schlichte Bezeugung der unermeßlichen Treue und Liebe, die ich immer während der langen und beschwerlichen Erforschungen der Kunst in mir trug. Ich möchte neu geboren werden, um von neuem zu beginnen.« Die andere Stiftung ging 1898 an das Istituto di Belle Arti in Neapel, das er selbst geleitet hatte. Das dritte Vermächtnis wurde im seiben Jahr seiner Vaterstadt Vasto zuteil. Filippo starb am 11. September 1899 in Neapel.
Die Thematik ihrer Bilder verdeutlicht, daß sich die Brüder Palizzi ihr ganzes Leben lang mit den Abruzzen verbunden fühlten. Filippo malte das schöne Bild seines Elternhauses in Vasto, heute in der Privatsammlung Senigallia in Neapel. Unsentimental und ohne soziale Zielsetzung stellt er in seinen Arbeiten den einfachen Menschen, den Bauern und den Hirten in den Vordergrund. Er vermittelte das Landschaftsbild des kargen Berglandes und zeigt sich in diesen Werken von einer ganz anderen Seite als in seinen idyllischen Veduten des Golfes von Neapel. 1874 datiert sind zwei Naturdarstellungen aus den Abruzzen, der Gran Sasso und die adriatische Küstenebene, beide in der Galleria Nazionale d' Arte Moderna in Rom. Von Giuseppe Palizzi sieht man im Museo Comunale von Vasto das vor seinem Fortgang nach Paris gemalte Familienbild, den Vater Antonio, die Mutter Doralice Dei Greco, die Schwester Filipetta und den Bruder Nicola. Die legendenumwobene und seit dem späten 19. Jh. sprichwörtlich gewordene Figur des Abruzzenräubers taucht bereits 1841 im Werk des Giuseppe auf. Er malte die legendäre Begegnung des Briganten Marco Sciarra mit dem Dichter Tasso, eine Begebenheit, auf die wir schon an anderer Stelle eingingen. Abruzzesische Landschaften, abruzzesische Hirten und die Tierwelt des Berglandes sind die vorwiegenden Themen seiner auf Ausstellungen vertretenen Bilder. So zeigte er z. B. gleich nach seiner Ankunft in Paris 1845 ein Gemälde, das als »Orkan in einem Wald der Abruzzen« bezeichnet ist, im Pariser Salon von 18501 1 8 51 erscheint ein Bild »Drei Ziegen auf Bergen in den Abruzzen«. Auf der Weltausstellung 1867 in Paris tritt er mit einem Werk auf, das betitelt ist »Rinderherde, die von einem Sturm in den Niederungen in Abruzzo Citra überrascht wird«. Ein 1868 datiertes und signiertes Ölbild im Musee Fabre in Montpellier trägt die Bezeichnung »Abruzzesische Ziegenböcke«. Der jüngste Malerbruder Francesco Paolo Palizzi schuf außer Stille ben gelegentlich religiöse Szenen. Die Kirche S. Pietro in Vasto bewahrt von ihm ein Bild, auf dem Christus den Blinden in Jericho heilt, und der Konvent S. Chiara in Lanciano besitzt von seiner Hand zwei Gemälde, eine Madonna Addolorata und die hl. Cordula.
Zu den Söhnen der an Malern reichen Stadt Vasto zählt Valerico Laccetti, geboren am 18. Juni 1836 und gestorben in Rom am 8. März 1909. Nach anfänglichem Studium der Literatur bildete er sich in Neapel an der Accademia di Belle Arti. Unter Anleitung des Filippo Palizzi spezialisierte er sich zunächst auf Tierdarstellungen, begab sich 1863 nach Rom und 187211873 für sieben Monate nach Paris. Nach den Tierstudien wandte er sich der menschlichen Figur zu, und seit 1860 behandelte er historische und religiöse Themen. Werke von ihm sind in Vasto erhalten; weiterhin sieht man im Palazzo della Prefettura in Chieti sein großes, 1884 datiertes Gemälde »Christus imperat«. Der dazugehörige Entwurf ist im Rathaus in Chieti erhalten. In seinen letzten Lebensjahren betätigte sich Laccetti literarisch und verfaßte Dramen.
Die in Teramo ansässige Familie Della Monica war ursprünglich in Neapel beheimatet. Ihr entsprang der Maler Gennaro Della Monica, der am 10. Oktober 1836 in Teramo zur Welt kam und am 17. Mai 1917 dort starb. Er malte Landschaften und Bilder mit religiösen und historischen Szenen. Zunächst wurde Gennaro von seinem Vater, (S. 426) dem Zeichenlehrer Pasquale, unterwiesen. 1852 besuchte er dann in Neapel die Zeichenschule, die der Accademia di Belle Arti angegliedert war. Wie bei vielen anderen Schülern dieser Anstalt war sein Leitbild der Maler Salvatore Rosa (1615-1673). Außerdem bildete er sich in den Ateliers von Smargiassi, Morelli und Filippo Palizzi. Bereits im Alter von 16 Jahren beschickte er in Neapel eine Ausstellung mit dem Bild »Konradin in der Schlacht bei Tagliacozzo«. Reisen brachten ihn in die Lombardei, in die Schweiz und in die Toskana. In Florenz lebte er sieben Jahre. 1860 kehrte er nach Teramo zurück und übernahm die Stelle seines Vaters als Zeichenlehrer an der Scuola Comunale und unterrichtete später am Istituto Tecnico der Stadt bis zum Jahre 1914. Zusammen mit dem aus Perugia stammenden Maler Annibale Brugnoli (1843-1911) freskierte er das Gewölbe des Langhauses im Dom von L'Aquila mit den Stadtheiligen Massimo, Bernhardin von Siena, Papst Coelestin und Equizio. In der Kapelle Madonna della Cona, 1 km westlich von Teramo an der Straße nach Montorio, schuf er zwei beachtliche Bilder, einen Antonius von Padua mit dem Ezzelino (1194-1259), der Kaiser Friedrich 11. von Hohenstaufen treu ergeben war. Das andere Bild zeigt den die Felder segnenden hl. Vincenz. Gennaros Gerechtigkeitsbild im Palazzo della Giustizia in Teramo ist 1886 datiert. Dargestellt ist die Verurteilung der beiden Söhne des römischen Konsuls Brutus (gest. 509 v.Chr.). Die Kinder waren in Rom in eine Verschwörung verwickelt. Deshalb verurteilte sie der Vater zum Tode und wohnte der Vollstreckung der Strafe bei. Unter den Landschaftsbildern des Della Monica ist die 1898 gemalte Ansicht des Gran Sasso zu erwähnen. Der Maler betätigte sich auch als Kunsthistoriker. 1886 schrieb er einen Aufsatz über die Abtei S. Clemente a Casauria, 1890 verfaßte er eine Abhandlung über die Tätigkeit des venezianischen Malers Jacobello del Fiore in Teramo. Seit 1892 publizierte er Artikel, die sich mit der Geschichte der Kirche S. Maria delle Grazie in Teramo befassen, und 1906 schrieb er einen Nachruf auf den abruzzesischen Maler Teofilo Patini. Neben Michetti liefert auch Della Monica ein interessantes Beispiel für die Gestaltung einer Künstlerwohnung. Er baute sich in Teramo ein Kastell im mittelalterlichen Stil.
Obwohl der am 5. Mai 1840 in Castel di Sangro geborene Maler Teofilo Patini zu Lebzeiten und noch einige Zeit nach seinem Tode höchsten Ruhm und Verehrung genoß, müßte die Beurteilung seines CEuvre erneut zur Diskussion gestellt werden. Im Gegensatz zu seinen abruzzesischen Kollegen des 19. Jh. ist Patini ein Maler, der sich nicht mit der schlichten Schilderung der Landschaft und der Menschen zufriedengibt. Mit naturalistischen Mitteln setzt er ein sozialpolitisches Programm ins Bild. Er wendet sich gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt, gegen ein Bürgertum, das gleichgültig dem Leiden der unteren Bevölkerungsschicht gegenübersteht, wobei der Schauplatz der von ihm vorgeführten Unterdrückung vornehmlich in den Abruzzen liegt. In seinen mehr als hundert erhaltenen Werken bemerkt man keinen Ausdruck der Freude, kein Antlitz zeigt ein Lächeln.
Patini war ein gebildeter Mann. Er kannte sich im Alterturn aus und beherrschte die lateinische und griechische Sprache. In jungen Jahren schrieb er sich an der Accademia di Belle Arti in Neapel ein und hatte Filippo Palizzi zum Lehrer. Das Studium in Neapel ergänzte er durch einen Aufenthalt in Rom. Dort setzte er sich mit den alten Meistern, besonders mit Malern des 17. Jh., auseinander. 1870 kehrte er nach Castel di Sangro zurück. Seit 1882 war er Leiter einer Kunstschule in L'Aquila. Er starb 1906 in Neapel und wurde auf dem Städtischen Friedhof in der Cappella degli Uomini IIIustri an der Seite von Domenico Morelli beigesetzt.
Das OEuvre Patinis um faßt drei Themenkreise. Er beginnt als Historienmaler, dann folgen Bilder, die das soziale Leben schildern, und am Ende seines Lebens verliert er sich auf akademische Weise in Gemälden religiösen Inhalts.
Gesellschaftskritische Gedanken beschäftigen Patini bereits im Alter von 23 Jahren, als er 1863 sein Bild »Die Revolte des Masaniello« in Neapel ausstellte. Masaniello (1622-1647) stammte aus Amalfi und lebte als armer Fischer in Neapel. Eine Erhöhung der Steuern brachte das Volk in Aufruhr, und unter Anführung Masaniellos kam es 1647 zu einer heldenmütigen Revolte der Neapolitaner. Wenige Tage später wurde er ermordet. Dieses Thema hat auch die Oper »Die Stumme von Portici« zum Inhalt, die der Franzose Auber 1828 komponierte. Auf einer Ausstellung 1868 in Florenz zeigte Patini ein anderes Historienbild, die Bürger von Calais, die von König Edward von England empfangen wurden. Patinis Verehrung für Salvatore Rosa äußerte sich in der Darstellung von dessen Atelier, die 1884 in Mailand zu sehen war. In den 80er Jahren behandelt Patini das Thema der Armut in den Abruzzen. Daneben entstanden auch reine Landschaftsdarstellungen. Noch in jugendlichen Jahren malt er seine Heimatstadt Castel di Sangro, und später schuf er ein Landschaftsbild mit den Quellen des Flusses Sangro.
1881 entstand Patinis Bild »L'Erede« (Der Erbe) (Tf. 309), das ihn in der Welt bekannt machte und heute in der Galleria d'Arte Modema in Rom ist. Die desolate Begebenheit spielt sich in einer Bauernhütte ab. Man gewahrt einen Toten, der der Ernährer seiner Familie war. Er liegt mit gespreizten Beinen auf einer billigen Decke auf dem Fußboden aus Ziegelplatten. Ihn bedeckt ein zerrissenes Tuch, das die Beine frei läßt; die zusammengefalteten Hände umschließen ein Holzkreuz. Das Haupt des Entschlafenen drückt sich tief in einen Strohsack. Rechts im Bilde liegt vor einer Bauerntruhe ein kleines nacktes Kind, und hinter ihm sitzt die Mutter schmerzgebeugt auf einem Holzstuhl. Das Leben in diesem Raum ist wie ausgelöscht, ohne Trost und ohne Hoffnung. In diesem Bild spiegelt sich die damalige Situation der Abruzzen. Die Existenzsorgen der Bevölkerung waren nie so groß wie nach der Einigung Italiens. In jener Zeit erfolgte die große Auswanderung nach Südamerika. Wehmütig und bekümmert stand Patini immer wieder an den abfahrenden Schiffen am Quai in Neapel, um seinen Landsleuten noch ein aufmunterndes Wort zukommen zu lassen. Das Bild »L'Erede«, das hart an der Grenze einer (S. 427) Genreszene steht, ist gen au durchdacht. Die karge Inneneinrichtung wurde, wie später in Bühnenausstattungen Michettis, gewissenhaft nach den Bräuchen des Landes gebildet. Dazu schleichen sich in die Szene Motive ein, die Patin i in den Bildern alter Meister studiert hat. Das strampelnde Kind ist toskanischen Bildern der Renaissance abgesehen. Ca ravaggio, aber vor allem Mantegna mit seinem toten Christus in der Mailänder Brera, gaben das Vorbild für den in starker Verkürzung dargestellten Körper des Verstorbenen ab. Damit wird der tote Abruzzese gedanklich mit dem toten Christus in Verbindung gebracht und der anekdotisch geschilderte Vorgang zum christlichen Mysterium erhoben.
Sofort nach seiner Fertigstellung wurde das Bild »L'Erede« mit großem Erfolg 1881 auf einer Ausstellung in Mailand vorgeführt. Zu jener Zeit baute man in Rom in der Via Nazionale an der Nationalgalerie. Die am 21.Januar 1883 stattfindende Einweihung war mit einer Ausstellung verbunden, ein kulturpolitisches Ereignis ersten Ranges. Königin Margherita nahm die Eröffnung vor und sah mit Anteilnahme und Bestürzung das Werk des Patini. Als das Bild 1884 in Turin gezeigt wurde, besaß es bereits einen solchen Liebhaberwert, daß es gestohlen wurde. Es tauchte später in London wieder auf, kam nach Italien zurück und wurde noch einmal 1887 in Venedig gezeigt.
Diejenigen Bilder Patinis, die in pedantischem Realismus eine soziale Anklage enthalten, gehen kaum über den Bereich des Banalen hinaus. So wird z. B. ein Hirte vorgeführt, dem in der wilden Bergwelt der Abruzzen ein Adler aus seiner armseligen Herde ein Schaf herausreißt. Berühmt wurde Patinis 1884 datiertes Bild »Vanga e latte« (Spaten und Milch), das noch im selben Jahr in Mailand ausgestellt wurde. Auf einer Hochebene sticht ein Bauer mit seinem Fuß kräftig den Spaten in die harte Erde. Neben ihm ist eine andere Schippe aufrecht im Boden zurückgelassen. Sie diente seiner Frau, die eben damit beschäftigt ist, ihr Kind zu säugen. Sitzend lehnt sie sich an den Sattel eines Esels, und an ihrer Seite ist ein schadhafter großer Regenschirm aufgespannt. Derartige Bilder verbreiten den Ruf der Abruzzen als ein armes Land mit kümmerlichen Lebensbedingungen. Großen Erfolg erzielte 1887 auf der Ausstellung in Venedig Patinis Bild »Bestie di soma« (Saumtiere). Der Titel ist in ironischer Absicht gewählt. Denn nicht Tiere, sondern drei Frauen tragen hier die Last, gebündeltes Reisig, das sie in der kargen alpinen Landschaft gesammelt haben, und unter dessen Gewicht sie erschöpft zusammengebrochen sind. Das 1888 gemalte Bild »Pulsazione e palpiti« (Pulsschlag und Herzklopfen) nimmt in oberflächlicher Weise das Thema des Bildes »Der Erbe« von 1 881 auf. Der sterbende Sohn liegt in einem zerrissenen Bettuch auf seiner Schlafstätte. Zu seiner Linken sitzt der Dorfarzt, der den Puls des Kranken fühlt. Der Doktor hat seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, um sein Mienenspiel zu verbergen, da er den auf ihn eindringenden Eltern mitteilen muß, daß der Puls ihres einzigen Sohnes aufgehört hat zu schlagen.
Patini prangert nicht nur das Elend in den Abruzzen an. In seinem Bild» Pancia e cuore« (Bauch und Herz) verspottet er die Mönche. Der im Vordergrund vor einem Tisch sitzende Alte ist ein Asket, abgemagert, mit gefalteten Händen in Meditation versunken. Sein dickbäuchiger Mitbruder mit feistem Gesicht schaut zufrieden und mokant auf den Enthaltsamen herab. Derartige Bilder waren in dieser Zeit beliebt. Man denke an die Genrebilder aus der Mönchswelt von Eduard Grützner, der sechs Jahre jünger ist als Patini.
In seiner letzten Schaffenszeit erschöpfte sich Patini in religiösen Bildern, und seine Malerei ist wie ausgelaugt. Nach Möglichkeit wird das Leiden in den Vordergrund gerückt, z.B. in den Gesichtszügen des Gekreuzigten in einem Gemälde, das Patini nach Vorbildern des 17. Jh. für die Basilica Valvense in Corfinio lieferte. Ein Bild des Carlo Borromeo im Kreis der Pestkranken malt er 1888 für den Dom von L' Aquila. Vier Altarbilder schuf er für die Kirche S. Maria dei Raccomandati in S. Demetrio ne'Vestini, darunter befinden sich der hl. Carlo Borromeo und die Darstellung des Fegefeuers. Im Dom von Pescina freskierte er den »Triumph des Sakraments«, und in der Chiesa della Concezione in L'Aquila malte er in den Kuppelpendentifs die Evangelisten. Das süßliche Bild des Antonius von Padua, der jung und versonnen vor Blumen steht und von einem Engel mit einem Blütenkranz gekrönt wird, sieht man, mit einem anderen Bild des Grabes Christi, in der Kirche Madonna della Pieta in Pratola Peligna. Ein anderes 1897 datiertes und signiertes Bild mit dem Antonius von Padua ist am ersten linken Altar in S. Maria del Suffragio in L' Aquila aufgestellt. Dort blickt der Heilige mit ausgebreiteten Armen zum Himmel auf, wo ihm das Jesuskind erscheint.
Die abruzzesischen Maler des 19. Jh., die sich aus Mangel an eigenen Institutionen in der Fremde bilden mußten, hielten meistens zeit ihres Lebens innige Beziehungen zu ihrem Geburtsland aufrecht, keiner jedoch in dem Maße wie Francesco Paolo Michetti. Er und die Abruzzen bilden eine unzertrennliche Einheit. Gleichzeitig war er in seiner Zeit der bekannteste Maler Italiens und genoß internationalen Ruf.
Francesco Paolo wurde als Sohn eines Musikmeisters am 2. Oktober 1851 in Tocco da Casauria geboren. Dort kamen auch seine Brüder Quintilio und Pio zur Welt. Quintilio (geb. 1849) wurde Maler und stand unter dem Einfluß seines jüngeren Bruders. Quintilios Bilder wurden auf Ausstellungen bekannt, 1871 in Neapel, 1888 in London und 1906 in Mailand. Der Bruder Pio ergriff den gleichen Beruf wie der früh verstorbene Vater. Um den Kindern eine gesicherte Existenz zu bieten, siedelte die Mutter Aurelia Terzini um 1866 in die nächstgelegene größere Stadt Chieti über, wo sie eine zweite Ehe einging. Zwei Jahre später, 1868, besuchte Francesco Paolo die Accademia di Belle Arti in Neapel und schloß sich besonders Filippo Palizzi an. Beide waren verwandte Naturen. Von Palizzi übernimmt er das nüchterne Erfassen der dinglichen Welt. Vom Meister wird er in der Tiermalerei unterwiesen, ein Themenkreis, der Michetti während seiner gesamten Schaffenszeit interessiert. Der Einfluß des Lehrers ist noch in Michettis Prozessionsbild »Corpus Domini« spürbar, das er 1877 in Neapel ausstellte, und mit dem er schlagartig in der Welt bekannt wurde. In Nea (S. 428) pel ist Michetti nie heimisch geworden. Immer wieder zog es ihn in die abruzzesischen Berge zurück. Bereits 1879 war sein Name so bekannt, daß er einen Ruf als Lehrer für Malerei nach Japan erhielt. Man hatte dort die europäische Malerei schätzen gelernt und zog italienische Maler zur Unterweisung ins Land. Vermutlich sollte Michetti die Nachfolge des Malers Antonio Fontanesi antreten, der im September 1878 nach einer zweijährigen Lehrtätigkeit an der Akademie in Tokio nach Turin zurückgekehrt war. Nach Bekanntwerden des japanischen Angebots wurde Michetti zu einer Audienz zu König Umberto I. gebeten. Während der Begegnung äußerte der Landesherr: »Michetti, Ihr dürft nicht nach Japan gehen, bleibt auf Eurem Posten in Italien.« Aber vielleicht hätte es dieser Aufforderung gar nicht bedurft, daß sich der Maler entschloß, seine Heimat nicht zu verlassen. Er zog sich wieder in die Welt der Abruzzen zurück und erwarb 1883 den Konvent von Francavilla auf den ersten Hügeln hinter der Stadt mit Aussicht auf das Adriatische Meer. 1888 heiratete der Meister die Nunziata Cirmignani aus Francavilla. Trauzeuge war Gabriele D'Annunzio. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor, Giorgio, Aureliuccia und Alessandro. Die Beschäftigung mit der Malerei trat für Michetti seit etwa 1900 in den Hintergrund, und er verfolgte andere Interessen. Er lebte noch fast dreißig Jahre in seinem Konvent, wo er am 5. März 1929 starb.
Michetti hat ein großes OEuvre hinterlassen. Die meisten Arbeiten sind detaillierte Vorstudien für seine großformatigen Bilder. Das Beobachten des einzelnen Dinges war ein Erbe von Filippo Palizzi. Doch war sein Lehrer 33 Jahre älter, und so ist es ganz natürlich, wenn sich die Welt dem Schüler auch nach anderen Seiten öffnete. Er lernte eine neue Malergeneration kennen, die er studierte, und deren Werke ihn beschäftigten. So faszinierte es ihn, seine Umwelt in Farben zu sehen. Schon in einem um 1874 entstandenen Ölbild, das er als den»Jüngling in der Sonne« betitelt, studiert er in der schräggestellten Jünglingsgestalt die Lichteffekte auf der Vorderseite und die Schatten auf der Rückansicht der Figur.
Michetti suchte seine Motive, die Landschaft und den Menschen, in den Abruzzen. In seinen Werken ging es ihm jedoch um mehr als um eine bloße Aneinanderreihung von Bildern. Er wollte, daß sie sich zu einem monumentalen Zyklus zusammenfügten, worin sich das vielfältige Gepräge der Landschaft und ihrer Menschen spiegelt. Leicht faßbare, lebensnahe Darstellungen werden gleichsam am Faden einer durchgehenden Handlung aneinandergereiht. Michetti schildert die Mysterien des Lebens, die Geburt und den Tod, die Hochzeit, die Instinkte der Menschen, das religiöse Empfinden im Gebet oder in der Prozession, er schildert das menschliche Tun im Garten und auf dem Feld sowie das dörfliche Treiben. Dabei beschreitet er nicht den Weg des Malers Patini, der die Umwelt im Licht der sozialen Brutalität und Ungerechtigkeit sah, sondern Michettis kleines Welttheater ist von Poesie durchtränkt. Das schlichte, manchmal tölpelhafte Verhalten seiner Figuren wird von der Sonne und von einem gütigen Gott gesegnet.
Zur Erkenntnis der abruzzesischen Welt gehörte nicht nur ein geputztes Auge. Um der Wahrhaftigkeit näher zu kommen, ging Michetti in detaillierten Studien den Sitten und Gebräuchen des Landes nach. Mit Leidenschaft suchte er altes Hausgerät als Vorlage für seine Bilder, und seine weiblichen Geschöpfe stellte er in landesüblichen Trachten dar. Er besuchte das ganze Land und studierte die Sitten und Festbräuche der Bevölkerung. Den Schlangenkult von Cocullo verarbeitete er in seinem großen Bild »Le serpi«. Für sein Hauptwerk .. La Figlia di Jorio« machte er sich zu den Höhlen der unwegsamen Maiella auf, wo sich das Schicksal der Jungfrau zugetragen hatte. Michetti beschäftigt sich mit mittelalterlichen Kunstdenkmälern zu einer Zeit, als diese noch kaum in das Blickfeld der Kunsthistoriker geraten waren. Der Konvent von S. Francesco in Francavilla erscheint im Hintergrund mancher Landschaftsbilder. Die Prozession im Gemälde »Corpus Domini« bewegt sich auf der großen Freitreppe des Hospitals der SS. Annunziata in Sulmona, oder im Bild »Palmsonntag« durchschreiten die Kirchgänger das Portal der Hauptfassade von S. Giovanni in Venere. Immer wieder auf der Suche nach neuen Schönheiten befaßt sich Michetti als Küstenbewohner mit der adriatischen Meereslandschaft. Dort beobachtet er auf dem Wasser Boote mit farbigen Segeln, er schildert die Badenden und den Fang von Seemuscheln im seichten Gewässer.
Es will scheinen, als habe Michetti all seine Detailstudien in Hinsicht auf die großen Bilder ausgeführt, in deren Riesenformat er bereits die Monumentalität seines Bildgegenstandes, die Abruzzen, zum Ausdruck bringen möchte. Aus seinem Schaffen ragen fünf Werke heraus, das 2,20 x 1,00 m große Gemälde »Corpus Domini« von 1877, ehemals im Besitz des deutschen Kaisers, »11 Voto« (Das Gelübde) von 1883 in Rom in der Galleria Nazionale D'Arte Moderna mit den Maßen 7,00 x 2,50 m »La Figlia di Jorio« von 1895 in Pescara, 5,50 x 2,60 m groß, sowie »Gli storpi« (Die Krüppel) und das Bild »Le serpi« (Die Schlangen), die beide 9,70 x 3,80 m messen. Die beiden letztgenannten Werke befinden sich im Rathaus von Francavilla. Michetti geht es um die Menschen, die auf diesen Bildern agieren. Er will ihre Gestalt genau sichtbar werden lassen und vermeidet daher Verkürzungen und Überschneidungen und reiht die Figuren in der vorderen Bildebene friesartig nebeneinander auf. Diese Art der Figurenanordnung wiederholt sich auch in kleineren Bildformaten, z.B. im 2,40 x 0,70 m großen »Begräbnis« von 1894 in der Sammlung Ricci-Oddi in Piacenza oder in der 0,70 x 0,43 m großen »Kinderprozession« von 1893 in der Sammlung Falck in Mailand.
Michettis Ruhm verbreitete sich auf den großen Kunstausstellungen. Die Abruzzen wurden durch seine Bilder weit bekannt, und das Urteil, das man sich über das Bergland bildete, war weitgehend durch Michettis Bildinhalte geprägt. Nach vierjährigem Studium in Neapel stellt er sich bereits 1872 mit zwei Werken in Paris vor. Sein Wunsch, gerade in dieser Metropole der europäischen Malerei auf Ausstellungen vertreten zu sein, erfüllte sich in den Jahren 1875, 1880 und 1890. Im letzteren Jahr zeigte er dort die (S. 429) Riesenbilder »Gli storpi« und »Le serpi«, die aber wenig Anklang fan,len. Damals hatte er seinen künstlerischen Höhepunkt bereits überschritten, was er auch selbst empfand. In Neapel stellte Michetti nur einmal aus. 1877 zeigte er dort sein »Corpus Domini«, das den Ruhm des Malers begründete.
Nach der Einigung Italiens wurden die großen Städte der Treffpunkt für Künstler aus allen Teilen des Landes. Der geschickte Michetti hatte ein genaues Gespür für Orte, an denen er größte Wirkung erzielen konnte, und wo sich seine Erzeugnisse am besten verkaufen ließen. Sein 1883 gemaltes Bild »11 Voto« schickte er noch im selben Jahr nach Rom zur Ausstellung in die kurz zuvor eröffnete Nationalgalerie für moderne Kunst. 1893 beschickte er die nationale Kunstausstellung in Rom mit acht Werken, und 1902 zeigte er dort noch einmal einige Bilder. 1880 stellte er in Florenz, Turin und Mailand -hier waren es vierzig Bilder -zum ersten und einzigen Mal aus. Die von Michetti bevorzugte Stadt in Italien war Venedig. Dort zeigte er 1887 zwölf Werke. Sein bekanntestes Bild »La Figlia di Jorio« war 1 895 erstmals auf einer Ausstellung in der Lagunenstadt zu sehen. 1899 stellte er dort 200 Bilder aus, die größte Anzahl von Werken, die jemals öffentlich von ihm zu sehen war. Weiterhin zeigte er seine Bilder in Venedig in den Jahren 1901, 1903, 1909 und schließlich 1910, seine letzte Ausstellung zu seinen Lebzeiten.
Michetti und die Abruzzen wurden auch im Ausland bekannt. Wir erwähnten bereits die Präsenz seiner Bilder in Paris. Werke von ihm erschienen auf Ausstellungen 1888 in Wien, 1892 und 1894 in München, 1894 in Antwerpen, 1904 in Düsseldorf und im selben Jahr auf der italienischen Ausstellung in London. Das größte Interesse an Michetti zeigte die Stadt Berlin, wo er bereits in den Jahren 1891, 1894 und 1895 seine Bilder vorstellte. 1899 waren auf der großen Berliner Kunstausstellung von Michetti hundert Bilder zu sehen, und viele davon soll für insgesamt 300000 Lire Ernst Seeger in Berlin gekauft haben. Dort wurden u. a gezeigt das »Corpus Domini«, das der deutsche Kaiser besaß, und »La Figlia di Jorio«, ein Bild, das die Nationalgalerie in Berlin erwarb, und das die 1927 gegründete Provinz Pescara nach langwierigen Verhandlungen 1932 zurückkaufen konnte; das Gemälde ist heute im Palazzo del Governo in Pescara zu sehen.
Wie sehr Michetti im Licht der Öffentlichkeit stand, verdeutlichen Aufträge, die er als Porträtmaler erhielt. Er malte die Prinzessin Odescalchi, König Umberto I. von Italien und dessen Gemahlin Margherita. Er potträtierte den italienischen Staatsmann Francesco Crispi (1819-1901), der ein Freund und Verehrer Bismarcks war.
1884 zog sich Michetti aus dieser großen Welt zurück und begründete seinen Musenhof im Konvent von Francavilla. Die Möblierung dieser behaglichen Behausung hatte er bis in Kleinigkeiten selbst ausgedacht. Dort arbeitete er den ganzen Tag, eine südländische, grazile und agile Gestalt (Tf. 310), nicht geschaffen, auf einem Stuhl zu sitzen. Er betrieb alles stehend, das Zeichnen und Malen, das Lesen und Schreiben. Hier in Francavilla lebte er in Harmonie mit seiner Familie, aufgesucht von der einfachen Bevölkerung wie von den Vettretern der großen Welt. 1906 besuchte ihn der italienische König Viktor Emanuel III. In seinem Konvent verkehrte Michetti mit Künstlern aller Art. Dazu gehörte der 1852 in Chieti geborene Costantino Barbella, der die Akademie in Neapel besucht hatte. Neben frischen Landschaftsdarstellungen der Abruzzen schuf er auch Terrakotten und kleine Bronzen. Zu den Freunden Barbellas zählte der Komponist Mascagni, den er porträtierte, der Kardinal Rampolla und Papst Leo XIII. Barbella starb 1925 in Rom. Michetti hat diesen Freund öfter in Bildnissen festgehalten. Im familiären Kreis von Francavilla stellte sich der römische Maler Giulio Aristide Sartorio (1860-1932) ein, ein Freund von D'Annunzio. Michetti und Sartorio besuchten 1889 gemeinsam Paris. Gast bei Michetti war Guido Boggiani, 1861 in Omegna in der Provinz Novara geboren. Er lebte in Francavilla und malte mit Vorliebe die Olivenbäume hinter dem Konvent Michettis. Boggiano wanderte später nach Südamerika aus und starb 1902 in Paraguay. Am Musenhof von Francavilla weilte häufig der an anderer Stelle erwähnte Musiker Paolo Tosti. Berühmt wurde der Freundeskreis durch den Dichter Gabriele D'Annunzio. Michetti stellte ihm mehrere Arbeitszimmer in seinem Konvent zur Verfügung, und in der dortigen Muße entstanden viele Werke des Dichters, z.B. 1888 der dem Michetti gewidmete Roman »11 piacere« und 1897 sein Werk »Citta morta«. D'Annunzio brachte Michetti die Verehrung eines Sohnes entgegen. Wie sehr sich der Poet dem Maler verpflichtet fühlte, kommt in der Prosaschrift »Trionfo della Morte« von I 894 zum Ausdruck. Die Freundschaft wurde erwidert, und ein Zeichen für die Anteilnahme des Malers am Werk seines Dichterfreundes ist die Titelvignette, die er für das »Intermezzo« von D'Annunzio entwarf.
Michetti malte das Prozessionsbild »Corpus Domini« im Alter von 26 Jahren, als D'Annunzio vierzehn Lenze zählte. 1888 erinnert sich der Dichter der Eindrücke, die dieses Bild in ihm erweckten: »Das Corpus Domini war für uns alle, die wir unruhige Sucher nach einer neuen Kunst waren, das gemalte Wort Gottes; es war in unserer Kirche das Bild der Bilder.«
Nach dem christlichen Mysterium des »Corpus Domini« wurde in dem großformatigen Gemälde »La Figlia di Jorio« eine menschliche Tragödie ins Bild umgesetzt. Das junge Mädchen, das sich in einer Höhle der Maiella mit elementarer Leidenschaft der Liebe hingegeben hat, eilt auf einem hohen Bergplateau raschen Schrittes in heroischer Haltung an fünf Männern vorbei, die sie, mit Ausnahme eines weisen Alten, verspotten und auslachen. Im Hintergrund sind die stummen Zeugen des Geschehnisses die hohen Schnee berge der Maiella, wo nach Meinung der Bewohner die allwissende gütige Maia beheimatet ist. Das Thema des 1895 entstandenen Gemäldes, mit dem Michetti sich mehr als zehn Jahre lang beschäftigte, und das er ursprünglich in einem großen Bilderzyklus behandeln wollte, mischt die Legende mit einer wirklichen Begebenheit, deren Zuschauer der Ma (S. 430) ler und D'Annunzio waren. Letzterer berichtet davon und gestaltete den Stoff in einer ebenfalls »La Figlia di Jorio« genannten Tragödie, die ihre Erstaufführung am 2. und 3. März 1904 im Teatro Lirico in Mailand erfuhr. Zur Darstellertruppe gehörten die besten Schauspielerinnen Italiens, Eleonora Duse, Giacinta Pezzana und Irma Gramatica. Die Bühnenausstattung besorgte Antonio Rovescalli, die er nach noch erhaltenen Entwürfen Michettis ausführte.
Ohne daß es je zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen gekommen wäre, verkörpern Michetti und D'Annunzio fast gegensätzliche Naturen. Der Maler blieb bescheiden und mit seiner abruzzesischen Heimat verwachsen. Er idealisierte seine Menschen nicht und gab nur das wieder, was an ihnen zu sehen war. D'Annunzio war nervöser und gereizter, mit einer Welt vertraut, die über die Abruzzen hinausreicht, und er war überheblich in der Beurteilung der dekadenten Gesellschaft. Seine Figuren in »La Figlia di Jorio« sind keine einfachen Abruzzesen wie in Michettis Bild; entweder stilisiert D'Annunzio sie zu archaischen Typen, oder aber er steigert sie zu Übermenschen im Sinne Nietzsches. Im Gegensatz dazu ist ein Weiterdenken über die Erscheinungsform hinaus in den Werken des Malers nie zu spüren. Er hielt sich innerhalb der Grenzen des von ihm Gesehenen, der Poet dagegen fühlte sich als Prophet eines neuen Italiens und betrachtete sein Land als die auserwählte Nation.
In ihrem Aufspüren abruzzesischer Bräuche fanden D'Annunzio und Michetti einen Berater in dem älteren Gelehrten Antonio De Nino, der 1833 in Pratola Peligna geboren wurde und 1902 in Sulmona starb. Dieser gebildete linguist, Historiker, Archäologe und berühmte Folklorist erzählte ihnen von den Geheimnissen der Tochter des Jorio in der Grotta del Cavallone in der Maiella. Aus diesen Mitteilungen formte sich Michettis Bild, das ein Abbild des abruzzesischen Menschen ist, während in D'Annunzios Werk eine magische, heroische Welt beschworen wird, in der das abruzzesische Ambiente nur ein Absprung ist, um in ganz andere gedankliche Bezirke vorzustoßen.
Die Betrachtung von Bildern Michettis läßt beim ersten Blick auf eine Spontaneität der Entstehung schließen. Das Gegenteil ist der Fall. Um die Darstellung gewisser Gesichtszüge bemüht er sich durch Jahrzehnte. In »La Figlia di Jorio« z.B. sieht man Köpfe und Gesten, mit deren Studium er bereits fünfzehn Jahre früher begonnen hatte (Tf. 311). In seinen Skizzen und Entwürfen bediente er sich verschiedener Techniken, der Federzeichnung, des Aquarells, der Gouache, und besondere Leistungen gelangen ihm als Pastellmaler. Außerdem beschäftigte sich Michetti schon in frühen Jahren mit der Keramik. Eine keramisches Werk war 1878 auf der Weltausstellung in Paris zu sehen. In dieser Technik verfertigte er Köpfe singender Mädchen und 1875 die Ganzfigur einer »Mutter«. Auch Vorstudien für die großformatigen Bilder »La Figlia di Jorio« und »Le Serpi« führte er in Ton aus.
Die im Vordergrund seiner Bemühungen stehenden technischen Probleme entfremdeten Michetti seiner Malerei. Er entdeckte für sich die Welt der Mechanik und der Chemie. Vielleicht als erster in den Abruzzen besaß er ein Automobil und wirbelte damit im wahren Sinn des Wortes viel Staub auf den Straßen auf, und man schrieb ihm und seinem Vehikel magische Kräfte zu. Tommaso Sillani, Freund und Biograph Michettis, berichtet ausführlich von diesem Fahrzeug. Natürlich gab es keine Reparaturwerkstätten, und so führte der Maler die zahlreichen Ausbesserungen mit seinem ältesten Sohn aus. Man beseitigte nicht nur die Schäden sondern versuchte sich auch mit Verbesserungen, man erfand geeignetere Bremsmittel und perfektionierte auch den Motor. Bei Fahrten ins steile Gebirge hatte das Auto bei den Steigungen ein zu großes Eigengewicht. Darum entfernte man die Karosserie an den Seiten, nahm die Hintersitze heraus und band leichte Holzstühle mit den Rücklehnen an den Vordersitzen fest, und so ging es aus dem Konvent heraus, Herden und Esel scheuchend, zu viert hinauf in die hohe Maiella.
Michettis Staffelei in seinem Atelier wurde nach seinen eigenen Angaben hergestellt. Er kam auf den Gedanken, daß es nützlich sei, am oberen Rand des Gestells einen Wasserbehälter anzubringen. Er berechnete genau die Feuchtigkeitsmenge, die für die zu bemalende Leinwand vonnöten war. Sein Arbeitszimmer war mit einem Krimskrams selbst erfundener und gebastelter Gegenstände angefüllt.
Beim Bestreben der Maler des 19. Jh., Dinge und Menschen so zu erfassen wie sie sich dem Auge darstellen, lag es nahe, daß die Künstler die Photographie beschäftigte. Wie es scheint, interessierten sich anfänglich die italienischen Künstler weniger für dieses Hilfsmittel als ihre Kollegen in anderen Ländern. Delacroix arbeitete nach photographischen Vorlagen, ebenso z. B. Degas, Monet, Gauguin, Cezanne, Henri Rousseau; ausführlichen Gebrauch davon machte auch der Deutsche Lenbach. Jedoch blieb der Nutzen der Photographie im Lauf der Zeit auch italienischen Malern nicht unbekannt. So lobte z. B. Domenico Morelli den Photoapparat. Ob scherzhaft oder im Ernst, äußerte er 1879, daß ihm die Photographien seiner Bilder besser gefielen als die Originale. Der innere Bildgedanke komme auf diese Weise stärker zum Ausdruck. Das gemalte Licht und die Farben würden vom inneren Wert des Bildes ablenken. Ein Malerphorograph war Federico Faruffini (1831 bis 1869). Da er mit der Malerei allein seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten konnte, wurde er Photograph. Sein zerrüttetes Leben endete in Geisteskrankheit. Er vergiftete sich in Perugia.
Am intensivsten unter den Italienern befaßte sich seit etwa 1890 Michetti mit der Lichtbildkunst. Seine Aufnahmen sind zum großen Teil erhalten, etwa 6000 Positive und ebenso viele Negative sowie eine unübersehbare Menge von Diapositiven, eine unglaubliche Dokumentation für die Abruzzen. Viele Aufnahmen verwandte er für seine Malerei. Er beschriftete seine Phoros eigenhändig und ordnete sie nach Motiven. Um die Bewegungen seiner abruzzesischen Modelle, Hirten, Bauern und Mädchen, genau festzuhalten, machte er von einer Person bis zu zehn Aufnahmen. Es gibt Beispiele, wie der Künstler zunächst einen Menschen im Lichtbild festhält und dann durch zeichnerische Eingriffe (S. 431) versucht, die Realität der Aufnahme zu steigern, worauf er schließlich das Ergebnis von neuem photographiert. Die großen Kompositionen Michettis stützen sich auf Serien von Photo graphien, die er für seine Zwecke zusammensetzte. Er ging dabei so weit, daß er die gezeichnete Vorstudie mit derselben Numerierung versah, die die entsprechende Photographie in seinem systematischen Katalog hatte. Anfänglich verwandte er die Photographien meistens für seine Vorstudien, später wird das Lichtbild autonom und zum Kunstwerk für sich. Seine Söhne Giorgio und Alessandro führte er in die Geheimnisse der Photographie ein. Alessandro gab er die Aufgabe, einen optischen Apparat zu konstruieren, durch den man einen Gegenstand oder Menschen von vorne, von den Seiten und von hinten sehen könne. Dadurch sollte eine Simultan ansicht entstehen, und es ist verblüffend, wie hier in der Mechanik ein Gedanke nach Verwirklichung drängt, der ein bildnerisches Anliegen des sich in jenen Jahren enrwickelnden Kubismus ist.
Von technischen Fragen fasziniert, plante Michetti in Francavilla den Bau einer Fabrik zur Herstellung künstlerischer Keramik, die ihn schon immer beschäftigt hatte. Er ging eine Geschäftsverbindung mit seinem Freund Fedele Cappelletti ein, der 1847 geboren wurde und aus einer Keramikerfamilie aus Castelli bei Teramo stammt. Diese Zusammenarbeit war nur von kurzer Dauer. Michetti ging es ausschließlich um Fragen der künstlerischen Keramik, während Cappelletti darauf drang, allein Gebrauchskeramik auf der Markt zu bringen. Nach dem entzweigegangenen Bündnis zog sich Cappelletti nach Rapino bei Guardiagrele zurück.
Im Gegensatz zu vorausgegangenen Epochen gewanner nichtabruzzesische Künstler im 19. Jh. keine Bedeutung mehr für das Land. Dieses gilt z.B. für eine Gruppe däni scher Maler, die sich am Ende des Jahrhunderts im Lirita niederließ und in Civita d'Antino eine Enklave bildete. Dazl gehörten namhafte Talente wie Niels Christian Skovgaar( (1858-1938) und Christian Zahrtmann (1843-1917). Letz terer hielt sich seit 1875 in Italien auf und kam später nad Civita d'Antino. Die dortigen Stadtväter ernannten ihn ZUIl Ehrenbürger und gaben einem Platz seinen Namen. In Civiti d'Antino lebte auch der Maler, Graphiker und Bildhauel Peter Severin Kroyer (geb. 1851 in Stavanger in Norwegen gest. 1909 in Skagen in Dänemark). Er kam erstmals 188e nach Italien. Das Museum in Odense in Dänemark zeigt seil Bild ),Landarbeiter in den Abruzzen«.
Die Buchmalerei
Die seit der zweiten Hälfte des 13. Jh. entstehenden abruzzesischen Miniaturen erreichen nicht die Bedeutung wie die Werke der Freskomalerei in der entsprechenden Zeit. Mit Ausnahme der Zentren der Buchmalerei in Guardiagrele und in Teramo hat sich im 14. Jh. kaum ein Lokalstil entwickelt. Die Einflüsse von außerhalb waren stärker als die eigenen künstlerischen Impulse. Wie die Malerei, untersteht auch die Illuminierung Einflüssen, die aus dem toskanischen Gebiet nach Neapel einströmten. Daneben wirkt sich in vielen Illustrationen von Schriften juristischen Inhalts die Schule von Bologna aus, die ihren Siegeszug über ganz Europa angetreten hatte.
Monumentalmalerei und Miniaturen gehen in ihrer Entwicklung öfter getrennte Wege. War die Mitte und die zweite Hälfte des 13. Jh. ein Höhepunkt abruzzesischer Freskomalerei, so sind Miniaturen in dieser Zeit nur sporadisch anzutreffen und völlig von den Nachbarlandschaften abhängig. Ein Beispiel dafür bietet die illuminierte Bibel aus der zweiten Jahrhunderthälfte im Konvent S. Giovanni bei Capestrano. Die eleganten Initialen und die dekorative Rahmung des zweispaltigen Textes mit Büstenbildern und Ornamenten zeigen bolognesischen Einfluß. Aus einer Eintragung geht hervor, daß die Bibel im Besitz des Johannes von Capestrano war, der die Handschrift mit eigenen Anmerkungen versah.
In der Biblioteca Capitolare in Atri zeigt man ein Meßbuch der Franziskaner, das der 1556 zerstörten Kirche S. Gregorio gehörte, die sich in Muralto, einem Stadtteil von Atri, befunden hatte. In der am Ende des 13. Jh. entstandenen Handschrift waren verschiedene abruzzesische Künstler am Werk, denen byzantinische Miniaturen des Duecento als Vorlagen dienten. Ornamente und Drolerien weisen wieder auf Bologna hin. Unter den vierzig Miniaturen sind die Darstellungen des Franz von Assisi und des Petrus im Gefängnis erwähnenswert. Die Evangelisten Markus, Lukas und Johannes zeigen die Köpfe der ihnen entsprechenden Tiersymbole. Unter den Illuminatoren nennt sich ein Merulo, vielleicht identisch mit Merulo di Bucchianico, der im 14. Jh. Aufträge für die Kathedrale in Sulmona erhielt.
Die Schatzkammer des Domes von Atri bewahrt vom Ende des 13. Jh. ein Reliquienkreuz aus Bergkristall, in das 16 Miniaturen eingelassen sind. Es ist einem Kristallkreuz mit ähnlichen Bildern in der Kirche S. Nicola in Pisa verwandt, und Toesca schreibt beide Kreuze einer von Venedig beeinflußten Werkstatt zu.
Der Höhepunkt abruzzesischer Buchmalerei liegt im 14. Jahrhundert. Natürlich hält der Import von Handschriften an, aber daneben entstehen im Lande neue Kunstzentren, auch ist eine Vielzahl einheimischer Künstler überliefert. Die ersten datierten illuminierten Handschriften der Schreibschule von Sulmona stammen aus dem Jahr 1309, die frühesten aus der Schule von Atri sind 1321 datiert und die aus Guardiagrele 1333. Die Werkstatt von Teramo wird seit der Jahrhundertmitte wirksam.
(S. 432)In der Bischofskirche von Corfinio hat sich ein Meßbuch erhalten, das 1309 unter der Amtszeit des Bischofs Landolf von Valva erworben wurde. Den Ankauf ermöglichten mehrere Spender, die im Manuskript namentlich mit ihren gestifteten Beträgen aufgeführt werden. Das Meßbuch schmückt nur eine Miniatur in der Majuskel R(esurrexit) mit der Darstellung der Auferstehung Christi. Der Maler war sicherlich Abruzzese, dem französisierende über Neapel vermittelte Vorbilder nicht fremd waren.
Durch Diebstähle und Verkauf illuminierter Handschriften hat der Dorn von Sulmona starke Einbußen erlitten. Einen schwachen Ersatz bilden Notariatsakten des Domarchivs, die Namen von Buchmalern überliefern. So war z.B. Meo d'Aristotele für den Dorn tätig. In einern Vertrag mit dem Domkapitel verpflichtet sich 1321 ein Magister Berardo von Ofena zur Anfertigung eines Antiphonars. Ausführlicher hören wir im selben Jahr von einern Abkommen mit dem Magister Merulo von Bucchianico, der Zahlungen für ein Antiphonar erhält. Er übernimmt die Arbeit unter dem Vorbehalt, daß er sie in seinem Haus in seinem Heimatott Bucchianico bei Chieti ausführen kann.
Von den einstmals reichen Miniaturbeständen des Dornes von Sulmona ist aus dem Trecento allein ein Meßbuch aus dem Anfang des Jahrhunderts übriggeblieben. Die Miniaturen mit Reminiszenzen an byzantinische und bolognesische Malerei sind in frischen Farben ausgeführt. Das Pergamentblatt 158 v zeigt oben die byzantinisierende Madonna auf einern Thronkissen mit ihrem Kind vor einern Vorhang, der von zwei Engeln gehalten wird, und unten unter einer Gewölbearchitektur das Abendmahl mit den dichtgedrängten Jüngern und Christus an der Schmalseite des Tisches. Auf der folgenden Seite ist auf Goldgrund die Kreuzigung Christi dargestellt und darunter eine hl. Messe mit Assistenzfiguren. Aus dem 14. Jh. ist in der Bibliothek des Domkapitels von Atri eine Reihe illuminierter Handschriften erhalten. Im Gegensatz zu anderen abruzzesischen Skriptorien sind hier keine einheimischen Kräfte mit Namen bekanntgeworden. Der Bestand verdeutlicht, wie schwer es diesem Ort fiel, eine bodenständige Kunstübung zu entwickeln. Entweder importierte man illuminierte Handschriften aus Bologna, oder heimische Kräfte waren damit beschäftigt, Miniaturen nach bolognesischen Modellen auszuführen.
Schriften verschiedener Philosophen vereinigt der Kodex A8, nur erwähnenswert wegen seiner Datierung 1321. In vereinfachender Weise werden allgemeingültige Schmuckformen des Trecento wiederholt. Die in der ersten Hälfte des 14. Jh. in Bologna entstandene Handschrift A18 enthält die Clementinen, eine kanonische Gesetzessammlung, die Papst Clemens V. in Auftrag gegeben hat. Das Titelblatt zeigt den thronenden Papst Clemens V. mit einem Buch. Ihn umstehen Geistliche und Laien, und zu seinen Füßen knien zwei Mönche. Gleichfalls bolognesisch und in die erste Hälfte des Trecento zu datieren ist das reich bebilderte Manuskript AI 2, das die Dekrete des Gratian enthält. Zwei Künstler waren an der Illuminierung beteiligt. Von der Hand des ersten stammen 19 Miniaturen, die sich zwischen den Blättern 1199 recto und 282. recto bis 415 recto befinden. Dem zweiten standen für 12. Miniaturen die Seiten 199 verso bis 281 verso zur Verfügung.
Um die Jahrhundertmitte entstanden die Miniaturen in zwei Breviarien, die Kodices A21 und A4; die Bilder sind das Werk zweier abruzzesischer Buchmaler, die nach bolognesischen Modellen arbeiteten. Wiederum aus Bologna kommt die aus der zweiten Hälfte des Trecento stammende Handschrift A 17, die das sechste Buch der Dekrete des Papstes Bonifaz VIII. enthält, der auf der Titelseite thronend sein Werk einern knienden Mönch übergibt.
Im Gegensatz zu Atri bildete sich in Guardiagrele im 14. Jh. eine lokale Schule. Handelte es sich in Atri vornehmlich um juristische Texte, so miniierte man in Guardiagrele vorzugsweise liturgische Gesänge, die mit Notenschrift versehen sind. Es ist auszugehen von sieben illuminierten Choralbüchern in der Kirche S. Maria Maggiore in Guardiagrele, von denen das erste 1333 datiert ist. Auf der Titelseite erscheint der segnende Christus, zu seinen Füßen sieht man die Stifter der Handschrift. Darunter befindet sich das Datum 1333 und eine später gelöschte Künstlersignatur. Alle sieben Handschriften stammen aus dem selben Skriptorium, während sich in die Illuminierung verschiedene Künstler teilen. Der Fortschrittlichste ist der Meister des siebenten Buches, der die Initialen mit Ornamenten, Heiligen und neutestamentlichen Szenen ausschmückte. In seinen Darstellungen sind nördliche Einflüsse zu erkennen, die über die neapolitanische Buchmalerei in die Abruzzen eindrangen.
Aus der Schreibschule von Guardiagrele ging der Buchmaler Guglielmo di Maestro Berardo di Gessopalena hervor, der 1337 ein mit Noten versehenes Psalterium für die Peterskirche in Rom herstellte. In dieser Handschrift, die heute mit der Signatur A im Archivio Capitolare di S. Pietro in Rom aufbewahrt wird, nennt sich der Maler: »Ego presbiter Guilielmus Magistri Berardi de lu Gipso [Gessopalena] scripsi et illuminavi hoc opus pro sacrasanta basilica Principis Apostolorum de Urbe anno Domini 1337 V. ind.«. Die Verbindung des Guglielmo zur Schule von Guardiagrele ist offensichtlich, doch ist er begabter als die Meister der Choralbücher. Die erste Miniatur des Psalteriums mit dem segnenden Christus wiederholt die Komposition der ersten Seite des genannten, 1333 entstandenen Choral buchs von Guardiagrele. Vergleichbar mit dieser Handschrift ist auch z.B. fol. 282 mit dem Einzug Christi in Jerusalem. Die dekorativen Elemente des Guglielmo sind rückschrittlich, er verwendet noch das altmodische Flechtband, und seine Hintergründe sind teppich artig getupft, Schmuckformen, die für das Skriptorium in Guardiagrele charakteristisch sind. Aus dieser Schule stammen weiterhin zwei Choralbücher in S. Leucio in Atessa, von denen das eine nur mit ornamentierten Initialen ausgestattet ist, während in den Initialen des anderen Buches biblische Szenen, wie die Geburt, die Himmelfahrt usw. erscheinen. Den Einfluß der Buchmalerei von Guardiagrele zeigen vier künstlerisch nicht bedeutende Psalterien, die heute in der Biblioteca Provinciale De Meis in Chieti zu sehen sind. Wahrscheinlich gehörten sie ursprüng (S. 433) lich dem Kloster S. Clemente a Casauria; bis etwa 1930 befanden sie sich in der Bibliothek des Istituto Tecnico Agrario in Alanno. Den Meistern von Guardiagrele steht noch ein Antiphonar nahe, das um die Jahrhundertmitte für die Kirche S. Cesidio in Trasacco geschrieben wurde, und an dessen Illuminierung verschiedene abruzzesische Buchmaler beteiligt waren.
Die Kathedrale von Chieti besitzt ein »Missale Plenum« mit prachtvollen Miniaturen vom Ende des 14. Jahrhunderts. Zu jener Zeit schenkte ein Mitglied der Familie Orsini di Palearia diese Handschrift an die Kirche S. Francesco in Guardiagrele. Die aufwendige Ausstattung verdeutlichen kunstvoll gemalte Randleisten, die den Schriftblock an allen vier Seiten rahmen. Mindestens zwei Maler waren an der Illuminierung beteiligt; die Miniaturen des einen sind etwas plump und unbeholfen, die Grenzen der Tradition nicht überschreitend, wohingegen sich der andere in seiner Gestaltungsweise reifer zeigt. Aus seinen Szenen spricht eine Freude am Erzählen, seine Formen sind zeichnerisch gen au durchgearbeitet und seine Figuren von gotischer Innigkeit beseelt. Mit diesem Werk haben sich in neuerer Zeit Enzo Carli und Umberto Chierici beschäftigt. Wohl mit Recht erkennt Carli in den Miniaturen neapolitanische Einflüsse und sieht Gemeinsamkeiten mit den Fresken in S. Silvestro in L' Aquila sowie mit dem Fresko eines segnenden Christus, das von einer Wand im Oratorium S. Alessandro in Corfinio abgelöst wurde. Auch Chierici konstatiert eine Verwandtschaft zwischen dem Missale Plenum und den Fresken in S. Silvestro sowie dem Triptychon von Beffi, das man schon immer mit den Malereien in S. Silvestro in Beziehung gesetzt hat. Natürlich ist auszuschließen, daß der Miniator des Missale Plenum in Chieti gleichzeitig der Autor der Fresken in L' Aquila gewesen ist. Es zeigt sich hier nur ein gemeinsamer Stil, dessen Wurzeln im neapolitanischen Bereich zu suchen sind.
Ein Zentrum der Buchmalerei befand sich im 14. Jh in Teramo. Die dort entstandenen Handschriften sind teils verloren, teils in verschiedenen Bibliotheken Italiens verstreut, während in Teramo selbst wenig zu finden ist. Um den stilistischen Zusammenhang dieser Werke besser zu erkennen, wäre es wünschenswert, sie auf einer wissenschaftlichen Ausstellung vereint zu sehen. Wie es scheint, ist der stilistische Ausgangspunkt, wie in Guardiagrele, die eklektische Buchmalerei Neapels.
Die erste datierte Miniatur des 14. Jh. in Teramo stammt aus dem Jahre 1309. Sie gehört zu einem »Liber censualis« im Archivio Capitolare, ein Buch, worin die Einkünfte des Domes und die für ihn geleisteten Arbeiten eingetragen wurden. An die Formgebung der darin enthaltenen Miniaturen knüpfen später Berardo da Teramo und Muzio di Cambio an. Berardo ist durch ein Antiphonar bekanntgeworden, das er wohl noch in der ersten Jahrhunderthälfte für das Kloster S. Benedetto a Galbiano bei Giulianova illuminierte. Aus der Handschrift wurden fünf Miniaturen herausgeschnitten, die in die Sammlung Hoepli und später in die Sammlung Cini in Venedig gelangten. Ober der Hauptminiatur, die das Jüngste Gericht darstellt, ist der Name des Künstlers zu lesen »Dopnus Berardus de Teramo fecit hoc opus«.
Zu den angesehensten abtuzzesischen Buchmalern des 14. Jh. gehört Muzio di Francesco di Cambio da Teramo. Er illuminierte für den Franziskanerkonvent in S. Valentino in Abruzzo Citeriore eine Handschrift mit dem Alten und Neuen Testament, die 1887 Papst Leo XIII. anläßlich seines 50jährigen Priesterjubiläums als Geschenk überreicht wurde. Die Bibel bewahrt heute die Biblioteca Vaticana unter der Signatur Cod. Vat. lat. 10220. Die Anordnung der Bilder ist für die abruzzesische Buchmalerei des 14. Jh. ungewöhnlich. An den Anfang eines jeden Buches stellt Muzio eine Miniatur, die in keinen Buchstaben eingebunden ist. Direkt darunter sitzt eine verzierte Initiale, die entweder mit Ornamenten ausgeschmückt ist oder häufig Dreiviertelfiguren in Seitenansicht zeigt. Der Miniator, der sich auf der ersten Seite »Mutius Franeisei Cambii de Teramo feeit« nennt, besitzt eine freie, oft gewissermaßen sorglose Malweise, die durch eine bewegte Strichelung charakterisiert ist. Er ist einer der eigenwilligsten Illustratoren des 14. Jh. in Italien. Die Miniatur mit den apokalyptischen Tieren zeigt einen großartigen dekorativen Bildaufbau, in der Illustration zum ersten Makkabäerbuch schildert er realistisch das dichtgedrängte Kriegsgetümmel mit Reitern, Fußvolk, Lanzen und Fahnen, als Alexander der Große aus seinen Landen auszog, um die Heere der Perser und Meder zu bekämpfen. In anderen Bildern führt er eine zartgeformte gotische Architektur ein. Unbekümmert um räumliche Tiefe stellt er Gebäude und Stadtansichten vor einem Goldgrund dar.
Muzio bringt mit Vorliebe ausgefallene Szenen. Der Bibeltext wird mit dem vom Kirchenvater Hieronymus an den Presbyter Paulinus geschriebenen Brief eingeleitet. Den Wortlaut überlieferte die »Expositio« des Moses von Bergamo, der in der ersten Hälfte des 12.. Jh. lebte und durch eine ausführliche Beschreibung der Stadt Bergamo bekanntgeworden ist. Moses hielt sich am Kaiserhof in Konstantinopel auf und galt als vorzüglicher Interpret der griechischen Literatur. Im Vorwort der Expositio erzählt er, wie ihn ein britannischer Kleriker namens Paganus aufgesucht habe mit der Bitte, ihn über die Bedeutung des Hieronymusbriefes an Paulinus aufzuklären, worin nämlich der Kirchenvater die von ihm verfaßten Inhaltsangaben zu den einzelnen biblischen Büchern dem Paulinus mitteilt. Die Miniatur schildert die Meerfahrt des Paganus von Britannien aus, und auf der linken Bildseite wird ihm unter einern Baldachin von Moses die Aufzeichnung des Hieronymusbriefes übergeben.
In den Kreis des Berardo da Teramo und des Muzio da Teramo gehört ein dritter Buchmaler, Nicolo di Valle Castellana. 1365 datiert und signiert er ein Missale, das unter der Signatur A 2. in der Biblioteca Capitolare des Domes in Atri aufbewahrt wird. Er belebt das Schriftbild durch Rankenleisten, worin er gelegentlich christliche Szenen, z. B. den Drachen tötenden Georg, anbringt. Er besitzt einen sicheren Strich, und seine Farbgebung ist lebhaft. Das verdeutlicht u.a. die Initiale R(esurrexit) mit dem aus dem Grabe aufsteigenden Christus und den schlafenden Kriegern.
(S. 434)Die Werke dieser drei Künstler stehen stilistisch mit der Freskomalerei in der Stadt Teramo in Verbindung. Zum Vergleich heranzuziehen wären die Geschichten aus dem Leben Christi, die bei Restaurierungen in der Kirche S. Domenico entdeckt wurden oder Fragmente von Votivbildern, die in diesem Jahrhundert im Dom zum Vorschein gekommen sind.
Das Skriptorium von Teramo war noch eine Zeitlang aktiv, ohne daß der Formenapparat große Wandlungen erfuhr. Das bezeugt eine Miniatur in einem 1371 datierten »Quaternus«, eine Madonna mit Kind, im Archivio Capitolare in Teramo. Ein Missale, dessen Miniaturen ein Agostino di Leonardo 1390 für den Konvent in S. Maria di Propezzano anfertigte, ist heute verschwunden, wurde aber von Vincenzo Bindi vor dem Jahre 1883 eingesehen.
Auf Grund der Tatsache, daß Quantität und Qualität der Miniaturen im 15. Jh. nachlassen, nimmt in dieser Zeit der Import von Handschriften in den Abruzzen zu. Ein Beispiel dafür bietet wieder Johannes Capestranus, von dem wir bereits wissen, daß er für seinen Konvent in Capestrano eine bolognesische Bibel des 14. Jh. gekauft hat. Wie aus einer Anmerkung zum Kommentar des Francesco Mayroni zum ersten Buch der Sentenzen des Petrus Lombardus hervorgeht, erwarb der Türkensieger 1449 diese Handschrift käuflich von einem Minoritenkonvent in Florenz. Sie enthält nur eine Initialminiatur aus dem Anfang des 15. Jh., die Dreiviertelfigur des Francesco Mayroni in Franziskanerkleidung, in den Händen ein Buch und ein Schreibinstrument haltend.
Ohne schöpferische Impulse in der Formgebung setzen im 15. Jh. die Skriptorien von Sulmona, Atri, Guardiagrele und Teramo ihre Tätigkeit in vermindertem Umfang fort. Die Kathedrale von Sulmona bewahrt ein Pontifikale des Quattrocento, eine Aufstellung von Amtshandlungen, die allein dem Bischof vorbehalten waren. Eine große Miniatur zeigt einen Papst, der in Gegenwart anderer kirchlicher Würdenträger einem Bischof die Mitra aufsetzt. Der Maler war entweder Flame oder aber ein Abruzzese, der sich eng an nordische Vorbilder anschloß.
In der Privatbibliothek Rodolfo Sorricchio in Atri befindet sich ein illuminiertes Breviarium aus der zweiten Hälfte des 15. Jh., das einstmals im Besitz des dortigen Domes war. In die 37 Miniaturen teilen sich wenig begabte Künstler, die ihre Figuren vor einen Goldgrund stellen.
Ein lokaler, noch in der Formenwelt des Trecento befangener Meister malte die 1410 datierten Miniaturen eines Psalteriums für die Kirche S. Maria Maggiore in Guardiagrele, das heute noch dort zu sehen ist.
Aus der Kirche Madonna delle Grazie in Teramo gelangte ein Antiphonar vom Ende des 15. Jh. in den Palazzo Comunale dieser Stadt. Der lokale Künstler, der die meisten Initialen nur mit Ornamenten ausstattete, malte in die Initiale B(eatus) des ersten Psalmes den König David mit Buch und Leier.
In den Kathedralstädten Chieti und L' Aquila, die im Trecento keine Erzeugnisse der Buchmalerei aufzuweisen hatten, ist der Bestand an Miniaturen aus dem 15. Jh. beachtlieh. Aber auch hier sind die qualitätvolleren Werke sicherlich nicht in den Abruzzen entstanden.
Ein römisches Meßbuch aus dem Anfang des 15. Jh. im Dom von Chieti wurde dem Wappen nach zu schließen für die Familie Orsini hergestellt. Der abruzzesische Meister orientierte sich an sienesischen Vorbildern. 24 Pergamentblätter sind an allen Seiten mit Randleisten eingefaßt. Da die Initiale häufig nicht genügend Raum für die szenische Darstellung bot, wurden die Erzählungen in den seitlichen Rahmungen fortgesetzt. So erscheint z.B. in einem Anfangsbuchstaben das leere Grab Christi mit zwei schlafenden Kriegern davor. Während der auferstandene Heiland die Mitte der oberen Randleiste einnimmt, sind andere Landsknechte, die das Grab zu bewachen hatten, in der unteren Rahmung im Schlaf dargestellt. Im Dom von Chieti bewahrt man noch zwei weitere illuminierte Handschriften des 15. Jh., ein Psalterium mit einer Illustration, die unbeholfen ältere Formen wiederholt, sowie das berühmte Meßbuch, das für den Kardinal Giovanni Borgia (1492-1503) ausgeführt wurde. Seine Wappen löschte man später aus und ersetzte sie durch die des Giovanni de'Medici, der 1528-1537 Bischof von Chieti war. An der Illuminierung des Meßbuchs waren zwei Künstler beteiligt, der eine arbeitete unter dem Einfluß der flämischen Malerei, der andere war, dem Stil nach zu urteilen, Florentiner.
Ebensowenig eigenständig wie in Chieti war die Buchmalerei in L'Aquila, die seit der 2. Hälfte des 15. Jh. zu verfolgen ist. Die schwächsten Werke lieferten einheimische Meister, deren Darstellungen erstarrte und phantasielose Landschaften vorführen. Im übrigen erweisen sich die Miniaturen entweder von der flämischen Malerei abhängig, oder aber sie stehen, wie die gleichzeitige Freskomalerei in L'Aquila, unter direktem toskanischem Einfluß. Die nachfolgend aufgeführten Manuskripte sind heute im Nationalmuseum von L' Aquila vereinigt.
Ein unter flämischer Einwirkung stehender Maler oder ein Flame selbst schuf die Illustrationen zweier Choralbücher. Das eine, ehemals in der Biblioteca Provinciale in L' Aquila mit der Nummer 6, entstand im Auftrag des Michele d'Angelo aus Perugia, eines in L'Aquila tätigen Kaufmanns, während das andere im Besitz des Mäzens Jacobus di Notar Nanni war. Gegen Ende des Jahrhunderts miniierte ein anderer flämisch inspirierter Künstler ein Breviar, ehemals Biblioteca Provinciale Nr. 11, mit nur einer szenischen Darstellung in der ersten Initiale A(d te levavi). Man sieht den knienden, im Gebet versunkenen König David, der seine Leier neben sich gelegt hat. Die Landschaft wird im Hintergrund von einer fein gezeichneten Stadt abgeschlossen. In der zweiten Hälfte des 15. Jh. entstand ein Choralbuch, ehemals Biblioteca Provinciale Nr. 3, auf dessen erster Seite das Wappen des 1476 verstorbenen Kardinals Agnifili zu sehen ist. Folio 3 verso zeigt in der Initiale G fünf singende ausdruckslose Engel. Dem Miniator dieses Choralbuchs schreibt man weiterhin die Illuminierungen in einem Antiphonar zu, ehemals Biblioteca Provinciale Nr. 5. Neben Initialornamenten malte er drei Szenen, auf fol. 43 die drei (S. 435) leeren Kreuze des Kalvarienberges, auf fol. 51 die Elevation der konsekrierten Hostie und auf fol. 55 die Aussegnung eines Sarges. In diesem Bild vollzieht sich die Handlung in einer modernen Renaissancearchitektur. Einheimische, von Umbrien abhängige Meister malten am Ende des Quattrocento in einem Psalterium, früher Biblioteca Provinciale Nr. 16, Initialornamente und zwei szenische Darstellungen. Im Buchstaben P(rimo dierum) auf fol. 1 sieht man die Auferstehung Christi und in der Initiale T(e deus) auf fol. 44 die Kreuzigung.
Daß am Ende des Quattrocento Importe aus der Toskana gang und gäbe waren, bezeugen zwei Antiphonare. Das eine gelangte als Kodex Nr.2. des Museo Civico in L'Aquila in das dortige Nationalmuseum. Auf fol. 34 wird in der Initiale S(alve me fac) König David im Wasser stehend und betend dargestellt, und auf der folgenden Seite erscheint er noch einmal thronend, von zwei geflügelten Putten umgeben. Diesem Maler steht ein zweiter nahe, der die Illuminationen des Antiphonars, ehemals Biblioteca Provinciale Nr.4, anfertigte. Auch hier wird auf fol. 41 verso König David dargestellt, der in einer weiten Landschaft die Stimme Gottes vernimmt. Als reifste florentinische Arbeit in L'Aquila gilt mit Recht ein Gebetbuch, das für Jacopo di Notar Nanni geschrieben wurde. Einer Überlieferung zufolge soll das Büchlein für eine Augustinernonne, die sel. Christina von Lucoli, geschrieben worden sein. Die Miniaturen wurden von Mario Salmi dem Boccardino il Vecchio aus Florenz zugeschrieben. In L'Aquila war die Buchmalerei aus eigenen Kräften nicht mehr lebensfähig. Ein letztes Erzeugnis kennen wir aus dem Jahr 1544 in den Statuten der Wollweberzunft, heute in der Biblioteca Provinciale.
Die Geschichte der abruzzesischen Buchmalerei läßt deutlich den Wandel der Auftraggeber und Besitzer von Handschriften erkennen. In früheren Zeiten standen an erster Stelle die Klöster, die häufig über eigene Skriptorien verfügten. An ihrer Statt begegnet man im 14. Jh. mehr und mehr den Kathedralen, während im 15. Jh. Persönlichkeiten aus dem geistlichen und weltlichen Stand als Käufer auftreten. Für Anschaffungen von privater Seite liefert L'Aquila die besten Beispiele.
Es gehört in jener Zeit zu den größten Seltenheiten, daß die Gestaltung einer Bibliothek und das Bildprogramm illuminierter Handschriften von einer weltlichen Persönlichkeit bestimmt werden. Herzog Andrea III. Acquaviva von Atri ist eine dieser Ausnahmen. Seine Bildung hatte er vor allem in Neapel erworben. Seine Bibliothek war auf antike Schriftsteller spezialisiert. Wir kennen 14 miniierte Manuskripte aus dem Besitz des Herzogs, von denen neun die Hofbibliothek in Wien bewahrt und die übrigen fünf die Biblioteca dei Girolamini in Neapel. Illustriert waren Werke des Aristoteles, Plato, Seneca, Cicero, Isokrates, Plinius Secundus, Xenophon, Livius und Apuleius. Unter diesen Manuskripten sind vor allem die naturphilosophischen Werke des Aristotcles hervorzuheben, die in Wien unter der Signatur Phil. graec. 2. aufgehoben werden. Aus einer Bemerkung am Schluß der Handschrift geht hervor, daß sie 1496 in den Abruzzen von einem Priester Rombertus Maioranus aus Malepigniano geschrieben wurde, und daß auch die von der Hand zweier Künstler stammenden Miniaturen in unserem Bergland ausgeführt wurden; allerdings geschah dies sicherlich nach Angaben des Herzogs. Wenn auch die Maler über griechische Sprachkenntnisse verfügt hätten, ist ihnen dennoch nicht die Umsetzung abstrakter Begriffe in die Bildsprache zuzutrauen. Diese Transponierung in die Anschaulichkeit konnte nur von einem mit der griechischen Kultur vertrauten Humanisten erfolgen, der Andrea Matteo Acquaviva selbst war.
Zu den prächtigsten illuminierten philosophischen Handschriften der Renaissance gehört die Nikomachische Ethik des Aristoteles (Wien, Hofbibliothek, Phil. graec. 4) (Tf. 304, 305). Auch hier war der Programm gestalter der Miniaturen sicherlich der Herzog Acquaviva. Den zehn Büchern der Ethik wird jeweils eine Miniatur vorausgestellt. In einigen Fällen erscheinen in den dargestellten Architekturen Wappen der Acquaviva und die Buchstaben A und M für Andrea Matteo. Auf der Bildarchitektur zum sechsten Buch ist sein Name voll ausgeschrieben »Andreas Matheus dux Adrie«. In der folgenden Miniatur sind jeweils in der Mitte der vier Rahmenleisten Wappen angebracht, oben erscheint in einem Medaillon das Wappen des Andrea Matteo, in der unteren Leiste ist der blaue Löwe der Acquaviva zwischen drei Adlern zu sehen, während die linke und rechte Rahmenleiste das Wappen seiner Gemahlin Isabella Piccolomini ziert. Auch auf der Miniatur des nächsten Buches erscheinen die Abzeichen von Matteo und Isabella. Die Handschrift enthält außerdem Künstlernamen. Am Ende des sechsten Buches der Ethik wird ein Milepinianes genannt, und im 3., 6. und 8. Buch erscheint die Abkürzung Rg, die im 10. Buch aufgelöst und erläutert wird als »Reginaldus Piramus Manoplitanus librum hunc picturis decoravit mirifice«. Es war also ein apulischer Maler aus Monopoli bei Bari am Werk.
An Hand der dargestellten Wappen hat Ferdinando Bologna das Bild einer Geburt Christi im Dommuseum von Atri als ein von Andrea Matteo III. in Auftrag gegebenes Werk identifiziert. Auf Grund stilkritischer Merkmale schrieb er es dem Spanier Pedro de Aponte zu, der zwischen 1500 und 1507 in Neapel tätig war. Dieses Gemälde bringt Bologna mit den Miniaturen der Handschrift des Plinius Secundus in Verbindung, die die Biblioteca dei Girolamini in Neapel unter der Signatur C.F. III, 6 verwahrt, und schreibt auch diese dem Pedro de Aponte zu.
Seine Beschäftigung mit klassischen Autoren brachte Andrea Matteo III. mit den humanistisch gebildeten Kreisen Süditaliens in Verbindung. Die Spannweite der Kultur der Acquaviva mag man ermessen, wenn man im Vergleich zu den von ihnen in Auftrag gegebenen Handschriften diejenigen heranzieht, die in aller Bescheidenheit in der stillen Residenzstadt Atri entstanden. Die dortige Biblioteca Capitolare bewahrt im Kodex A 19 ein Missale aus dem Anfang des 1 5. Jh., das durch Wappen als ehemaliger Besitz der Acquaviva ausgewiesen ist. Der anonyme abruzzesische Künstler miniierte die Handschrift mit unzähligen Ornamentinitialen (S. 436) und mit 16 Szenen. Er untersteht sienesischen Einflüssen und ist dem Kreis der Buchmaler in Teramo nicht sehr fern. Ihn charakterisiert ein klarer und bestimmter Strich und die Lust zu fabulieren. Auf fol. 187 r stellt er die Dreieinigkeit mit drei Gesichtern dar, ein Thema, das in dieser Form auch unter den Votivfresken des Domes von Atri erscheint. Die Frische seiner Darstellungsweise zeigt z.B. die Szene auf fol. 218 r. Auf dem Galiläischen Meer vernehmen Petrus und sein Bruder Andreas in einem Fischerboot die Stimme des Herrn, der sie auffordert, ihm zu folgen. Das Fischnetz und die Ruderstangen treiben im bewegten Wasser, und in Gebetshaltung lauschen sie den Worten des Heilands.
Neben den illuminierten Manuskripten finden sich im 15. Jh. in den Abruzzen einige Handschriften weltlichen Inhalts, die mit Federzeichnungen ausgestattet wurden. Die Biblioteca Comunale in Perugia erwarb aus der Sammlung Hoepli das Reimgedicht eines Anonymus, das die Belagerung L'Aquilas durch Braccio da Montone 1423/1424 zum Inhalt hat. Bereits aus dem Thema kann man schließen, daß das Werk in den Abruzzen, und zwar ungefähr gleichzeitig mit der geschilderten Handlung, entstand. Auf einigen Seiten ist Raum freigelassen, der sicherlich für weitere Illustrationen bestimmt war. Die Zeichnungen zeigen sehr realistisch geschilderte Kampfszenen, die dieser unerbittliche Krieg mit sich brachte. Andere Federzeichnungen befinden sich in juristischen Werken der Biblioteca Capitolare in Atri.
Der Kodex A 13 ist ein Handbuch des Zivilrechts, der als spätestes Datum die Jahreszahl 1453 enthält. Die Zeichnungen erscheinen realistisch und volkstümlich. Die 37 Darstellungen sind meistens ein Bildkommentar zu den im Text behandelten Rechtsausdrücken. So tritt z.B. neben dem Stichwort »Le Pene« (Die Strafen) eine Dirne in Zeittracht auf, es erscheinen neben »Ladroni« (Die Räuber) ein Gehängter und eine abgeschnittene Hand, neben »Discordia« (Die Zwietracht) zwei Ringkämpfer, neben »Prigionieri« (Die Gefangenen) eine dichte Schar Eingekerkerter hinter Gittern. Manchmal genügt die Bildsprache nicht, um den juristischen Begriff zu veranschaulichen, und man nimmt dann das Wort zu Hilfe, um ihn zu erläutern. Neben »Falsari« (Die Fälscher) tritt eine Frau auf, die ausruft »Contra illum qui facit se doctorem, qui vere non est« (Gegen den, der sich als Doktor ausgibt, es aber gar nicht ist). Ähnliche Figuren begegnen im Kodex A 14, dessen letzte datierte Eintragung sich auf das Jahr 1477 bezieht. Die Handschrift faßt Rechtsfälle zusammen, die durch Federzeichnungen erläutert werden; neben Drolerien und Büsten finden sich 19 Szenen in dem Band. Die Neigung zum Karikieren ist hier ausgeprägter als im vorigen Kodex. So wird z. B. das Urteil eines Prozesses (sequenza processionale) folgendermaßen persifliert: es erscheint ein Bannerträger, dahinter ein aufgeschirrter Esel ohne Reiter, dann ein nackter auf allen vieren kriechender Mann und zuletzt ein Reiter auf einem Esel.
Kunsthandwerk
Vorbemerkung
Die Kunstgeschichte hat sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr gescheut, die Objekte des Kunstgewerbes in ihre Betrachtungen einzubeziehen. Vielleicht mit Ausnahme der Goldschmiedekunst, in deren Erforschung noch viele Fragen offen sind, wurde die Kleinkunst zum Stiefkind der abruzzesischen Kunstgeschichte. Indessen eröffnet das Studium des Kunstgewerbes Einblicke in wenig bekannte Gebiete, die mehr oder minder zum künstlerischen Ausdruck unserer Landschaft beitrugen.
Der Augenblick der Rückbesinnung auf das Kunstgewerbe ist allerdings denkbar schlecht gewählt. Wir müssen uns oft damit abfinden, von Objekten zu reden, die nicht mehr vorhanden sind, denn in unserer dem Kunstwerk gegenüber verantwortungslosen Zeit ist das bewegliche Kunstgut Diebstählen, unerlaubten Verkäufen und der Sorglosigkeit der Besitzer ausgesetzt. Es ist heute schwer festzustellen, welche Gegenstände abhanden gekommen oder an Orten untergebracht sind, die aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden. Wir führen die Pretiosen nach ihrem letzt bekannten Standort auf und sprechen z. B. von einem Prozessionskreuz in der Pfarrkirche in Castelli, das um 1959 gestohlen und dessen Entwendung erst 1966 festgestellt wurde. Der Schwund der Objekte des Kunstgewerbes kann vermutlich auf eine lange Tradition zurückblicken. Es wäre sonst unbegreiflich, daß aus dem frühen Mittelalter kaum bedeutende Erzeugnisse erhalten sind, während ihre Zahl seit dem 13. Jh. unüberschaubar ist. Eine annähernde Ordnung läßt sich am ehesten durch Gliederung nach Materialien erreichen; so behandeln wir dementsprechend nacheinander die Kunst des Metalls, des Holzes und der Keramik.
Wir beobachteten häufig, wie am Ende des Mittelalters die Eigenständigkeit der abruzzesischen Kunst durch die Internationalisierung der Formgebung und durch zunehmende Importe überlagert wird. Anders ist die Situation im Kunstgewerbe. Bereits bei der Behandlung der Weihnachtskrippen sahen wir, wie diese Kunstübung der Abruzzen über die Grenzen des Landes hinaus bekannt wurde. In viel stärkerem Maß erlangte die abruzzesische Goldschmiedekunst im 14. und 15. Jh. eine Bedeutung, die ihr auch in den angrenzenden Gebieten Verbreitung verschaffte. Richtungweisend wurde das Bergland dann noch einmal im Zeitalter des Barock in der Kunst der Keramik, die in Castelli betrieben wurde. Die Erzeugnisse dieses Ortes fanden Liebhaber in ganz Italien und im übrigen Europa.
(S. 437)Innerhalb des Kunstgewerbes gibt es Handwerkszweige, von denen wenig überliefert ist, die jedoch historisch bedeutsame Leistungen aufzuweisen haben. Der moderne Reisende wird über das Kirchengeläute in den Abruzzen entsetzt sein. Oft läßt man dort Glocken erklingen, die den berühmtesten Kirchen Italiens gehören, und die in den Bergorten auf Schallplatten mit Verstärkern ertönen. Ich erinnere mich, anstelle der Glocken in Tagliacozzo zu verschiedenen Tageszeiten das Ave Maria von Händel vom Campanile der Kirche SS. Cosma e Damiano gehört zu haben. Geht man der überlieferung nach, so erstaunt man, wie bedeutend einstmals die Kunst des Glockengießens in den Abruzzen war.
Nicht viel anders verhält es sich mit den Orgeln, denen man in den Abruzzen und im Molise durch Jahrhunderte liebevolle Pflege entgegenbrachte. Vom alten Bestand sind kaum noch Instrumente funktionsfähig. Man ersetzte sie durch billige Harmonien, und die Bewahrung schöner Orgelprospekte ist sicherlich nur noch eine Frage der Zeit.
Goldschmiedekunst
Vorbemerkung
Die abruzzesische Goldschmiedekunst erreichte ihren Höhepunkt im Trecento und in der ersten Hälfte des Quattrocento. Die Fülle der Kostbarkeiten, die einstmals existierten, läßt sich nur erahnen. Die profanen Geräte sind fast völlig vernichtet, wohingegen die Zahl der erhaltenen kirchlichen Geräte, trotz gewaltiger Einbußen, bis heute nicht abzuschätzen ist. Die Goldschmiedearbeiten waren ein beliebter Exportartikel. Man beschickte Orte im Königreich Neapel, in Kalabrien und in Kampanien, in Apulien die Städte Lucera, Bitonto und Bari. Der Versand erfolgte nach Latium, nach Montecassino, Veroli, Rom, Anticoli Corrado und vornehmlich in die Provinz Rieti, u.a. nach Fara Sabina. Abruzzesische Pretiosen erreichten die Marken, die Provinz Macerata und in verstärktem Maße die Provinz Ascoli Piceno. Abruzzesische Objekte in Edelmetall zeigen die gro ßen Museen in Italien und ganz Europa, ja sie sind bis nach Rußland und nach Nord-und Südamerika gelangt.
Das Material, Kupfer, Silber und Gold, mußte eingeführt werden. Wir können feststellen, daß die Orte, die das seltene Metall für das Goldschmiedehandwerk importierten, häufig auch das Recht der Münzprägung besaßen wie Teramo, Sulmona, L'Aquila und im Molise Agnone, wo die Goldschmiedekunst neben der Kupfer-und Glockenindustrie bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges beheimatet war.
Die Voraussetzung für das Florieren des Goldschmiedehandwerks in den Abruzzen war eine Kontinuität der Massenproduktion, die wenig Raum bot für den künstlerisch gestalteten Einzelgegenstand. Es ist darum nicht verwunderlich, daß die Formen keinen schnellen Veränderungen unterworfen waren.
Um die Fülle der Aufträge bewältigen zu können, war man auf vereinfachende mechanische Verfahren angewiesen. In den Goldschmiedearbeiten wiederholen sich bestimmte Zierformen. Ähnlich wie beim Prägedruck der Münzen bediente man sich vorgefertigter Model, mit denen die gewünschten Zierformen in beliebiger Menge zu reproduzieren waren, eine Tätigkeit, die der Meister ohne Wagnis seinen Gesellen überlassen konnte. Würde man, wie es von Lipinsky vorgeschlagen wurde, die vervielfältigten Muster zusammenstellen, so ließen sich nicht nur der Herstellungsort sondern auch in diesem die einzelnen Werkstätten bestimmen.
Ein wichtiges Hilfsmittel zur Erforschung der abruzzesisehen Goldschmiedekunst bilden auf den verwendeten Metallplättchen die Gütestempel, die die Qualität der Legierung verbürgen sollen. Der Gebrauch dieser Stempel ist seit der zweiten Hälfte des 14. Jh. festzustellen, doch sind bei weitem nicht alle Erzeugnisse damit versehen. Derartige Gütemarken bestehen aus drei Majuskeln als Abkürzung des Namens der Stadt, wo der Gegenstand gearbeitet wurde. Es steht TER als Kürzel für Teramo, AQL für L'Aquila und in späterer Zeit NAP für Napoli. Sulmona (SUL) ist die Stadt mit der größten Anzahl von Stempelzeichen. In einem Zeitraum von etwa hundert Jahren lassen sich hier sieben Marken feststeHen, deren Schriftzeichen voneinander differieren. Da sie nicht datiert sind, bot sich für die Forscher, die sich eingehender mit der Goldschmiedekunst Sulmonas befaßten, Gelegenheit zu Geduldspielen, um jede Stempelform einem bestimmten Zeitraum zuzuweisen. Allerdings ist keine übereinstimmung in den Meinungen erzielt worden.
1406 steHte König Ladislaus von Neapel der Universitas von Sulmona eine Urkunde aus, worin er dem Goldschmied Niccolo Piczulo gestattete, einen neuen Stempel anzufertigen, nachdem der alte entzweigegangen war. In diesem Dokument wird der Künstler als »familiaris« bezeichnet. Er gehörte demnach zum engsten Umkreis des Königs. Der Landesherr vertraut den neuen Stempel der Obhut des Piczulo an. Das einzig gesicherte Werk dieses Meisters ist das von ihm signierte Reliquienkreuz in S. Francesco in Castelvecchio Subequo. Dieses ist 1403 datiert, was bedeutet, daß der Stempel am Kreuzesfuß aus der Zeit stammt, als das alte Gütezeichen noch brauchbar war.
Die abruzzesische Goldschmiedekunst bediente sich der Technik des Filigrans. Man arbeitete mit feinen Silberdrähten, die in der Art eines Schraubengewindes zusammengelötet wurden. Oft walzte man den Draht, wodurch dünne schmale Streifen mit ausgezackten Rändern entstanden.
Im frühen 14. Jh. begegnen wir in der Goldschmiedekunst Sulmonas der Technik des transluziden Emails. Gravierte Silberplatten wurden mit einer durchsichtigen Schmelzmasse überzogen. Das erste Beispiel für Sulmona ist urkundlich überliefert. Im Inventar des Kathedralschatzes von S. Nicola in Bari wird ausführlich ein Kelch mit Patene beschrieben, den 1304 Rinaldo de Letto, ein Adelsmann aus Sulmona, der in diesem Jahr Justitiar im Land von Bari war, an den Dom in Bari schenkte. Es wird ausdrücklich hervorgehoben, daß der Kelch in Sulmona gefertigt ist, und es werden die in Email ausgeführten Darstellungen beschrieben. Ein frühes erhaltenes Email sieht man z.B. am Kopfreli (S. 438) quiar des hl. Nicandro in Venafro, eine 1340 datierte Arbeit des Magister Barbato aus Sulmona. Ob die Emailtechnik von den Goldschmiedekünstlern selbst betrieben wurde, oder ob dafür spezialisierte Handwerker herangezogen wurden, bedürfte im einzelnen noch der Klärung. Wie es den Anschein hat, stammen die Emails an dem Altarantependium des Nikolaus von Guardiagrele in Teramo nicht von der Hand des Meisters.
Die Anfänge abruzzesischer Goldschmiedekunst liegen vermutlich in Sulmona. Die frühesten Nachrichten dort liefern Quellen des 13. Jh., während die ersten erhaltenen Werke aus dem Trecento stammen. Früher als in den Abruzzen betrieb man die Goldschmiedekunst in Umbrien, und von dort kamen die ersten Anregungen in unsere Region. Stärkeren Einfluß übte später die Toskana aus, deren Erzeugnisse direkt oder über Neapel in die Abruzzen gelangten.
Wie rasch Sulmona als Stadt der Goldschmiede von sich reden machte, zeigt der bereits genannte Kelch von 1304 im Dom von Bari. Ein Goldschmied Nicola di Tommaso stand laut seiner Zeugenaussage 1358 im Alter von 64 Jahren und war lange Jahre in Avignon in seinem Handwerk tätig gewesen. Goldschmiede aus Sulmona arbeiteten im 15. Jh. in L'Aquila und signierten Werke, die mit dem aquilanischen Stempel versehen sind. Die einheimischen Handwerker in L'Aquila erlangten bei weitem nicht die Bedeutung wie die Goldschmiede aus Sulmona.
Seit der zweiten Hälfte des 15. Jh. stagniert die Goldschmiedekunst in den Abruzzen. Damals gewannen die Erzeugnisse von Rom und vor allem von Neapel Einfluß im Land.
Silberkreuze
Eine abruzzesische Besonderheit war die Herstellung kostbarer Kreuze. Sie hatten verschiedene Funktionen. Teilweise standen sie auf Altären und enthielten verehrungswürdige Reliquien. Ein weit größerer Teil diente als Vortragekreuze, die in Prozessionen feierlich gezeigt wurden. Die Datierung und die Provenienz sind bei frühen abruzzesischen Kreuzen weitgehend ungeklärt. Die ältesten Exemplare wurden aus billigerem Material hergestellt. Dies zeigen z. B. die Kupferkreuze aus der Pfarrkirche in Castiglione Messer Raimondo, aus dem Convento della Misericordia in Lama dei Peligni, aus der Chiesa dell'Assunta in Ioanella bei Torricella Sicura, aus der Pfarrkirche in Monticchio und aus S. Maria in Valle Porclaneta bei Rosciolo oder das Messingkreuz in der Pfarrkirche S. Sebastiano in Navelli sowie dasjenige aus einer Landkirche bci S. Pio delle Camere, das das Nationalmuseum in L' Aquila bewahrt.
In der ersten Hälfte des Trecento werden die Figuren auf den Kreuzen nicht sehr differenziert gearbeitet, sie erscheinen ohne Volumen. Ebenso stereotyp sind die Darstellungen. Die Mitte der Vorderseite nimmt der Gekreuzigte ein; in den als Dreipaßbogen gebildeten Enden der Kreuzarme erscheinen Maria und Johannes als Ganzfiguren, während der Stamm oben das Kreuzeslamm oder einen Engel und unten Adam oder einen Totenschädel zeigt. Die Rückseite präsentiert im Zentrum den segnenden Christus und an den Kreuzenden die vier Evangelisten.
Die meisten Kreuze dieser Gruppe befinden sich im Raum von Sulmona und in der Provinz Teramo sowie in den angrenzenden südlichen Marken. Sie sind trotz der geographischen Entfernung untereinander recht ähnlich, und es entsteht daher die Frage, ob wir es mit einem Zeitstil zu tun haben, oder ob hier ein Einfluß Sulmonas vorliegt. Mit der berechtigten Annahme einer Einwirkung dieser Stadt entfällt die These, daß Teramo am Anfang des Trecento eine bedeutende Produktion aufzuweisen habe. Aus Werkstätten in Sulmona gingen in dieser Zeit das silberne Altarkreuz in Goriano Sicoli hervor, das silberne Prozessionskreuz in der Kirche S. Maria del Borgo in Vittorito und das Silberkreuz im Schatz der Annunziata in Sulmona, das laut Inschrift für S. Clemente a Casauria gearbeitet wurde. Bei letzterem Kruzifix stammt die Christusfigur aus einer späteren Zeit. Die Form und die Darstellungen dieser Arbeiten korrespondieren mit Kreuzen in den Marken und in der Provinz Teramo. Für Sulmona gesichert ist das Kreuz in Vezzano, ein Ortsteil von Arquata del Tronto in der Provinz Ascoli Piceno. Ezio Mattiocco, Kenner der Goldschmiedekunst Sulmonas, hat auf dem vergoldeten Silberkreuz von Vezzano die Gütezeichen von Sulmona festgestellt. Nach dortigen Gewohnheiten ist der Kreuznimbus des Erlösers aus transluzidem Email gefertigt. Mit dem Kreuz in Vezzano verwandt ist ein Kupferkreuz in der Pfarrkirche in Pistrino, ein Ortsteil von Montegallo in der Provinz Ascoli Piceno. Auf die Kunstübung Sulmonas weist das Kreuz von S. Nicola in Cavuccio hin, ein Ortsteil von Teramo. Auch hier erscheinen mit durchsichtigem Email ausgefüllte Medaillons, die ja bereits am Anfang des 14. Jh. auf dem aus Sulmona stammenden Kelch im Dom von Bari nachzuweisen waren. Mit dem Kreuz von Cavuccio lassen sich Arbeiten im Umland von Teramo verbinden, z. B. die Kreuze in Ponzano, ein Ortsteil von Civitella de! Tronto, in S. Barrolomeo in Villa Popolo, ein Ortsteil von Torrice!la Sicura, und in Spiano, ein Ortsteil von Teramo.
Blieb die Annahme der Beziehungen der Marken und der Provinz Teramo zu Sulmona, mit Ausnahme des Kreuzes von Vezzano, im Bereich der Hypothese, so bietet das Silberkreuz der Kirche S. Maria in Cellis in Montedinove in der Provinz Ascoli Piceno gesicherte Anhaltspunkte. Das später als die vorherbesprochene Gruppe entstandene Werk ist vom Goldschmied Masius Ciccarello aus Sulmona signiert, und zehn vergoldete Silberplatten sind mit dem Gütezeichen von Sulmona versehen. Thematisch stimmt das Kreuz des Masio noch völlig mit den genannten Arbeiten aus den Marken und der Provinz Teramo überein. Auch die Kreuznimben in Montedinove erscheinen auf der Vorder-und Rückseite, wie in Vezzano, aus transluzidem Email. Formal hingegen erkennt man einen Fortschritt. Masio zeigt nicht mehr die monotone, flache Behandlung der Figuren sondern modelliert seine Gestalten plastischer, wobei er die Anatomie genau berücksichtigt.
(S. 439)Masius ist in der Geschichte der Goldschmiedekunst Sulmonas kein Unbekannter. Er ist der Sohn des vor 1303 geborenen und 1373 gestorbenen Goldschmieds Ciccarello di Francesco di Bentevenga aus Sulmona. Masius selbst starb 1394. Das Kreuz von Montedinove, das in den 50er Jahren des Trecento entstanden sein mag, ist das einzige erhaltene Werk des Künstlers. Von seinen übrigen Arbeiten wissen wir allein durch Notariatsakten.
Dem Kreuz des Masius steht ein anderes nahe, das aus der 1915 durch Erdbeben zerstörten Kirche S. Orante in Ortucchio in das Museo Civico in Sulmona gelangte (Tf. 312, 313). Gewandfalten, Armhaltung und Fußstellung des kauernden Adam sind mit der entsprechenden Figur des Kreuzes in Montedinove fast identisch. Dem Kreuz von S. Orante sind auf jeder Silberplatte die Stempel von Sulmona aufgedrückt. Zu den Silberkreuzen, die thematisch dem frühen Typ des 14. Jh. angehören, aber durch ein stärkeres Volumen der Figuren fortschrittlicher wirken, gehört das Prozessionskreuz aus der Pfarrkirche S. Maria delle Grazie in Cese, ein Orts teil von Avezzano.
Das Ende des Trecento und die ersten Jahre des Quattrocento bis zur Einführung des neuen Gütestempels durch König Ladislaus im Jahr 1406 zeigen Meisterleistungen der Goldschmiedekunst in Sulmona.
Eine Sonderstellung nimmt das Prozessionskreuz der Pfarrkirche S. Giovanni Battista in Lucoli Alto ein. Die Stempel auf den Silberplättchen weisen das Werk als eine in L' Aquila entstandene Arbeit aus; sie gehören zu den frühesten Gütezeichen dieser Stadt. Allerdings geht aus der Inschrift des Kreuzes hervor, daß es von einem Künstler aus Sulmona gefertigt wurde. Im 14. Jh. waren in den Goldschmiedewerkstätten L'Aquilas keine einheimischen Kräfte beschäftigt. Die oft ungenau zitierte Inschrift auf der Rückseite des Kreuzes lautet: »Hoc opus fecit fieri fr. Andreas abbas s. Johannis de Columeto [Collimento bei Lucoli Altol per manus magistri Pauli Mei de Quatrariis de Sulmona«. Andreas wird als Abt von S. Giovanni Battista von Collimento in den Jahren 1368 bis 1372. genannt. Beachtenswert sind auf der Vorderseite am oberen Ende des Stammes die Darstellung des Pelikans und darunter der Paradiesesbaum, an dem sich eine Schlange emporwindet. Auf der Rückseite sieht man zu seiten des segnenden Christus in zwei Medaillons die Verkündigung.
Die Pfarrkirche S. Eustachio in Tocco da Casauria besitzt ein Prozessionskreuz aus dem letzten Viertel des Trecento mit der Inschrift: »Petrueius Pelini de Sulmona me feeit«. Petruceio wandelt das konventionelle Bildprogramm dahin ab, daß er statt der Einzelgestalten Figurengruppen einführt. So sieht man am Kreuzesfuß der Vorderseite die Marien und Joseph von Arimathia am Grabe Christi. Das linke Kreuzende zeigt die Darstellung der ohnmächtigen Maria, die von einer der umstehenden Marien aufgefangen wird. Neu ist neben der Freude am Erzählen die plastische Gestaltung der Figuren und die Behandlung des Hintergrundes mit rankenähnlichen Ornamenten.
Das Prozessionskreuz von Borgorose in der Provinz Rieti ist wegen seiner Datierung von 1397 erwähnenswert. Dieses die Machart Sulmonas zeigende Kreuz wurde 1918 gestohlen, zwei Jahre später in Glasgow wiedergefunden, darauf im Palazzo Venezia in Rom ausgestellt und später an seinen ursprünglichen Ort in die Pfarrkirche S. Anastasia in Borgorose zurückgeführt.
Die Goldschmiedekunst des 15. Jh. in Sulmona wird würdig durch den bereits erwähnten Niccolo Piczulo vertreten, der 1403 das vergoldete Reliquienkreuz für S. Francesco in Castelvecchio Subequo herstellte. Die Kreuzbalken enden in Form eines Vierpasses, der an den Rändern von winzigen Steinchen, z. T. Korallenpartikel, eingefaßt wird. Der Gekreuzigte auf der Vorderseite ist vollplastisch gearbeitet. Das Kreuz wird von einem hohen Metallträger auf einem sechseckigen Untersatz gestützt, auf dem die Wappen des Hauses Celano erscheinen. Der Stempel von Sulmona ist am Fußende sichtbar. Um den Rand des Untersatzes zieht sich eine Inschrift, die besagt, daß das Werk 1403 von Niccolo Piczulo aus Sulmona im Auftrag des Fra Bartolomeo di Asciano zur Zeit der Herrschaft des Grafen Nikolaus von Celano angefertigt wurde.
Zu den bisher besprochenen Kreuzen aus Sulmona gesellt sich eine zweite Gruppe des 14. Jh., die mehr oder minder von dem Kreuz aus S. Maria delle Grazie in Rosciolo abhängig ist, das heute im Museum des Palazzo Venezia in Rom gezeigt wird. Angelo Lipinsky, Spezialist für italienische Goldschmiedekunst, hat dieses 1334 datierte Prozessionskreuz mit Recht als ein Werk bestimmt, das sich stilistisch nicht aus den Abruzzen ableiten läßt. Er schreibt es einem in Neapel tätigen Goldschmied zu, der sich an französischen Vorbildern schulte. Neapolitanisch ist der Körperbau der Figuren und deren Gewandbehandlung. Das plastische Volumen der Gestalten ist stärker entwickelt als bei den flachgearbeiteten, archaisierenden Kreuzen dieser Zeit aus Sulmona. Die stereotype Figurenanordnung der dortigen Kreuze ist aufgelockert und durch eine Vielzahl neuer Gestalten bereichert. Anstelle des segnenden Christus erscheint an der Rückseite des Kreuzes von Rosciolo die thronende gekrönte Maria mit Kind; zu ihren Seiten sind Petrus und Paulus dargestellt in transluzidem Email. Auf der Vorderseite wird dem Gekreuzigten von einem Engel die Krone aufgesetzt. Den üblichen Engel oder das Kreuzeslamm am oberen Ende des Stammes ersetzt der den Drachen tötende Michael. Am Kreuz sind die Wappen der Familie Orsini dargestellt, und die Inschrift verkündet, daß ein gewisser Ursus das Werk in Auftrag gab »Dominus Ursus praepositus fieri feeit hoc opus«.
Die Verwandtschaft des Kreuzes von Rosciolo mit dem vergoldeten Vortragekreuz in der Pfarrkirche von Borbona in der Provinz Rieti hat man bereits im vorigen Jahrhundert erkannt und dementsprechend auf denselben Künstler geschlossen. Gleiche Gestalten, wie Michael, der die Lanze in den Schlund des Drachen stößt, oder Petrus und Paulus, erscheinen an beiden Kreuzen.
Die Annahme, der Meister von Rosciolo habe sich in Sulmona aufgehalten, wird durch die Beobachtung gestützt, (S. 440) daß Werke aus der Nachfolge dieses Künstlers immer wieder auf die Ovidstadt hindeuten. So wiederholt noch 1386 Giovanni di Meo aus Sulmona den Aufbau des Werkes von Rosciolo im silbernen Prozessionskreuz in der Pfarrkirche von Rocca di Mezzo. Der Einfluß des Meisters von Rosciolo ist noch in anderen Werken der zweiten Hälfte des Trecento spürbar, z.B. in dem Prozessionskreuz in der pfarrkirche von Forcella, ein Orrsteil von Teramo, und vor allem in demjenigen der Kirche S. Rocco in Ripa Fagnano, ein Ortsteil von Fagnano Alto. Hier wird -einmalig in der abruzzesischen Goldschmiedekunst -der Gekreuzigte durch die Figurengruppe der Kreuzabnahme ersetzt. Weitere Arbeiten, die in der Nachfolge des Kreuzes von Rosciolo stehen, sind das Kreuz in Sant'Elpidio in der Provinz Rieti, das erwähnte gestohlene Kreuz aus Castelli und das damit verwandte aus der Kirche S. Pietro in Onna (Tf. 315), das ein Goldschmied Thomas signierte »Thomas me fecit«, sowie das Kreuz aus Castel Castagna in der Provinz Teramo. All diese Erzeugnisse stammen wahrscheinlich aus Werkstätten in Sulmona.
Mit Ausnahme der Arbeiten des Nikolaus von Guardiagrele hat die abruzzesische Goldschmiedekunst des 15. Jh. in Kreuzen keine Meisterleistungen hinterlassen, am wenigsten in der zweiten Hälfte des Quattrocento, wo meistens erprobte Muster wiederholt werden. Das künstlerische Zentrum bleibt auch in dieser Zeit Sulmona mit seinen Künstlern. Sie sind in allen Teilen der Abruzzen und auch jenseits der Grenzen des Landes tätig. Von den datierten Werken aus dieser Stadt sind die bis etwa zur Mitte des Jahrhunderts entstandenen meist außerhalb der Abruzzen zu finden. Das Datum 1421 trägt das Kreuz in Pistrino, ein Ortsteil von Montegallo in der Provinz Ascoli Piceno, 1423 bezeichnet ist das Silberkreuz in S. Nicola Magno in Missanello in der Provinz Potenza mit der Darstellung des thronenden Nikolaus und einer mehrfigurigen Kreuzigung, wobei der Heiland vom Stifter des Werkes, dem Ritter Ruggero von Missanello, angebetet wird. 1445 entstand das silberne Prozessionskreuz in der Kirche S. Pietro in Morano Calabro in der Provinz Cosenza mit der Darstellung des Auftraggebers Antonello di Sassone, und von 1454 ist das Prozessionskreuz im Dom von Veroli in der Provinz Frosinone. Datierte Kreuze aus Sulmona in den Abruzzen kennen wir vom Jahre 1467 im Dom von Avezzano, von 1468 in der Pfarrkirche von Prezza, von 1484 in der Pfarrkirche von Cerchio und von 1489 in S. Nicola in Caramanico.
Im Vergleich zur Fülle der Kreuze aus Sulmona im Quattrocento ist die Zahl der darauf angebrachten Künstlerinschriften gering. Wir erwähnten den Niccolo Piczulo, der sich 1403 am Kreuz von Castelvecchio Subequo nennt. Wohl aus dem ersten Viertel des Jahrhunderts ist das von Jacopo di Onofrio di Giovanni di Mastro Tommaso signierte Kreuz in Castro, ein Ortsteil von Montegallo, und aus derselben Zeit stammt das Kreuz des Amico di Antonio di Notar Amico da Sulmona in S. Eusanio Forconese (Tf. 314. Amico übernimmt die Darstellung der ohnmächtigen Maria vom Kreuz in S. Eustachio in Tocco da Casauria, das am Ende des 14. Jh. von Petruccio Pelini aus Sulmona geschaffen wurde. Nicola di Amico di Cicco aus Sulmona graviert seinen Namen 1454 in das Kreuz im Dom von Veroli. Ob der Goldschmied Giovanni Rizio, der sich 1489 auf dem Kreuz in Caramanico nennt, in den Künstlerkreis Sulmonas einzubeziehen ist, bedürfte noch genauerer Nachforschung.
Aus dem 15. Jh. kennen wir etwa dreißig Objekte, die den Gütestempel von Sulmona tragen. Die nicht sehr stark voneinander abweichenden Formen dieser Werke müßten aufs neue studiert und die Schrift der Stempel genauer analysiert werden, ein Unternehmen, auf das wir nicht näher eingehen können.
Dagegen ist die Zahl der Prozessions kreuze, die mit dem Stempel von L'Aquila versehen sind, im 15. Jh. gering. Wir begegnen ihnen in der Pfarrkirche S. Sabino in Colli, ein Ortsteil von Barete, in der Pfarrkirche von Villa Sant'Angelo, in der Kirche S. Giovanni Battista in Collepietro, in Carpineto della Nora und in der Pfarrkirche von Cesacastina, ein Ortsteil von Crognaleto. Aus Teramo ist im 15. Jh. kein Silberkreuz mit einem Gütestempel überliefert. Vincenzo Balzano sieht das Altarkreuz im Dom von Penne als ein Werk des Giovanni d' Angelo da Penne an, der im Beginn des 15. Jh. arbeitete und der Schule von Teramo nahestand.
Die abruzzesischen Kreuze des 16. Jh. bleiben meistens der Tradition verhaftet. Allein in L'Aquila sind nach der Jahrhundertmitte auswärtige Einflüsse festzustellen. Die Werkstätten von Sulmona hatten sich erschöpft und die Herstellung von Kreuzen eingestellt. In Teramo kam es zu keinen besonderen Leistungen. Überkommene Machart zeigt das 1500 datierte Silberkreuz des Pietro Santi aus Tera mo in der Pfarrkirche von Montepagano. Wahrscheinlich ist das 1518 entstandene Prozessionskreuz in S. Maria La Nova in Cellino Attanasio einer teramanischen Werkstatt zuzuschreiben, ebenfalls ein Silberkreuz im Dommuseum von Atri. 1563 ist ein Vortragekreuz in S. Maria delle Grazie in Teramo datiert.
Ein schwacher Abglanz der ehemals hochentwickelten Silberschmiedekunst von Guardiagrele ist im Prozessionskreuz von 1589 spürbar, das der Goldschmied Pietro Paolo Gallucci aus Guardiagrele für die Pfarrkirche in S. Martino sulla Marrucina lieferte.
Im vorgeschrittenen 16. Jh. entstehen die meisten Silberkreuze in der Stadt L' Aquila. Hier ist der Goldschmied Vincenzo Goberna bekannt. Er signierte und datierte 1542 das Vortragekreuz in der Pfarrkirche von Tione, und 1554 nennt er sich auf dem Kreuz in der Pfarrkirche von Secinaro »Vincentius Guberne de Fonticulis [Fontecchio] «. Von 1557 sind zwei Prozessionskreuze aquilanischer Provenienz bekannt, das eine in der Pfarrkirche von Rivisondoli, das andere, sich in der Qualität hervorhebende, in S. Maria Assunta in Fossa. Es zeigt auf der Vorderseite unter den Füßen des Gekreuzigten die fein und zierlich gearbeitete Geißelung Christi. Das Zentrum der Rückseite bildet keine Figur, sondern ein Kuppelreliquiar mit einem Zylinder aus Glas, worin Reliquien eingeschlossen sind. Von 1564 stammt das Silberkreuz in der Kirche Madonna delle Grazie in Marana bei Montereale. Im letzten Viertel des Jahrhunderts ist in (S. 441) L'Aquila der Goldschmied Giovanni di Bartolomeo Rosecci aktiv. 1575 datiert und signiert er ein Kreuz für S.Bernardino in L' Aquila. An den Kreuzenden der Rückseite präsentieren sich als Sitzfiguren die hll. Franz von Assisi, Bernhardin von Siena und Johannes Capestranus. Zweifellos stammt von Rosecci das Kreuz in der Kirche S. Maria Paganica in L'Aquila. Beide Werke sind im Nationalmuseum in L'Aquila ausgestellt.
Einige aquilanische Kreuze, die genannten von Fossa und Marana sowie ein undatiertes aus der Kirche S. Stefano in Pizzoli zeigen in der Figurenbehandlung eine stärkere Plastizität und weichen inhaltlich teilweise von der üblichen Typologie ab. Diese Phänomene führt Valentino Pace zutreffend auf den Einfluß von Bildhauern zurück, die im 16. Jh. in den Marken in Loreto tätig waren und dort das Heilige Haus mit Marmorreliefs schmückten. Auch Rosecci läßt sich von Künstlern anregen, die in Lorero arbeiteten, vor allem von Andrea Sansovino, dessen Werke in S. Agostino in Rom ihm ebenfalls bekannt waren.
Die Herstellung abruzzesischer Vortragekreuze scheint sich im 17. Jh. auf L'Aquila beschränkt zu haben. Grundlegende Neuerungen sind nicht zu bemerken. Die Kreuze im Nationalmuseum von L'Aquila aus der Kirche SS. Pietro e Lorenzo in Acciano und aus S. Lucia in Magliano de' Marsi wiederholen Formen des vorigen Jahrhunderts. Datierte Kreuze findet man aus dem Jahr 1605 in der Kirche S. Panfilo im Ortsteil S. Panfilo von Tornimparte und von 1653 in der Pfarrkirche in Fagnano Alto. Eingravierte Künstlernamen begegnen an zwei Kreuzen aquilanischer Machart, zum einen in Montenerodomo in der Pfarrkirche, wo sich das von Bernardino Colletta signierte und 1610 datierte Kreuz befindet, zum andern in Loreto Aprutino in der Kirche S. Francesco, wo das von Francesco Novelli signierte und 1629 datierte Kreuz gezeigt wird. In jener Zeit standen die Abruzzen bereits unter dem Einfluß der Goldschmiedekunst Neapels. Ein Beispiel dafür liefert das 1625 datierte Prozessionskreuz in der Pfarrkirche von Poggio Picenze. Wohl derselbe Meister fertigte etwas später ein Kreuz, das in der Pfarrkirche von S. Lorenzo, ein Ortsteil von Pizzoli, aufbewahrt wird.
Im 18. Jh. kommt die Herstellung von Vortragekreuzen fast völlig zum Erliegen. Zwei aus dieser Zeit sind datiert, das eine von 1706 in der Pfarrkirche von Rocca S. Stefano, ein Ortsteil von Tornimparte, das andere von 1766 in der Pfarrkirche von Capestrano.
Reliquiare
Neben der Anfertigung von Prozessionskreuzen ist ein anderer Schwerpunkt abruzzesischer Goldschmiedekunst die Herstellung von Reliquiaren, mit einer künstlerischen Blüte im Trecento und vor allem im Quattrocento in Sulmona. Leider sind die frühesten Beispiele verloren. Aus dem Domschatz wurden 1929 zwei Kastenreliquiare gestohlen, die nur durch Nachzeichnungen und Phorographien bekannt sind. Das ältere aus vergoldetem Kupfer, etwa am Ende des 14. Jh. entstanden, steht auf vier kleinen Füßen. Die Wandungen sind von Vierpaßbogen durchbrochen, die in der Mitte silberne Scheiben mit der Darstellung von Heiligen zeigen, die ursprünglich mit transluzidem Email überzogen waren. Der Deckel des Kastens ist in Form eines Faltdachs gestaltet. Eine Inschrift teilt mit, daß das Gehäuse die Reliquien von zwei der Unschuldigen Kindlein enthielt.
Der zweite, etwas später entstandene Silberschrein wird von vier liegenden Löwen getragen. Die Wandungen und der Deckel in Form eines Pyramidensrumpfes sind mit Medaillons aus transluzidem Email geschmückt. Auf dem Kasten ist das Wappen der Familie Rainaldi aus Sulmona angebracht. Von gleicher Struktur ist der Reliquienbehälter, den die Schneiderzunft von Sulmona 1430 an die dortige Kirche der Annunziata schenkte (Tf. 316), eine Arbeit, die heute im Museo Civico der Stadt ausgestellt ist. Der Deckel besitzt wiederum die Form eines Pyramiden stumpfes und zeigt auf allen vier Seiten in der Mitte Darstellungen von Kelchen und antiken Amphoren. Eine Inschrift auf dem Knauf, der das den Kasten bekrönende Kreuz trägt, nennt den Auftraggeber des Schreines, die Schneiderzunft, deren Abzeichen, Schere, Tücher, Fingerhut usw., abgebildet werden.
Die Gestaltung des Rechteckkastens mit Füßen, mit der Dreiteilung der größeren Wandflächen und dem Pyramidenstumpf als Deckel wiederholt der Reliquienbehälter, den Giacomo di Paolo da Sulmona für die Kirche S. Maria Assunta in Assergi fertigte (Tf. 319). Aus Urkunden wissen wir, daß der Goldschmied während der Ausführung starb, und daß die unvollendete Arbeit vom Sohn des Künstlers am 18. September 1481 in Assergi abgeliefert wurde. Die Vorderseite des Schreines zeigt in der Mitte die thronende Madonna mit Kind, umgeben von den hll. Egidio und Franco. Diese Assistenzfiguren werden zu beiden Seiten von je vier Medaillons übereinander mit Ornamenten in transluzidem Email eingerahmt. Die Silberarbeit enthält mehrere Wappen von Assergi.
Der Einfluß der Goldschmiedekunst Sulmonas erstreckte sich nicht nur auf das Umland von L'Aquila sondern auch auf die Stadt selbst. 1410 wird eine Goldschmiedewerkstatt in Sulmona von S. Maria di Collemaggio in L'Aquila beauftragt, einen Silberschrein für die Reliquien des Papstes Coelestin V. anzufertigen. Dieses Werk war 120 Jahre lang ausgestellt und wurde 1529 von den Spaniern zur Bestrafung der Stadt L'Aquila verschleppt.
Unabhängig von Werkstätten in Sulmona entstand in der zweiten Hälfte des 15. Jh. der prachtvolle, wenig bekannte, silberne Reliquienbehälter in S. Flaviano in Giulianova (Tf. 317). Die Mitte der Vorderseite nimmt die Ganzfigur des segnenden Flaviano ein, der in seiner linken Hand den Bischofsstab hält. Er wird von zwei knienden Gestalten flankiert, von einem Engel und einem anbetenden Mann. In diesem hat man den Herzog von Atri, Andrea Matteo III. Acquaviva, erkennen wollen. Tatsächlich besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit dessen Porträts in Fresken von der Hand des Delitio im Dom von Atri.
Nach dem 15. Jh. entstandene Kastenreliquiare sind in (S. 442) den Abruzzen uninteressant. Ein Bronzeschrein in S. Pelino in Corfinio mit den Reliquien des Papstes Alexander I. wurde 1689 in Rom gearbeitet, und die silberne Urne mit den Reliquien des hl. Zopito in S. Pietro in Loreto Aprutino ist ein neapolitanisches Erzeugnis aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Selten ist die Form des sechseckigen Reliquienkastens. Ein Beispiel aus dem Anfang des 15. Jh. liefert der wenig beachtete Schrein aus vergoldetem Silber mit Email und figürlichem Schmuck aus dem Dom in Penne, der im Nationalmuseum in L' Aquila ausgestellt ist (Tf. 318). Die Spitze des pyramidenförmigen Deckels ziert ein Knopf aus Bergkristall. Die sechs Stand figuren in Relief an den Wänden des Schreins sind durch Beischriften bezeichnet. Die Hauptgestalt ist der von zwei Engeln umgebene thronende Christus. Neben ihm präsentieren sich die hll. Johannes Evangelista, Markus, Anastasius episcopus c.P. (civitatis Pennae), Massimus Levita und der Evangelist Lukas. Unter der Christusfigur steht die Künstlerinschrift »Johannes Angeli D.C.P. [de civitate Pennae] «.
Neben dem Kastenreliquiar ist im 15. Jh. in den Abruzzen ein anderer Typ gebräuchlich. Kunstvoll gearbeitete Ständer tragen sechs-oder achteckige Reliquienbehälter, deren Wände in Form von Fenstern oder Portalen gebildet sind. Die Bedachung besteht entweder aus einem Pyramidenstumpf oder einer Kuppel. Ausnahmsweise erscheint als Bekrönung eine freistehende Figur. So ziert das Reliquiar des Nicola da Campli im Rathaus von Ascoli Piceno der hl. Michael, und das 1465 datierte Reliquiar in S. Nicola in Lanciano zeigt die Gestalt der Maria. Im Dom von Isernia steht auf dem spitzzulaufenden Dach des Reliquienschreines die Statuette des als Krieger dargestellten hl. Nicandro mit Panzerhemd, Helm, Knieschutz und Beinharnisch.
In L'Aquila begegnen wir diesem Typus nur in einem importierten Werk. Im dortigen Nationalmuseum ist ein um 1400 entstandenes Reliquiar zu sehen, das als sechseckiges zweigeschossiges Gehäuse gebildet ist. Es sitzt auf einem Träger, auf dessen Knauf sich zwei sonst unbekannte sienesische Goldschmiede nennen: »Francesco e Bartolomeo Nucci di Siena fecero«.
Die meisten Reliquiare dieser Gattung kommen aus Sulmona. Keines ist datiert oder signiert. Die Produktion erfolgte serienmäßig und zeigt keine künstlerisch hervorragenden Leistungen. Manche abruzzesischen Kirchen besaßen gleich mehrere Exemplare dieser Art, z. B. verwahrt die Kirche S. Francesco in Castelvecchio Subequo drei derartige Reliquienbehälter, die etwa in einem Zeitraum von 100 Jahren entstanden sind. Die beiden Kirchen S. Domenico und S. Nicola da Bari in Cocullo besitzen sechs aus Sulmona stammende Reliquiare aus dem Quattrocento und aus dem Beginn des Cinquecento. In Scanno befinden sich zwei Stücke des 15. Jh., das eine in der Congregazione di Carita, das andere in S. Maria della Valle. Letzteres ähnelt einem Reliquienbehälter in S. Domenico im benachbarten Ort Villalago.
Der Einfluß Sulmonas erstreckte sich auch auf das Molise. Vor dem Zweiten Weltkrieg besaß die Kirche S.Amico in S. Pietro Avellana einen regelrechten Schatz von Goldschmiedewerken Sulmonas, die zwischen dem 13. und dem 15. Jh. entstanden, und wozu ein achteckiges Silberreliquiar auf einem Metallfuß aus der Mitte des Quattrocento gehörte. Eine achteckige Grundform zeigt auch das Reliquiar im Dom von Isernia, das den Gütestempel von Sulmona trägt. Es ist mit vielen Fenstern, Fensterrosen, Pilastern, Wimpergen und gedrehten Säulen verziert; wir haben es hier mit einem der am reichsten geschmückten Reliquiare des 15. Jh. zu tun. Es birgt die Reliquien des hl. Nicandro, und das Gehäuse mit einer Höhe von 41,3 cm und einer Breite von 23,2 cm heißt im Volksmund »Gabbia di S. Nicandro« (Käfig des hl. Nicandro).
Außerhalb der Werkstätten von Sulmona entstandene Reliquiare, deren Gestalt Architekturformen imitiert, sind bisher kaum studiert worden. In S. Maria Maggiore in Caramanico sieht man ein Beispiel aus Guardiagrele. Häufiger als aus Sulmona sind aus diesem Ort Daten und Künstlernamen überliefert. Zur Schule von Guardiagrele gehört wohl Nicola Della Franca, der 1465 das Reliquiengehäuse in S. Nicola in Lanciano herstellte. Ein angesehener Goldschmied war Bartolomeo di Paolo da Teramo, der zwischen 1394 und 1426 für S. Flaviano in Giulianova u.a. ein Kuppelreliquiar arbeitete.
Die Vielfalt der Formen der Reliquiare ist verblüffend. In Sulmona verwandte man im 15. Jh. den Typ des Zylinders aus Kristall, so daß die Reliquien sichtbar waren. Zwei Beispiele dieser Art sind in der Ovidstadt überliefert, das ältere und schlichtere befindet sich im Domschatz, das andere, etwas jüngere und reicher gearbeitete gehört der Annunziata von Sulmona. Bei diesen beiden Exemplaren steht der Zylinder aufrecht und wird von einem Metallständer getragen. Anders der zylinderförmige Behälter mit den Reliquien des Franz von Assisi in S. Francesco in Castelvecchio Subequo; er ist horizontal gelagert und ruht auf beiden Seiten auf zwei niedrigen Metallstützen. Die Herkunft dieses Behälters aus Sulmona ist nicht gesichert. Es fehlen die Gütestempel dieser Stadt, und die Technik des transluziden Emails an den Platten links und rechts an den Enden des Zylinders ist so vorzüglich, daß man sie sich in Siena entstanden denken kann.
Da die Reliquien meist Partikel des menschlichen Körpers sind, ist es nur natürlich, daß Reliquiare auch in Form der menschlichen Figur oder einzelner Körperteile gebildet wurden. Dieser Brauch war längst üblich, bevor wir ihn erstmals in den Abruzzen antreffen. Zunächst begnügte man sich mit Behältnissen, die Teile des Körpers nachbildeten, und erst später erscheint die Ganzfigur. Auf Arm-und Kopfreliquiare folgen die Büsten und zuletzt die vollständige Gestalt. Ob die späten Werke Reliquien enthielten, wäre im Einzelfall noch zu klären.
Das früheste abruzzesische Armreliquiar ist in S. Flaviano in Giulianova zu sehen, 1394 datiert und von dem bereits erwähnten Goldschmied Bartolomeo di Paolo da Teramo gefertigt. Das Armreliquiar des hl. Simeon ist in der Kirche S. Agostino in Lanciano überliefert und von Nicola di Anto (S. 443) nio di Pantaleone signiert und 1445 datiert. In der ersten Hälfte des 15. Jh. entstand das silberne Armreliquiar des Cesidius in der Kirche S. Cesidio in Trasacco. Das Reliquiar des Valentin in Form eines Armes in der Kirche SS. Valentino e Damiano in S. Valentino in Abruzzo Citeriore trägt ein Gütezeichen von Sulmona und ist das einzige gesicherte Werk dieser Art, das wir im 15. Jh. aus dieser Stadt kennen. Zu den Erzeugnissen des folgenden Jahrhunderts zählen ein Silberarm in S. Pelino in Corfinio und zwei weitere in S. Maria Assunta in Assergi. Ein später Nachzügler ist das 1729 datierte Armreliquiar in S. Donato in Guardiagrele.
Kopfreliquiare sind nur in geringer Zahl erhalten. Ein silberner Kopf im bischöflichen Palast neben dem Dom in Termoli ist nur schwer in die heimische Tradition einzureihen. Er wurde 1945 anläßIich der Restaurierung des Domes entdeckt. Man fand ihn zusammen mit einem bereits 1238 in Quellen genannten Schrein, der Reliquien des Timotheus, des Freundes des Apostels Paulus, enthält. Den silbernen Schädel mit den geometrisch stilisierten Formen hat man als Reliquiar des Timotheus angesehen. Im 14. Jh. brachte man an der Rückseite des Schädels ein gotisierendes, mit Glas versehenes Fensterehen an, durch das die Reliquie sichtbar war.
Im 14. Jh. begegnet man der Herstellung von Kopfreliquiaren in den Werkstätten von Sulmona. Das früheste datierte und signierte Erzeugnis dortiger Goldschmiedekunst ist der eindrucksvolle Silberkopf des hl. Nicandro, der laut Inschrift 1340 vom Meister Barbato aus Sulmona ausgeführt wurde. Als Auftraggeber wird der Bischof Giovanni da Tocco von Venafro genannt. Das Werk trägt keinen Gütestempel von Sulmona. Der Hals des Heiligen sitzt auf einem Metallring auf, an dessen oberem Rand die Inschrift angebracht ist. In einer Kehlung darunter sieht man in Medaillons die Madonna mit Kind, Büsten von Heiligen und Giovanni da Tocco. Im Gegensatz zum Reliquiar von Termoli ist der Kopf des Nicandro, der in der Chiesa del Cristo in Venafro aufbewahrt wird, anatomisch genau gebildet und zeigt sich stilistisch von den besten Werken der neapolitanischen Goldschmiedekunst beeinflußt. Wie eng die künstlerischen Beziehungen zur Hauptstadt des Königreichs waren, zeigt auch der einige Jahrzehnte später entstandene silberne Reliquienkopf des hl. Amico in der Kirche S. Pietro in S. Pietro Avellana. Das Gesicht ist weicher modelliert als beim Nicandro. Der Hals liegt auf einer runden von vier Löwentatzen gestützten metallenen Basis auf, ähnlich wie beim Kopfreliquiar aus Casamari im Domschatz von Veroli, das stilistische Beziehungen zu Sulmona aufweist.
Die Anfertigung von Büstenreliquiaren läßt sich in den Abruzzen ungefähr seit der Mitte des 15. Jh. verfolgen. Zu den frühesten Beispielen gehört die Büste des Berardus in der Cappella S. Berardo im Dom von Teramo (Tf. 323). Das Gesicht zeigt die realistische Behandlung der Renaissance, bemerkenswert ist die fein durchgearbeitete Bischofsmütze. Etwa gleichzeitig entstand die Büste des hl. Massimo im Dom von L'Aquila. Die Aufträge für aufwendige Silberbüsten gingen im 15. Jh. von den Kathedralen aus. Zu Teramo und L'Aquila gesellte sich Sulmona mit der Büste des hl. Panfilo, die heute im Domschatz aufgehoben wird. Urkunden teilen mit, daß sie 1459 von Giovanni di Marino di Cicco gearbeitet wurde, von einem Goldschmied aus Sulmona, der in seiner Heimatstadt über ansehnlichen Grundbesitz verfügte. Von der Büste ist allein die aus vergoldetem Kupfer gebildete Brustpartie übriggeblieben. Das Meßgewand ist auf der Vorderseite von einem verglasten Fensterehen mit gedrehten Säulchen als seitliche Rahmung und einem Dreipaßbogen als oberem Abschluß durchbrochen, so daß man die Reliquien betrachten konnte. In der Nacht des 6. April 1704 drangen Diebe in den Dom ein und raubten die aus Silber hergestellten Teile der Büste, Kopf, Mitra und Hände. In jener Zeit war man in Sulmona nicht mehr in der Lage, den Torso zu restaurieren. Man schickte ihn nach Rom, und dort ergänzte der römische Goldschmied Francesco Morelli die fehlenden Teile.
Im 16. Jh. sind lediglich aus Sulmona Büstenreliquiare bekanntgeworden. Das älteste ist nur durch eine Urkunde des Domarchivs überliefert. Demzufolge verfertigte der Meister Ippolito di Pietropaolo aus Sulmona 1522 für die Pfarrkirche in Palena die silberne Büste des hl. Fako zur Aufbewahrung seiner Reliquien.
In S. Cesidio in Trasacco verwahrt man zwei datierte Büstenreliquiare in natürlicher Größe aus versilbertem Kupfer. Das eine, den hl. Rufino darstellend, ist 1562 datiert und von den Künstlern Cascarello Carozzo und Pietro d'Aloisio Cariciola de Sulmona signiert. Die andere Büste des hl. Eutimio stammt von 1565 und dürfte das letzte gesicherte Reliquiar dieser Gattung sein.
Arm an Büstenreliquiaren ist das 17. Jahrhundert. 1603 datiert und signiert von den in Atri vielbeschäftigten Valerio und Teodoro Ronci ist die Büste der S. Reparata, die heute im Dommuseum aufgestellt ist. Vor dem Zweiten Weltkrieg war in der Pfarrkirche von Roccaraso die Silberbüste des hl. Ippolito zu sehen, 1658 datiert und in einer neapolitanischen Werkstatt entstanden. Undatiert ist die qualitätvolle Silberbüste des hl. Pardo im Dom von Larino.
Die Büsten des 18. Jh. haben nichts mehr mit abruzzesischer Kunst zu tun. Der hl. Leucio aus Silber in der Pfarrkirche S. Leucio in Atessa ist 1731 datiert. Um die Jahrhundertmitte entstanden in neapolitanischen Werkstätten die Silberbüste des hl. Justinus im Dom von Chieti und die des hl. Zopito in S. Pietro Apostolo in Loreto Aprutino. 1762. arbeitete der in Neapel berühmte Giuseppe Sammartino die silberne Halbfigur des hl. Massimo, die sich im Dom von Penne befindet und auf Prozessionen gezeigt wird.
Um 1700 entstand die Figur des hl. Venanzio in S. Maria Maggiore in Raiano. Er trägt Kriegerrüstung und hält in seiner rechten Hand ein Stadtmodell. In seiner Brust ist eine Öffnung zur Aufbewahrung seiner Reliquien. Ob es sich bei den beiden folgenden Silberstatuen um Reliquiare handelt, müßte noch festgestellt werden; die eine in der Pfarrkirche S. Rocco in Montorio al Vomano zeigt einen im 18. Jh. entstandenen hl. Rochus, die andere in S. Maria Maggiore in Guglionesi stellt einen 1729 datierten hl. Adam dar.
(S. 444)Liturgische Geräte und Bischofsstäbe
Geringere Bedeutung als die Prozessionskreuze und Reliquiare erlangten die liturgischen Geräte. Man fertigte in unserer Landschaft Kelche, mit denen man den Wein beim Abendmahl spendete, und große Teller, die vornehmlich für die Darreichung der Hostien dienten. Hinzu kamen die Kußtafeln aus Edelmetall, die der Geistliche den Kommunikanten zum Kuß hinhielt. Man fertigte Monstranzen oder Ostensorien, die die geweihte Hostie aufnahmen und bei festlichen Gelegenheiten ausgestellt wurden. Man fertigte Weihrauchgeräte und kleine Behälter zur Aufbewahrung des geweihten Wassers.
Unter diesen Erzeugnissen sind die Kelche am kunstvollsten gestaltet. Die Anfänge der Herstellung liegen in Sulmona. Das früheste Exemplar ist nur literarisch bekannt, wie wir an anderer Stelle erwähnten, aus einem ausführlich beschreibenden Schatzverzeichnis der Kirche S. Nicola in Bari. Der einzige erhaltene Kelch des Trecento stammt aus dem Dom von Sulmona und wird als ein Glanzstück abruzzesischer Goldschmiedekunst im Museo Civico ausgestellt. Auf dem niedrigen polygonalen Kelchfuß sind in transluzidem Email sechs Heiligenbüsten in Sechspaßbogen eingelegt. Den Anstieg des Fußes begleiten Blätter in Dreipaßbogen. Die Verbindung zwischen Fuß und Kelch bildet ein Sechskantstab, an dessen unterem Abschluß sich die undatierte Künstlerinschrift befindet »Hoc opus feeit Ciccarius Francisci«. In der Mitte wird der Stab durch einen Knauf geteilt, auf dem Medaillons in der für Sulmona charakteristischen Birnen-oder Tropfenform angebracht sind, worin weitere Büsten von Heiligen erscheinen. Den eigentlichen Trinkbecher ziert in Bodenhöhe ein Kranz von Dreipaßbogen mit Engeln, von denen einige musizierend dargestellt sind. In erwa halber Höhe des Bechers erscheint eine umlaufende Inschrift, die den Patron des Domes, Pamphilus, nennt. Die zu diesem Kelch gehörige Patene ist erhalten. Ihr Durchmesser beträgt 23,S cm, im Zentrum der Platte ist die Verkündigung dargestellt. Sie wird kreisförmig von einer Inschrift mit den Worten des Verkündigungsengels umschlossen. Der 25 cm hohe Kelch und die Patene sind mit dem Gütestempel von Sulmona versehen, dem frühesten, der überliefert ist. Die raffinierte Technik und der Figurenstil machen wahrscheinlich, daß Ciccarello sich an toskanischen Werken schulte. Dieser Kelch hat einige Berühmtheit erlangt. Man hielt ihn für eine Zimelie, die der aus Sulmona stammende Papst Innozenz VII. (1404-1406) dem Dom vermacht habe. Ciccarello wurde 1303 geboren und wird 1373 als verstorben erwähnt. Sein Kelch dürfte etwa um die Jahrhundertmitte entstanden sein, als der 1336 geborene spätere Papst noch ein Jüngling war. 1370 bekleidete er noch das schlichte Amt eines Rektors an der Annunziata in Sulmona, und erst 1386 begann seine eigentliche Karriere, die ihn zum Papst aufsteigen ließ. Aus chronologischen Gründen kann der Kelch des Ciccarello wohl kaum eine Schenkung des Papstes sein.
Die Form des Kelches von Sulmona hat lange Zeit nachgewirkt. Seiner Struktur am ähnlichsten und zeitlich am nächsten war der Kelch in der Kirche S. Pietro in S. Pietro Avellana, der im Zweiten Weltkrieg verlorenging. Die beiden Kelche im Dom von Isernia, von denen der frühere 1405 datiert ist, zeigen noch deutlich die Abhängigkeit von der Arbeit des Ciccarello. Beide Exemplare verfügen über den Gütestempel von Sulmona. Wohl ebenfalls in diesen Umkreis gehört der Kelch aus der Congregazione di Carita in Scanno, von dem nur der Fuß und der Ständer aus dem 15. Jh. stammen. Beide Teile zeigen den Stempel von Sulmona. Dieser Gruppe anzuschließen sind noch zwei weitere mit dem Stempel von Sulmona versehene Kelche aus dem vorgeschrittenen IS.Jh., der eine in der Kirche S. Maria dei Colle in Pescocostanzo und der andere im Domschatz von Veroli.
Die Herstellung von Kelchen im 15. Jh. beschränkte sich jedoch nicht nur auf Sulmona. Der uns bekannte Goldschmied Bartolomeo di Paolo da Teramo schuf 1416 einen signierten und datierten Kelch für die Pfarrkirche in Cesacastina. Der einzige bekannte Gütestempel Teramos aus dem 15. Jh. begegnet an einem Kelch im Dom von Bitonto in Apulien. Der reichgearbeitete vergoldete Silber kelch im Domschatz von Chieti ist aus Venedig importiert.
Im folgenden Jahrhundert entstanden nur noch Geräte, die allein wegen ihrer Datierung oder einer Künstlersignatur Erwähnung verdienen. Der 1541 datierte Kelch aus vergoldetem Kupfer in der Kirche S. Berardo in Peseina trägt keinen Stempel und ebensowenig der 1581 entstandene in S. Maria Maggiore in Caramanico. Der schaffensfreudige Valerio Ronci aus Atri signierte und datierte 1596 einen Kelch für die Pfarrkirche S. Maria della Pace in Fontecchio sowie 1604 einen weiteren, der im Dommuseum von Atri zu sehen ist. Die Kathedrale von Ortona verwahrt einen Kelch von 1608, die Kirche S. Maria del Colle in Pescocostanzo einen 1630 datierten. Die wenigen Kelche des 18. Jh. zeigen neapolitanische Einflüsse, wie der 1714 datierte Kelch in der Pfarrkirche S. Maria e S. Pietro in Fagnano Alto und der in der Pfarrkirche S. Flaviano in Barisciano, auf dem der Gütestempel von Neapel mit dem Jahre 1732 eingraviert ist. Zu den vielen Kelchen in S. Maria del Colle in Pescocostanzo gesellt sich ein spätes, reich dekoriertes Werk, das 1735 datiert ist.
Mit Ausnahme einiger Kelche haben die liturgischen Geräte in den Abruzzen nur wenig Bedeutung gewonnen. Die Zahl der erhaltenen Objekte ist gering. Es hat sich eine einheitliche Gruppe von Hostientellern erhalten, deren Durchmesser gewöhnlich 28 oder 42 cm beträgt. Das Material ist durchweg Messing. Sie sind seit dem Ende des Cinquecento in den Abruzzen festzustellen und fanden ihre größte Verbreitung im darauffolgenden Jahrhundert. Die Teller sind mit Inschriften in gotischen Lettern verziert, und aus diesem Grunde hält man sie für Nachbildungen deutscher Erzeugnisse. Kein Objekt dieser Art ist datiert oder signiert. Ein relativ alter Teller, erwa vom Ende des 16. Jh., ist in der Kirche S. Cesidio in Trasacco erhalten. Im Zentrum sieht man die Darstellung des Sündenfalls mit dem Baum der Erkenntnis, der Schlange und Eva, die dem Adam den Apfel (S. 445) reicht. Derartige Hostienteller verwahren z. B. der Dom in L'Aquila, die Pfarrkirchen in Montereale, Avezzano und Cerchio, die Kirchen S. Maria del Carmine in Sulmona und S. Giorgio in Pereto.
Etwas differenzierter als die Messingteller sind die Kuß tafein in den Abruzzen, von denen die meisten aus dem 16. Jh. überliefert sind. Die um 1500 entstandene silberne Tafel im Schatz der Annunziata in Sulmona trägt keinen Gütestempe!. Die Mitte ziert ein ovales Bildfeld mit acht Halbfiguren, dargestellt ist der Erlöser, umgeben von Engeln und Heiligen. In den Ecken der rechteckigen, 14,s x 10 cm messenden Platte erscheinen die Evangelistensymbole. Die Mehrzahl der Kuß tafeln ist aus vergoldetem Kupfer gefertigt. 1520 ist die Kußtafel von S. Marco in Agnone datiert. Laut Signatur stellte 1558 ein Magister Marianus Scarapatius da Sulmona eine Kußtafel her, die heute im Kloster von Montecassino verwahrt wird. Ein Jahr früher entstand von der Hand eines anonymen Künstlers die vergoldete bronzene Tafel in S. Maria Assunta in Castel di Sangro. In der Mitte erscheint in einer architektonischen Rahmung die Trinität, darunter halten zwei Putten das Wappen der Stadt. Eine ähnliche Architekturdarstellung zeigt die Kuß tafel in der Pfarrkirche S. Maria in Sant'Angelo di Bagno, ein Ortsteil von L'Aquila. In der Mitte sieht man den aus dem Grabe aufsteigenden Christus; dasselbe Thema befindet sich auf der Kußtafel des 16. Jh. im Dom von L'Aquila.
Mit Ausnahme der Monstranzen des Nikolaus von Guardiagrele erlangten diese Geräte in unserer Region keine Bedeutung. Während sich der Fuß der silbernen Monstranz in S. Agostino in Lanciano noch mit abruzzesischen Erzeugnissen aus Sulmona und Guardiagrele vergleichen läßt, ist der Aufbau der aus dem 16. Jh. stammenden Monstranz in der Kirche S. Massimo in Isola del Gran Sasso ein Fremdkörper in unserer Landschaft. Der vielteilige und überladene Zierat, bestehend aus architektonischen Formen, weist auf spanischen Einfluß hin, der über Neapel vermittelt wurde. Aus dem 18. Jh. sind einige datierte Monstranzen überliefert. Die Kirche S. Francesco in Lanciano verwahrt ein 1713 datiertes Exemplar, das von zwei Engeln getragen wird. Ferner sind zwei in Neapel entstandene Monstranzen bekannt, eine 1724 datierte in L' Aquila in der Kirche S. Chiara Povera, eine andere von 1731 in S. Francesco in Calascio. Den Ständer dieser Monstranz bildet die Figur des hl. Franz von Assisi.
Die meist aus Silber gefertigten Weihrauchgefäße sind enger mit der abruzzesischen Goldschmiedekunst verbunden als die Monstranzen. Sie sind seit dem 15. Jh. erhalten. Anfänglich ähnelt ihre Struktur dem Typ der sechseckigen Reliquiare mit Fensterwerk in zwei Geschossen und einem Pyramidendach. Ein gutes Beispiel dieser Art war das prächtige, im Zweiten Weltkrieg verlorengegangene Rauchgefäß aus der Pfarrkirche S. Salvatore in Cansano aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Es war mit dem Stempel von Sulmona versehen. Wahrscheinlich aus einer Werkstatt Sulmonas stammt das Weihrauchgefäß aus dem Ende des 15. Jh. in S. Maria delle Grazie in Collarmele. In der Struktur gleicht es dem von Cansano, ist jedoch gröber gearbeitet. Der im Quattrocento in Sulmona übliche Aufbau der Weihrauchgefäße lebt noch im folgenden Jahrhundert weiter, wie das Exemplar in der Pfarrkirche von Sant'Angelo di Bagno zeigt. Ein Rauchgerät im Dommuseum von Atri ist 1605 datiert und von Ronci signiert. Mit der Jahreszahl 1698 ist ein Gefäß in S. Maria Assunta in Fossa versehen, während ein anderes in der Pfarrkirche S. Maria in Scurcola 1779 datiert ist.
Kunstgeschichtlich bedeutungslos blieben Weihwasserbehälter aus Silber. Wir kennen in den Abruzzen nur Beispiele aus späterer Zeit, als die Goldschmiedekunst in unserer Region zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken war. Zwei Beispiele aus der Barockzeit sind mit dem dazugehörigen Weihwedel überliefert, der eine Behälter in der Pfarrkirche von Rivisondoli ist 1729 datiert, der andere in S. Maria Paganica in L'Aquila zeigt beste neapolitanische Werkmannsarbeit des 18. Jahrhunderts.
In abruzzesischen Kathedralen haben sich Bischofsstäbe erhalten, die zu den besten Arbeiten heimischer Goldschmiedekunst zählen. Vom frühesten Exemplar erfahren wir nur aus Schriftquellen. Demnach bestellte der Bischof Bartolomeo Conti im Jahr 1305 für den Dom in L'Aquila einen Bischofsstab, der dort noch 1391 in Gebrauch war. Ein Glanzstück ist der silberne Stab der Kathedrale von Sulmona, der heute im Museo Civico der Ovidstadt ausgestellt ist (Tf. 321). Der Aufbau ist kompliziert und die Technik raffiniert. Der runde Schaft, der mit einem silbernen Netzwerk überzogen ist, in dessen rautenförmigen Maschen nochmals Vierpaßbogen eingefügt sind, trägt den sechskantigen Knauf. Dieser wiederholt die Formen des Knaufs vom Kelch des Ciccarello di Francesco für den Dom in Sulmona. Es begegnen die Medaillons aus transluzidem Email in der für Sulmona charakteristischen Tropfenform. Sie enthalten abwechselnd Darstellungen von Heiligen und Wappen. Auf dem Knauf sitzt ein sechseckiges Prisma, dessen Seiten kleine nischenförmige Vertiefungen zeigen. Darüber folgt ein kurzer Sechskantstab, auf dem der kostbare viereckige Griff ansetzt. An einer seiner Seiten erscheint in einer Ädikula mit Giebeldach die Statuette des Pamphilus, des Schutzheiligen des Domes. Darauf setzt die Krümme an, die in Form des geöffneten Maules eines Phantasietieres ausläuft. Gleichsam als Karyatide stützt ein Putto die Fratze des Tieres. In der Krümme stehen die vollplastisch gebildeten, dekorativen Figürchen der Verkündigung. Am Bischofsstab fehlt der Gütestempel von Sulmona. Die Tradition hält ihn für ein Geschenk des Papstes Innozenz VII. an den Dom. Wie beim Kelch des Ciccarello kommen wir auch hier mit den Daten in Konflikt. Der Stab war bereits längst im Gebrauch, als Innozenz die Papstwürde erlangte.
Die Form des Bischofsstabes aus Sulmona wiederholt etwas vereinfacht und vergröbert der für die Kathedrale von Lanciano gearbeitete Krummstab, der die Stempel von Sulmona trägt. Der Bischofsstab von Atri (Tf. 320) im dortigen Dommuseum ist wenig beachtet und gilt als französische Importware; indessen geht man mit dieser Annahme zu (S. 446) weit. Vielmehr zeigt das Werk, wie die Stäbe von Sulmona und Landano, französische Einflüsse, die von Neapel vermittelt wurden. Sicherlich ist der Stab von Atri keine in Sulmona entstandene Arbeit, jedoch zeigt er einige Gemeinsamkeiten mit dem dortigen Exemplar. Auch sein Schaft wird von einem Silbernetz umschlossen, dessen Maschenwerk sich allerdings nicht aus Rauten sondern aus Kreisen zusammensetzt. Wieder erscheint das sechseckige Prisma mit nischenförmigen Vertiefungen. In der Krümme befinden sich zwei vollplastisch gebildete Sitzfiguren, der Griff wird ebenfalls wie in Sulmona an seinem Ende von einem Engel in der Art einer Karyatide abgestützt. Wohl außerhalb abruzzesischer Werkstätten entstand der Bischofsstab des 17. Jh. in der Kathedrale von Campli.
Einzelwerke abruzzesischer Goldschmiedekunst
An Hand von Gütestempeln erfahren wir, daß in Sulmona auch metallene Buchdeckel angefertigt wurden. Hölzerne Tafeln belegte man mit Silberplatten, die mit figürlichen Reliefs verziert sind. Stempel von Sulmona tragen Vorder-und Rückseite des Einbandes eines Evangeliars in der Sakristei der Kathedrale von Lucera in der Provinz Foggia. Diese Arbeit aus der ersten Hälfte des 15. Jh. zeigt auf der Vorderseite die Kreuzigung. Unter den ausgebreiteten Armen des Heilands erscheinen zwei Engel, während Maria und Johannes neben dem auf der Schädelstätte errichteten Kreuz stehen. Auf der Rückseite thront der segnende Christus. In den Ecken befinden sich die Evangelistensymbole. Die prachtvolle Komposition der Figuren sowie ihre plastische Durchformung machen die Tafeln zu einem Hauptwerk der abruzzesischen Goldschmiedekunst.
Das Museo Sacro des Vatikans in Rom besitzt die Rückseite eines silbernen Einbandes. In der Mitte des Deckels sieht man in einem Sechspaßbogen die meisterhafte Darstellung der Verkündigung. Von besonderer Schönheit sind die Haltung und die ausdrucksvollen Köpfe der Maria und des Engels. Ober ihnen erscheint Gottvater als Halbfigur im Profil. Auch hier befinden sich in den Ecken des Deckels die Evangelistensymbole. An den Seiten Gottvaters sind die Gütezeichen von Sulmona zu sehen. Diese Arbeit dürfte um die Mitte des 15. Jh. entstanden sein.
Aus den Abruzzen ist eine kleine Reihe bemerkenswerter Silberstatuetten überliefert. Die früheste von ihnen in S. Maria Maggiore in Caramanico wurde gestohlen und durch eine Replik ersetzt. Das Original entstand wahrscheinlich um 1300 in der Provence. Die Unsicherheit über die Herkunft beflügelte die Legendenbildung. Man glaubte, die Statuette sei im 10. Jh. von earo Monaco in das nach ihm benannte Caramanico gebracht worden; dieser sagenhafte Gründer des Ortes soll ein Nachkomme Karls d. Gr. gewesen sein und als fränkischer Mönch in S. Clemente a Casauria gelebt haben.
Interessanter ist in der Pfarrkirche S. Nicola in Lama dei Peligni die silberne Madonnenstatuette mit Kind, deren Entstehung am Beginn des 14. Jh. anzunehmen ist. Der Faltenwurf Mariens und die frontale Haltung des auf ihrem linken Arm stehenden Kindes zeigen Beziehungen zur Holzskulptur des Trecento, die stilistisch von Neapel abhängig ist. Dieser Figur steht in den Abruzzen die im Volksmund »Pasquarella« (Tf. 322) genannte Gruppe in S. Francesco in Castelvecchio Subequo am nächsten. Sie ist eine der wenigen vollplastischen Figurengruppen aus Silber in unserer Region. Die gekrönte Maria, bekleidet mit einer weiten Tunika und einem Mantel, sitzt auf einem Thronsitz ohne Rückenlehne und hält den aufrechtstehenden Christusknaben auf ihrem linken Knie. Zwei kleine Engel, die nur bis zum Schoß der Jungfrau reichen, stehen zu ihren Seiten. Die Gruppe steht auf einem rechteckigen Podium, um dessen vier Seiten, die im Halbrund ausbuchten, sich eine Arkadenreihe zieht. In die kleinen Bögen sind Engelfiguren in transluzidem Email eingefügt. Auf der Inschrift unter dem Sitz der Maria nennt sich derselbe Fra Bartolomeo di Asciano als Auftraggeber, der das 1403 von Niccolo Piczulo gefertigte Reliquienkreuz für S. Francesco in Castelvecchio Subequo bestellt hatte. Die Inschrift der »Pasquarella« ist 1412 datiert, jedoch stammt die Arbeit nicht von der Hand des Piczulo. Die Gruppe weist vier Gütestempel von Sulmona auf. Wie die Statuette von Lama dei Peligni, zeigt sich auch die »Pasquarella« stilistisch von Neapel abhängig, und zwar von Tino da Camaino und von französischen Werken, die sich in Neapel befanden. Aus einer Werkstatt in Sulmona stammt das im Quattrocento entstandene Silberfigürchen des hl. Remigius in der Pfarrkirche S. Remigio in Fara S. Martino.
Aus der Barockzeit sind in den Abruzzen nur wenige Goldschmiedearbeiten bekannt und auch kaum erwähnenswert, da zu dieser Zeit die heimischen Werkstätten ihre Tätigkeit bereits eingestellt hatten. Meistens gab man die Arbeiten in Neapel in Auftrag oder ließ sie durch Künstler ausführen, die sich in der Landeshauptstadt geschult hatten. Ich führe hier nur ein wenig bekanntes Beispiel aus Petrella Tifernina im Molise an, wo man 1737 eine gewaltige Reiterstatue des hl. Georg herstellen ließ, die stilistisch mit neapolitanischen Objekten in Verbindung zu bringen ist. Auftraggeber waren der Erzpriester von S. Giorgio, Cannavina, einige Bürger von Petrella und der 1760 verstorbene Alfonso Carafa, Herzog von Montenero Val Cocchiana, von Rionero Sannitico und von Petrella. Der jugendliche Reiter, der mit erhobenem Arm den Speer in den Rachen des Ungeheuers stößt, ist aus Silberplatten zusammengefügt, und das kräftige, sich aufbäumende, schwarze Pferd ist in Bronze gegossen.
Der Goldschmied Nikolaus von Guardiagrele
Die Goldschmiedekunst in den Abruzzen, die teilweise hervorragende Leistungen aufzuweisen hat, erlebte im 15. Jh. mit den Werken des Nikolaus von Guardiagrele einen Höhepunkt. Abruzzesische und auswärtige Gelehrte haben sich seit langer Zeit mit diesem Meister auseinandergesetzt, ohne zu gesicherten und abschließenden Ergebnissen gelangt zu sein. Von seinem Leben wissen wir kaum etwas, nicht einmal sein Geburts-und Todesjahr. Er wurde vor 1400 geboren, die willkürlichen Bestimmungen seines Geburtsdatums (S. 447) schwanken zwischen 1380 und 1395. Aus einem Dokument erfahren wir, daß der Meister 1462 nicht mehr am Leben war. Die meisten Auskünfte über ihn geben die mit seinem Namen versehenen und datierten Inschriften auf seinen Werken. Daraus geht hervor, daß er aus Guardiagrele stammt, und es ergibt sich die folgende chronologische Abfolge seines CEuvre. 1413 entstand die Monstranz von Francavilla als seine früheste bekannte Arbeit, 1418 folgte eine andere für Atessa. Sein erstes Prozessionskreuz arbeitete er 1422 für Lanciano, weitere Kreuze entstanden 1431 für Guardiagrele, 1434 für den Dom in L'Aquila, 1436 für Monticchio und 1451 für S. Giovanni in Laterano in Rom. An seiner bekanntesten Arbeit, dem Altarantependium im Dom von Teramo, war er von 1433 bis 1448 beschäftigt. Sein letztes datiertes Werk ist die 1455 entstandene Reliquienbüste des hl. Justinus im Dom von Chieti. Vom Original sind nur der Kopf und ein Arm übriggeblieben. Die Anzahl der Zuschreibungen an Nikolaus ist beträchtlich, jedoch kaum überzeugend. Man glaubt, seinen Stil in Steinskulpturen wiederzuerkennen und sogar in der Malerei.
In unserem Wissen über die künstlerische Entwicklung des Meisters sind wichtige Fragen offen und manche Hypothesen eingeflochten. Er schuf Werke der Goldschmiedekunst, deren Herstellung in unserer Region geläufig war, wie Prozessionskreuze, Monstranzen und Reliquienbüsten. Dabei ist auffällig, daß keine Beziehungen des Künstlers zum Zentrum der abruzzesischen Goldschmiedekunst, zu Sulmona, zu belegen sind. Der Gütestempel dieser Stadt kommt auf keinem seiner Werke vor. Nikolaus arbeitete für viele Orte in den Abruzzen; er war häufig für L'Aquila tätig und dann im adriatischen Küstenraum für Teramo, Chieti, Francavilla, Lanciano und Atessa.
Nikolaus zeigt in seiner Kunst noch starke Bindungen an die Bildhauerei des Trecento, andrerseits aber gehört er zu einer modernen Generation, die aufmerksam die künstlerische Entwicklung jenseits der Grenzen der eigenen Landschaft verfolgt. Er versteht es, sich auf einer größeren Bühne zu bewegen und weiß, was in den verschiedenen Silberwerkstätten Italiens vor sich geht.
In Guardiagrele, das seit 1391 über eine eigene Münzpräge verfügte, besaß die venezianische Kunst bereits seit einiger Zeit eine gewisse Geltung. Zeugen hierfür sind die am Ende des Trecento entstandenen und heute kopflosen Figuren, die aus Stein vom Maiellagebirge für S. Maria Maggiore in Guardiagrele gearbeitet wurden. Für dieselbe Kirche waren auch Nikolaus sowie deutsche Künstler tätig, von denen Gualterius de Alemania zu hohem Ansehen kam. Die Frühwerke des Nikolaus lassen erkennen, daß ihm die venezianische Skulptur nicht unbekannt war. Der venezianische Maler Jacobello dei Fiore porträtierte den Meister Nikolaus auf seiner Altartafel im Dom von Teramo.
Toskanische Einflüsse sind in den Frühwerken des Nikolaus, in Francavilla, Atessa und Lanciano, kaum spürbar. Diese zeigen sich erst in dem 1431 entstandenen Prozessionskreuz von Guardiagrele. Nikolaus übernimmt Figuren von der zweiten Baptisteriumstür in Florenz, die Ghiberti mit Schülern zwischen 1403 und 1424 anfertigte. Lange Zeit blieb die Meinung unwidersprochen, Nikolaus habe die Bronzetür in Florenz selbst gesehen und sogar möglicherweise als Gehilfe daran mitgearbeitet, bis Enzo Carli 1939 auf Steinreliefs hinwies, die ursprünglich in S. Maria Assunta in Castel di Sangro zu sehen waren, eine Kirche, die 1695 abgebrochen wurde, und an deren Stelle dann die schöne Barockkirche trat. Von den anfänglich 19 oder 20 Reliefs sind nur mehr sechs übriggeblieben, die heute im Museo dell'Opera dei Duomo in Florenz aufbewahrt werden. Sie reproduzieren gewissenhaft Bronzereliefs von der Tür des Ghiberti. Enzo Carli neigt der Ansicht zu, Nikolaus sei niemals in Florenz gewesen, sondern kenne die Arbeiten Ghibertis allein durch die Reliefs aus Castel di Sangro, die etwa zwischen 1420 und 1424 zu datieren seien. Dieser These Carlis wäre eine andere gegenüberzustellen: Nikolaus von Guardiagrele ist selbst der Autor der Steinreliefs von Castel di Sangro. Diese Behauptung wird durch die Meinung erhärtet, Nikolaus sei auch als Bildhauer in Stein tätig gewesen. Am Portal der Fassade des Domes von Teramo hat man ihm mit einigem Recht die Verkündigungsgruppe zugeschrieben, die über den den Eingang flankierenden Säulen erscheint. Andere Forscher haben die Lünettenreliefs am Haupteingang von S. Maria Maggiore in Guardiagrele mit Nikolaus in Verbindung gebracht. Die Auffassung, Nikolaus habe das Werk Ghibertis durch die Steinreliefs vermittelt bekommen, ist schon deshalb nicht einleuchtend, weil seine Silberreliefs eine sehr viel größere übereinstimmung mit den Reliefs der Baptisteriumstür zeigen als die Reliefs aus Castel di Sangro.
Nikolaus muß zahlreiche Gehilfen beschäftigt haben, die seine künstlerischen Erfindungen ohne bemerkenswerte Varianten reproduzierten. Seine eigene Leistung zeichnet sich am deutlichsten in seinen Frühwerken ab, in den Kreuzen in Lanciano und Guardiagrele, die zu seinen besten Arbeiten gehören, während im berühmten Antependium von Teramo bereits die Beteiligung der Werkstatt fühlbar wird.
Wie gesagt, sind die frühesten erhaltenen Arbeiten des Nikolaus die Monstranzen von 1413 und von 1418, die in der Pfarrkirche von Francavilla (Tf. 328) und in S. Leucio in Atessa aufbewahrt werden. Beide Werke sind im Aufbau und in der Ausführung sehr ähnlich. Das sechseckige Gehäuse zeigt das in den Abruzzen so beliebte Fensterwerk. Allerdings ist die formale Gestaltung so vollkommen, daß anzunehmen ist, dem Nikolaus seien sienesische Vorbilder bekannt gewesen. Die Kunst des Meisters wird im Vergleich der Monstranz von Francavilla mit der etwa gleichzeitig entstandenen »Gabbia di S. Nicandro« im Dom von Isernia offenkundig. Beide Werke zeigen Gemeinsamkeiten in der Struktur; aber die Arbeit des Nikolaus erweist sich in der Formgebung durchdacht, gestrafft und präzis, wohingegen die »Gabbia« in Isernia unsicher erscheint. An den Monstranzen des Nikolaus erkennt man bereits seine Vorliebe für die Darstellung der menschlichen Gestalt. Sie erscheint vollplastisch gebildet an den Pilastern, die die Ecken der sechseckigen Gehäuse betonen. Die Monstranzen in Franca (S. 448) villa und in Atessa zeigen den Erzengel Michael als Bekrönung.
Die reifste Arbeit aus der Frühzeit des Nikolaus ist das 1422 datierte Prozessionskreuz in S. Maria Maggiore in Lanciano (Tf. 324). Es entstand zwei Jahre vor Beendigung von Ghibertis Baptisteriumstür und zeigt noch keinen Einfluß des Florentiner Künstlers. Das Kreuz von Lanciano wiederholt Einzelformen der Monstranz in Atessa. Die Silberplatten in Lanciano sind auf Eichenholz angebracht. Im Verhältnis zu anderen abruzzesischen Vortragekreuzen weisen die Werke des Nikolaus einen ansehnlichen Figurenapparat auf, allein am Kreuz von Lanciano sind 44 Personen dargestellt. Auf der Vorderseite ist der Gekreuzigte auf ein Astkreuz genagelt. An den wie üblich verbreiterten Kreuzenden erscheinen rechts Petrus, Jakobus und Johannes, links die drei Marien am Grabe, unten Christi Grablegung mit acht und oben die Auferstehung mit vier Figuren. Die Mitte der Rückseite nimmt der segnende Christus ein. Hier zeigen die Kreuzenden ausschließlich Begebenheiten aus dem Marienleben, rechts und links die Verkündigung, unten den Marientod mit den umstehenden zwölf Aposteln und oben die Marienkrönung. Mit der Darstellung marianischer Themen auf Prozessionskreuzen schließt sich Nikolaus abruzzesischen Gewohnheiten des Trecento an. Auf der Rückseite des Kreuzes von Rosciolo befand sich Maria an Stelle des üblichen segnenden Christus. Die Verkündigungsszene ist auf der Rückseite des Kreuzes von Lucoli Alto angebracht, und den drei Marien begegneten wir auf den Kreuzen in den Pfarrkirchen von Tocco da Casauria und S. Eusanio Furconese. Auf der Rückseite des Kreuzes von Lanciano sieht man jeweils in der Mitte der Kreuzbalken die vier Evangelisten in transluzidem Email, und in derselben Technik erscheinen im Knauf in Nischen sechs Apostel, Thomas, Jakobus, Philippus, Petms, Paulus und Andreas, die durch Beischriften bezeichnet sind. Die ersten beiden Apostel wurden restauriert.
Neun Jahre später, 1431, fertigt Nikolaus das silberne Prozessionskreuz für S. Maria Maggiore in seiner Heimatstadt Guardiagrele (Tf. 325). Die Maße und die Technik unterscheiden sich kaum vom Kreuz in Lanciano. Auf der Vorderseite erscheinen zwei fliegende Engel unter den Armen des Gekreuzigten, der einen emaillierten roten Kreuznimbus hat, und über seinem Haupt ist der Pelikan zu sehen, der bereits im Trecento am Kreuz in der Pfarrkirche von Lucoli Alto auftrat. An den Enden der Kreuzarme sind der Evangelist Johannes und Maria dargestellt, und wie in Lanciano befindet sich am Kreuzfuß die Grablegung Christi und am oberen Ende die Auferstehung. Die Mitte der Rückseite nimmt der segnende Christus ein, und die vier Evangelisten erscheinen hier an den Enden der Kreuzbalken, während man in der Mitte Darstellungen aus dem Marienleben sieht, teilweise mit anderen Inhalten als in Lanciano, und zwar die Madonna mit Kind, die Anbetung der Könige, die Flucht nach Ägypten und die Marienkrönung.
Das Kreuz von Guardiagrele ist an manchen Stellen defekt. Es fehlen sechs Figuren in den Nischen des achteckigen Knaufs, der Kopf Christi in der Auferstehung, der Kopf des Evangelisten Johannes auf der Vorderseite, und auf der Rückseite sind an den Kreuzenden die Köpfe der Evangelisten Markus, Lukas und Matthäus verschwunden.
Gewichtiger als die Gemeinsamkeiten erweisen sich die Unterschiede zwischen beiden Kreuzen. Das Kreuz von Lanciano zeigt noch spätgotische Merkmale, das von Guardiagrele ist von Ghiberti beeinflußt. Zwischen den Jahren 1422 und 1431 muß Nikolaus das Werk des Florentiners kennengelernt haben. In den Nischenfiguren des Knaufs von Lanciano war noch die Formensprache des Trecento zu erkennen, besonders in der gotisch geschwungenen Figur Petri, aber auch in den anderen Aposteln, deren Gewandungen noch die herkömmlichen Schüsselfalten zeigen. Der Faltenwurf verdeckt die Körper, ohne die anatomischen Formen zu berücksichtigen. Der Gekreuzigte, der in Lanciano derb und unbeholfen gebildet ist mit einem massigen Lendentuch und krummen Beinen, erhielt in Guardiagrele eine durchdachtere und elegantere Form. Unter dem Lendentuch scheinen die Körperformen durch, überhaupt wird die Anatomie stärker betont. In ähnlicher Weise unterscheidet sich die Grablegung auf dem Kreuz in Guardiagrele von der Darstellung gleichen Themas in Lanciano. Letztere ist plump, die Hauptsache scheint die Schauwand des Sarkophags zu sein, auf der Nikolaus sich inschriftlich als Künstler nennt, während die handelnden Personen in den Hintergrund gedrängt sind. Die mangelnde anatomische Genauigkeit wird durch die gotisch übersteigerte Gestik ausgeglichen. Die gleiche Szene erscheint in Guardiagrele organischer und ausgeglichener. Ein ähnlicher Kontrast besteht zwischen den beiden Darstellungen der Auferstehung. Auf dem Kreuz in Lanciano fallen die drei schlafenden Krieger vor dem Sarg in der detaillierten Schilderung ihrer Panzer und Waffen stärker ins Auge als der etwas schwerfällig aufsteigende Christus mit der Gesetzesrolle.
Drei Jahre nach dem Vortragekreuz von Guardiagrele entstand ein anderes, das Nikolaus 1434 im Auftrag des Domkapitels von L'Aquila ausführte, und das heute im dortigen Nationalmuseum ausgestellt ist. Die Figuren erscheinen sicherer und ausgewogener als in Guardiagrele. Die dortigen Themen sind bis auf geringfügige Abänderungen übernommen. An Stelle der Anbetung der Könige und der Flucht nach Ägypten in der Mitte der Kreuzarme sieht man hier die Wappen des Domkapitels und des Bischofs Amico Agnifili.
Die späteren Prozessionskreuze des Nikolaus greifen immer wieder auf seine Standardwerke in Lanciano und Guardiagrele zurück. Sein 1436 datiertes Kreuz in der Pfarrkirche S. Nicola da Bari in Monticchio wiederholt in etwas vergröberter Form das Programm des Kreuzes von L'Aquila. Das Versiegen der künstlerischen Invention und die Beteiligung der Werkstatt zeigt sich besonders am Kreuz, das Nikolaus 1451 für die Kirche S. Giovanni in Laterano in Rom ausführte. Der Befund ist allerdings durch Restaurierungen beeinträchtigt, und vielleicht ist das Werk unvollendet geblieben.
Die bekannteste Arbeit des Nikolaus ist das 3,34 x 1,17 m große, silberne Altarantependium, das erst in neuerer Zeit (S. 449) im Zentrum des Doms von Teramo unter dem großen Ziborium vor dem Hauptaltar aufgestellt worden ist (Tf. 326, 327). Lange Zeit war das Werk in der Sakristei des Domes zu sehen. Es ist der einzige silberne Altarvorsatz, der in den Abruzzen erhalten ist. Antependien waren im Mittelalter in Oberitalien verbreitet, die meisten entstanden im Veneto. Der 1372 datierte Vorsatz des Altartisches im Dom zu Grado enthält Inschriften im venezianischen Dialekt, ähnlich wie die Silbertafel von Teramo Beischriften in abruzzesischer Mundart zeigt. Das Museum im Palazzo Vescovile in Ascoli Piceno bewahrt einen großen, aus 27 Bildfeldern bestehenden Altarvorsatz mit Darstellungen aus dem Leben Christi, die frühestens in das 14. Jh. zu datieren sind und vielleicht aus einer abruzzesischen Werkstatt stammen. Das Antependium in Teramo ersetzt ein älteres, in Schatzverzeichnissen beschriebenes, das 1416 von einem französischen Kommandanten im Dienst der Königin Johanna II. geraubt wurde. Auftraggeber des neuen Altarvorsatzes war die Universitas von Teramo. Nikolaus hat sich in zwei Inschriften an seinem größten Werk verewigt. Unter der Verkündigungsszene heißt es »Ave gratia plena Dominus tecum A.D. 1433«. Auf dem Sarkophag der Grablegungsszene folgt der andere Teil der Inschrift »Opus Nicolai de Guardia Grelis A.D. 1448 undecime indictionis m.i.«. Demnach nahm die Ausführung dieser Arbeit 15 Jahre in Anspruch. Nikolaus bringt seine Signaturen und Datierungen stets in den in seinen Werken immer wiederkehrenden Grablegungsszenen an. Das Antependium von Teramo wurde 1734 von Domenico Santacroce, Silberschmied in dieser Stadt, restauriert. Die diesbezügliche Inschrift steht in der Mitte der oberen Rahmung und heißt: »Restauravit omnesque caelatas coronas D. Dominicus Ant. Santacroce Teramensis de integro fecit a.D. 1734«.
Die künstlerische Qualität des Werkes ist nicht einheitlich. Ähnlich wie bei anderen Arbeiten standen dem Meister sicherlich viele Gehilfen zur Seite. Häufig werden Formen bis in die Einzelheiten von Ghiberti übernommen. Dennoch kommt in dem Antependium von Teramo die Renaissance nicht uneingeschränkt zu Wort. In vielem zeigen sich Reminiszenzen aus dem Trecento; Nikolaus greift noch auf byzantinische Gewohnheiten zurück, indem er nach östlichem Vorbild die Abendmahlsszene in zwei getrennten Bildfeldern darstellt. Ghiberti hatte dasselbe Thema natürlich in einem einzigen Bild zusammengefaßt.
Nikolaus bediente sich am Antependium von Teramo zweier bei ihm sonst nur getrennt vorkommenden Techniken, des transluziden Emails und des Filigrans. Das bereits in Atessa gebrauchte Draht-oder Filigranemail verwandte er am Antependium am Schemel des thronenden Christus im Mittelfeld und am Lesepult des Evangelisten Matthäus. Die Bilder in transluzidem Email sind in Teramo von besonderer Qualität und unterscheiden sich von der unsicheren Formgebung mancher Relieffiguren. Es ist anzunehmen, daß der Meister für die Herstellung der Emailarbeiten eigens geschulte Kräfte herangezogen hat.
Die auf Eichenholz montierten Silberreliefs mit 206 Figuren und 21 Bei- und Inschriften sind nicht ganz unversehrt überliefert. So fehlen z.B. die Hauptperson Christi bei der Versuchung des Teufels in der Wüste, die Figur des Kaiphas im Verhör Christi oder das Kreuz in der Kreuztragung.
Die rechteckige Tafel ist in vier Bildreihen übereinander gegliedert und zeigt 34 Bildfelder gleicher Größe, während das 35. Feld im Zentrum des Antependiums die doppelte Höhe der anderen hat. Darin erscheint der segnende Christus. Die vier Kompartimente zu beiden Seiten der Figur sind thematisch betont, links treten die Evangelisten auf, von oben nach unten Johannes, Matthäus, Lukas und Markus, während rechts die Kirchenväter Ambrosius, Gregor d. Gr., Augustin und Hieronymus erscheinen. Diese Zeugen Christi unterbrechen den Ablauf der biblischen Szenen. Allein die Darstellung im letzten Bildfeld unten rechts steht außerhalb des Zyklus und ist der Franzlegende entnommen.
Die Bildfelder sind -ausgenommen das mittlere mit dem segnenden Christus -viereckig mit abgeschrägten Ecken. Dadurch entstehen 22. kleine Rauten beziehungsweise an den Rändern der Tafel 26 Dreiecke. Sie sind mit Darstellungen in transluzidem Email ausgefüllt. In den Rauten sieht man den Evangelisten Johannes und Maria, die Madonna mit Kind, Christus mit der Erdkugel, die hll. Petrus und Paulus, neun Apostel und acht Propheten, während in den Dreiecken Pflanzenornamente erscheinen.
Im Lapidarstil seien die Inhalte der Bildfelder wiedergegeben. Die vier römischen Ziffern bezeichnen die Bildreihen von oben nach unten und die arabischen Zahlen die einzelnen Felder von links nach rechts.
I,1: Die Darstellung der Verkündigung ist von größter ikonographischer Seltenheit. Der Verkündigungsengel trägt den Sohn Gottes auf Händen und bringt ihn der Jungfrau Maria dar. Erst auf Mariens Einwilligung wird der Gottessohn in ihren Leib eintreten, um Mensch zu werden. I,2: In der Geburt Christi ist der hockende Joseph von Ghiberti übernommen. Die Krippe in der Höhle ist aus Silberdraht gearbeitet. I,3: Anbetung der Könige, wieder mit Anlehnung an Ghiberti. I,4: Evangelist Johannes. I,5: Darbringung im Tempel. Christus steht auf dem Altar, auf dem eine Inschrift in abruzzesischem Dialekt erscheint: »Quando Xro fo presentato a 10 templo«. I,6: Kirchenvater Ambrosius. I,7: Flucht nach Ägypten. Sehr originell ist die Linienführung der Landschaftsdarstellung dem Gang der Fliehenden angepaßt. I,8: Bethlehemitischer Kindermord. I,9: Taufe Christi.
II,1: Versuchung Christi. II,2: Auferstehung des Lazarus. Hier ist Lazarus nicht wie bei Ghiberti in Leichentücher eingehüllt. Nikolaus stellt einen Sarkophag dar, dessen Deckel man gerade öffnet, so daß Lazarus selbst noch gar nicht in Erscheinung tritt. II,3: Erster Teil der Abendmahlsszene. II,4: Evangelist Matthäus. II,5: Oberer Teil des Mittelbildes. Die Gestalt des segnenden Christus ist eine der besten und ausgewogensten Leistungen des Antependiums. Die Bemalung des Mantels mit einem Sternenmuster ist modern. II,6: Kirchenvater Gregor. II,7: Zweiter Teil der Abendmahlsszene. II,8: Christus am Ölberg. Die Darstel (S. 450) lung ist in deutlicher Anlehnung an Ghiberti gearbeitet. II,9: Gefangennahme Christi mit Judaskuß und der Petrus- Malchusszene.
III,1: Christus vor dem Richter, von Schergen gehalten. III,2.: Geißelung Christi mit Inschrift: »Quando Xro fo bactuto a la colonda«. III, 3: Christus vor Pilatus, der sich die Hände wäscht. III,4: Evangelist Lukas. III,5: Unterer Teil des Mittelbildes mit dem thronenden Christus. III, 6: Kirchenvater Augustin. III, 7: Verspottung Christi. III, 8: Kreuztragung. III, 9: Kreuzigung.
IV, 1: Grablegung. Nikolaus greift dabei auf seinen eigenen Formenapparat zurück, den er an vielen Vortragekreuzen ausgebildet hat. IV, 2.: Christus mit der Siegesfahne in der Vorhölle. IV,3: Auferstehung. IV,4: Evangelist Markus. IV,5: Noli me tangere. IV,6: Kirchenvater Hieronymus. IV, 7: Himmelfahrt Christi, von Engeln umgeben. IV,8: Pfingstwunder. IV,9: Stigmatisierung des hl. Franz. Rechts kniet der Heilige zwischen Felsbrocken. Links sitzt mit aufgeschlagenem Buch Leo, »Gottes Schäflein«, vor einer kleinen Kapelle.
Kunst des Schmiedeeisens und Glockenguß
Im Gegensatz zur Goldschmiedekunst hat die Fertigkeit, in Schmiedeeisen zu arbeiten, in den Abruzzen kaum Verbreitung gefunden. Bemerkenswerte Objekte sind erst aus dem 18. Jh. erhalten. Das berühmte Gitter in S. Maria in Colle in Pescostanzo, das die Sakramentskapelle von der Kirche trennt, ist eines der wenigen erhaltenen Beispiele der in Pescocostanzo geübten Metallkunst. Ober dem 7,28 m hohen Gitter sitzt der ornamentierte Aufsatz, der 5,20 m breit und 3,45 m hoch ist. In barockem Gewand tauchen hier noch einmal die Zierformen der abruzzesischen Romanik auf, die wir von den Portalgewänden, Kanzeln und Ziborien kennen. Der Aufsatz zeigt ein üppig ausgestaltetes Rankenmuster, worin sich Putten, menschliche Zwittergestalten, Delphine, Drachen, Löwen tummeln und Blumen eingefügt sind. Aus Dokumenten weiß man, daß der einheimische Künstler Francesco di Sante di Rocco in den Jahren 1699 bis 1705 für diese Arbeit bezahlt wurde. Bekannt sind auch die Vorzeichnungen zu dem Gitter. Die eine, die 35,5 x 48 cm groß ist, trägt die Signatur von Norberto Cicco aus Pescocostanzo. Auf dem Blatt steht auch der Name des Francesco di Sante di Rocco, der die Arbeit auszuführen hatte. Die andere unsignierte Zeichnung mißt 31 x 21 cm. Nach dem Tode des ausführenden Meisters wurden die Arbeiten laut Vertrag im Jahr 1717 von seinem Neffen Ilario di Sante di Rocco fortgesetzt. Von dessen Hand stammen vor allem das Ostensorium, das den Aufsatz des Gitters bekrönt sowie einige kleinere Ornamente. Die Werkstatt dieser Eisengießer ist noch erhalten, sie befindet sich links vom Treppenaufgang der Kirche und zeigt an der Haustür die Inschrift »Etenim non potuerunt mihi«.
Ein weiteres Gitter aus Schmiedeeisen sieht man in Montereale im Sanktuarium des sel. Augustiners Andreas, der aus dem nahgelegenen Mascioni, ein Ortsteil von Campotosto, stammte. Das Gitter trennt die Grabkapelle des Seligen vom Kirchenschiff und ist mit Friesen aus Messing geschmückt. In einer Inschrift auf der Rückseite erscheint das Datum 1720 und der Name des Künstlers Mariano Napolione aus Palena, der hier mit seinen Söhnen tätig war. Man sieht das Wappen von Montereale und als Bekrönung des Gitters die Ganzfigur des sel. Andreas aus Messing. Sein Schrein mit silbernen Beschlägen wurde 1784 in Neapel hergestellt.
Manche Nachrichten von Kirchen-und Stadtglocken hat die abruzzesische Lokalgeschichte überliefert. Glocken sind in unserem Bergland erst seit dem 14. Jh. erhalten, aber schon seit karolingischer Zeit berichten die Quellen von ihnen. Theobald, Propst von S. Liberatore alla Maiella (1007 bis 1019), erzählt in seiner Autobiographie, er habe für seine Kirche fünf Glocken angeschafft, drei davon antiquarisch.
Aus dem adriatischen Küstenraum ist eine größere Anzahl von Glocken überliefert als aus dem Hochland der Abruzzen. Das mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß das Binnenland häufiger von Erdbeben heimgesucht wurde als die Küsten. In Not-und Kriegszeiten waren die Glocken der Gefahr des Einschmelzens ausgesetzt. In dieser Zwangslage befand sich die Stadt L' Aquila 1528 Nach dem erfolglosen Aufstand der Bürger gegen die spanische Herrschaft ließ der Vizekönig von Neapel, Filiberto di Chalons-Orange, ein Jahr später die Glocken in der Stadt beschlagnahmen. Sie wurden eingeschmolzen und dienten als Material für die Geschütze der neuen Festung. Wir wissen von dem Reichtum an Glocken in L'Aquila vor diesem Ereignis.
Eine andere Einbuße erlitt der Bestand an Glocken in den Abruzzen 1799, als die Franzosen das Land durchzogen und in Neapel die Parthenopeische Republik ausriefen. Beispielsweise waren die Verluste in der Provinz Chieti beträchtlich. Am 18. Februar zerstörte man in der Stadt Ortona die Glocken mit Ausnahme derjenigen der Kathedrale. Am 21. Februar begann man in Lanciano mit der Zertrümmerung der Glocken des Domes und derjenigen von S. Francesco. Drei Tage später ereilte das gleiche Geschick alle übrigen Glocken der Stadt. Am 2. 5. Februar setzte man die Zerstörung systematisch in Guardiagrele fort. Ähnlich verfuhr man in Chieti, in Bucchianico, wo die Stadtglocke im Uhrturm zerstört wurde, und wahrscheinlich erbeuteten die Franzosen auch in Francavilla Glocken.
Das Studium der Glocken ist kulturhistorisch aufschlußreich. Auch in den Abruzzen erhielten sie Eigennamen, eine Sitte, die mindestens seit dem Io.Jh. in Europa zu belegen ist. Weiterhin werden die Glocken auch in unserer Region häufig mit Inschriften religiösen Inhalts versehen sowie mit Wappen, Ornamenten und figürlichen Darstellungen. Eine große Anzahl von Glocken ist datiert und trägt Signaturen, woraus wir eine Schar von Gießern kennenlernen. Aus allem geht hervor, daß der Glockenguß in erster Linie ein einheimisches Gewerbe war. Größere Betriebe, die über einen langen Zeitraum hin bestanden, finden wir in L'Aquila, Teramo, Chieti und Agnone. Daneben waren nichtabruzzesische Gießer bestrebt, ihre Erzeugnisse in unserem Bergland (S. 451) abzusetzen. Venezianische Hersteller benutzten die Messe von Lanciano als Umschlagplatz. Weiterhin hören wir im 15. Jh. von französischen Gießern, die sich um Verbindungen mit den Abruzzen bemühten.
Der abruzzesische Glockenguß setzt im 14. Jh. auf breiter Grundlage ein. Die früheste mir bekannte Glocke dieser Zeit stammt aus der Kirche S. Lorenzo in Rapino und ist 1304 datiert. Der Glockendiebstahl und seine Verherrlichung ist ein beliebtes Motiv in abruzzesischen Legenden. In dem Ortsnamen Rapino klingt das italienische Zeitwort »rapinare« auf, was rauben, berauben bedeutet. Schon wegen dieser Wortverwandtschaft lag es nahe, die Bewohner von Rapino als Räuber hinzustellen. Man sagt ihnen nach, daß sie die Glocke von 1304 bei Nacht aus dem heute zerstörten Kloster S. Eufemia bei Fara Filiorum Petri entwendet hätten, was den Anfang langer Kleinkriege bedeutete.
Bekannter ist der Glockenkrieg zwischen den Städten Rieti und L' Aquila. Einwohner von Rieti stahlen eines Tages die Glocke vom Rathausturm in L' Aquila und gaben ihr den Spottnamen »Aquilella«. Dieser Raub war der Anlaß zu einem bewaffneten Einfall der Aquilaner in Rieti 1321, wobei es ihnen gelang, die Glocke zurückzuerbeuten. Im Triumph führte man sie auf einem purpurgeschmückten Karren heim, den der Anführer des siegreichen Unternehmens selber lenkte, und fortan nannte man die Glocke ,)Reatinella«. Vielleicht angestachelt von Bürgern in Rieti, versuchten Übeltäter, die Glocke von neuem heimlich zu entführen. Es bedurfte des Eingriffs des Königs Robert von Neapel, um den Bösewichtern das Handwerk zu legen. Er befahl 1326, ihnen auf dem Prozeßwege die gebührende Strafe zuzuerteilen. Der Glockenkrieg bei der Städte war damit keineswegs beigelegt. 1377 raubten die Aquilaner Glocken in Rieti. Die eine brachte man nach S. Martino, und die andere hängte man neben der »Reatinella« auf. Papst Gregor XI. verlangte vergeblich die Rückerstattung. All diese Glocken von L' Aquila wurden später von den Spaniern eingeschmolzen.
Der älteste mit Namen bekannte Glockengießer der Abruzzen war für die Pfarrkirche S. Nicola di Bari in Lettopalena tätig. Die dortige 1310 datierte Glocke trägt die Inschrift »Magister Berardus me fecit«. Der erste dokumentierte nichtabruzzesische Gießer in unserer Region dürfte Bartholomäus aus Pisa sein, der sich in einer 1314 datierten Inschrift auf der von ihm gefertigten Glocke nennt, die heute im ersten Joch des rechten Seitenschiffs von S. Maria della Tomba in Sulmona zu ebener Erde aufgestellt ist. Sie gehörte ursprünglich der Kirche S. Lucia delle Benedettine in Sulmona. Seit 1930 beobachtet man Risse in dem Glockenmantel. Die älteste Glocke des Molise ist 1332 datiert und befindet sich in Venafro in der Kirche S. Francesco.
Im 14. Jh. wird in Agnone eine Glockengießerei bekannt, die sich zu einer der größten in Italien entwickelte. Eine ganze Dynastie, die Familie Marinelli, war durch sieben Jahrhunderte tätig und schuf eine Industrie, deren Erzeugnisse in der ganzen Welt verbreitet waren. Das bis in unsere Zeit existierende Unternehmen besaß eine Sammlung alter Glocken, von denen die älteste das Datum 1350 trägt, und eine jüngere mit Ornamentbändern und figürlichen Darstellungen verzierte 1478 datiert ist.
Ein Zentrum des abruzzesischen Glockengusses war Teramo. Der Gießer Giovanni da Teramo lieferte 1342 eine Glocke für die Kirche S. Maurizio in Lanciano. Im selben Jahr entstand die Glocke für S. Maria a Mare in Giulianova, die noch im 18. Jh. existierte, und auf der sich der Gießer mit folgenden Worten nennt: »Magister Nicolaus me feeit bona«. Um das Jahr 1383 goß Attone di Ruggiero die große Glocke für den Dom von Teramo. Im Umland dieser Kathedralstadt traten bereits einige Jahre früher venezianische Gießer auf. Die venezianische Glocke in S. Rocco in Giulianova ist nicht datiert, während die ebenfalls von einem Venezianer gefertigte Glocke in S. Maria di Propezzano die Jahreszahl 1371 trägt. Als letzte Glocke des 14. Jh. nenne ich diejenige von S. Maria delle Grazie in Luco dei Marsi mit dem Datum 1390. Auf ihren Wandungen sind Wappen und zwei Marienbilder dargestellt.
Über die einheimische Glockenproduktion des 15. Jh. erfahren wir nur wenig. Eine kleine Bronzeglocke ist in der Kirche S. Pietro in Sulmona erhalten und 1492 datiert. Unter der Jahreszahl erscheint das Wappen von Sulmona. Im letzten Viertel des 15. Jh. treten französische Gießer in den Abruzzen auf. Die alte Domglocke des Atto di Ruggiero von 1383 läutete in Teramo hundert Jahre lang. Sie wurde 1483 von dem Franzosen Nicola di Langres umgegossen.
Zwischen 1488 und 1492 schrieb man in L'Aquila die Anfertigung einer neuen Glocke für den Palazzo della Giustizia aus. Es bewarben sich vier Gießer. Drei von ihnen waren Franzosen, die Meister Giovanni, Gerardo und Guglielmo aus Toulouse. Die beiden ersten waren in Italien bereits bekannt und hatten Glocken für die Kathedralen in Pisa und Florenz gegossen. 1493 stellte sich Guglielmo von Toulouse persönlich in L'Aquila vor. Aber es kam zu keinem Vertrag mit dem Franzosen. Stattdessen beauftragte man den Gießer Pietro Dandone aus Siena, der glänzende Gutachten über seine Tätigkeit vorlegen konnte. Jedoch mißlang sein Glockenguß für L'Aquila. Das Geläute bestand aus Mißtönen, die die Bürger bis zur Einschmelzung der Glocke durch die Spanier im nächsten Jahrhundert ertragen mußten. Aus Angst vor Mißhelligkeiten zog es Dandone vor, L'Aquila bei Nacht und Nebel heimlich zu verlassen. Vielleicht hätte man sich besser an einheimische Gießer halten sollen. Seit 14 38 ist in L' Aquila die Gießerfamilie Donati nachweisbar, die nicht das Alter der Dynastie Marinelli in Agnone erreichte, deren Spuren jedoch his zur Mitte des 18. Jh. zu verfolgen sind. Aus der Familie Donati kennen wir im 15. Jh. verschiedene Gießer, Bartolomeo, Domenico, Giovanni Battista und Serafino.
Das 16. Jh. hat eine Reihe datierter Glocken und einige Namen von Gießern überliefert. In der Kirche S. Maria degli Angioli in Fontesambuco, ein Ortsteil von Agnone, befindet sich eine Glocke mit dem Datum 1510. In den Dom von Atri gelangte 1512 eine Glocke, die 1645 umgegossen wurde. Auf der Messe von Lanciano erwarb man 1526 für (S. 452) eine Kirche in Orsogna eine Glocke, die der venezianische Gießer Simone Peri gefertigt hatte. Er trat in Lanciano selbst als Verkäufer auf. Für den mächtigen Glockenturm von S. Maria Maggiore in Vasto goß Vincenzo Saliceto aus Matrice im Molise 1547 die große Glocke. Auf der Glocke in S. Michele in S. Vittorino besagt eine lange Inschrift, daß sie 1561 von den Gießern Bernardus und Gaspar aus L'Aquila hergestellt wurde. Das Rathaus von Ancarano verwahrt eine 1562. datierte Stadtglocke. Die Glocke für die Kirche S. Lucia in Lanciano goß 1576 Maestro Giovanni di Giacomo aus Chieti. Sie wurde 1799 von den Franzosen zertrümmert. Eine Glocke in der Kathedrale von Ortona zählt zu den größten Italiens und wurde ihres Umfangs wegen »Campanone« genannt; sie ist 1588 datiert. Eine mit schönen Reliefs verzierte Glocke, zu deren Darstellungen Zentauren gehören, fertigte Pietrantonio Cauto aus Castel di Sangro 1596 für die Kirche S. Maria della Neve in Palena.
Die meisten datierten Glocken des 17. Jh. finden sich im adriatischen Küstengebiet. 1602. goß Giuseppe de Ninnis die Stadtglocke für Loreto Aprutino. Derselbe Gießer arbeitete für seine Heimatstadt Lanciano. Seine große Glocke in der dortigen Kathedrale ist 1608 datiert. Um das Jahr 1899 wurde die große Glocke im Turm der Annunziatakirche in Sulmona unbrauchbar. Sie war mit vielen Inschriften versehen, aus denen u.a. hervorging, daß sie 1617 der aus Chieti stammende »magister Vincentius campanarius Tehatinus« goß.
Die älteste noch vorhandene Glocke des Domes von Atri entstand 1622. Ihre Inschrift weist mit einem Wortspiel auf die Stadtheilige Reparata hin: »Repara, Reparata, mentes discordantes« (Vereine, Reparata, die uneinigen Gemüter). Ober diesem Spruch erscheint die Figur der Schutzpatronin. Die Domglocke von Atri aus dem Jahre 1512. wurde 1645 eingeschmolzen und von De Nellis aus Sulmona neu gegossen. 1679 verpflichtete sich Salvator Marinelli aus Agnone zur Anfertigung einer Glocke für S. Leucio in Atessa. Dazu verwendete er das Material einer älteren Glocke. Die Glocke des Marinelli läutete bis zum Jahre 1775.
Recht aktiv war der einheimische Glockenguß im 18. Jahrhundert. An eine Glocke in S. Maria di Collemaggio in L'Aquila knüpft sich eine Legende. Im Jahr 1520 soll der hl. Papst Coelestin den Bürgern von L' Aquila erschienen sein und eigenhändig die Glocke seiner Gründungskirche geläutet haben. Diese Glocke wurde 1703 vom Erdbeben zerstört und von einem Magister Medorus aus L' Aquila neu gegossen. Darauf bezieht sich ihre Inschrift: »Olim pulsata a S. Petro Coelcstino apparente, nunc a terremotu fracta, eodem aere fusa a.D. 1705. Magister Medorus Aquilanus fecit«. 1717 entstand die Glocke von S. Nicola in Lama dei Peligni. Gießer war Giovanni Desiato aus Spoltore, der sich in der Inschrift auf der Glocke nennt. Ihrer Größe wegen wurde auch sie als »Campanone« bezeichnet. Sie hat einen sonoren Klang wie auch die beiden anderen großen Glocken in S. Giustino in Chieti und in S. Tommaso in Ortona.
Für S. Maria in Platea in Campli wurde am 6. Januar 1722 eine Glocke gegossen. Bereits zehn Jahre später erfolgte ein Neuguß von dem berühmten Glockengießer Giambattista Donati aus L'Aquila. Diese Glocke wurde 1854 abermals umgegossen. Der Observantenkonvent am Colle Paradiso bei Tocco da Casauria verfügte im 18. Jh. über drei Glocken. Die eine wurde während der französischen Herrschaft nach Torrevecchia Teatina verschleppt. Die verbliebene größere Glocke war 1749 in L'Aquila gegossen worden, während die kleinere 1746 in dem Ort Salle entstand. Sie sind mit Darstellungen der Madonna del Paradiso und dem hl. Antonius von Padua versehen.
Im letzten Viertel des 18. Jh. wird eine Werkstatt in Chieti wirksam, in der die Gießer Joseph Nicelli und Luigi Fasoli tätig sind. Von ihnen stammt die große Glocke, genannt »campana della piazza«, in einer Kirche von Casoli. Sie ist 1775 datiert und wurde 1847 neu gegossen. 1775 ist die Glocke namens S. Martino im Glockenturm von S. Leucio in Atessa datiert. In der Inschrift nennen sich die beiden vorhergenannten Meister und ein Raphaeli Sala aus Agnone. Zum Guß verwandte man das Material der Glocke, die 1679 von Salvatore Marinelli aus Agnone hergestellt worden war. Joseph Nicelli und Aloisius Fasoli nennen sich in der Inschrift auf der Glocke, die sie 1790 für die Kirche S. Rocco in Lama dei Peligni anfertigten. Die Namen beider Gießer treten noch einmal in der Inschrift einer Glocke auf, die sie 1799 für die Kirche S. Francesco in Lanciano gegossen haben.
Arbeiten in Bein und Glas
Erlebte die Metallkunst in den Abruzzen eine üppige Blüte, so gibt es andere Materialien, die in unserer Region kaum künstlerisch bearbeitet wurden. Dazu gehören Elfenbein oder Tierknochen. Bei den wenigen erhaltenen Beispielen dieser Art handelt es sich meistens um importierte Objekte, die von der Kunstgeschichte bisher nur ungenügend gewürdigt wurden.
Die Sakristei der Kirche SS. Cosma e Damiano in Tagliacozzo verwahrt einen rechteckigen beinernen Reliquienkasten des 14. Jahrhunderts. An den Seiten dienen Messingbeschläge zu seiner Festigung. Verziert ist allein der Deckel in Form eines Pyramidenstumpfes. Es erscheinen kleine Kreise mit Kreuzen und Tieren, die aus byzantinischen Werken bekannt sind. In der Stadt Penne sind aus dem Trecento gleich zwei beinerne Reliquienkästen überliefert, der eine, in achteckiger Form und lombardisch beeinflußt, befindet sich in der Kirche S. Domenico, der andere aus dem späten 14. Jh. gehörte dem Dom und gelangte in das Nationalmuseum in L'Aquila. Den Kasten und den Deckel in Form eines Pyramidenstumpfes zieren in Sepiafarbe gemalte Heiligenfiguren, die Verwandtschaft mit umbrischen Miniaturen zeigen.
Aus dem Schatz der Sakristei von S. Francesco in Castelvecchio Subequo stammt im Nationalmuseum in L'Aquila das beinerne Hochzeitskästchen vom Ende des 15. Jh., das zur Aufnahme von Reliquien diente (Tf. 329, 330). Die Seiten der rechteckigen Kassette sind mit noch teilweise bemal (S. 453) ten Reliefs versehen, die mit Erzeugnissen aus der Werkstatt der Embriachi in Venedig in Verbindung zu bringen sind. Dargestellt ist eine vornehme Hochzeit, an der Damen und Kavaliere als Gäste teilnehmen. Auf der Vorderseite sieht man sieben Plaketten mit Ganzfiguren, darunter einen Falkner unter einem gotischen Baldachin und rechts vom Schlüsselloch einen Pagen mit Korb. Die Rückseite zieren sechs, die Schmalseiten je drei Täfelchen. An den Ecken des Kastens erscheinen je zwei gedrehte Halbsäulen mit Basen und Kapitellen.
Farbige Glasfenster gehören in den Abruzzen zu den größten Seltenheiten. Das früheste Beispiel ist aus dem 15. Jh. erhalten. Vor blauem Hintergrund steht in einer spitzbogigen Nische die Ganzfigur des hl. Flavianus, bekleidet mit einem Rock, der die Beine freiläßt. Eine Inschrift zu seiten des bärtigen Kopfes bezeichnet den Heiligen als »S. Flabianus«. Dieses im Nationalmuseum in L'Aquila untergebrachte Glasbild stammt aus der Kirche S. Flaviano in L'Aquila und ist das einzige seiner Art in der Provinz L' Aquila. Die Gewohnheit, Heilige in Nischen vorzuführen, ist in L'Aquila noch in den Anfängen des 16. Jh. zu verfolgen. Aus dieser Zeit stammt das Glasbild des Hieronymus in einer grünen Nische, das sich früher im Museo Civico in L' Aquila befand, während das dortige Nationalmuseum ein Glasbild mit dem in einem Rundbogen stehenden Papst Coelestin besitzt, der mit der Rechten segnet und in seiner Linken das Stadtmodell von L'Aquila trägt. Vielleicht genoß L' Aquila im 15. Jh. einen gewissen Ruf als Stadt der Glasmaler. Pietro Toesca machte 1908 ein Glasgemälde in einer Privatsammlung in Bergamo bekannt, das die Kreuzigung darstellt. Am unteren Rand liest man die Signatur des Künstlers .Amicus de Aquila fecit hoc opus«. Diesem Meister schrieb Toesca eine Reihe anderer Glasbilder zu.
Über künstlerisch bedeutende Werke der heimischen Glasindustrie sind wir kaum unterrichtet. Sicherlich spielte der Import eine wichtige RoUe. 158111582 starb in Lanciano Sebastiano Savonetto. Er war Glashersteller und Glashändler aus Murano und verfügte auf der Messe von Lanciano über ein eigenes Gebäude. Muranogläser des 16. Jh. gab es z. B. im Kloster S. Egidio bei Leonessa in der Provinz Rieti, ein Ort, der in jener Zeit noch zum Königreich Neapel gehörte. Sie kamen in die Privatsammlung Ludwig Mond in Rom und wurden später von Frida Mond an das Museum in Castel S. Angelo in Rom geschenkt.
Arbeiten in Holz
Wie in allen Gebirgsgegenden gehört auch in den Abruzzen der Reichtum an Holz zu den wertvollsten Gütern des Landes. Wieweit dieser Werkstoff auch in der Kleinkunst verwendet wurde, ist noch nicht zusammenfassend ergründet worden; verständlicherweise, denn wegen der Fülle des Materials ist es unmöglich, eine Überschau zu gewinnen. Dabei gibt es Jahrhunderte, wo kunstgewerbliche Gegenstände aus Holz nur spärlich überliefert sind. Die erdrückende Menge des Materials findet sich erst im Zeitalter des Barock.
Wie sooft ist die Kirche der beste Überlieferer alter Kulturgüter. Man verwandte das Holz allenthalben, für die konstruktive Gestaltung des Gotteshauses, vor allem aber für die Innenausstattung und für Kultgeräte. Zu erwähnen sind Chorgestühle, Kanzeln, Ziborien und Tabernakel, Taufwasserbehälter, Beichtstühle, Reliquiare und einige datierte Schränke in Kirchen und Sakristeien. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf viele andere Geräte einzugehen, wie z. B. auf Altäre, Bischofsstühle, auf die Unzahl der Lesepulte, Schemel und Kandelaber. Hölzerne Bestandteile des Kirchenbaus wie Türen und Kassettendecken erwähnten wir teilweise in den Kapiteln zur Architektur. Wir erinnern z.B. an die Decken von 1713 in S. Maria in Platea in Campli, an die aquilanischen Decken des 18. Jh. in S. Bernardino und in der Chiesa dei Cavalieri de Nardis. Hinzuzufügen wären einzelne Kassettendecken des 17. und 18. Jahrhunderts. In Casoli ist die Flachdecke in der Kirche S. Reparata datiert und signiert »Hoc opus 1603 Giovanni di Domenico Puzzacarino«. Die mit Bildern versehene Kassettendecke der Pfarrkirche S. Pietro in Fano Adriano entstand 1608, und die Kassettendecke in einer Nebenkapelle von S. Domenico in Penne wurde 1642 von Sebastiano Carinola aus Guardiagrele und dem Vergolder Stefano Tereo hergestellt. 1715 datiert und von Felice Bucchino signiert ist das Bild der Anbetung der Könige in der Holzdecke der Kirche Madonna delle Grazie in Castel di Sangro.
In der weltlichen Architektur begegnet ein seltener Fall von Kassettendecken in L'Aquila. Das Erdbeben von 1703 verschonte im ersten Stockwerk des Kastells zwei Repräsentationsräume, die heute als Säle des Nationalmuseums dienen. Auf ihre Holzdecken ist Jürgen Eberhardt in seiner Monographie über diesen Bau näher eingegangen. Die Decke des einen Raumes mit 25 Bildfeldern zeigt das Wappen Kaiser Karls V. In sechs Feldern erscheint jeweils die Fortuna, immer mit verschiedenen Attributen. Die übrigen Darstellungen sind der Göttersage von Amor und Psyche gewidmet und zeigen eine von Raphael abhängige Formenwelt. Dieselbe Anzahl von Kassetten mit Bilddarstellungen zeigt auch die Decke des zweiten Saales. In sechs Achteckrahmungen und einem kreuzförmigen Feld präsentieren sich die sieben Kardinaltugenden. 15 sechseckige Kassetten enthalten Porträtköpfe römischer Kaiser und Herrscher, die teilweise durch Beischriften benannt sind, z. B. Julius Caesar, Augustus, Claudius, Tiberius, Otho, Domitian, Antoninus Pius, Titus und Marc Aure!. Zu diesem erlauchten Kreis gesellen sich noch zwei zeitgenössische Herrscher, Kar! V. und sein Sohn Philipp, König von Spanien. In einem anderen kreuzförmigen Feld erscheint das Andreaskreuz als Wahrzeichen von Burgund. Beide Decken entstanden in den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts.
Eingehendere Beachtung als es an dieser Stelle möglich ist, verdienten die Holztüren der Renaissance und des Barock. In der Kirche S. Biagio in Taranta Peligna haben Türflügel des 16. Jh. die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges überdauert. Die Schnitzereien steHen den Titelheiligen und den hl. Rochus dar sowie Büsten von weiteren Heiligen und En (S. 454) geln. Bemerkenswert ist die 1603 datierte Mitteltür in der Pfarrkirche von Pacentro.
Innerhalb der Kirchenausstattung aus Holz erfährt das Chorgestühl eine bevorzugte künstlerische Behandlung. Das früheste und gleichzeitig qualitätvollste erhaltene Werk dieser Art stammt aus dem 14. Jahrhundert. Es ist in S.Giusta in L'Aquila zu sehen (Tf. 331). Die Rücklehnen der Sitze zieren Spitzbogen, und auf den Armlehnen sind unter geschnitztem Astwerk, das aus der Rückwand herauszuwachsen scheint, Phantasiegestalten aufgestellt. Die Wangen des Gestühls zieren an den Außenseiten die hll. Georg, Massimo, Coelestin und Giusta. Sie sind als reine Profilfiguren gebildet, und ihre Tiefe beträgt nur wenige Zentimeter.
In der Herstellung von Chorgestühlen gewinnt Sulmona im 16. Jh. einige Bedeutung. Der aus Rom stammende Bartolomeo Balcone, der das Bürgerrecht von Sulmona erwarb, ein Verwandter des Paolo Balcone, schuf 1577/1579 das mit Intarsien verzierte Chorgestühl in der Kirche der Annunziata. Eine Replik dieses Werkes wurde für den Dom in Sulmona hergestellt und ist dort noch in Resten vorhanden. Das Museo Civico in Sulmona verwahrt Teile des Chorgestühls aus der Badia Morronese vom Ende des 16. Jahrhunderts.
In der Barockzeit erlebte die Anfertigung von Chorgestühlen einen neuen Aufschwung. In der Badia Morronese wurde das alte Chorgestühl durch ein neues ersetzt, eine stattliche Anlage aus Nußbaumholz in zwei Sitzreihen hintereinander, von denen die vordere 32 Personen aufnehmen kann. Die Kirche S. Eustachio in Campo di Giove erhielt ein prächtiges Chorgestühl, das dem Schnitzer Gelegenheit gab, mit überschäumender Phantasie eine abruzzesische Formenwelt darzustellen mit Astwerk, Pflanzen, Muscheln, Sphingen, Satyrn, Bukranien und dergleichen. In der schönen Barockkirche Madonna dei Carmine am Stadtrand von Penne entstand ein Chorgestühl aus Nußbaumholz mit Intarsien, und ein weiteres dieser Art in der Polygonalapsis von S. Mieh ele in Citta S. Angelo. 1715 ist das Gestühl von S. Leonardo in Castelmauro im Molise datiert, 1745 das Gestühl in SS. Lorenzo e Biagio in Popoli, die Jahreszahl 1780 trägt das Chorgestühl in der Chiesa del Rosario in Castel di Sangro.
Als bedeutendster Holzschnitzer in den Abruzzen gilt Ferdinando Mosca. Wieweit die ihm zugewiesenen Werke urkundlich gesichert oder nur Zuschreibungen sind, bedürfte neuerlicher Forschungen. Ferdinando wurde im Dezember 1685 in Pescocostanzo geboren. Vermutlich erwarb er das Bürgerrecht von Sulmona, denn auf der Inschrift am Bischofssitz seines Chorgestühls im Dom von Sulmona heißt es »Ferdinandus Mosca Sulmonensis 1751 «. In dem erhaltenen Vertrag für die Anfertigung des Chorgestühls ist festgelegt, daß Mosca eine Vorzeichnung zu liefern hat. Das ansehnliche aus Nußbaum gefertigte Chorgestühl im Dom von L' Aquila wird dem Ferdinando Mosca zugeschrieben, ebenso das Gestühl im Dom von Chieti und ein weiteres 173 8 datiertes in S. Pelino in Corfinio, das seit den letzten Restaurierungen verschwunden ist. Die Annahme, das Chorgestühl in S. Domenico in Penne sei das Werk unseres Meisters und des Bencivegna aus Castelvecchio Subequo, müßte noch eingehender geprüft werden. Der letztere ist vielleicht mit Venanzio oder Rosario Bencivegna identisch, zwei Meister, die in den Jahren 1744-1745 vier Beichtstühle und eine hölzerne Kanzel für die Kirche S. Maria in Valle in Scanno fertigten.
Unter den vielen Kanzeln aus Holz findet man gutgearbeitete Werke im adriatischen Küstenstreifen. Eine »Corpo del Cristo« genannte Bruderschaft in Lama dei Peligni gab in der zweiten Hälfte des 16. Jh. eine Kanzel für die dortige Kirche S. Nicola da Bari in Auftrag. Es entstand eine der schönsten Kanzeln dieser Zeit in den Abruzzen. Sie ist von einem Baldachin überdacht und fünfeckig gebildet. Die Wandungen zieren Intarsien sowie Figuren in Nischen, die von Säulen flankiert werden und als oberen Abschluß einen Segmentbogen zeigen. In den Nischen erscheinen die vier Evangelisten und der Heiland mit dem Kreuz, eine Nachbildung der Skulptur des Michelangelo in S. Maria sopra Minerva in Rom. Die Flächen zwischen den Nischen sind mit dekorativen Schnitzereien verziert, mit Ornamenten, Cherubim und Atlanten.
Unter den Kanzeln des 17. Jh. ist die große, 1653 datierte in der Pfarrkirche von Pacentro zu nennen. Von 1708 stammt die aus Nußbaum gearbeitete Kanzel in der Oberkirche von S. Maria Maggiore in Guardiagrele. In den Kassetten der Brüstung sieht man Reliefs mit Darstellungen aus dem Leben Christi, links die Versuchung Christi durch den Satan, in der Mitte Jesus im Kreis von neun disputierenden Schriftgelehrten, rechts Jesus mit der Samariterin. Andere erwähnenswerte Kanzeln des 18. Jh. sieht man z. B. in S. Francesco in Lanciano und in Chieti, dort ist eine in S. Domenico und eine andere, von der Hand des Tommaso Salvini aus Orsogna, in S. Francesco della Scarpa.
Ziborien als monumentaler Oberbau eines Altars beschäftigten uns bereits im Mittelalter in den Abruzzen. Diese Funktion kam ihnen auch in der Barockzeit zu; ein Beispiel dafür ist das Ziborium aus Nußbaumholz in S. Reparata in Atri, das einst den Hauptaltar des Domes in dieser Stadt überdachte. Diesem 1677 von Carlo Riccione aus Atri ausgeführten Werk diente als Vorbild der Bronzebaldachin des Gianlorenzo Bernini in der Peterskirche in Rom, der 1633 fertiggestellt war. Nachbildungen dieses Meisterwerks kennen wir in Umbrien, in Spello, Foligno und Perugia, und es ist durchaus möglich, daß die Wiederholung in Atri sich an die umbrischen Werke anschloß.
Das Wort Ziborium bezeichnet noch einen anderen Gegenstand, und zwar das Gehäuse, das zur Aufbewahrung des Allerheiligsten dient. Die Vielzahl der überlieferten Werke dieser Art kann man dem 1934 veröffentlichten Kunstinventar für die Provinz L'Aquila entnehmen. Die weitaus meisten Ziborien entstanden im 17. Jh., in einer Zeit, aus der wir verhältnismäßig wenig von der Holzskulptur wissen. Die ersten hölzernen Ziborien sind seit der zweiten Hälfte des 16. Jh. zu belegen. Zwei aus dieser Zeit sind datiert; das eine mit den Gemälden des Titelheiligen und des (S. 455) hl. Valentino wurde 1553 für die Pfarrkirche S. Giacomo in Scoppito gearbeitet, das andere entstand 1561 für die Kirche S. Maria Valleverde in Celano und zeigt gemalte Darstellungen von Christus, Johannes dem Täufer und der hl. Eugenia.
Mehr als in anderen kunstgewerblichen Gegenständen aus Holz kommt bei den Ziborien die Gabe der Abruzzesen . zum Ausdruck, im kleinen Format ein reiches Spiel von Ornamenten zu entwickeln. Die alte Kastenform des Sakramentshäuschens wird aufgegeben; stattdessen entsteht ein architektonisches Gebilde, das im allgemeinen einen turm artigen Zentralbau imitiert. Was man in den Abruzzen in der Barockarchitektur nicht im Großen ausführen konnte, holte man mühelos in den minuziösen Gebilden in Holz nach. Rom und Neapel lieferten in ihren modernen Bauten die Vorbilder, und alles, was damals Mode war, übersetzte man in die Miniaturarchitektur, doppelläufige Rampen, Kuppeln, konvex und konkav geschwungene Fassaden, Segmentbogen, gesprengte Bogen, kunstvolle Nischen, Voluten und dergleichen mehr. Diese architektonischen Gebilde wurden weiterhin mit Bemalungen und Statuetten versehen.
Die Maße der Ziborien sind variabel. Die meisten sind weniger als ein Meter hoch. Das wohl kleinste, nur 25 cm hohe Ziborium, findet man in S. Giovanni Evangelista in Casentino. Andrerseits scheute man sich nicht vor großen Dimensionen. Ein monumentales Ziborium des 16. Jh. wurde für die Chiesa dei Castello in Castel di Sangro ausgeführt. Der mit Kuppel und Laterne abschließende Bau erhebt sich auf einer quadratischen Platte, die von Engeln getragen wird. Einen Höhepunkt in des Wortes wahrer Bedeutung stellt das Ziborium in S. Francesco in Castelvecchio Subequo dar. Das aus Nußbaumholz am Anfang des 17. Jh. gearbeitete Gehäuse ist etwa acht Meter hoch und zeigt feingearbeitete Säulen, Nischen, eine Kuppel mit Laterne und 27 Statuetten. Ebenfalls von beträchtlicher Größe ist das mehrgeschossige Ziborium in SS. Cosma e Damiano in Tagliacozzo aus dem 17. Jh. mit einem zentralen Mittelbau und vorgezogenen Seitenteilen. Das in mehrere Etagen gegliederte Ziborium in S. Giovanni Battista in Celano erreicht die stattliche Höhe von 2,35 m.
Die Grundform der Ziborien ist höchst verschieden. Am gebräuchlichsten ist das kubische Gehäuse mit vier Ecksäulen. Andere turmartige Ziborien sind fünfeckig, z. B. das 1,50 m hohe Gehäuse in S. Antonio in Scurcola oder das 1,60 m hohe in der Pfarrkirche von Capitignano. Beliebter ist die Grundform des Sechsecks mit sechs Ecksäulen. Sie begegnet am bereits genannten Ziborium von 1553 in Scoppito und an Werken des 17. Jh., am 2,70 m hohen Ziborium in S. Marco in Castel dei Monte sowie an den Gehäusen in S. Nicola in Tione und in S. Benedetto in Arischia.
Eine den Ziborien verwandte Gruppe bilden Behältnisse zur Aufbewahrung des Taufwassers. Aus der Frühzeit des 16. Jh. gibt es einige Beispiele. Der rechteckige, 1,55 m hohe, 0,83 m breite und 0,52 m tiefe Behälter mit abgeschrägten Ecken in S. Marco in Castel dei Monte zeigt die Wappen des Ortes und der Familie Medici als Feudalherren dieses Bergstädtchens. Der Behälter in der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Pfarrkirche von Roccaraso war in der Grundform dem vorhergenannten ähnlich. In Roccaraso hielt sich der Schnitzer getreu an Formen, die bereits in früher romanischer Zeit in den Abruzzen geläufig waren. Es begegnet die kunstvolle Rosette, an den abgeschrägten Seiten des Kastens das Muster des gedrehten Taus, und als oberer Abschluß des Behälters erscheinen zwei Ornamentbänder mit Zahnschnitt und Eierstab. Einen sechseckigen Grundriß und eine Höhe von einem Meter besitzt der Taufwasserbehälter in der SS. Annunziata in Castel di Sangro. Ein spätes Beispiel aus dem 18. Jh. begegnet in dem Taufwassergehäuse in S. Maria della Valle in Scanno. Der Ständer besteht aus einem Pilasterbündel, der in Kapitellhöhe abwechselnd Festons oder kräftige Voluten zeigt. Darauf ruht ein sechseckiges Gehäuse, dessen Ecken durch Pilaster betont werden, die mit Blumengehängen und oben mit Masken verziert sind. Den Behälter schließt eine Zwiebelkuppel ab, die von einer freiplastischen Gruppe, welche die Taufe Christi darstellt, bekrönt wird.
Die in den Abruzzen erhaltenen Beichtstühle entstanden zumeist im 17. und 18. Jahrhundert. Bevorzugtes Material war wie sooft das Nußbaumholz. Die Durchbildung dieser Gehäuse im einzelnen ist künstlerisch nicht besonders interessant. In jener Zeit war man bemüht, dem Kirchenraum eine homogene Ausstattung zu verleihen, um damit im Sinne des Barock den Raumeindruck zu vereinheitlichen. Die Bestellung von mehreren Beichtstühlen gleichzeitig ist keine Seltenheit; gängig ist die Zweizahl. Vier Beichtstühle schaffte man in den Kirchen S. Giovanni Battista in Celano an, in S. Francesco in Tagliacozzo und in S. Maria della Valle in Scanno; die letzteren wurden von Venanzio und Rosario Bencivegna 1744/1745 zusammen mit der Kanzel angefertigt.
Im 15. Jh. verliert sich in der Goldschmiedekunst die Herstellung der großartigen Reliquienkästen. Später arbeitete man sie häufig ohne künstlerischen Ehrgeiz als rechteckige Behälter aus dem billigen Holz, in denen wahrscheinlich eine ganze Ansammlung von Reliquien aufgehoben wurde. Daraus erklärt sich die Größe einer 1646 datierten Truhe im Dom von Atri, die man auch als Reliquiensarkophag bezeichnen könnte. Ein Reliquienkasten in S. Marco in L'Aquila ist rechteckig und 0,95 m hoch und 0,80 m breit. Andere Behälter dieser Form begegnen in der Kirche S. Maria in S. Maria de! Ponte bei Fontecchio und in S. Maria in Scurcola, wo sechs Kästen von je 0,40 m Höhe zu sehen sind.
Neben den Kastenreliquiaren kommen seit der Spätrenaissance zahlreiche Büstenre!iquiare aus Holz vor. Man bewahrte die verschiedenen Reliquien nun nicht mehr vereint in einem großen Behälter auf sondern tat jede in ein eigenes Behältnis in Form einer Büste. Diese zeigen häufig in Brusthöhe ein kleines Fenster, das den Blick auf den kostbaren Inhalt freigibt. Derartige Büsten sind künstlerisch nicht bedeutend und gehören in den Bereich der Volkskunst. Die getrennte Aufbewahrung der einzelnen Reliquien hatte oft eine Anhäufung von Büsten zur Folge. So gelangte z. B. eine (S. 456) Gruppe, die vermutlich von der Hand eines neapolitanischen Meisters aus dem Anfang des 16. Jh. stammt, aus der Kirche S. Margherita in L'Aquila in das dortige Nationalmuseum. Die etwa 70 cm hohen Büsten stehen auf Sockeln, auf denen die Heiligennamen verzeichnet sind. In der Beschriftung drückt sich eine Verwahrlosung des Reliquienkultes aus. Es kommen verderbte Schreibweisen vor und Namen obskurer Heiliger oder Seliger, die gar nicht zu belegen sind. So begegnen z. B. ein Märtyrer Senesis oder die hll. Iovinus und Urbicimac.
Die Kirche S. Maria del Colle in Pescocostanzo verwahrt acht Büstenreliquiare des 18. Jh., ebenso viele der Dom in Sulmona, u.a. mit Reliquien des Ignatius von Loyola und des Ludwig von Toulouse. Aus der Kirche der Annunziata in Sulmona kamen elf Büsten in das dortige Museo Civico; eine davon enthielt die Reliquien der hl. Brigida. Elf Reliquienbüsten zeigt die Kirche S. Cesidio in Trasacco.
In Kirchenräumen und Sakristeien sieht man noch häufig alte Schränke zum Aufbewahren der Kultgeräte. Einige sind datiert, z.B. trägt der große Schrank im Chor der Pfarrkirche in Rocca di Mezzo die Jahreszahl 1492.. Die Vorderfront ist in 36 quadratische Felder gegliedert, in denen Sterne, Räder, Kreise und dergleichen eingeschnitzt sind. Die Sakristei von S. Francesco in Tagliacozzo bewahrt einen 1607 datierten Schrank, der eine Breite von 6,32 m besitzt. In der Kirche S. Maria di Loreto in Magliano de' Marsi befindet sich ein 1614 gefertigter Schrank mit dem Wappen von Magliano, und die Sakristei der Kirche SS. Annunziata in Sulmona zeigt eine großartige Innenausstattung von 1643 mit Schränken und Stühlen.
Orgelbau
Die Geschichte der Orgeln in den Abruzzen und im Molise können wir seit dem 16. Jh. verfolgen. Faßt man die verstreuten und entlegenen Nachrichten der Lokalliteratur zusammen, so ergibt sich ein Bild, das durchaus der Entwicklung entspricht, die wir auch in anderen Zweigen der abruzzesischen Kunst kennen gelernt haben. Wir beobachten bis in das 19. Jh. hinein einen bodenständigen Orgelbau und erfahren von Familienbetrieben, die mit ihren Erzeugnissen sogar Kirchen außerhalb der Abruzzen belieferten. Andrerseits ist ein Import aus den großen Zentren des italienischen Orgel baus festzustellen. Venedig und die Marken setzten ihre Erzeugnisse vornehmlich im adriatischen Küstenstreifen der Abruzzen ab, von Rom drang der Orgelbau in Sulmona ein, während Neapel und Benevent das Molise sowie Pescocostanzo versorgten.
Sicherlich erhielt in den Abruzzen und besonders in L'Aquila das Orgelspiel durch das Erscheinen der Margarethe von Parma, der einstigen Statthalterin der Niederlande, kräftigen Auftrieb. Drei Jahre vor ihrem Tod wurde 1583 in Ferrara der größte Organist seiner Zeit, Frescobaldi, geboren, der sich in jungen Jahren in die Niederlande begab. Margarethe brachte in die Abruzzen ihre Organisten aus Flandern mit. Zu ihnen gehörte der in Gent geborene Giovanni Vrombaut, der 1578 starb und sein Grab in S. Agostino in L' Aquila fand mit der schlichten Inschrift auf dem Grabstein »Urombaut Fiammengo«.
Die Orgel bauer waren gleichzeitig auch ausübende Musiker und gelegentlich sogar Komponisten. Ein schönes Beispiel dafür ist im 16. Jh. aus Lanciano überliefert. Aus der Orgelbauerfamilie Sabino stammte der in Lanciano geborene Ippolito Sabino. Alle seine Kompositionen erschienen zwischen 1570 und 1587 in Venedig. Seine Werke wurden auch im Ausland gedruckt, z. B. in Antwerpen, Amsterdam, Leiden, Kopenhagen und Nürnberg. 1587 widmete er eine Komposition dem Großherzog der Toskana, eine andere im selben Jahr den Kanonikern von Lanciano. Ippolito starb am 25. August 1593.
Ein Unikum in den Abruzzen ist im Kreuzgang des Domes von Atri eine Steinplatte mit einer klar und schön eingemeißelten Inschrift. Diese lautet: »Caesar Tudinus, canonicus, musicus et organicus Adriensis dicavit divae Ceciliae anno 1577«. Unter dem zweizeiligen Totenspruch »In manus tuas, Domine, commendo spiritum meum« läuft eine Notenschrift. Den seltenen Fall von in Stein gemeißelten Musiknoten in Verbindung mit einem christlichen Text zeigt auch eine im Dom von Verona gefundene Platte, die sich jetzt im dortigen Archivio Capitolare befindet.
Der Eifer in der Herstellung von Orgeln war bei den Abruzzesen im 16. Jh. bereits sehr ausgeprägt. Aus Dokumenten im Kapitelarchiv des Domes von Teramo geht hervor, daß im Jahr 1504 für den Dom zwei Orgeln gebaut wurden, von denen jede über 500 Pfeifen verfügte. Dieses Orgelwerk war bereits 1739 nicht mehr vorhanden.
Aus den Studien von Corrado Marciani erfahren wir über den Orgelbau in Lanciano. Auf Grund venezianischer Einflüsse bildeten sich hier einheimische Werkstätten, die es sogar zu einem ansehnlichen Export brachten. Man kennt z. B. einen Vertrag von 1551, worin von der Herstellung einer Orgel in Lanciano die Rede ist, die dann in einer Kirche in S. Salvo, einem Ort bei Vasto, aufgestellt werden sollte. Berühmte Orgelbauer aus Lanciano waren Mitglieder der bereits erwähnten Familie Sabino, und ihr angesehenster Vertreter war Camillo Sabino. Den größten Absatz für seine Orgeln fand er in den Marken. Andere Aufträge an ihn kamen aus dem Molise, er arbeitete für Guglionesi und für den Dom in Termoli. Die Tradition des Orgelbaus in Lanciano brach mit Camillo ab, und es dauerte nahezu 200 Jahre, bis dort unter dem Einfluß Venedigs das Handwerk aufs neue erstarkte.
Ein anderes Zentrum für den Orgelbau befand sich in Guardiagrele. Dort genoß die Familie Farina hohes Ansehen. In den Jahren 1600 und 1605 ist Domiziano Farina mit Orgel bauten in Vasto beschäftigt. Die meisten Instrumente setzte die Familie in der zweiten Hälfte des 16. Jh. in L'Aquila ab. Gennaro und Domiziano Farina lieferten die Orgeln für den Dom, für die Kirchen S. Pietro di Coppito und S. Pietro di Sassa. Die Orgel von S. Silvestro trägt das Datum 1574 und die Signatur der Farina. Ein Jahr später, 1575, hielt sich der schon häufig genannte Serafino Razzi in (S. 457) L' Aquila auf und rühmt dort die prachtvolle Orgel von S. Domenico. Unweit von L'Aquila in der Pfarrkirche von Capitignano hat sich noch eine Orgel der Spätrenaissance erhalten.
Aus dem 17. Jh. sind in den Abruzzen drei datierte Orgeln erwähnenswert. 1611 stiftete der Bürger Marzio d'Alessandro für die Kirche S. Bartolomeo in Avezzano ein großes Orgelwerk. Bedeutender war das Instrument, das man 1619 über dem Mittelportal von 1558 im Mittelschiff der Collegiata in Pescocostanzo errichtete. Die Mitte des Prospekts ziert die in Holz geschnitzte Darstellung einer Orgel. Eines der prächtigsten Orgelwerke des 17. Jh. in den Abruzzen bewahrt die Badia Morronese bei Sulmona (Tf. 334). Es entstand im Jahr 1681. Der Erbauer ist nicht überliefert. Die Orgeltribüne zeigt drei konvexe Schwingungen, von denen die mittlere am weitesten vorgezogen ist. Die Inschriften an der Orgel sagen aus, daß der Schnitzer Giovanni Battista del Frate aus Mailand 1681 die Holzdekoration ausführte, die Wappen, Putten, Laubwerk und Blüten zeigt. Für die Vergoldung der Orgel war der in der Inschrift genannte Franciscus Caldarella zuständig. Eine Orgel mit einem vergoldeten Gehäuse aus dem 17. Jh. bewahrt im Molise die Kirche S. Basilio Magno in Salcito.
Die Zerstörung vieler Orgeln durch die schweren Erdbeben von 1703 und 1706 brachten dem Handwerk zahlreiche Aufträge. Ferdinando Mosca hat sich auch in der Herstellung von Orgeltribünen hervorgetan. In L'Aquila errichtete er einen Orgelprospekt über dem Haupteingang von S. Bernardino (Tf. 333). Den oberen Abschluß bildet das Flammenzeichen des hl. Bernhardin mit dem eingeschriebenen Namen Jesu. Die geschmackvollen Zierglieder, die teilweise die Orgelpfeifen verdecken, sind von einer Qualität, die nur selten im abruzzesischen Barock anzutreffen ist. Eine kleine elegante Orgel mit Schnitzereien und Vergoldungen erhielt in dieser Zeit S. Maria di Collemaggio. An der Brüstung der Orgeltribüne sieht man in Holz geschnitzt die Darstellungen der Geißelung, Kreuzigung, Grablegung und Beweinung. Formen des Rokoko zeigt die schöne Orgel in dem durch ihre Ausstattung berühmten Kirchlein der Cavalieri de Nardis in L'Aquila.
Aus L' Aquila stammte die Orgelbauerfamilie Fedri (auch Federi genannt). Adriano Fedri fertigte laut Inschrift die mit prachtvollen Schnitzereien und Vergoldungen versehene Orgel in S. Maria della Neve in Palena. Aufträge führten ihn nach Atri, und in Loreto Aprutino arbeitete er für die Kirche S. Francesco d'Assisi eine großartige Barockorgel. In der Umgebung von L'Aquila erhielten im Barock auch kleinere Kirchen Orgeln, z. B. die Pfarrkirche in Barisciano oder S. Marco in Castel del Monte.
Nach dem Erdbeben vom 3. November 1706 besteht in Sulmona ein großer Bedarf an Orgeln. Der Dom und die Gebäude der Domverwaltung wurden damals weitgehend zerstört. Am 21. Januar 1707 beschloß das Domkapitel, das sich in einer Notbaracke versammelt hatte, die Ausstattungsstücke des Domes aus dem Bauschutt zusammenzusuchen, u. a. die kostbaren Orgelpfeifen. Ober dem Eingangsportal des Domes entstand dann im 18. Jh. die neue Orgel mit reichen Schnitzereien und Vergoldungen. Der elegante barocke Orgelprospekt mit dem Datum 1748 in der Kirche der Annunziata in Sulmona wird allgemein als ein Werk des Ferdinando Mosca angesehen.
Auch im adriatischen Küstenstreifen blieb das Orgelspiel lebendig. Die noch erhaltene geschnitzte, vergoldete und bemalte Orgel in S. Francesco in Lanciano ist ein Geschenk des Papstes Clemens XIV. (1769-1774) an diese Kirche. Die Stadt Vasto verfügte im 18. Jh. über eigene Werkstätten des Orgelbaus. Von den Orgeln des Molise im 18. Jh. ist die in der Pfarrkirche von Capracotta 1756 datiert. Andere entstanden in den Kirchen S. Antonio Abate in Campobasso und in S. Leonardo in Castelmauro.
Der Orgel bau ist in unserer Region noch im 19. Jh. lebendig. Aus der Familie Gennari, die sich, aus Rovigo kommend, 1787 in Lanciano niedergelassen hatte, tat sich der in Lanciano geborene Quirico, Sohn des eingewanderten Giovanni Gennari, hervor. 1811 führte Quirico die Orgel im Dom von Lanciano aus. Ein Verwandter von ihm, Quirico Cipollone, gründete um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, in Lanciano eine Orgel-und Klavierfabrik. Um dieselbe Zeit baute 1851 Vincenzo Petrucci aus Venafro die große wohltönende Orgel für die Kirche S. Amico in Agnone.
Bereits im 16. Jh. besaßen die Abruzzesen im Orgelbau einen so guten Ruf, daß auch Aufträge von außerhalb unser Bergland erreichten. Der schon genannte Camillo Sabino wurde 1561 von Lanciano nach Ascoli Piceno berufen, wo er in zweijähriger Arbeit die Orgel für die dortige Kathedrale herstellte. Auf Grund seines Könnens wuchs sein Ruhm in den Marken, und er erhielt weitere Bestellungen; so entstanden seine Orgeln in S. Maria Maggiore in Ripatransone, in S. Pietro Martire in Ascoli Piceno und in S. Agostino in Offida.
Renato Lunelli hat in seinem 1958 erschienenen Buch über den Orgel bau der Renaissance in Rom Orgelbauer ermittelt, die aus Sulmona kamen. Zu den vielen Ausstattungsstücken, deren die neuerrichtete Peterskirche in Rom bedurfte, gehörte auch die Orgel, die in der Cappella Gregoriana ihre Aufstellung fand. Sie wurde 1580 von zwei Meistern aus Sulmona, dem Vater Marino und seinem Sohn Vincenzo, errichtet. Es war die meistgespielte Orgel im Neubau von S. Peter, und sie erschallte an allen Festtagen. Die Orgel der Meister von Sulmona zeigte 1597 Schäden, aber Reparaturen konnten ihr die alte Klangschönheit wiedergeben. Als Frescobaldi 1615 als Organist an die Peterskirche berufen wurde, hat er sicherlich seine Kunst auf diesem Instrument vorgeführt. Die Tätigkeit des Vincenzo von Sulmona ist in Rom mit weiteren Beispielen zu belegen. Noch in seinem Todesjahr 1590 baute er die Orgel in S. Pietro in Montorio. Ferner führte Vincenzo 1583 Restaurierungsarbeiten an der Orgel im Oratorio del Crocifisso in der Kirche S. Marcello al Corso in Rom aus.
Im 19. Jh. hatten die Orgelbauer von Lanciano ein großes Ansehen, das über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurde. Der bereits genannte Quirico Gennari restaurierte (S. 458) und vergrößerte 1830 die Orgel von Montecassino, die 134 Jahre früher von Ces are Catarinozzi aus Subiaco errichtet worden war. Zusammen mit seinen Söhnen Gaetano und Lelio baute Quirico Gennari zwischen den Jahren 1841 und 1844 die neue Orgel für die Abteikirche in Cava de' Tirreni. Ein französischer Zeitgenosse äußerte, daß dieses Instrument durchaus dem Vergleich mit den berühmtesten Orgeln Europas standhalte. Außerdem betätigte sich Quirico Gennari in der Landeshauptstadt Neapel und baute dort die Orgel in der Kirche S. Francesco di Paola. Auch in der Stadt Venafro finden wir im 19. Jh. Orgelbauer. Ein Nicola Criscuoli renovierte 1848 eine Orgel des 17. Jh. in der berühmten Abtei Montevergine bei Avellino.
Die Einflüsse nichtabruzzesischer Orgel bauer in unserem Bergland sind besonders in den vierziger Jahren des 16. Jh. spürbar. 1542. ließ man die Brüder Andrea und Jacobo Vicentino aus Venedig nach Lanciano kommen. Sie bauten hier die Orgel für die Kathedrale. Auch für die notwendigen Arbeiten in Holz brachten sie ihre Werkleute aus der Lagunenstadt mit. Die zweite Welle venezianischer Orgelbauer erreichte Lanciano am Ende des 18. Jh.; in diesen Kreis gehört auch der bereits genannte Giovanni Gennari aus Rovigo.
In Pescocostanzo an der historisch wichtigen Straße, die von den Abruzzen nach Kampanien führt, wandte man sich in Fragen des Orgelbaus, kunstgeographischen Gewohnheiten folgend, nach Neapel. Aus Norariatsakten erfahren wir, daß 1545 der neapolitanische Maler, Architekt und Orgelbauer Giovan Francesco di Pairna, mit Beinamen Mormanno, den Auftrag zur Erstellung einer Orgel für Pescocostanzo erhielt. Auf den Flügeln des Orgelprospektes sollten auf der Innenseite die Verkündigung und außen die Himmelfahrt Christi und der hl. Benedikt gemalt werden. Nachkommen des Palma errichteten 1599 die Orgel für eine Kirche in Casacalenda im Molise.
Wieder anders verhielt man sich in Atri, wo man die guten Beziehungen zu den Marken ausnutzte und dort im 16. Jh. die Domorgel herstellen ließ. Auftraggeber waren der Herzog Acquaviva von Atri und sein erstgeborener Sohn. Aus Dokumenten im Domarchiv geht hervor, daß die Orgel 1547 von zwei Brüdern, den Meistern Camillo und Vincenzo aus Osimo vollendet wurde. An die Stelle dieser Orgel trat 1963 ein Instrument mit sechstausend Pfeifen, das das größte seiner Art in den Abruzzen ist und von der Firma G. Zenoni in Pescara hergestellt wurde.
Der Innenraum der Kirche SS. Annunziata in Sulmona erhielt seine festliche Ausstattung im Barock. Dem Ferdinando Mosca wird der Prospekt einer 1748 entstandenen Orgel zugeschrieben, die an die Stelle einer älteren trat, deren Bauzeit um das Jahr 1602. angesetzt werden kann. Letztere wurde von dem römischen Orgelbauer Stefano Blasi geliefert. Im Archiv der Annunziata existierten neuerlich verschwundene Briefe des Blasi aus dem Jahr 1602, worin von Dekorationsarbeiten die Rede ist, die Paolo Balcone an der Orgel auszuführen hatte. Eine prächtige, heute noch intakte Orgel erhielt im Barock die Kirche S. Francesco della Scarpa in Sulmona. Ober der Tastatur befindet sich eine in Holz eingelegte Inschrift, die mitteilt, daß das Instrument von einem Orgelbauer aus Camerino erstellt wurde: »Ego Dominicus de Cammerino feci anno 1754«.
Das Molise wendete sich für die Anschaffung von Orgeln nach Süden. In den Jahren 1762-1767 erhielt der Orgelbauer Michele Bucci aus Benevent Zahlungen für die Anfertigung einer Orgel in Bonefro. Aus Zahlungsbelegen geht hervor, daß das Instrument 1765 bemalt wurde.
Keramik
Innerhalb der verschiedenen Gattungen des abruzzesischen Kunstgewerbes nimmt die Keramik eine Sonderstellung ein. In diesem Bereich spielt der weltliche Stand neben der Kirche eine wichtige Rolle als Auftraggeber.
In der Fayencemalerei erlangte der Bergort Castelli die führende Stellung in den Abruzzen. Die Voraussetzungen für das Aufblühen dieses Gewerbes lagen zum einen in dem vorzüglichen Schwemmkalk, den die unmittelbare Umgebung des Ortes als Rohmaterial lieferte, und zum anderen in den ausgedehnten Buchenwäldern, in denen man das zum Brennen notwendige Holz fand. Heute sind die Majoliken von Castelli mit ihren charakteristischen grünlichen, goldgelben und zartblauen Farbtönen in den großen Museen Italiens und im Ausland zu finden, z.B. in Berlin, Paris, London und New York. Die wichtigsten Sammlungen für Keramik aus Castelli sind in den Abruzzen die Raccolta Civica in Castelli selbst, weiterhin das Nationalmuseum in L' Aquila, das Museo Civico in Teramo, das Dommuseum in Atri und das Museo Civico in Baranello. Ferner gibt es bedeutende Privatsammlungen in den Abruzzen. Zu nennen sind u. a. die großen Bestände von R. Paparella T reccia und von G. Bindi, beide in Pescara. In Penne ist die recht umfangreiche Privatsammlung im Palazzo Leopardi öffentlich zugänglich gemacht, und in Loreto Aprutino gründete 1957 der Baron Giacomo Acerbo eine »Galleria delle antiche ceramiche abruzzesi«. Eine stattliche Anzahl von Werken ist im Besitz der Familie Bonanni in Fossa.
Das Sammeln von Keramiken aus Castelli ist nicht erst eine Liebhaberei des Bürgertums in der modernen Zeit. Einen besonderen Geschmack daran zeigte z. B. bereits im 17. Jh. Esuperanzio Raffaelli, der 1661-1668 Bischof von Penne und Atri war. Seine bischöfliche Kredenz war angefüllt mit Majoliken, die sein Zeitgenosse Francesco Grue hergestellt hatte. Teile des Eßservices des Bischofs gelangten in die Sammlung Paparella Treccia, und ein kostbarer polychromer Teller aus seinem Besitz, der den Triumph des Scipio abbildet und mit dem Wappen des Bischofs verziert ist, verwahrt. der Louvre in Paris. Majoliken mit mythologischen Szenen kamen bereits 1785 in die Kunstsammlung des Schlosses Willanow am südlichen Stadtrand von Warschau. Sie wurden 1856 zum ersten Mal publiziert und 1971 auf der Ausstellung italienischer Majoliken in Posen gezeigt. Der verwöhnte Dichter Gabriele D'Annunzio ließ sich den Schafskäse aus der Maiella, der ihm jährlich von einem alten (S. 459) Hausfreund zugeschickt wurde, auf einem kostbaren Majolikateller aus Castelli servieren.
Die Castelliware wurde vornehmlich auf den berühmten Messen in Senigallia in den Marken abgesetzt, wo der Handel im 18. Jh. und in der ersten Hälfte des 19. Jh. blühte. In günstigen Fällen landeten dort zur Messezeit etwa 500 Schiffe, und man zählte über fünfzigtausend Besucher, die aus ganz Europa und dem Orient zusammenkamen.
Aus einem Kataster in Castelli erfahren wir, daß 1743 in diesem Ort 35 Keramikfabriken existierten. Im selben Jahr verkaufte man allein in Senigallia 5000 Körbe mit Majolika, von denen jeder im Durchschnitt zweihundert Einheiten enthielt. Bei der im 19. Jh. nachlassenden Produktion boten 1805 noch zwölf Firmen aus Castelli ihre Ware in Senigallia an. Ein Jahr später waren unter den vierhundert Kaufleuten, die auf dieser Messe auftraten, dreizehn Hersteller aus Castelli. 1839 ging die Zahl auf acht Aussteller zurück. Der Transport der zerbrechlichen Ware erfolgte von Castelli bis Giulianova zu Lande, dort verlud man sie auf Barken und verschiffte sie nach Senigallia.
Der außergewöhnliche Steuerdruck, der durch die Bourbonen vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jh. auf dem Keramikgewerbe in Castelli lastete, brachte dieses in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Viele Fachkräfte waren zur Auswanderung gezwungen und begaben sich zumeist in den Kirchenstaat. Gewisse Erleichterungen, die 1789 versprochen wurden, blieben ohne weitreichende Wirkung.
Das Auftauchen der Castelliware in der ganzen Welt spornte auch die Kunsthistoriker von nah und fern an, sich mit diesen Objekten zu beschäftigen. Das Studium der Majolika erhielt ferner einen wesentlichen Impuls durch Kunstausstellungen, die vornehmlich die Abruzzesen selbst organisierten. Keramik aus Castelli zeigte man erstmals vom Juni bis Oktober 1905 auf der »Mostra d'arte antica abruzzese« in Chieti. Nach dem Zweiten Weltkrieg intensivierte man die Erforschung dieses Gebietes durch Spezialausstellungen, die von wissenschaftlichen Katalogen begleitet waren. 1955 fand in Neapel und Teramo die »Mostra dell'antica maiolica abruzzese« statt. ]n Castelli zeigte man 1965 die »Mostra dell'antica maiolica di Castelli d'Abruzzo«. Unter dem selben Titel fand dort zwei Jahre später im August wiederum eine Ausstellung statt; 1968 organisierte man in Castelli nochmals eine »Mostra della ceramica antica e popolare d'Abruzzo e Molise«. Von Dezember 1968 bis Februar 1969 sah man in Rom im Palazzo Venezia die Ausstellung »Le antiehe maioliche di Castelli d'Abruzzo«, und endlich veranstaltete man vom 27. Juli - 31. August 1980 in Sesto Fiorentino und in Castelli die Schau »Antiehe maioliche popolari di Castelli«.
Die Herstellung von Töpferware war im Mittelalter eine Angelegenheit des Handwerks. Erst in der Renaissance wurde dieses Gebrauchsgut künstlerisch gestaltet, und nahmhafte Maler wurden bei seiner Herstellung herangezogen. Der Geburtsort der künstlerischen Keramik ist Faenza, nach dem die ganze Gattung den Namen Fayence erhielt. Die Fabriken in Faenza waren die ersten, die den Ton mit einer Glasur aus weißem Email überzogen, ein Verfahren, das häufig von anderen Orten in Italien und ebenfalls von Castelli übernommen wurde. Die Vorliebe für die weißen Majoliken entsprach dem Zeitgeschmack und hängt mit der zunehmenden Einfuhr des weißen chinesischen Porzellans zusammen, das man auf diese Weise zu imitieren suchte.
Im 16. Jh. entstanden in vielen Orten Italiens Keramikfabriken, vor allem in Castcl-Durante, dem heutigen Urbania, in Urbino, Siena, Florenz, Gubbio, Cafaggiolo bei Barberino di Mugello, Forn, Deruta und Venedig. Die gesteigerte Produktion führte im Lauf der Zeit häufig zum Absinken der künstlerischen Qualität. Castelli war von diesem Niedergang nicht betroffen, und es entstanden in diesem Bergstädtchen noch im 17. und 18. Jh. die schönsten Fayencen, die in Italien einen weitreichenden Einfluß ausübten.
Die Majolikaindustrie in Castelli läßt sich erst seit der Mitte des 16. Jh. belegen. Die dortige Produktion zeigt ein Charakteristikum, das auch in anderen Gattungen des abruzzesischen Kunstgewerbes festzustellen ist; trotz der Massenware kam es zu keinen uniformen Gestaltungen, kaum eine Majolika gleicht der anderen in Form und Bemalung. Bis zum 19. Jh. stellte man gleichzeitig zwei Arten von Töpferware her. Zum einen produzierte man bemalte Gebrauchsgegenstände, zum andern schuf man große runde Teller, die wohl kaum als Eßgeschirr benutzt wurden, vielmehr die Wände zierten oder als Schaustücke auf Kredenzen dienten. Die Gestaltung der letzteren war ausschließlich ein künstlerischer Selbstzweck. Die Malereien zeigen religiöse Inhalte, insbesondere jedoch Darstellungen aus der Mythologie und Geschichte. Später entwickelte man das reine Landschaftsbild, wobei man Ruinenlandschaften bevorzugte.
Neben den Prunktellern waren die Töpfer von Castelli auf die Herstellung bestimmter anderer Gegenstände spezialisiert. Berühmt wurden die sog. »alberelli«, Gefäße für Apotheken zur Aufbewahrung von Arzneien (Tf. 338). Andere Objekte dienten der religiösen Andacht. Dazu gehören die vielen kleinen Weihwasserbecken für den häuslichen Gebrauch, die man in den verschiedensten Formen gestaltete. Ein weiteres wichtiges Erzeugnis dieses Handwerkszweiges sind die bemalten Kacheln. Man brachte sie als Zierde an den Flachdecken der Kirchen an, und man verwendete sie als Fußbodenbelag in den Gotteshäusern. Es entstanden kunstvolle Altarantependien aus Kacheln, und in der Pfarrkirche von Bisenti findet man eine »Via crucis« aus Keramikplatten. Man schuf Altarbilder aus bemalten Kacheln, und vereinzelt kommt es auch zur Herstellung von Votivkacheln.
Die Frühzeit der Castelliproduktion reicht bis zum Jahre 1637. Dieses Datum trägt eine Fayence, die man mit Recht dem Francesco Grue zuschreibt, dem großen Erneuerer der Töpferkunst in Castelli. Vor dieser Zeit ist eine Reihe anonymer Erzeugnisse überliefert, und unter den Werken von der Hand namentlich bekannter Töpfer finden sich besonders zahlreiche von Mitgliedern der Familie Pompei. Der älteste Vertreter dieser Sippe ist Titus Pompei, von dem (S. 460) 1516 datierte Fliesen überliefert sind. Das bekannteste Mitglied ist Orazio Pompei. Seine früheste datierte und signierte Arbeit ist eine Kachel von 1551, heute in der Raccolta Civica in Castelli. Sie zeigt eine sitzende nährende Madonna vor einem Hintergrund mit den für Castelli charakteristischen grünen und gelblichen Tönen. Das Haus der Familie Pompei in Castelli ist erhalten. An dessen Außenwand ist eine Madonna aus Keramik zu sehen, und an einem Fensterpfosten befindet sich die Inschrift: »Haec est domus Oratii figuli 1562.«. Eine undatierte, heute nicht mehr vorhandene Fußbodenkachel in der Kirche S. Donato in Castelli trug die Beischrift: »Oratio Pompei feeit hoc«. Der Madonna auf der Kachel von 1551 steht eine vom 21. Mai 1557 datierte Verkündigung auf einer Platte in der Pinacoteca Provinciale in Chieti so nahe (Tf. 335), daß man sie mit Recht dem Orazio zugeschrieben hat. Aus einem Dokument geht hervor, daß Orazio im Jahr 1599 nicht mehr am Leben war. Demnach kann eine 1609 datierte Kachel mit Maria auf der Wolkenbank, die ein Orazio Pompei signierte, nur von einem jüngeren Orazio stammen. Unter den Töpfern Pompei, die wir aus dem 16. Jh. kennen, und zu denen Tommaso und Antonio gehörten, ist besonders Annibale Pompei zu nennen. Er arbeitete in der heute in Privatbesitz befindlichen Cappella di S. Maria della Spina unweit von Isola del Gran Sasso die Fußbodenkacheln und beschriftete eine davon in volkstümlicher Schreibweise: »Annibale da Ponpeo da li Castelli per sua devotione a fato matonare questa capela 1576«. Der Belag besteht aus sechseckigen monochromen und viereckigen polychromen Kacheln. Die Arbeiten der Pomp ei sind künstlerisch wenig fortschrittlich und schließen sich an die geläufigen Vorbilder aus Faenza an.
Der Einfluß Faenzas ist auch für die anonymen Kacheln aus Castelli charakteristisch. Die Kirche S. Donato in Castelli war einstmals völlig mit Kacheln ausgelegt. Die frühesten sind um die Mitte des 16. Jh. entstanden. Sie sind sehr schlicht und haben oft die Form eines Hochrechtecks, wobei die Längsseiten durch einfache farbige Streifen oder ornamentierte Bänder betont werden. Darunter begegnen u. a. Kacheln mit den Wappen der Orsini, die bis zum Jahre 152-4 Feudalherren von Castelli waren. Die meisten Fliesen zeigen stilisierte Blätter und Blüten, daneben finden sich weibliche Büsten in der Manier von Faenza.
Die Mehrzahl anonymer datierter Castelliware stammt aus dem zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts. In dieser Zeit entstanden die Kacheln an der Holzdecke von S. Donato, von denen man über tausend gezählt hat, wobei jedoch nur wenige an Ort und Stelle übriggeblieben sind. Einige Platten tragen die Jahreszahlen 1615, 1616 und 1617. Ihre Bemalung wiederholt oft die Muster der Fußbodenfliesen, jedoch wird das Formenrepertoire durch neue Darstellungen erweitert. Man sieht Profilfiguren von Männern, Tiere, religiöse Szenen und geometrische Muster. Einige Bemalungen zeigen eine primitive Frische und eine Vorliebe für die Karikatur. Mit den Kacheln der Decke von S. Donato sind stilistisch zwanzig andere am Michaelsaltar in der Pfarrkirche von Castelli verwandt. Sie sind alle von der Hand eines Meisters und 1616 datiert. Dargestellt sind Apostel, Propheten, Märtyrer und Heilige.
Die Kacheln des Polyptychons aus der Kirche Colledoro in Castelli, die heute in der Raccolta Civica dieses Ortes verwahrt werden, sind 1615 und 1616 datiert. Sie sind durch Restaurierungen so verunstaltet, daß der ursprüngliche Befund nur schwer auszumachen ist.
Qualitätvoller als die Keramiken, die sich um die Gruppe von S. Donato scharen, sind Teller mit weißer Grundfarbe, deren Gestaltung von Faenza beeinflußt ist. Allerdings zeigen sie in Castelli nicht so verwickelte Themen wie in Faenza, indessen behalten sie die dort übliche Farbgebung bei, wobei Türkisgrün und Orangegelb dominieren. Auf den Tellern ist zumeist nur eine Figur dargestellt, die von Ornamenten kreisförmig eingeschlossen wird. Es begegnen wieder Profilbüsten, weiterhin Ganzfiguren und Tiere.
Fortschrittlicher erscheint eine große Vase in der Sammlung Paparella Treccia in Pese ara. Ihre zwei Henkel bilden großartige Tierköpfe mit langen Hälsen, und auf der Wandung ist der fidelnde, mit Laub gekrönte Orpheus abgebildet; er sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen inmitten von Bäumen zwischen Vögeln und Harpyien und verzaubert die Welt mit seinem Spiel. Hier beobachten wir, bereits vor dem Auftritt der Dynastie Grue, eine deutliche Abwendung von Faenza. Dieser Wandel ist auch bei dem Töpfer Antonio Lolli festzustellen, der vor 1560 geboren wurde, 1586 in einem Dokument der Pfarrkirche von Castelli genannt wird und nach 1619 starb. Sein Prunkteller im Museo Nazionale di S. Martino in Neapel zeigt das Parisurteil, das die gesamte Fläche füllt und nur Raum für einen ornamentierten Rand läßt. Die Inschrift auf dem unteren Tellerrand lautet »Antonius Lollus a Castellis inventor«. In diesem Werk löst sich Lolli, wie der Maler der Orpheusdarstellung, von den Vorbildern Faenzas. Eine neue Bildwelt dringt in Castelli ein, die durch holländische und flämische Stiche vermittelt wurde.
Abb. 65: Stammtafel der Töpferfamilie GrueDie Hauptvertreter der im Barock in Castelli aufblühenden Töpferkunst sind Mitglieder der Familie Grue (Abb. 6 5). Es gibt in den Abruzzen kein Künstlergeschlecht, das besser zu belegen ist als dieses. Der älteste uns bekannte Grue ist Francesco (1618-1673). Sein gesichertes CEuvre ist nicht umfangreich. Nur zwei Werke sind signiert und zugleich datiert, ein aus Kacheln bestehendes Altarbild in der Pfarrkirche von Castelli aus dem Jahr 1647 und eine Kachel von 1670 in der Sammlung Paparella Treceia. Drei Prunkteller tragen die Signatur »F.G.«. Zugeschrieben wird dem Francesco eine datierte Kachel in der Raccolta Civica in Castelli mit der Beischrift .. Saneta Trinitas Unus Deus 1637«. Das Altarbild von 1647 zeigt die gekrönte Maria von Loreto. Ihr sind sechs Heilige beigesellt, u. a. Franz von Assisi, Dominikus und Antonius von Padua. Die späteren Werke des Francesco, z.B. der Teller von 1670 mit der Madonna auf Wolken und dem Antonius von Padua, zeigen die Verwendung von Goldfarben als Mittel der Lichtführung. Francescos Darstellungen sind durch klare Umrisse charakterisiert, und seine Begabung liegt mehr im Zeichnerischen als im Malerischen. Der Stammvater Francesco ist künstlerisch allerdings (S. 461) nicht sehr erfinderisch. Er bemalte seine Teller mit dichtgedrängten Figuren und Szenen, die Themen der Mythologie, der Geschichte sowie des Alten und Neuen Testaments darstellen. Ähnliche Sujets kennen wir bereits von den Keramiken der Renaissance; die schönsten Beispiele dieser Art stammen aus den Werkstätten in Urbino. Die dort verwendeten Vorlagen wurden später zum Teil in Castelli übernommen. Francesco Grue hat eine Stichsammlung angelegt, deren sich die nachfolgenden Generationen gern bedienten. Das Repertoire der Darstellungen umfaßte Schlachtenbilder, Triumphzüge der Kaiser, Jagdbilder, bukolische Landschaften, Allegorien und anderes.
Aus der Fülle der in Castelli entstandenen Keramiken hat man den Mitgliedern der Familie Grue sozusagen die besten Stücke zugeschrieben. Bedenkt man aber, daß bereits zu Zeiten des Francesco andere begabte Töpfer in diesem Bergort tätig waren, ist einiger Vorbehalt bei den Zuschreibungen gerechtfertigt. So sind z.B. vom Sohn des Francesco, dem Carlo Antonio Grue (1655-1723), dem talentiertesten Familienmitglied, überhaupt keine Werke datiert und nur zwei in der Sammlung Paparella Treccia signiert »C.A.G.P.« (Cario Antonio Grue pinxit). Seine der Malerei entnommenen Vorbilder formt er in ganz persönlicher Weise um. Durch die Mannigfaltigkeit der Themen, durch die phantasievolle und spontane Gestaltung, die meisterhafte Modellierung und die raffinierte, Goldtöne enthaltende Farbgebung ragen die Werke dieses Künstlers hervor. Sie sind nur selten in den Abruzzen anzutreffen, die meisten fanden ihren Weg in die großen Museen Italiens und Europas. Anfänglich noch von seinem Vater Francesco und dessen zeichnerischen Stil beeinflußt, befreit er sich zunehmend von dem Vorbild und entwickelt eine virtuose malerische Gestaltungsweise. Von Reisen des Carlo Antonio und von seiner Ausbildung wissen wir nichts.
Wahrscheinlich unterhielt der Künstler Beziehungen zu Neapel, denn vom 18. März 1695 existiert ein freundschaftlicher Brief des berühmten in Neapel tätigen Malers Francesco Solimena an Ca rlo Antonio Grue. Carlo Antonio heiratete die Ippolita Pompei aus der berühmten Töpferfamilie in Castelli. Sie schenkte ihm zwei Kinder, Francesco Antonio Saverio Grue (1686-1746) und Anastasio Grue (1691 bis 1742.). Nach dem Tod der Ippolita heiratete er die Orsola Virgili. Dieser zweiten Ehe entsprangen der 1699 geborene Töpfer Aurelio, der bis 1743 nachweisbar ist, und der 1702 geborene Töpfer Liborio, der nach 1776 starb .
Der bekannteste unter den vier Brüdern ist Francesco Antonio Saverio Grue. Sein Vater hatte ihn zum Priester bestimmt. Er begann zwar seine Studien im Priesterseminar in Penne, fühlte sich aber zu dieser Laufbahn nicht berufen. Er hielt sich zwei Jahre in Urbino auf, wo er 1706 in Philosophie und Theologie promovierte. Seine späteren Töpferwerke signierte er meistens als Doktor Grue oder als »philosophiae et sacrae theologiae doctor«. Das Leben des gelehrten Mannes, der sich ganz dem Töpferhandwerk widmete, spielte sich in Castelli, Bussi und Neapel ab. Bereits in den ersten Jahren seiner Tätigkeit als Keramiker muß er sich in der Landeshauptstadt aufgehalten haben. Dort entstand ein signiertes und 1709 datiertes Arzneigefäß, das im Museo Nazionale di S. Martino in Neapel gezeigt wird. Beziehungen von Castelli zu Neapel bestanden schon seit geraumer Zeit. Erinnert sei an den Brief Solimenas von 1695 an den Vater unseres Töpfers. Aber bereits lange vor diesem Zeitpunkt wissen wir von Zerbino Cappelletti, der aus einer der berühmten Keramikerfamilien in Castelli stammt, daß er sich 162. I in Neapel niedergelassen hatte und 1631 dort eine Majolikafabrik leitete, die dem Kloster SS. Pietro e Sebastiano unterstand.
Francesco Antonio Saverio Grue eröffnete in Bussi eine Majolikamanufaktur, der aber nur kurze Dauer beschieden war. Dort entstand laut Inschrift 1713 ein Altarvorsatz für die Kirche S. Angelo in Lucoli, heute im Nationalmuseum in L'Aquila. In diesem Werk schildert der Meister u.a. auf elf Kacheln die Taten des hl. Jesuiten Franz Xaverius in Indien, wohl als Zeichen der Verehrung für einen seiner Namensheiligen. Die polychrome Streusandbüchse des Francesco Antonio Saverio im Museo Nazionale di S. Martino in Neapel ist laut Signatur 1715 in Bussi entstanden.
Entscheidend wurde für den Künstler das Jahr 1716. In dieser Zeit hatte der Feudalherr Ferrante Alan;on y Mendoza, dem die Valle Siciliana unterstand, die Keramikproduktion in Castelli so hoch besteuert, daß dort unter Anführung von Francesco Antonio Saverio Grue eine Revolte ausbrach, wobei er einen Häscher am Kopf verletzte. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, und die Folge für den Grue war eine zehnjährige Kerkerhaft in Neapel. Zu seinen Leidensgefährten zählten 53 Einwohner aus Castelli. Während seines Freiheitsentzuges muß der Meister dennoch einige Vergünstigungen erhalten haben, die ihm die Fortsetzung (S. 462) seines Berufes ermöglichten. Aus der Signatur eines polychromen Rundtellers der Sammlung G. Bindi geht hervor, daß er 1718 in Neapel gefertigt wurde. Dargestellt ist ein Mann in Rückenansicht in Betrachtung eines Kirchleins und einer dahinter liegenden Ruine. Wir erfahren, daß der Künstler während seiner Haft auf Betreiben des Vizekönigs von Neapel, des Kardinals Michael Friedrich von Althan (1722-1728), junge Töpfer in dem Handwerk unterwies. Zu seinen Schülern gehörte u. a. Donato Massa. Dieser arbeitete 1741-1742 an den berühmten Kacheln für den Kreuzgang von S. Chiara in Neapel, und später schuf er Arzneigefäße für die 1748 eingerichtete Apotheke von S. Maria del Popolo agli Incurabili in Neapel. Nach seiner Entlassung hielt sich Grue weiter in der Hauptstadt auf. Er heiratete dort die Neapolitanerin Candida Ruggeri, die ihm 1731 in Neapel den Sohn Saverio gebar. Eine späte Arbeit aus seiner neapolitanischen Zeit ist die mit der Ortsangabe Neapel versehene, 1734 datierte und signierte polychrome Kachel in der Sammlung Paparella Treccia, die die Ansicht von Neapel mit dem Hafen zeigt. Ein Jahr später, 1735, kehrt der Meister mit seiner Familie nach Castelli zurück. Als Dr. Grue signierte er seine Werke in Neapel und gleichfalls eine 1738 in Castelli gefertigte Kachel mit Nymphen und Putten in einer Landschaft, heute in der Sammlung Paparella Treccia. In den letzten Lebensjahren war er von religiösen Gedanken beseelt. 1739 lieferte er Arzneigefäße an die Apotheke der Casa Santa in Loreto in den Marken. Den Malereien legte er Kommentare bei, die Madrigale, Sonette und lateinische, der Jungfrau Maria gewidmete Distichen enthielten. Künstlerisch ist der Meister -vor allem in seinen Landschaften von seinem Vater abhängig und darüber hinaus von Eindrücken, die ihm die Stadt Neapel bot. Seine Malerei ist exakt und minuziös ohne expressive Ausschweifungen.
Von Anastasio und Aurelio Grue, zwei Brüder des Meisters, gibt es weder datierte noch signierte Werke. Wie es scheint, arbeitete Anastasio unter Anleitung seines älteren Bruders, denn er zeigt eine ähnliche Behandlung der Architekturlandschaften mit den von Vögeln belebten, luftigen Hintergründen. Aurelio Grue bildete sich in der väterlichen Werkstatt in Castelli aus. Unter der Protektion des Herzogs Acquaviva, der ihm das Stadtrecht von Atri zuerkannte, errichtete er in der Kathedralstadt eine eigene Manufaktur. Funde bei den letzten Restaurierungen des Domes brachten Keramiken des 16. Jh. ans Tageslicht. Es ist anzunehmen, daß Aurelio damit beauftragt war, das in Atri zum Stillstand gekommene Töpferhandwerk neu zu beleben.
Etwas mehr wissen wir von dem jüngsten, 1702 in Castelli geborenen Bruder Liborius, der nach 1776 starb. Seine Werke sind undatiert, jedoch signierte er häufig seine Teller auf der Rückseite. Die erste Ausbildung erhielt er von seinem Vater, und in der Malweise folgt er seinen Brüdern. Das Museum Filangieri in Neapel zeigt signierte Kacheln des Liborius, auf denen die Porträts von fünf Jesuitenmissionaren dargestellt sind. Darunter befindet sich das Bildnis eines Acquaviva, das sicherlich den 1550 in Atri geborenen Rodolfo Acquaviva wiedergibt, der 1583 in Indien den Märtyrertod erlitt. Liborio arbeitete anfänglich zusammen mit seinem Bruder Aurelio in Atri, trennte sich aber bald von diesem und gründet eine neue Manufaktur in Teramo, wo er wahrscheinlich starb.
Im Rokoko ist der wichtigste Repräsentant der Töpferkunst in Castelli und Neapel Saverio Grue (1731-1799), Sohn des Doktor Francesco Antonio Saverio Grue. Er war vier Jahre alt, als seine Eltern von Neapel nach Castelli übersiedelten, wo er die Jugendjahre verbrachte. Er war der einzige Nachfolger seines Vaters, denn sein älterer Bruder Vincenzo verdingte sich als Soldat in Orbetello. Von Saverio kennen wir datierte und signierte Arbeiten. Neben den üblichen Themen aus der Bibel und der Mythologie und neben bukolischen Szenen malt er mit Vorliebe Blumen. Er studierte die Geschichte der Keramik und übernahm aus der früheren Kunstübung die Technik der »bianchi«, des überzugs aus weißem Email, den er im Geschmack seiner Zeit verwandte. Von der in Castelli geübten Malerei entfernte er sich mehr und mehr und schloß sich dem neapolitanischen Stil an.
In Neapel erfuhr die Töpferkunst eine Neubelebung unter Karl Bourbon, der 1759 als König von Neapel abdankte, um den Thron in Spanien einzunehmen. 1738 heiratete er Maria Amalia von Sachsen. Sie brachte aus ihrer Heimat das weltbekannte Porzellan von Meißen mit, das auf diese Weise in Neapel bekannt wurde. Bereits vor dem Erscheinen der Königin in Neapel war die Porzellanfabrikation in Italien in Gang gekommen. 1720 trat in Venedig Konrad Hunger auf, ein Mitarbeiter des Johann Friedrich Böttger (1682-1719), des Erfinders des Meißener Porzellans. Auf Betreiben von Carlo Ginori entstand vor 1737 eine Porzellanfabrik in Doccia.
Um der Meißener Porzellanherstellung nachzueifern, richtete König Kar! Bourbon 1743 in Capodimonte eine Manufaktur ein, die 1759 geschlossen wurde, als der König nach Spanien gerufen wurde. Sein Sohn und Nachfolger Ferdinand I. von Neapel eröffnete im Jahr seines Regierungsantrittes eine neue Porzellanfabrik im nahen Porti ci. Man übernahm dort die Töpfer und die Modelle von Capodimonte. Die Manufaktur in Porti ci bestand bis 1773 und wurde dann in den Palazzo Reale nach Neapel verlegt. Neben der Herstellung von Porzellan förderte König Kar! auch die Anfertigung von Keramiken und richtete in Caserta eine Fabrik ein, der jedoch nur kurze Dauer von 1753 bis 1756 beschieden war.
Mit all diesen königlichen Anstalten kommt Saverio Grue in Berührung. 1747 kehrte er von Castelli nach Neapel zurück. Dieses Datum mit der Angabe Neapel trägt ein von ihm signierter Teller, der heute im Museo Nazionale di S.Martino in Neapel aufgestellt ist. 1747 erhielt er die Stadtbürgerschaft von Neapel in einem Patent, in welchem ihm der König Steuerfreiheit gewährte, und worin auf die Verdienste angespielt ist, die sich der Vater des Saverio, der Doktor Francesco Antonio Saverio Grue, in der Landeshauptstadt erworben hat.
Aus den Registern von Caserta geht hervor, daß Saverio (S. 463) Grue als einziger Töpfer aus Castelli 1754 und 1755 in dieser Manufaktur beschäftigt war. Dort entstand ein 1755 datierter Teller mit der Darstellung des Turmbaus von Ba-_ bel, den das Museo del Sannio in Benevent verwahrt. Die Tätigkeit des Saverio in Neapel erfuhr eine lange Unterbrechung. Nach Schließung des Werkes in Caserta begibt er sich zwischen 1756 und 1772. auf Studienreisen in Europa und besucht Frankreich, Deutschland und England. Sein Gesuch von 1758, in die Manufaktur von Capodimonte einzutreten, wird abschlägig beschieden. Erst 1772. kommt man seinen Wünschen entgegen, sich in Neapel betätigen zu dürfen. In diesem Jahr wird er unter den Künstlern genannt, die an der Porzellanfabrik in Portici arbeiteten. Aus welchen Gründen auch immer, stellt Saverio 1780 einen Antrag, ihm die Rückkehr nach Castelli zu erlauben. Erst zwei Jahre vor seinem Tod besinnt man sich in Neapel wieder auf unseren Saverio. 1797 wird er zum »direttore dei tornianti« (zum Vorsteher der Dreher) an der Reale Fabbrica di Napoli ernannt.
Die Geschichte der Familie Grue ist die ausgewiesenste unter den Töpfern Castellis. Daneben profilieren sich in der gar nicht überschau baren Zahl von Töpfern, deren Namen uns aus dem Bergstädtchen überliefert sind, andere Familien, die durch Jahrhunderte hindurch eine Werkstatt betrieben. Diese noch zu wenig erforschten Sippen verheirateten oft ihre Kinder untereinander; dadurch mischten sich zugleich die Stile, und es entstand eine künstlerische Verwandtschaft in der Produktion, so daß schon aus diesem Grund die Zuschreibungen der Keramiken an bestimmte Persönlichkeiten schwer durchzuführen sind.
Neben dem bekannten Zweig der Familie Grue gab es in Castelli noch eine Nebenlinie, aus der im 18. Jh. die Töpfer Francesco Saverio Grue (1720-1755) und sein Bruder Nicolo Tommaso Grue (1726-1781) Bedeutung erlangten. Sie waren Kinder des Giovanni Grue und der Gertrude Amicucci.
Die Dynastie der Grue, von deren Stammvater das erste signierte Werk aus dem Jahr 1637 überliefert ist, war nicht die älteste in Castelli. Wir erwähnten bereits 1516 datierte Keramiken der Familie Pompei. In zweiter Ehe hatte sich, wie wir hörten, Carlo Antonio Grue vor 1699 mit Ippolita Pompei vermählt. Im 18. Jh. erhielt diese Familie neue Bedeutung, als die Vettern Lorenzo und Raimondo Pompei ihre Werkstatt von Castelli nach Torre de'Passeri verlegten. Die Initiative dazu ging von dem 1673 in Castelli geborenen Lorenzo Pompei aus. Sein Vater Francesco betrieb in Castelli das Töpferhandwerk und heiratete Cecilia Cappelletti aus der berühmten Keramikerfamilie in diesem Ort. Francescos Bruder war Gennaro, dessen Sohn der obige Raimondo ist. Letzterer wurde 1697 in Castelli geboren und starb 1770 in Torre de'Passeri. Der Lebensweg des Raimondo erinnert an den des Francesco Antonio Saverio Grue (1686-1746). Auch Raimondo schlug zunächst die Laufbahn eines Geistlichen ein, besuchte ebenfalls das Priesterseminar in Penne und erhielt 1719 die Priesterweihe. Vom Theologen wurde auch er zum Töpfer. Einige Werke Raimondos sind datiert und signiert. Berühmt ist sein Altarvorsatz aus Kacheln mit der Pied und zwei Engeln, den er für die Kirche S. Francesco in Popoli schuf. Mit Lorenzo und Raimondo erlosch die Glanzzeit der Keramikproduktion in Torre de'Passeri. Die Nachfolger betätigten sich nur noch in der Herstellung von Haushaltsware.
Mitglieder der Töpferfamilie Cappelletti sind vom 17. bis zum 20. Jh. nachweisbar. Bereits drei Jahre vor der Geburt des Stammvaters der Familie Grue, Francesco, ging 1615 aus der Hand eines Stephanus Cappelletti eine signierte und datierte Kachel hervor, die sich in S. Donato in Castelli befindet. Es wurde bereits erwähnt, daß Zerbino Cappelletti aus Castelli 1631 eine Majolikafabrik in Neapel leitete. Hohes Ansehen erlangten im 18. Jh. die Töpfer und Brüder Candeloro und Nicola Cappelletti. Die Jagdbilder des Candeloro (1689-1772) sind von der Malweise des Carlo Antonio Grue (1655-1723) beeinflußt. Candeloro war dessen Schüler und Verwandter. Der Bruder Nicola (1691-1767) wurde durch seine Veduten und Ruinendarstellungen bekannt. An anderer Stelle erwähnten wir Fedele Cappelletti (1847-1920). Er war ein Freund des Malers Michetti. Fedele hatte sich in Paris aufgehalten und besaß in Rapino eine große Keramikfabrik, die auf eine lange Tradition zurückblicken konnte und durch Jahrhunderte im Schatten von Castelli gearbeitet hat.
Noch ungenügend erforscht ist der Stammbaum der Familie Gentili aus Castelli, die im 18. Jh. neben den Grue zu den hervorragendsten Keramikern zählt. 1683 stirbt der Töpfer Berardino Gentili, von dem anspruchslose Kacheln mit Darstellungen von Heiligen und anderen religiösen Themen bekannt sind. Künstlerisch bedeutender ist sein Sohn Carmine Gentili (1678-1763) (Tf. 336, 337), dessen Jugendwerke den Einfluß des Carlo Antonio Grue (1655-1723) erkennen lassen. Mit Carmine zusammen arbeiten seine beiden Söhne Giacomo il Giovane (1717-1765), der nach seinem Onkel, dem Töpfer Giacomo Gentili (1668-1713), genannt wurde, und Bernardino il Giovane (1727-1813). Die Kinder malten in der Manier ihres Vaters, und von Giacorno il Giovane wissen wir, daß er sich für kurze Zeit in Neapel aufhielt.
Neben den großen Töpferfamilien gibt es im 18. Jh. noch eine Reihe bedeutender Einzelpersönlichkeiten. Dazu gehört z.B. der 1731 in Castelli geborene Keramiker Silvio de Martinis. Sein Todesdatum ist unbekannt. Er arbeitete in der Reale Fabbrica di Capodimonte in Neapel und starb in Mantua auf dem Rückweg einer Reise nach Frankreich und Deutschland, wo er Kontakte zu Keramikbetrieben gesucht hatte.
Ein letzter Vertreter der traditionellen Keramik in Castelli ist der dort 1755 geborene Gesualdo Fuina, der 1822 in Castelli starb. Er verziert seine Arbeiten mit Einzeldarstellungen, häufig sind es Blumen, Vögel und anderes Getier. In der Technik des Tonbrennens und im Auftragen der Glasuren war er sehr versiert. Seine Erfahrungen legte er in der Schrift nieder ,.Trattato sul modo di preparare i colori a smalto«.
(S. 464)Filiationen von Castelli entstanden an vielen Orten der Abruzzen und auch außerhalb der Region, in Atri, Teramo, Bussi, Torre de'Passeri, Rapino und in Ascoli Piceno. Kurzfristig erlangte von 1744 bis 1754 eine von Castelli abhängende Werkstatt in Pettorano sul Gizio Ansehen. Am Ende des Jahrhunderts versuchte der Ökonom Giuseppe Liberatore vergeblich in einem Vortrag in der Accademia degli Arcadi Velati in L'Aquila, Interesse an der Reaktivierung der Majolikafabrik in Pettorano zu erwecken.
Mit dem Verfall der Werkstätten Castellis endet ein ruhmvolles Kapitel der Geschichte der künstlerischen Keramik in Italien. Ohne große Erfolge versuchte man im 20. Jh., die Keramikindustrie in diesem Bergort neu zu beleben. Dort entstand eine Fachschule, das »Istituto Statale d'Arte F.A. Grue«, das besonders von Ortsansässigen besucht wird, die ihre Lehrstücke auf Ausstellungen zeigen. Sie arbeiten mit einer Auswahl traditioneller Formen und bemühen sich auch um moderne Gestaltungen.
Aus einer alten Töpferfamilie in Castelli stammte Giovanni Fuschi (geb. 1880). Er war einer der Initiatoren der SIMAC (Societa Industria Maioliche Abruzzesi Castelli), eine Fabrik, die 1920 gegründet wurde und 1939 liquidieren mußte. Enttäuscht verließ Fuschi seinen Heimatort und starb 195 I in einem anderen traditionsreichen Städtchen der Keramikkunst, in Albisola bei Savona.
Für die szenischen Darstellungen war die Majolikakunst auf Vorlagen angewiesen. In der Frühzeit dieses Kunstzweiges dienten Zeichnungen, Medaillen und Plaketten als Vorbilder. Derartige Paradigmata kamen in späteren Zeiten außer Gebrauch, und in Castelli, wo die Produktion erst verhältnismäßig spät einsetzte, bediente man sich ausschließlich der Kupferstiche. Auf diesem Wege wurde in unserer Landschaft eine neue Bilderwelt bekannt, die der abruzzesisehen Fresko-und Ölmalerei völlig fremd war.
Das Sammeln von Vorlagen erfolgte nicht wahllos. Man kann in Castelli eine Vorliebe für bestimmte Künstler und Malweisen feststellen. Die meisten als Vorbild dienenden Maler gehören noch dem 16. Jh. an. Man importierte Stichfolgen aus Holland und bevorzugte niederländische Manieristen und Romanisten. Daneben fand die französische Kunst willige Aufnahme. Selbstverständlich waren auch Stiche nach italienischen Malern vorhanden, wobei allerdings Neapel als Kunststadt nur eine untergeordnete Rolle spielte.
Bereits Francesco Grue (1618-1673), der Stammvater der Familie, malte nach Stichen des Antonio Tempesta (1555 bis 1630), die auch in Urbino Verwendung fanden. Francesco kannte z.B. den Stich des Tempesta, auf dem Alexander d.G. den Leichnam des Darius birgt. In getreuer Nachahmung übertrug er die Vorlage auf einen Teller und benutzte dieselbe Unterschrift, die auch Tempesta verwandte »Alessandro ehe ricovre il corpo di Dario«. Auch der Triumph des Scipio von Tempesta ist auf einem heute im Louvre befindlichen Teller des Francesco nachgebildet, in dessen Bordüre das Wappen des bereits genannten Bischofs Esuperanzio Raffaelli von Atri erscheint. Die Stiche, die man von Tempesta in Castelli kannte, waren die Folgen des Alten Testaments, die Geschichten Alexander d. Gr., die Geschichten des Scipio Africanus und vor allem Jagdbilder, die noch im 18. Jh. als Vorlagen dienten.
Über andere Musterblätter verfügte Carlo Antonio Grue (1655-1723). Dazu gehören vor allem die Stiche des Niederländers Johann Sadeler, der eine sehr verbreitete Folge nach Kompositionen von Marten de Vos angefertigt hat. Der von Sadeler gestochene Zyklus des Alten Testaments wurde 1590 publiziert und gelangte nach Castelli. Auf einem dem Carlo Antonio Grue zugeschriebenen Teller übertrug der Meister daraus getreu den knienden David vor dem Propheten Nathan. Nach Marten de Vos stach Sadeler auch eine Folge von Planetenbildern, die in den Ateliers von Castelli bekannt wurden. In der Übernahme von Vorlagen zeigt sich Carlo Antonio Grue als außergewöhnlicher Eklektiker. Die· Malerei auf einer Vase im Museo Nazionale della Ceramica Duca di Martina in Neapel stellt Mariens Ruhe auf der Flucht nach Ägypten dar, eine Komposition, die Carlo Antonio einem Stich nach Federico Barocci (1528-1612) entnahm. Vier im Schloß Willanow in Warschau ausgestellte Keramikteller werden dem Carlo Antonio Grue zugeschrieben. Die Bemalungen zeigen Diana und Endymion, Herkules und lole, den trunkenen Silen sowie auf dem vierten Stück zwei Ruderer. Die drei erstgenannten Szenen sind dem Freskenzyklus des Annibale Carracci (1560-1609) und seiner Mitarbeiter im Palazzo Farnese in Rom entnommen. Die Nachbildung des Grue von Diana und Endymion ist sehr genau, dagegen hatte er Mühe mit der Darstellung des Herkules und der lole, weil er die rechteckige Komposition des Freskos in die Rundform zu übertragen hatte. Einer der beiden Ruderer hat sein Vorbild bei Domenichino (1581 bis 1641), und zwar in der Berufung des Andreas in der Kirche S. Andrea della Valle in Rom. Die Landschaftsdarstellungen des Carlo Antonio wurden von Tempesta inspiriert sowie von Stichfolgen nach Poussin (1594-1665), Nikolaus Berchem (1620-1683), Salvator Rosa (1615-1673) und Claude Lorrain (1600-1682.). Die Werke des letzteren wurden durch die Nachstiche des Perelle vermittelt.
Francesco Antonio Saverio Grue (1686-1746) arbeitete nach Stichfolgen von Jacques Callot (1592-1635). Saverio Grue (1731-1799) besaß Kupferstiche der Niederländer Philipp Galle (1537-1612) und Johann Sadeler. Die von Liborio Grue (1702-1776) signierte Auffindung des Moses, heute im Museo Nazionale di S. Martino in Neapel, geht auf Francois Boucher (1703-1770) zurück, und Carmine Gentili (1678-1763) zeigt sich in der Bemalung eines 1717 datierten Tellers von Annibale Carracci abhängig.
Nach Stichen arbeiteten natürlich auch die vielen anonymen Töpfer. Verbreitet waren Kompositionen des Hendrik Goltzius (1558-1617), vor allem seine Bilder zu den Metamorphosen des Abruzzesen Ovid, die 1589 und 1590 gestochen wurden. Weiterhin waren Stichwerke nach italienischen Malern bekannt. Man verarbeitete Stiche nach den beiden Bolognesen Guido Reni (1575-1642) und Domenichino (1581-1641), und innerhalb der römischen Malerei bevorzugte man den Pietro Testa (1611-1650).
[Teil 5] - Schrifttum in Auswahl
Schrifttum in Auswahl
- Vorbemerkung 467
- Bibliographien 469
- Allgemein
- Geschichte
- Vor-und Frühgeschichte, Archäologie und Kunstgeschichte
- Einzelne Gelehrte
- Die wichtigsten lokalen Zeitschriften 470
- Guiden und Reiseberichte 470
- Museumsführer 470
- Allgemeine Werke zu den Abruzzen und zum Molise 470
- Geschichte und Kunstgeschichte 470
- Allgemein 470
- Altertum 471
- Frühchristentum 471
- Mittelalter 472
- Neuzeit 472
- Einzelne Landschaften der Abruzzen 472
- Einzelne Orte 472
- Abruzzen 472
- Molise 473
- Architektur 474
- Allgemein 474
- Burgen 474
- Wohnbau und Villen 474
- Skulptur 474
- Malerei 474
- Handschriften und Miniaturmalerei 475
- Kunstgewerbe 475
- Einzelne Künstler 475
- Kirchengeschichte 476
- Allgemein 476
- Einzelne Orden 476
- Humanisten 476 Handel, Gewerbe, Bevölkerung 476
- Volkskunde 477
Vorbemerkung
Abruzzen und Molise sind Landschaften, deren Kunstdenkmäler für den Studierenden ebenso wie für den eifrig um die Kunst bemühten Reisenden überschaubar sind. Man erstickt nicht, wie in der Lombardei, in Venetien oder in der Toskana, im Überreichtum der überlieferten Objekte, und man verläßt nicht Städte wie Venedig, Florenz, Rom oder Neapel mit dem Bedauern, nur einen Bruchteil des künstlerisch Belangvollen gesehen zu haben.
Die nicht zu große Anzahl von Werken der bildenden Kunst erleichterte eine Erfassung der Objekte in sorgfältigen Einzelbehandlungen. Die Wissenschaftler, die sich in den uns angehenden Fragen mit unseren Regionen beschäftigt haben, sind fast ausschließlich Italiener, vornehmlich die Bewohner der Landschaft selbst, aber auch außerabruzzesische Forscher, die als Denkmalpflcgcr in L' Aquila wirkten. Diese Situation brachte es mit sich, daß der größte Teil des Schrifttums zu Abruzzen und Molise in heimischen Druckanstalten und in Heimatzeitschriften erschien und deshalb nur schwer in Bibliotheken außerhalb der beiden Landschaften zu finden ist. Ausländische Gelehrte, die einen gewichtigen Anteil an der Erforschung italienischer Kunstlandschaften haben, sind in unserem Bergland nur selten anzutreffen. Wer die Literatur dieser Region genauer studieren will, muß sich in die Abruzzen selbst begeben. Die besten Bibliotheken befinden sich in L'Aquila und Chieti. Die wichtigste ist die 1848 gegründete Biblioteca Provinciale Salvatore Tommasi in L'Aquila mit einem Bestand von über hunderttausend Bänden. Etwa ähnlich umfangreich ist die Biblioteca Provinciale Angelo Camillo De Meis in Chieti, an der das Studium des 19. Jahrhunderts vielleicht noch besser durchzuführen ist als in L' Aquila. Auch die Bibliotheca Hertziana in Rom verfügt über einen guten Bestand von Büchern und Zeitschriften zur Kunstgeschichte der Abruzzen und des Molise und gleichzeitig über eine photographische Dokumentation von Kunstwerken dieser Gebiete. Vor allem sind in Rom kunstgeschichtliche Vergleiche zwischen Abruzzen und Molise und den übrigen italienischen Kunstlandschaften besser zu betreiben als in L'Aquila und Chieti, da in Rom die Gesamtliteratur zur italienischen Kunst verfügbar ist.
Der geographische Raum, auf den sich das Schrifttum zu den Abruzzen bezieht, ist, bedingt durch verschiedene historische Gegebenheiten, nicht einheitlich. Zur Zeit, als das Bergland noch zum Königreich Neapel gehörte, finden sich viele Angaben zu den Abruzzen und dem Molise in neapolitanischen Publikationen, die Süditalien im allgemeinen oder die neapolitanischen Provinzen betreffen. Die ältere Literatur bezieht das historisch interessante Gebiet um Cittaducale in die Abruzzen ein, ein Landschaftsstrich, der 1927 an die neugeschaffene Provinz Rieti abgetreten wurde. Das Molise, das sich so sehr um eine kulturelle Eigenständigkeit bemüht, gehörte bis 1970 zu den Abruzzen. Diese Spaltung macht sich auch in der Geschichtsschreibung bemerkbar. Der Abruzzese vermeidet nach Möglichkeit, das Molise in seine Betrachtungen einzubeziehen, und umgekehrt.
Es sei daran erinnert, daß sich die Geschichtsschreibung vor allem im 19. Jahrhundert reich entfaltete, während die Kunstgeschichtsforschung mehr eine Angelegenheit des 20. Jahrhunderts ist. Es bleibt aber anzumerken, daß die Abruzzesen auf Teilgebieten der Kunstgeschichte, die in anderen italienischen Landschaften keine so starke Berücksichtigung fanden, besondere Leistungen aufzuweisen haben. Das oft vernachlässigte Kunstgewerbe wurde in den Abruzzen vor allem auf dem Gebiet der Keramik und der Goldschmiedekunst durch ausgezeichnete Forschungen bekanntgemacht. In den letzten Jahrzehnten rückte die Vor-und Frühgeschichte und die Kunstgeschichte des Altertums in ein völlig neues Licht. Valerio Cianfarani und Antonio Mario Radmilli untersuchten in grundlegenden Arbeiten kritisch neue Funde und erkannten die hervorragende Bedeutung, die diese innerhalb der gesamten Entwicklung Italiens einnehmen. Ein Ergebnis dieser Bemühungen ist auch die Errichtung des Museo Nazionale di Antichitil. degli Abruzzi e del Molise in Chieti.
Die überschaubarkeit der Gegebenheiten und der Objekte, die Abruzzen und Molise auf den Gebieten von Geschichte und Kunst zeigen, erleichterte in gewissem Sinn die Erstellung von ausgezeichneten landschaftsgebundenen Bibliographien. Wir sind mit ihnen so sehr verwöhnt, daß es schwerfallen dürfte, Vergleichbares im übrigen Italien wiederzufinden. Für das Fach der Kunstgeschichte erschien 1947 die erste kritische Bibliographie von Umberto Chierici mit 1488 Titeln. Gut eine Generation später veröffentlichte 1978 Damiano Venanzio Fucinese seine fast vollständige Bibliographie »Arte e archeologia in Abruzzo« mit 4733 Belegen. Fucinese führt in seinem Werk auch die historische Literatur und Schriften aus den Randgebieten an, sofern sie ihm für die Kunstgeschichte wichtig erschienen. Würde man nach gleichen Prinzipien eine Bibliographie für die an Geschichte und Kunst reicheren Regionen Italiens erstellen, würde sich zeigen, daß das die Abruzzen betreffende Schrifttum nur ein Bruchteil der einschlägigen Literatur anderer italienischer Kunstlandschaften ist. Das Werk von Fucinese ersparte mir die Erwähnung der überkommenen Lokalliteratur, die der Leser in Bibliotheken außerhalb der Abruzzen ohnehin kaum finden würde. Dagegen wurden in der hier vorgelegten Bibliographie einige Publikationen vornehmlich nichtabruzzesischer Historiker und Kunsthistoriker aufgenommen, die bei Fucinese nicht berücksichtigt sind.
Zwei wichtige Veröffentlichungen erschienen, als meine Arbeit bereits in Druck ging. Es handelt sich um den 19. Kongreß für Architekturgeschichte, der vom 15. bis 21. September 1975 in L'Aquila abgehalten wurde. Die Kongreßakten erschienen in zwei Bänden erst 1980 in L' Aquila. Das andere Werk ist das von Sandro Gattei und Adriano La Regina u.a. herausgegebene Buch .Molise«. Darin versucht Valentino Pace, zum erstenmal eine überschau über die Kunstgeschichte des Molise zu geben.
Die Kenntnis von den beweglichen Kunstwerken der Abruzzen und des Molise könnte wesentlich bereichert werden, wenn die Bestände der Museen dieses Berglandes kritisch bearbeitet und photographisch dokumentiert in gedruckten Katalogen erschlossen würden. Dank der Vorarbeiten von Cianfarani sind im großen und ganzen die Bestände des Museo Nazionale di Antichitil. degli Abruzzi e del Molise in Chieti bekannt. Die Museumsführer des Nationalmuseums in L'Aquila lassen viele Fragen offen. G. Matthiae veröffentlichte 1959 einen vorzüglichen Katalog, der aber nur den Altbestand des Museums würdigt. Inzwischen kamen neue Ausstellungsräume hinzu, die die wenig bekannte Barockskulptur und die bisher wenig beachtete Barockmalerei beherbergen. In aufwendigen Katalogen bearbeitete der Architekt Mario Moretti den Gesamtbestand des Museums von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, einschließlich der Werke im Depot. Die photographische Dokumentation dieser Publikationen ist beachtlich, doch bedarf der (S. 468) Text, der oft inzwischen überholte oder phantasiereiche eigene Zuschreibungen bringt, einer dringenden überholung. Das an Beständen reiche Museo Civico in Sulmona befindet sich seit Jahrzehnten im Wiederaufbau, und bislang fehlt der dringend gewünschte Katalog. Vor allem bleiben in Abruzzen und Molise Objekte in kleineren Museen, die z. T. gar nicht zugänglich sind, unbekannt, weil keine dem Stand der Forschung entsprechende Veröffentlichung vorliegt. Museen, von denen man sich Kataloge wünschte, sind u.a.: Giulianova, Pinacoteca e Biblioteca Vincenzo Bindi; Penne, Museo di Arte Sacra, im Palazzo Vescovile; Rocca di Mezzo, Museo Cardinale Agnifili; Castelvecchio Subequo, Museo del Chiostro di S. Francesco; Corfinio, Museo delle Antichita Corfiniesi; S. Clemente a Casauria, Museo Casauriense; Chieti, Museo Diocesano d'Arte Sacra (in S.Domenico); Guardiagrele, Museo Civico nell'Oratorio di Tutti i Santi; Alfedena, Museo Archeologico; Vasto, Museo Civico. In der neugegründeten Region Molise sind in Campobasso Vorbereitungen zu einem größeren Museum im Gange.
In dem nachfolgenden ausgewählten Schrifttum sind Bücher und Aufsätze angeführt, die ich bei meinen Studien vorzugsweise benutzt habe. Enthalten sind natürlich die Publikationen im Text namentlich genannter Autoren, die auch im Personenverzeichnis registriert sind. Der Schwerpunkt der Auswahl wurde auf die neuere, nach dem Zweiten Weltkrieg erschienene Literatur gelegt. Sie tradiert meistens die ältere Literatur, die auch mühelos in der Bibliographie von Fucinese zu finden ist.
Die Auswahl des Schrifttums ist sachlich gegliedert und entspricht im großen und ganzen der Kapiteleinteilung des Textes. Mein Buch ist nur ein erster Ansatz zur Darstellung der Kunst von Abruzzen und Molise. Der interessierte Leser wird bald feststellen, daß es sich hier um keine abschließende Arbeit handelt, sondern um einen Anfang, dem weitere Studien von berufener Seite folgen müssen. Als Anregung für künftige Arbeiten habe ich in der Bibliographie auch solche Werke aufgenommen, die zu Randgebieten gehören, zu denen ich mich nur gelegentlich und unzureichend habe äußern können, um den Text nicht noch mehr anschwellen zu lassen. In den nachfolgenden Titelangaben haben daher die Bibliographien breitere Aufnahme gefunden, ebenso Werke zu der in den Abruzzen blühenden Volkskunde. Gleichfalls wurden Werke zur Münzgeschichte und zu der in den Abruzzen bedeutenden Buchdruckerkunst einbezogen, Teilgebiete, die in meiner vorliegenden Arbeit nicht die wünschenswerte Behandlung gefunden haben.
Erläuterungen wurden den Titelangaben nur dort beigefügt, wo der Titel oder die überschrift einer Publikation den Inhalt nicht klar erkennen läßt, und wo Ergänzungen wünschenswert sind. Kritische Auseinandersetzungen erscheinen im Text.
(S. 469)Bibliographien
Allgemein
- Aurini, Raffaele. Dizionario bibliografico della gente d'Abruzzo. 5 Bde. Teramo 1952-1973.(Durch Tod des Verfassers wurde das Werk nicht fortgeführt. Eines der wichtigsten Nachschlagewerke für die Abruzzen)
- Pelino, Olindo. Dizionario biografico degli abruzzesi. Vol. I: Sulmona e Valle Peligna. Sulmona 1976.
- Saltarelli, Francesco. Saggio di bibliografia scientifica sul Parco Nazionale d'Abruzzo. Rom 1962.
- Zuccarini, Mario. Contributo alla bibliografia abruzzese. Serie prima. Chieti 1956.
Geschichte
- Albino, Pasquale. Biblioteca molisana ossia indice dei libri ed opuscoli pubblicati fino all'865 da autori nati nella provincia del Molise. Campobasso 1865.
- Giustiniani, Lorenzo. Dizionario geografico-ragionato del Regno di Napoli. 10 Bde. Neapel 1797-1805.
- Minieri Riccio, Camillo. Biblioteca storico-topografica degli Abruzzi composta da C. M. R. sulla propria collezione. In: Il Giambattista Vico, vol. 3,1857, pp. 50-63, u7-242, 339-367; vol.4, pp. 57-73. (Enthält 171 Titelangaben. Unter demselben Titel als Buch erschienen Neapel 1862 mit 1299 Titeln)
- Das Werk erhielt vier Fortsetzungen:
- a) Parascandolo, Adolfo. Supplemento alla biblioteca storicotopografica degli Abruzzi di Camillo Minieri Riccio composta sulla propria collezione. Neapel 1876.
- b) Bindi, Vincenzo. Fonti della storia abruzzese. Supplemento alle biblioteche storico-topografiche degli abruzzesi di C.Minieri-Riccio ed A. Parascandolo, composta sulla propria collezione. Neapel 1884.
- c) Pansa, Giovanni. Bibliografia storica degli Abruzzi. Terzo supplemento alla biblioteca storico-topografica degli Abruzzi di Camillo Minieri-Riccio. Con appendice. Lanciano 1891. (Nachdruck 1968)
- d) Pansa, Giovanni. Bibliografia storica degli Abruzzi. Supplemento dei supplementi. Opera postuma di A. Chiappini. Neapel 1964. (Mit 1753 Titeln) Pansa, Giovanni. La tipografia in Abruzzo dal sec. XV al sec. XVIII. Saggio critico-bibliografico. Lanciano 1891.
- Pansa, Giovanni. Osservazioni ed aggiunte al saggio critico-bibliografico sulla tipografia abruzzese dal sec. XV al sec. XVIII. In: Rassegna abruzzese di storia ed arte, 4,1900, pp. 167-191.
- Pansa, Giovanni. Catalogo descrittivo e analitico dei manoscritti riflettenti la storia d'Abruzzo. In: Bullettino della Deputazione Abruzzese di Storia Patria, 1957-1960, pp. 21-197. A cura di A. Chiappini.
- Profeta, Giuseppe. Bibliografia delle tradizioni popolari abruzzesi. Rom 1964.
- Vincelli, Guido. Per una bibliografia ragionata de! Molise. In: Samnium, 45, 1972, pp. 117-173· (Gliederung in 7 Sachgebiete: Geografia, storiografia, aspetti economici e sociali, agricoltura, industria, turismo, politica)
Vor-und Frühgeschichte, Archäologie und Kunstgeschichte
- Aurini, Raffaele. Saggio bibliografico della ceramica castellana. Teramo 1949.
- Bibliografia di preistoria e protostoria abruzzese 1867-1970. (Centro di Ricerche Storiche Abruzzo Teramano 4)
- Bindi, Vincenzo. Artisti abruzzesi, pittori, scultori, architetti, maestri di musica, fonditori, cesellatori, figuli, dagli antichi a' moderni. Notizie e documenti. Neapel 1883. (Aufgezählt werden 350 Künstler)
- Ceci, Giuseppe. Saggio di una bibliografia per la storia delle arti figurative nell'Italia meridionale. Bari 1911.
- Ceci, Giuseppe. Bibliografia delle arri figurative nell'Italia meridionale. 2 Bde. Neapel 1937.
- Chierici, Umberto. Saggio di bibliografia per la storia delle arti figurative in Abruzzo. Rom 1947. (Das Buch enthält 1488 Titel. Der Index ist unterteilt: 1) Artisti 2)Luoghi e cose 3) Sommario per argomenti)
- De Nino, Antonio. Sommario biografico di artisti abruzzesi non riCOldati nella storia dell'arte [di Bindi]. Casalbordino 1887.
- Fucinese, Damiano Venanzio. Arte e archeologia in Abruzzo. Bibliografia. Rom 1978. (4733 Titelangaben. Als Abruzzen bezeichnet der Verfasser den geographischen Raum der Abruzzen vom Jahre 1861. Anordnung der Titel nach Erscheinungsjahren, innerhalb dieser alphabetisch nach Autoren. Ausführlicher Index 1) indice degli autori 2) indice degli artisti 3) indice dei nomi propri 4) indice delle localita 5) indice analitico)
- Gradara Pesci, Costanza. Bibliografia arristica dell'Abruzzo compilata in seguito al terremoto della Marsica. Rom 1927. (Enthält manche Ungenauigkeiten)
- Pansa, Giovanni. Saggio di una bibliografia analitica della zecca medioevale degli Abruzzi. In: Supplemento all'opera »Le monete del Reame delle Due Sicilie da Carlo I d'Angib a Vittorio Emanueleu. A cura dell'autore Memmo Cagiati. Vol. 2, 1912., pp. 11, 17-20, 19-26, 37-42.; vol. 3, 1913, pp. 19-30 .
- Toschi, Paolo. Bibliografia degli ex voto italiani. Florenz 1970. (Aus unseren Regionen werden folgende Orte genannt: Casalbordino p. 38; Civitella del Tronto p. 42; Isernia p. 48; S. Gabriele pp.3, 48; Santa Maria del Soccorso in L'Aquila p.49; Santuari aquilani p. 8; Tagliacozzo p. 67; Villalago p. 72)
Einzelne Gelehrte
- Aurini, Raffaele. Francesco Savini e la sua opera. Saggio bibliografico preceduto da uno studio di Mgr. Giovanni Muzj. Teramo 1950·
- Costantini, Pio. Ricordo di Vincenzo Balzano. In: Rivista abruzzese, 1952, pp. 67-69. (Mit bibliographischem Anhang)
- Mosca, Bruno. Bibliografia degli scritti di Antonio De Nino. In: Bullettino della Deputazione Abruzzese di Storia Patria, 64 vol. 2, 1975, pp. 533-665.
- Piccirilli, Guido. Saggio di bibliografia degli scritti di Giovanni Pansa. In: Convegno storico abruzzese-molisano. Atti e memorie vol. 2, 1935, pp. 485-494. (Eine erweiterte Bibliographie erstellte Franco Cercone: Giovanni Pansa. Vita e opere. In: Bullettino della Deputazione Abruzzese di Storia Patria, 63, 1973, pp. 199-282)
Die wichtigsten lokalen Zeitschriften
- De Luca, Ugo [und] Zuccarini, Mario. Catalogo dei periodici abruzzesi posseduti dalla Biblioteca Provinciale. A.C. De Meis. di Chieti. Chieti 1971. (Die Verfasser behandeln eingehend, z.T. mit Inhaltsangaben, 640 abruzzesische Lokalzeitschriften)
- Abruzzo. Rivista dell'Istituto di Studi Abruzzesi. Pescara-Rom 1963 (Seit 1967 publiziert das Institut die Zeitschrift Abruzzo-Supple mento)
- Archivio storico molisano. A cura dell'Associazione di Storia Patria nel Molise. S. Elia Fiumerapido (Fr), anno I, 1977.
- Archivio storico per le province napoletane. Neapel 1876(Indice generale, vol.I (1876) -vol. 83 (1964). A cura di Umberto Caldora, 1966)
- Bollettino della Societa di Storia Patria Anton Ludovico Antinori negli Abruzzi. L'Aquila 1889-1909. (Über diese Zeitschrift das Buch: Walter Capezzali. Il Bollettino della Societa di Storia Patria .Anton L. Antinori. (1889-1909).
- Indici: generale, degli amori, delle recensioni, degli argomenti. L' Aquila 1974. Die Zeitschrift wurde fortgesetzt unter dem Titel Bullettino della Deputazione Abruzzese di Storia Patria. L'Aquila-Rom 1910-mit dem Nebentitel Bullettino della Reale Deputazione Abruzzese di Storia Patria)
- Giornale abruzzese di scienze, lettere ed arti. Chieti-Neapel 1837 bis 1844.
- Rassegna abruzzese di storia ed arte. Sulmona 1897-1900.
- Rassegna d'arte degli Abruzzi e del Molise. Rom-Teramo 1912 bis 1915.
- Rassegna di storia e d'arte d'Abruzzo e Molise. Rom 1925-1927.
- Rivista abruzzese. Chieti-Lanciano 1948.
- Rivista (La) abruzzese di scienze e lettere. Teramo 1886-1919. (Seit 1893 erschien die Zeitschrift unter dem Titel La rivista abruzzese di scienze, lettere ed arti. Für die Jahrgänge 1886 bis 1891 existiert ein Register, zusammengestellt von Giacinto Panella)
- Voce (La) pretuziana. Teramo 1972.
Guiden und Reiseberichte
- Abbate, Enrico. Guida dell'Abruzzo. Rom 1903. (558 Seiten, heute noch wichtig)
- Abruzzi e Molise. Mailand 1938. (Guida d'ltalia del Touring Club Italiano)
- Abruzzo e Molise. Mailand 1965. (Guida d'ltalia dd Touring Club Italiano)
- Abruzzo. Mailand 1910. (Guide regionali illustrate etc.) Craven, Keppel Richard. Excursions in the Abruzzi and northern provinces of Naples. London 1838.
- Lear, Edward. Illustrated excursions in Italy. London 1846. (Der auf die Abruzzen bezügliche Teil wurde von Barbara Di Benedetto Avallone ins Italienische übersetzt und erschien unter dem Titel Viaggio illustrato nei Tre Abruzzi. Sulmona 1974)
- MacDonnel, Anne. In the Abruzzi. London 1908.
- Noack, Friedrich. Italienisches Skizzenbuch. 2. Bde. Stuttgart 1900. (Bd.2 enthält folgende Kapitel: Abruzzen und Liristhal, 1896; Im Herzen der Abruzzen, 1897; Im Marserland, 1899)
- Razzi, Serafino. Viaggi in Abruzzo. Introduzione e note di Benedetto Carderi. Pescara 1968. (Reisebericht des 16. Jahrhunderts)
Museumsführer
- (Allgemein): Aurini, Guglielmo. Musei e gallerie abruzzesi. In: L'Abruzzo, 2., 1921, pp. 353-355. (Behandelt Kommunalmuseen in Alfedena, Castel di Sangro, Chieti, Guardiagrele, L'Aquila, Teramo und Vasto, Privatsammlungen Dragonerti-Torres, Persichetti, Rivera, Manieri, Signorini und Palitti, alle in L'Aquila. Erwähnung der Sammlungen Schiera in Castellamare, heute in Pescara, die Sammlungen Zecca, lezzi und Silecchi in Chieti, Ventili in Giulianova, Bonanni in Ortona a Mare, Aliprandi-Sterlich in Penne, Quartapelle in Teramo, Pansa in Sulmona und Marchesani in Vasto Marina. Der Verfasser nennt die an Kathedralen angegliederten Museen in Atri, Chieti, Corfinio, L'Aquila, Sulmona und Teramo)
- (Baranello): Barone, Giuseppe. Il museo di Baranello ordinato, descritto ed illustrato dall'arch. G.B. Neapel 1897.
- (Caprara d'Abruzzo): Collezione di antiehe ceramiehe abruzzesi del barone Acerbo dell'Aterno in Caprara di Abruzzo. Catalogo 1942. (Caprara d'Abruzzo, Ortsteil von Spoltore. Der Katalog behandelt Töpfereien aus Castelli)
- (Chieti): Cianfarani, Valerio. Schede dd Museo Nazionale. Rom 1971-1973, Serie I-IV.
- (Chieti): Pinacoteca Provinciale. Catalogo. Prefazione di Francesco Verlengia. Chieti 1956.
- (L' Aquila): Matthiae, Guglielmo. Il castello deli' Aquila e il Museo Nazionale Abruzzese. Rom 1959.
- (L' Aquila): Moretti, Mario. Museo Nazionale d'Abruzzo. L'Aquila 1968.
- (L' Aquila): Moretti, Mario. Guida al castello cinquecentesco e al Museo Nazionale d'Abruzzo in L' Aquila. L'Aquila 1968. (Zweite Auflage unter dem Titel: Moretti Mario. Guida al castello cinquecentesco dell' Aquila e al Museo d' Abruzzo. L'Aquila 1971. Mit französischer und deutscher Übersetzung)
- (Teramo): Bernardini, Giorgio. Pinacoteca civica di Teramo. Le sue vicende [etc.] Teramo 1923. (Mit Katalog)
- (Teramo): Carandente, Giovanni. Il Museo Civico di Teramo. La Pinacoteca. Rom 1960.
Allgemeine Werke zu den Abruzzen und zum Molise
- Abruzzo e Molise. Mailand 1948. (Attraverso l'Italia dd Touring Club Italiano, vol. 14)
- Abruzzo -Molise. Florenz 1965. (Enciclopedia delle regioni d'Italia)
- Fondi, Mario.Abruzzo e Molise. 1970. (Le regioni d'ltalia, vol. 12)
Geschichte und Kunstgeschichte
Allgemein
- Abruzzo. A cura di Umberto Chierici, Valerio Cianfarani [u. a.]. Hrsg. von der Banca Nazionale di Lavoro. Mailand 1963. Balzano, Vincenzo. L'arte abruzzese. Bergamo 1910. (Wichtig wegen der photographischen Dokumentation heute verschollener Kunstwerke) Balzano, Vincenzo. L'architettura e la scultura barocca in Abruzzo. In: Rivista abruzzese, 5, 1952, pp. 80-85.
- Bertaux, Emile. L'art dans l'Italie Meridionale. De la fin de l'Empire Romain a la conquete de Charles d' Anjou. Paris 1904. (Neubearbeitung 1968)
- Bindi, Vincenzo. Monumenti storici artistici degli Abruzzi. Studi di Vincenzo Bindi, con prefazione di F. Gregorovius. 2 Bde. Neapel 1889.
- Convegno storico abruzzese-molisano. 25-29 marzo 1931. Atti e memorie, Casalbordino. Bd. I, 1933, pp. 1-434, Bd.2, 1935, pp. 435-862, Bd. 3,1940, pp. 863-1038.
- Documenti per la storia d'Abruzzo. L'Aquila, Deputazione di Storia Patria. L'Aquila 1977-1982.
- N. 1. Regesto antinoriano. A cura di Salvatore Piacentino. 1977.
- N. 2. Regesto delle fonti archivistiche degli »Annali antinoriani« (voll. III-XVII). A cura di Alessandro Clementi e Maria Rita Berardi. 1980.
- N. 3. Manoscritti d'interesse abruzzese nelle biblioteche romane. A cura di Giorgio Morelli. 1982.
- Galanti, Giuseppe Maria. Descrizione dello stato anti co ed attuale del contado di Molise (etc.). Neapel 1781. (7 Bücher in 2 Bden. Nachdruck Neapel 1970)
- Gavini, Ignazio Carlo. I terremoti d'Abruzzo e i suoi monumenti. In: Rivista abruzzese di scienze, lettere ed arti, 30, 1915, pp. 235-240. (Behandelt die Erdbeben vom Jahre 900 bis zum 27. April 1897)
- Krönig, Wolfgang. Zur Erforschung und Inventarisation der Kunstdenkmäler in den Abruzzen. In: Kunstchronik, 29, 1976, pp. 374-381.
- Pace, Valentino. Ancora sulla tutela del patrimonio artistico. Restauri ai monumenti dell'Abruzzo. In: Paragone, 22, 1971, pp.71-82.
- Pace, Valentino. Profilo di storia dell'arte [im Molise] dal medioevo ai giorni nostri. In: Molise. A cura di Sandro Gattei, Adriano La Regina [u.a.]. Mailand 1980, pp. 55-184.
- Pansa, Giovanni. Gli Orsini signori d'Abruzzo. Studio storico. Lanciano 1892.
- Schulz, Heinrich Wilhelm. Denkmäler der Kunst des Mittelalters in Unteritalien. Nach dem Tode des Verfassers hrsg. von Ferdinand von Quast. 4 Textbde., ein Bildband. Dresden 1860. (Wertvoll ist der Text und der Bildband mit dem Zustand der Objekte im 19. Jahrhundert)
- Speranza, Ugo. Gli archivi in Abruzzo elle ricerche storiche. In: Convegno storico abruzzese-molisano 25-29 marzo 1931. Atti e memorie. Bd. 2,1935, pp. 781-849.
- Trombetta, Ada. Arte medioevale nel Molise. Rom 1971. (Der Text bezieht sich z.T. auf veraltete Literatur)
Altertum
- Cianfarani, Valerio. 11 Museo Nazionale di Antichita degli Abruzzi edel Molise. Pescara 1959. (Eine andere Edition unter demselben Titel erschien Chieti 1966)
- Cianfarani, Valerio. Terra italica. Pagine di archeologia abruzzese. Turin 1959.
- Cianfarani, Valerio. Santuari nel Sannio. Pescara 1960.
- Cianfarani, Valerio. Lineamenti per una storia dell'arte antica nella regione. In: Abruzzo. Rivista dell'Istituto di Studi Abruzzesi, 3, 1965, pp. 279-305.
- Cianfarani, Valerio. Antiche civilta d'Abruzzo. Rom 1969. (Katalog der Ausstellung im Palazzo Venezia in Rom, im April 1969)
- Cianfarani, Valerio, Cremonesi G., Radmilli, Antonio Mario. Trecentomila anni di vita in Abruzzo. Tivoli 1972.
- De Santis, Giovanni. Struttura viaria antica e recente in Abruzzo. In: Annali della Facolta di Lettere e Filosofia XII, Universita degli Studi di Perugia, 1971, pp. 231-256.
- Diebner, Sylvia. Aesernia-Venafrum. Untersuchungen zu den römischen Steindenkmälern zweier Landstädte Mittelitaliens. Rom 1979. (Text-und Tafelband)
- Di Niro, Angela. Necropoli arcaiche di Termoli e Larino. Campagne di scavo 1977-1978. Matrice 1981.
- Huelsen, C. Relief of Aquila. In: Mitteilungen des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts. Römische Abteilung, 1890, p.72 ff. (Behandelt das Relief eines Grabmals im Nationalmuseum in L'Aquila)
- Ludovico, Domenico. Dove Italia nacque. Corfinium e la guerra sociale. Rom 1961.
- Mancini, Gioacchino. Il culto mitriaco nei territori abruzzesi. In: Convegno storico abruzzese-molisano, 25-29 marzo 1931. Atti e memorie, Bd. 1, 1933, pp. 41-47.
- Marinucci, Alfredo. Stipe votiva di Carsoli. Teste fittili. Rom 1976. (Ministero per i Beni Culturali e Ambientali)
- Moscati, Sebastiano. Italia archeologica. Bd. 2., Novara 1976. (Verfasser behandelt pp. 162-165 Pietrabbondante, pp. 166-169 die neuen Funde von Campovalano)
- Pisani, V. Le lingue dell'Italia antica oltre illatino. Turin 1964.
- Radke, Gerhard. Viae publicae romanae. (Stichwort in Paulys Realenzyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft. Supplementband 13, 1973. Übersetzung ins Italienische in Buchform von Gino Sigismondi. Bologna 1981)
- Radmilli, Antonio Mario. La preisroria delle Marche e dell'Abruzzo-Molise. In: L'Universo, 41; 1961, pp.299-336.
- Radmilli, Antonio Mario. Ripoli in Val Vibrata e la preistoria abruzzese. Teramo 1964.
- Radmilli, Antonio Mario. Abruzzo preistorico. Florenz 1965.
- Radmilli, Antonio Mario. Storia dell'Abruzzo dalle origini all'eta del bronzo. Pisa 1977. Rellini, Ugo. La piu antica ceramica dipinta in Italia. Rom 1934. (Verfasser bespricht die Ripolikultur)
- Sannio. Pentri e Frentani dal VI al I secolo a.c. Isernia, Museo Nazionale, ottobre-dicembre 1980. (Soprintendenza Archeologica e per i Beni Ambientali Architettonici, Artistici e Storici dei Molise)
- Terrosi Zanco, Ornella. Stipi di epoca italico-romana in grotte abruzzesi. In: Atti della Societa Toscana di Scienze Naturali. Memorie 72, Serie A, 1966, pp. 269-290.
- Von Planta, Robert. Grammatik der oskisch-umbrischen Dialekte. 2. Bde. Straßburg 1892-1897. (Neuauflage 1967).
Frühchristentum
- De Angelis D'Ossat, Gioacchino. Cimiteri antichi della Via Valeria edel bacino del fiume Aterno. In: Rivista di archeologia cristiana, 1950, pp. 85-103.
- Ferrua, Antonio. Di una piccola catacomba a Superaequum dei Peligni. In: Rivista di archeologia cristiana, 1950, pp. 53-83.
- Monachino, Vincenzo. La prima diffusione del cristianesimo in Abruzzo. In: Abruzzo. Rivista dell'Istituto di Studi Abruzzesi, 6, 1968, pp. 79-102.
- Rivera, Cesare. Per la storia dei precursori di San Benedetto nella Provincia Valeria. In: Bollettino dell'Istituto Storico Italiano e Archivio Muratoriano. Convegno srorico di Montecassino, 28-29 maggio 1930. Rom 1932, pp. 25-49.
- Wilpert, Joseph. I sarcofagi cristiani antichi. 3 Bde. Rom 1929 bis 1936. (Behandelt werden die Sarkophage in Campovalano und in S. Celemente a Casauria)
Mittelalter
- Capasso, Barrolomeo. Le fonti della storia delle provincie napoletane dal 568 al 1500. Neapel 1902.
- D'Alena, Micheie. Il contado di Molise ed i suoi signori. Pagine di storia e di cronache dall'anno 670 al 1240. Campobasso 1891.
- De Francesco, A. Origini e sviluppo del feudalismo nel Molise fino alla cadura della dominazione normanna. In: Archivio srorico per le province napoletane, 34, 1909, pp. 432-460, 640-671; 35, 1910, pp. 70-98, 273-307.
- Jamison, Evelyn. I conti di Molise e di Marsia nei secoli XII e XIII. In: Convegno storico abruzzese-molisano, 25-29 marzo 1931. Atti e memorie, Bd. 1, 1933, pp. 73-178.
- Rivera, Cesare. Le conquisre dei primi Normanni in Teate, Penne, Abruzzo e Valva. In: Bullettino della R. Deputazione Abruzzese di Storia Patria, 16, 1925, pp. 7-94.
Neuzeit
- Arduino, Antonio. Il Molise dall'unita d'Italia alla repubblica. Isernia 1975.
- Benedikt, Heinrich. Das Königreich Neapel unter Kaiser Karl VI. Wien Leipzig 1927.
- Chierici, Umberto. I danni della guerra al patrimonio artistico degli Abruzzi e del Molise. L'Aquila 1945. (Behandelt Kriegsschäden des Zweiten Weltkrieges)
- Coppa Zuccari, Luigi. L'invasione francese negli Abruzzi. 4 Bde. L'Aquila 1928-1940.
- Pedio, Tommaso. Storia della storiografia dei Regno di Napoli nei secoli XVI e XVII. Chiaravalle Centrale 1973.
Einzelne Landschaften der Abruzzen
- Agostinoni, Emidio. Il Fucino. Bergamo 1908.
- Agostinoni, Emidio. Altipiani d'Abruzzo. Bergamo 1912. (Collezione di monografie illustrate, 1, 64)
- Brogi, Tommaso. La Marsica antica e medievale fino all'abolizione dei feudi. Rom 1900.
- Celidonio, Giuseppe. La diocesi di Valva e Sulmona. 4 Bde. Casalbordino 1909-1911. (Vol. 1: Le origini cristiane; Vol. 2,1910: dal 492 al 1100; Vol. 3, 1911: dal 1100 al 1200; Vol. 4: dal 1200 al 1300) (Wegen des Todes des Verfassers wurde das Werk nicht fortgesetzt. Wichtig wegen der historischen Dokumentation)
- De Berardinis, B. La Valle della Vibrata nella sroria a nell'arte. Senigallia 1908.
- Gabbrielli, Mariarosa. Provincia di Aquila. Rom 1934. (Inventario degli oggetti d'arte d'ltalia, Bd. 4) (Behandelt das bewegliche Kunstgut von 157 Örtlichkeiten. Profunde Quelle oft heute nicht mehr an Ort und Stelle befindlicher Objekte)
- Mattiocco, Ezio. Vestigia aho medioevali nella Valle Peligna. In: Abruzzo. Rivista dell'Istituto di Studi Abruzzesi, 5, 1967, pp. 136-141.
- Molinari, Renaro. Le auronomie comunali nell'Abruzzo teramano. Teramo 1933.
- Piccirilli, Pietro. La Marsica. Appunti di storia e d'arte. Trani 1904.
- Sabatini, Francesco. La regione degli altopiani maggiori d'Abruzzo. Storia di Roccaraso e Pescocostanzo. Genua 1960.
- Signorini, Angelo. La diocesi di Aquila descritta ed illustrata. 2. Bde. L'Aquila 1868.
Einzelne Orte
Abruzzen
- (Alba Fucense): Alba Fucens. Rapports et Etudes. Presentes par J[oseph] Mertens. 2. Bde. BrüssellRom 1969. Etudes de philologie, d'archeologie et d'histoire anciennes publiees par l'Institut Historique Belge de Rome, tome 12 et 13.
- (Alba Fueense): Delogu, Raffaello. La chiesa di San Pietro di Alba Fucense e I'architettura romanica in Abruzzo. In: Alba Fucens. Rapports et Etudes. Presentes par J[oseph] Mertens. Bd.2., Brüssei/Rom, 1969, pp. 23-68.
- (Alba Fucense): Fiorani, Paolo Martire. Le antiehe fortificazioni di Alba Fucense. In: Abruzzo. Rivista dell'Istituto di Studi Abruzzesi, 6, 1968, pp. 173-183.
- (Alba Fueense): Mertens J[oseph]. Deux temples italiques a Alba Fucens. In: Alba Fucens. Rapports et Etudes. Presentes par J[oseph] Mertens. Bd. 2., Brüssel/Rom 1969, pp. 7-22.
- (Atri): Gli affreschi della cattedrale di Atri. Introduzione critica di Guglielmo Matthiae, commentario alle tavole di Bruno Trubiani. Pomezia 1976.
- (Atri): Cherubini, Gabriello. Andrea Matteo III Acquaviva e la sua cappella nella chiesa cattedrale di Atri. Note storico-artistiche. In: Il Giambattista Vico, 4, 1857, pp. 3 -13. (Nochmal erschienen in: Album pittorico letterario abruzzese, 1, 1859, pp.6-8, 13-15)
- (Atri) : Matthiae, Guglielmo. Saneta Maria de Hatria. In: Palladio, 11, 1961, pp. 93-102.
- (Atri): Trubiani, Bruno. La basiliea cattedrale di Atri. Rom 1969.
- (Bominaco): Pace, Valentino. Precisazioni sugli affreschi dell'oratorio di San Pellegrino a Bominaco. In: Commentari, 21, 1970, pp. 291-297.
- (Campovalano): Zanco, Ornella. Bronzi arcaici da Campovalano. Rom 1974. (Documenti di antichita italiche e romane, 6, Soprintendenza alle Antichita degli Abruzzi)
- (Celano): Perrotti, Raffaele. Il castello di Celano nella storia e nell'arte della Marsica. Rom 1949. (Chieti): Veriengia, Francesco. Guida storico-artistica di Chieti. Chieti 1950.
- (Corfinio): Fucinese, Damiano Venanzio. La cattedrale di Valva alla luce dei recenti restauri. In: Napoli Nobilissima, 7, 1968, pp. 183-194; 8, 1969, pp.77-89.
- (Forcone): Alinari, Arturo. L'antica chiesa di S.Massimo cattedrale di Forcona. In: Bullettino della Deputazione Abruzzese di Storia Patria, 26, 1935, pp. 67-80.
- (Francavilla a Mare): Marino, Teodorico. Francavilla nella storia e nell'arte. Chieti 1896. (Nachdruck Francavilla 1968) (L'Aquila): Carderi, Benedetto. I domenicani a L'Aquila. Prima parte. Sulmona 1971.
- (L' Aquila): Chierici, Umberto. Gli affreschi della chiesa di S. Silvestro in Aquila. In: Bollettino d'Arte del Ministero della Pubblica Istruzione 34, 1949, pp. 111-128.
- (L'Aquila): Chierici, Umberto. La basilica di S. Bernardino all'Aquila. Genua 1964.
- (L' Aquila): Chini, Mario. Documenti relativi ai pittori ehe operarono in Aquila fra il 1450 e il 1550 circa. In: Bullettino
della
Deputazione Abruzzese di Storia Patria, 18, 1927, pp. 1-3, 13-138. - (L'Aquila): Colapietra, Raffaele. L'Aquila e I'Abruzzo nell'eta aragonese. In: Rivista storica del mezzogiorno, 1, 1966, pp. 61-166.
- (L'Aquila): Eberhardt, Jürgen. Das Kastell von L'Aquila degli Abruzzi und sein Architekt Pyrrhus Aloisius Scriva. In: Römisches jahrbuch für Kunstgeschichte, 14, 1973, pp. 139-246.
- (L' Aquila): Leosini, Angelo. Monumenti storici artistici deUa cittil di Aquila e suoi contorni coUe notizie de' pittori, scultori, architetti ed altri artefici che vi fiorirono. L'Aquila 1848.
- (L' Aquila): Mack Bongiorno, Laurine. The date of the Altar of the Madonna in S. Maria del Soccorso, Aquila. In: The Art Bulletin, 26, 1944, pp. 188-192.
- (L' Aquila); Marchi, Achille. Brevi notizie sul nuovo teatro comunale di Aquila degli Abruzzi. L'Aquila 1873.
- (L'Aquila): Mariani, Valerio. Miniature del rinascimento ad Aquila. In: La Bibliofilia, 29, 1927, pp. 81-92.
- (L' Aquila): Merlo, Claudia. L'Aquila. Ricerche di geografia urbana. Rom 1942. Pubblicazioni dell'Istituto di Geografia della R. Universita di Roma. Serie A, 6.
- (L'Aquila): Moretti, Mario [und] Dander, Marilena. Architettura civile aquilana dal XIV al XIX secolo. Catalogazione e schedature degli edifici di rilevante interesse storico artistico nella citta dell'Aquila. L'Aquila 1974. (Besprochen von Wolfgang Krönig in: Kunstchronik 29, 1976: Zur Erforschung und Inventarisation der Kunstdenkmäler in den Abruzzen, pp. 374-381.
- (L' Aquila): Ragguaglio su l'essere dcHa cittil dell'Aquila e delle cose piu notabili succedute nella medesima e nelli luoghi della sua provincia per li terremoti occorsi nel mese di gennaio e febbraio 1703 anno corrente. L'Aquila 1703.
- (L'Aquila): Serra, Luigi. Aquila monumentale. L'Aquila 1912. (Mit folgender Gliederung: L'arte romanico-gotica dalla meta del sec. XIII alla meta del XV, pp. 11-31; Il rinascimento dalla meta del sec. XV alla fine del XVI, pp. 35-77; Il barocco, sec. XVIIXVIII, pp. 81-107; Teofilo Patini, pp. 111-115)
- (L'Aquila): Serra, Luigi. Aquila. Bergamo 1929.
- (L' Aquila): Vicari, Luigi. La chiesa di S. Filippo Neri e il barocco aquilano. In: Bullettino della Deputazione Abruzzese di Storia Patria, 63,1973 pp. 423-440.
- (Ortona a Mare): Lefevre, Renato. La »missione. in Abruzzo di Gregorio Caronica, architetto della fine del Cinquecento. In: Strenna dei romanisti 1976, pp. 40-47. (Behandelt den Pal. Farnese in Ortona)
- (Ortona a Mare): Lefevre, Renato. Notizie e documenti sul Palazzo Farnese di Ortona. In: Atti del XIX Congresso di storia dell'architettura, 15-21 settembre 1975, Bd. I, 1980, pp. 221-240.
- (Pescara): Marciani, Corrado. La fortezza di Pescara. Un episodio di corruzione. -La Pineta di Salino. In: Rivista abruzzese, 17, 1964, pp. 129-138.
- (Pescara) : Seerni, Neri. Alcuni cenni sulla fortezza di Pescara. In: Bollettino deH'Istituto Storico e di Cultura dell'Arma del Genio, 18,195 2, Nr. 4, pp. 29-47.
- (Pescocostanzo): Benevolo, Leonardo, L'arredamento di Santa Maria del Colle a Pescocostanzo. In: Quaderni dell'Istituto di Storia dell'Architettura deU'Universitii di Roma. 1954, Nr. 5, pp. 1-9.
- (Popoli): Colarossi Mancini, Alfonso. Memorie storiche di Popoli fino aU'abolizione dei feudi. Popoli 1911.
- (San Clemente a Casauria): Chronicon Casauriense. In: Ludovico Muratori. Rerum Italicarum Scriptores. Tomo 2, parte 2, Mailand 1726.
- (Santa Maria Arabona): Chierici, Umberto. La chiesa di S. Maria Arabona presso Chieti. In: Napoli Nobilissima, 2, 1962, pp. 83-102.
- (Scurcola): Egidi, Pietro. Carlo I d'Angib e l'abbazia di S. Maria della Vittoria presso Scurcola. In: Archivio storico per le province napoletane, 34, 1909, pp. 252-291, pp. 732-767; 35, 1910, pp. 125-175. (Gründliche Arbeit mit Dokumenten)
- (Sulmona): Faraglia, Nunzio Federico. Codice diplomatico sulmonese. Lanciano 1888. (Das Dokument 209 gibt die beste Lesart des Dekrets des Königs Ladislaus von 1406 in bezug auf den Goldschmied Piczulo)
- (Sulmona): Piccirilli, Guido. Sulmona. Guida storico·artistica. Sulmona 1932. (Völlige Neubearbeitung unter gleichem Titel erschien Mailand 1963)
- (Sulmona): Piccirilli, Pietro. Monumenti architettonici sulmonesi descritti e illustrati. (Dal XIV al XVI secolo). Lanciano 1888. (Nachdruck 1976)
- (Teramo): Savini, Francesco. I signori di Melatino. Notizie storicocritiche suUa piu illustre famiglia teramana nel medio·evo, corredate di inediti ed originali documenti. Florenz 1881.
- (Teramo): Savini, Francesco. Il duomo di Teramo. Storia e descrizione corredate di documenti e di 19 tavole fototipiehe. Rom 1900.
- (Teramo): Savini, Francesco. La contea di Apruzio ei suoi conti. Storia teramana dell'alto medioevo, corredata di 30 documenti, di un fac-simile e di una carta storico-topografica. Rom 1905.
- (Teramo): Savini, Francesco. Gli edifizii teramani nel medioevo. Studio tecnico-storico. Rom 1907.
- (Vasto): Cassi Ramelli, Antonio. 11 castello di Vasto. In: Castellum, Nr. 18,1972, pp. 121-124.
- (Villa Celiera): Monaci, Alfredo. Notizie e documenti per l'abbazia di Casanova neU'Abruzzo. Rom 1894.
Molise
- (Campobasso): Gasdia, Vincenzo Eduardo. Storia di Campobasso. 2 Bde. Verona 1960.
- (Larino): De Gennaro, Giuseppe. Larino e la sua cattedrale. Neapel 1955· (Geschrieben anläßlich der Restaurierung des Domes)
- (Larino): Magliano, Giandomenico. Considerazioni storiche sulla citta di Larino (etc.). Campobasso 1895.
- (Santa Maria della Strada): Jamison, Evelyn. Notes on Santa Maria della Strada at Matrice, its history and sculpmre. In: Papers of The Britisch School at Rome, 14, 1938, pp. 32-96.
- (San Vincenzo al Volturno): Belting, Hans. Studien zur beneventanischen Malerei. Wiesbaden 1968. (Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie 7)
- (San Vincenzo al Volturno): Chronicon Vulturnense. Dei monaco Giovanni. A cura di Vincenzo Federici. 3 Bde. 1925-1938.
- R. Istituto Storico Italiano per il Medio-Evo, Fonti 58-60.
- (San Vincenzo al Volturno): Toesca, Pietro. Reliquie d'arre della badia di San Vincenzo al Volturno. In: Bullettino dell'Istituto Storico Italiano, Nr. 25, Rom 1904, pp. 1-84.
- (Sepino): Cianfarani, Valerio. Guida delle antichira di Sepino. Mailand 1958.
- (Termoli): Haseloff, Arthur. Die Bauten der Hohenstaufen in Unteritalien. Leipzig 1920. (Behandelt das Kastell von Termoli, pp. 357-365)
Architektur
Allgemein
(S. 474)- Atti del XIX congresso di storia dell'architetrura. L' Aquila 15-21 settembre 1975. 2 Bde. L'Aquila 1980.
- Benedetti, Sandro. L'architettura dell'epoca barocca in Abruzzo. In: Arri del XIX congresso di storia dell'architerrura. L' Aquila 15-21 settembre 1975. Bd. 2, 1980, pp. 275-312.
- Calo Mariani, Maria Stella. Due cattedrali del Molise. Termoli e Larino. Rom 1979.
- Carbonara, Giovanni. Iussu Desiderii. Montecassino e l'architettura campano-abruzzese nell'undecimo secolo. 1979. Pubblicazioni dell'Istituto di Fondamenti dell'Architettura dell'Universita di Roma.
- Cecchelli Trinci, Margherita. Cripte abruzzesi e molisane (IX-XIII secolo). In: Atti del XIX congresso di storia dell'architerrura. L'Aquila 15-21 settembre 1975. Bd. 1, 1980, pp. 39-56.
- Fasolo, Furio. L'architettura in Abruzzo dalla fine del'300 ai primi del'600. In: Atti del XIX congresso di storia dell'architettura. L'Aquila 15-21 settembre 1975. Bd. 1, 1980, pp. 195-202.
- Gavini, Ignazio. Storia dell'architettura in Abruzzo. 2 Bde. Mailand/Rom 1927-1928. (Unübertroffen in der Bauanalyse. Die historischen Auswertungen sind oft angreifbar)
- Krönig, Wolfgang. Hallenkirchen in Mittelitalien. In: Kunstgeschichtliches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana, 2, 1938, pp. 1-142. (Mit Berücksichtigung der Abruzzen)
- Matthiae, Guglidmo. Le facciate a coronamento rettitineo in Abruzzo. In: Bullettino della Deputazione Abruzzese di Storia Patria, 26, 1935, pp. 7-14.
- Matthiae, Guglielmo. Architettura medioevale nel Molise. In: Bollettino d'arte del Ministero della Pubblica Istruzione, 31, 1937, pp. 93-116.
- Ranke, Winfried. Frühe Rundfenster in Italien. Inaugural-Dissertation Berlin 1968. (Aus unseren Regionen werden folgende Rundfenster behandelt: S.Maria della Strada, pp. 13 1-136; S. Clemente a Casauria, pp. 137-144; S. Giovanni ad Insulam, pp. 145-150; S. Paolo di Peltuino, pp. 151-156; Caramanico, S. Tommaso, pp. 157-161; S.Maria di Ronzano, pp. 162-164)
- Wagner-Rieger, Renate. Die italienische Baukunst zu Beginn der Gotik. Teil 11: Süd- und Mittelitalien. Graz/Köln 1957. (Verfasserin behandelt eingehend, z.T. mit Grundrissen und Photographien, folgende Denkmäler: Atri, Dom; Guardiagrele, S. Maria Maggiore; San Bartolomeo in Carpineto della Nora; San Clemente a Casauria; San Giorgio in Petrella Tifernina; S. Giovanni in Venere; Santa Maria della Vittoria bei Scurcola; Santa Maria in Arabona; Santo Spirito d'Ocre; San Vincenzo al Volturno; Termoli, Kastell; Villa Celiera, Badia di S.Maria Casanova)
Burgen
- Calvani, Angelo. Preliminari alla castellologia abruzzo-molisana. In: Castellum, Nr. I 1, 1970, pp. 29-44.
- Perogalli, Carlo. Castelli dell'Abruzzo edel Molise. Mailand 1975.
- Seerni, Neri. Sopra un manoscritto italiano esistente presso la Biblioteca Nazionale di Parigi. Visita alle torri di Capitanata e d'Abruzzo eseguita alla fine del 1500 dal marchese di Colenza. In: Bollettino dell'Istituto Storico e di Cultura dell'Arma del Genio, 21, 1955, pp. 378-395.
Wohnbau und Villen
- Alisio, Giancarlo. Siti reali dei Borboni. Rom 1976. (Mit Berücksichtigung von Venafro)
- Cataudella, Mario. La casa rurale nel Molise. Florenz 1969.
- Celeno, C. Notizie del bello, dell'antico e del curioso che contengono le reali ville di Porti Resina [etc.]. Neapel 1792. (Mit Berücksichtigung von Venafro)
- De Cristofaro, Nicola Amore. La villa dei duchi Cantelmo in Popoli. In: Abruzzo. Rivista dell'Istituto di Srudi Abruzzesi, 5, 1967, pp. 307-334.
- Ortolani, Mario. La casa rurale negli Abruzzi. Florenz 1961.
Skulptur
- Berliner, Rudolf. Die Weihnachtskrippe. München 1955. (Mit eingehender Berücksichtigung der Abruzzen)
- Buschhausen, Helmut. Die süditalienische Bauplastik im Königreich Jerusalem von König Wilhelm II. bis Kaiser Friedrich II. Wien 1978. (Kapitel I, pp. 59-85 hat den Titel: Steinmetzen aus Apulien, aus den Molisen[!] und aus den Abruzzen im Heiligen Land. Kapitel 5 heißt: Die Entwicklung der Bauplastik des 12. und 13. Jahrhunderts in Apulien, in den Molisen[!] und in den Abruzzen sowie deren Einflüsse auf die Monumente des Heiligen Landes. Die Unterabschnitte dieses Kapitels behandeln pp. 333-343 die Kathedrale Santa Maria e San Basso zu Termoli, pp. 343-356 die Abteikirche San Giovanni in Venere bei Fossacesia, pp. 356-367 die Abteikirche San Clemente a Casauria bei Torre dei Passeri, pp. 367-370 die Kathedrale Santa Maria e San Massimo zu Penne, pp. 370-371 die Kirche Santa Maria Assunta zu Pianella)
- Carli, Enzo. Per la scultura lignea del Trecento in Abruzzo. In: Le Arti, 3, 1941, pp. 435-443.
- Gabbrielli, Mariarosa. Plastica Iignea abruzzese. In: Rassegna marchigiana, II, 1933, pp.114-123.
- Gavini, Ignazio Carlo. Note sulla scultura degli Abruzzi. In: Rassegna di storia e d'arte d'Abruzzo e Molise. I, 1925, pp. 16-63, pp. 135-142, pp. 179-190; 11, 1926, pp. 54-66, pp. 173-192.
- Gavini, Ignazio Carlo. Sommario della storia della scultura in Abruzzo. In: Convegno storico abruzzese-molisano, 25-29 marzo 1931. Atti e memorie 1, 1933, pp. 353-372.
- Lehmann-Brockhaus, Otto. Die Kanzeln in den Abruzzen im 12. und 13. Jahrhundert. In: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte VI 1942-1944, pp. 257-428.
- Mariani, Valerio. Sculture Iignee in Abruzzo. Bergamo 1930. Sculture lignee nella Campania.
- Catalogo della mostra a cura di Ferdinando Bologna e Raffaello Causa. Neapel, Palazzo Reale 1950. (Mit Hinweisen auf die Skulptur der Abruzzen)
- Sgattoni, Giammario. Sculture Iignee aprutine. In: La Voce pretuziana, 6, Nr. 3, 1977.
Malerei
- Carano, C. Pittori moli sani nel periodo barocco. In: Almanacco del Molise, 1975, pp. 287-316.
- Carli, Enzo. Affreschi benedettini del XIII secolo in Abruzzo. In: Le Arti, 1, 1938, pp. 442-463.
- Carli, Enzo. Un dittico senese in Abruzzo. In: Le Arti, I, 1938, pp. 594-596. (Behandelt das Diptychon aus Cellino Attanasio, heute im Nationalmuseum von L'Aquila)
- Carli, Enzo. Per la pittura del Quattrocento in Abruzzo. In: Rivista del R. Istituto di Storia deli 'Arte, 9, 1942, pp. 164-211.
- Gnudi, Cesare s. Verlengia, Francesco.
- Matthiae, Guglielmo. Pittura medioevale abruzzese. Mailand 1969. (Die von Matthiae vorgenommene Datierung der Fresken von S. Maria di Ronzano ist nicht haltbar. Die von Rezensenten vorgeschlagene Spätdatierung der Fresken von S. Pietro ad Oratorium in das Ende des 12. Jahrhunderts ist erwägenswert, aber nicht gesichert. Zur Kontroverse vgl. die Besprechung des Buches von Marrhiae von Wolfgang Kränig in: Kunstchronik 29, 1976, p. 379. Neue Betrachtungen gibt auch Valentino Pace in der Zeitschrift Commentari, 20, 1969; 21, 1970; 23, 1972: Anomalie iconografiche in Abruzzo, und in dem Aufsatz L'iconografia dei programmi absidiali del XII e XIII secolo, in ; Abruzzo. Rivista dell'Istituto di Studi Abruzzesi, 14, 1976, pp. 61-73)
- Ricci, Corrado. Pitture a Casoli e a Gessopalena. In: Rassegna d'arte degli Abruzzi e del Molise, 2, 1913, pp. 57-62.
- Toschi, Paolo. Ex voto abruzzesi. In: Abruzzo. Rivista dell'Istituto di Studi Abruzzesi, 5, 1967, pp. 45-49.
- Verlengia, Francesco. A proposito degli affreschi trecenteschi di scuola bolognese esistenti nella cattedrale di Chieti. In: Rivista abruzzese IX, 1956, p. 122. (Darin zitiert ein Brief von Cesare Gnudi an Verlengia)
Handschriften und Miniaturmalerei
- Bindi, Vincenzo. S. Clemente a Casauria e il suo codice miniato esistente nella Biblioteca Nazionale di Parigi. Neapel 1885.
- Chiappini, Anicero. I codici di Santa Maria Maggiore in Guardiagrele. In: Rivista abruzzese, II, 1958, pp. 41-44.
- Chiappini, Aniceto. Profilo di codicografia abruzzese fino al sec. XV compreso. In: Accadernie e biblioteche d'Italia, 26, 1958, pp. 433-458.
- Gabbrielli, Mariarosa. Un exultet cassinese dell' XI secolo. In: Bollettino d'arte dei Ministero della Pubblica Istruzione Nazionale, 26, 1933, pp. 306-313. (Behandelt die Exultetrolle von Avezzano)
- Salvoni Savorini, Grazia. Monumenti della miniatura negli Abruzzi. In; Convegno storico abruzzese-molisano 25-29 marzo 1931. Atti e memorie, Bd. 2., 1935, pp. 495-519.
- Trubiani, Bruno. Miniature, codici, incunaboli ad Atri. Rom 1972.
Kunstgewerbe
- Birkemeyer, Ewa. Plats de Castelli dans les collections de Wilanow. In: Bulletin du Musee National de Varsovie, 17, 1976, Nr. I, pp. 1-14.
- Catalogo della mostra dell'oreficeria sacra abruzzese. Chieti 1950. Ceci, Giuseppe. Maestri organari nell'Italia meridionale dal sec. XV al XIX. In: Samnium, 5, 1932, pp. 112-129. (Mit Berücksichtigung von Abruzzen und Molise)
- Chini, Mario. Documenti relativi all'arte nobile deli'argento in Aquila nel sec. XV. In: Bullettino della Reale Deputazione Abruzzese di Sroria Patria, 3, 1912., pp. 7-88.
- Gmelin, Leopold. Die mittelalterliche Goldschmiedekunst in den Abruzzen. In: Zeitschrift des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins München, 1890, Heft 1-2 und 11-12., pp. 10-16, pp. 133-149. (Italienische übersetzung: L'oreficeria medioevale negli Abruzzi. Traduzione di Gaetano Crugnola. In: Rivista abruzzese di scienze, lettere ed arti, 1891, pp. 145-150, pp. 250-263, pp. 307-322, pp. 353-382)
- Jestaz, Bertrand. Les modeles de la majolique historiee. In: Gazette des Beaux-Arts, 79, 1972, pp. 215-240; 81, 1973, pp. 109-128. (Mit gründlicher Behandlung der Keramik von Castelli)
- Lunelli, Renato. L'arte organaria del rinascimento in Roma. Florenz 1958. (Erwähnung von Orgelbauern aus Sulmona)
- Marciani, Corrado. Antichi organari abruzzesi. In: Rivista abruzzese, 25, 1972, Nr. 2., pp. 113-126.
- Mattiocco, Ezio. L'oreficeria medioevale abruzzese. La scuola di Sulmona. In: Abruzzo. Rivista dell'Istituto di Studi Abruzzesi, 6, 1968 pp. 361-403.
- Pace, Valentino. Per la storia dell'oreficeria abruzzese. In: Bollettino d'arte del Ministero della Pubblica Istruzione, 1972, pp. 78-89. (Enthält: Eleneo cronologico degli oggetti datati da oreficeria abruzzese)
- Toesca, Pietro. Vetri italiani a oro con graffiti. In: L'Arte, 1908, pp. 246-261. (pp. 255-257 Angaben über den Glasmaler Amico aus L'Aquila)
Einzelne Künstler
- (Bentevenga): Mattiocco, Ezio. Ciccarello e Masio de' Bentevenga orafi sulmonesi. Sulmona 1968.
- (Delitio, Andrea): Argan, Giulio Carlo. Andrea Delitio. In: Abruzzoo Rivista dell'Istituto di Studi Abruzzesi, I, 1963, pp. 79-85.
- (Delitio, Andrea): Bologna, Ferdinando. Andrea Delitio. In: Paragone, I, 1950, Nr. 5, pp. 44-50.
- (Delitio, Andrea): Trubiani, Bruno. Un catasto di Atri del 1447 ed il pittore Andrea De Litio. In: Bullettino della Deputazione Abruzzese di Storia Patria, 63, 1973, pp. 319-387.
- (Gatti, Saturnino) : Bologna, Ferdinando. Saturnino Gatti: Un'opera. In: Paragone, I, Nr. 5, 1950, pp. 60-63.
- (Maestro dei polittici crivelleschi): Bologna, Ferdinando. La ricostruzione di un polittico eil -Maestro dei polittici crivelleschio. In: Bollettino d'arte del Ministero della Pubblica Istruzione, 33, 1948, pp. 367-370.
- (Majewski): Ryszkiewicz, Andrzej. Sebastian Majewskimalarz pol ski we Wloszech w 17 w. In: Rocznik historii sztuki, 9, 1973, pp. 171-192.
- (Michetti, Francesco Paolo): Ojetti, Ugo. Michetti e la mostra di Berlino. In: Nuova antalogia, 1899, pp. 518-534 .
- (Michetti, Francesco Paolo): Sillani, Tommaso. F.P. Michetti. Rom 1932.
- (Nikolaus von Guardiagrele): Carli, Enzo. Nicola da Guardiagrele e il Ghiberti. Primi ragguagli sulla scultura guardiese. In: L' Arte, 42, 1939, pp. 144-164, pp. 222-238.
- (Nikolaus von Guardiagrele): Churchill, Sidney J.A. Nicola da Guardiagrele, der Goldschmied der Abruzzen. Einige Angaben und eine Bibliographie. In: Monatshefte für Kunstwissenschaft, 7, 1914, pp.81-93. (Italienische übersetzung in: Arte e storia, 1918, Nr. 4, pp. 132-134, Nr. 5-7, pp. 68-73, und in: Albia, 1, 1924, pp. 232-240.
- (Pittoni, Girolamo): Puppi, Lionello. Un'opera di Girolamo Pittoni all'Aquila. In: Bullettino della Deputazione Abruzzese di Storia Patria, 51-53, 1961-1963, pp. 151-159. (Der Verfasser identifiziert den Erbauer des Mausoleums Coelestins V. in S. Maria di Collemaggio in L' Aquila, Girolamo da Vicenza, mit Girolamo Pittoni)
- (Silvester von L'Aquila): Chini, Mario. Silvestro di Giacomo da Sulmona cittadino aquilano. Documenti raccolti e ordinati
per
servire allo studio di cinquanta anni di storia artistica aquilana. Vol. I, L'Aquila 1909. - (Silvester von L'Aquila): Chini, Mario. Silvestro aquilano e I'arte in Aquila nella 11 meta del sec. XV. L'Aquila 1954.
- (Silvester von L'Aquila): Mack Bongiorno, Laurine. Notes on the art of Silvestro dell'Aquila. In: The Art Bulletin, 24, 1942, pp. 232-243.
- (Tanzio, Antonio): Bologna, Ferdinando. Altre prove sul viaggio romano del Tanzio. In: Paragone, 4, 1953, Nr. 45, pp. 39-45. (Behandelt Tanzios Bilder in Fara S. Martino und in Pescocostanzo)
Kirchengeschichte
Allgemein
- Angelone, Giovanna. 11 concilio di T rento e il suo influsso nella diocesi di Sulmona. In: Annali della Facolta di Lettere e Filosofia 7. Universita di Perugia, 1971, pp. 153-177.
- Antonio (P.) Da Serramonacesca. Celestino V. L' Aquila 1968.
- Celidonio, Giuseppe. Vita di S. Pietro Celestino papa V, scritta sui documenti coevi. 4 Bde. Sulmona 1896. (Nachdruck hrsg. von M. Capodicasa, Pescara 1954)
- Herde, Peter. Coelestin V. (1294). (Peter von Morrone). Der Engelpapst. Mit einem Urkundenanhang und Edition zweier Viten. Stuttgart 1981.
- Hofer, Johannes. Johannes Kapistran. Ein Leben um die Reform der Kirche. Neubearbeitete Ausgabe. 2. Bde. Heidelberg 1964/1965.
- Kamp, Norbert. Kirche und Monarchie im staufischen Königreich Sizilien. I. Prosographische Grundlegung: Bistümer und Bischöfe des Königreichs 1194-1266. I. Abruzzen und Kampanien. München 1973. (Die gründliche Arbeit fußt auf eingehender Dokumentation)
- Marangoni, Giovanni. Acta s. Victorini episcopi Amiterni et martyris. Rom 1740. (Behandelt, mit Stichen versehen, die Katakombe von S. Vittorino)
- Piccirilli, Raffaella. Antiehe immagini di Celestino V esistenti a Sulmona. In: Rivista abruzzese, 10, 1957, pp. 41-53.
- Rivera, Giuseppe. Il beato Vincenzo dall' Aquila e i suoi tempi. Nel IV centenario della sua morte. L'Aquila 1904.
- Rivera, Giuseppe. Memorie biografiche dei cardinali abruzzesi. L'Aquila 1924.
- S. Pierre Celestin et ses premiers biograph es. In: Analeeta Bollandiana, 16, 1897, pp. 365-487.
Einzelne Orden
- Carderi, Benedetto. La soppressione dei domenicani nell' Abruzzo teramano. Saggio storico con appendice. Teramo 1964.
- Carderi, Benedelto. Testimonianze domenicane. Dal fondo notarile dell'Archivio di Stato di Teramo. Teramo 1970.
- Carderi, Benedetto. I domenicani nella diocesi di Penne. In: Bullettino della Deputazione Abruzzese di Storia Patria, 64, 1974, vol. 2 (1975), pp. 668-965.
- Chiappini, Aniceto. L'Abruzzo francescano nel 5ecolo XIII. In: Rassegna di storia e d'arte d'Abruzzo e Molise, 2, 1926, pp. 97-146.
- Chiappini, Aniceto. Profilo di storia francescana in Abruzzo dal sec. XIV al XVI. In: Bullettino della Deputazione Abruzzese di Storia Patria, 17, 1926, pp. 9-68.
- D'Agostino, Giacinto. San Francesco e i Francescani in Abruzzo. 4 Bde. Lanciano 1913-1927. (Bd. 4 behandelt die in den Abruzzen existierenden Franziskanerklöster)
- Di Iorio, Eduardo. I Cappuccini nel Molise (1350-1975). Arte e ricordi storici nelle loro chiese e conventi. Campobasso 1976. Falconio, Diomede. I minori riformati negli Abruzzi. 3 Bde. Rom 1913-1914.
Humanisten
- Antinoriana. Studi per il bicentenario della morte di Antonio Ludovico Antinori. Pubblicati dalla Deputazione di Storia Patria. 4 Bde. L'Aquila 1978-1979.
- 1. Contributi di A(lessandro) Clementi (u.a.) 1978.
- 2. Colapietra, Raffaele: L'Aquila dell'Antinori. Strutture sociali ed urbane della citta nel Sei e Settecento. vol. 1. Il Seicento. 1978.
- 3. vol. 2. Il Settecento. 1978.
- 4. Atti del convegno di studi antinoriani per il secondo centenario dell' Aquila 20-21-22 ottobre 1978-1979.
- Casti, Enrico. Anton Ludovico Anrinori e le sue molteplici apere edite ed inedite. L'Aquila 1887.
- De Nino, Antonio. I legisti ed artisti abruzzesi nello studio di Bologna. In: Rivista abruzzese di scienze, lettere ed arti, 9, 1894, p. 190.
- Faraglia, Nunzio Federico. Barbato di Sulmona egli uomini di lettere della corte di Roberto d'Angio. In: Archivio storico italiano, serie 5, vol. 3, 1889, pp. 313-360.
- Marinangeli, Giacinto O.F.M.: Antonio Ludovico Antinori 1704-1778. Commemorato nella chiesa aquilana di San Filippo il 1 marzo 1978. L'Aquila 1978.
- Mascetta Caracci, Lorenzo. Barbato di Sulmona e i suoi amici Barrilli e Petrarca. Nuove ricerche. In: Rassegna abruzzese di storia ed atte, 2, 1898, pp. 123-192.
Handel, Gewerbe, Bevölkerung
- Laccetti, Filippo. Le relazioni commerciali fra Vasto e Venezia.ln: Rivista abruzzese di scienze, lettere ed arti, 15, 1900, pp. 596-603.
- Marciani, Corrado. Lettres de change aux foires de Lanciano au XVI' siede. Paris 1962. (Ecole Pratique des Hautes Etudes. VI' section. Centre de Recherches Historiques. Affaires et gens d'affaires 28)
- Mussoni, Giuseppe. L'antico commercio dello zafferano nell'Aquila ed i capitoli relativi egli statuti ehe 10 regolavano. In: Bollettino della Società di Storia Patria Anton Ludovico Antinori negli Abruzzi, 18, 1906, pp. 247-289; 19, 1907, pp. 23-79.
- Reseter, Milan. Die serbokroatischen Kolonien in Süditalien. Wien 1911. Schriften der Balkankommission hrsg. von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Linguistische Abteilung IX. (I, Südslawische Dialektstudien, Heft 5)
- Trinchieri, Romolo. Consuetudini e contratti pastorizi nell'Appennino abruzzese e nell' Agro Romano. In: Archivio Vittorio Scialoja per le consuetudini giuridiche agrarie e le tradizioni popolari italiane. Anno VI, 1939, pp. 95-143.
Volkskunde
- Atti del VII congresso nazionale delle tradizioni popolari, Chieti 1957. Florenz 1959.
- De Nino, Antonio. T radizioni popolari abruzzesi. Scritti inediti e rari. A cura di Bruno Mosca. 2 Bde. L'Aquila 1970-1972.
- Finamore, G. Credenze, usi e costumi abruzzesi. In: Curiosita popolari tradizionali di G. Pitre. Bd. 7,Bd. 13, Palermo 1890.
- Galanti, E.M. Vita tradizionale dell'Abruzzo e del Molise. Florenz 1961.
- Nobilio, E. Vita tradizionale dei conradini abruzzesi nel territorio di Penne. Florenz 1962.
- Pansa, Giovanni. Ovidio nel medioevo e nella tradizione popolare. Sulmona 1924.
- Pansa, Giovanni. Miti, leggende e superstizioni dell' Abruzzo. Studi comparati. 2 Bde. Sulmona 1924-1927.
- Verlengia, Francesco. Tradizioni e legende sacre abruzzesi. Pescara 1958.